Der Film Die Unschuld der Muslime, der am 11. September auf YouTube erschien, ist nach allem, was man hört, ein besonders dürftiges und äußerst dummes Machwerk, das Produkt eines armseligen kalifornischen Betrügers, der ein koptischer Christ zu sein vorgibt. Dennoch stand dieses Machwerk zwei Wochen lang im weltweiten Fokus. Diese Anprangerung des Propheten Mohammed und seiner Anhänger, die unter anderem als unmoralische, brutale Kinderschänder dargestellt werden, hat in der gesamten muslimischen Welt Reaktionen hervorgerufen. Die wütenden Demonstrationen endeten in Ausschreitungen und Gewalttaten, die sich hauptsächlich gegen die USA richteten und u.a. zur Ermordung des US-Botschafters in Libyen führten.
Diesen Ausschreitungen, die zumeist von salafistischen Radikalen angeführt wurden, wurde eine Menge Platz in den westlichen Medien eingeräumt. Dabei geht es hier höchstens um ein paar Zehntausend Demonstranten, die sich über eine Reihe von Ländern verteilten, von Tunesien über den Jemen bis Pakistan. Dies ist nicht wirklich viel, wenn man bedenkt, dass es Hunderte von Millionen von Muslimen allein in den arabischen Ländern gibt, ganz zu schweigen von den Millionen Muslimen, die in Europa oder Nordamerika leben.
Es geht hier nicht darum, die Gewalt herunterzuspielen, die zweifellos stattfand, doch sind diese Ereignisse bewusst aufgebauscht worden, um die Angst vor der „islamischen Gefahr“ zu schüren. In Deutschland drückte Angela Merkel ihre „große Beunruhigung“ aus, während in Frankreich der Sozialist Manuel Valls über die „Bedrohung der Republik“ erschüttert war, die in der winzigen Demonstration steckte, welche „ohne offizielle Erlaubnis“ vor dem Elysée-Palast stattfand. Aus den USA hören wir, wie Hilary Clinton erklärte, dass „die arabischen Länder nicht die Tyrannei eines Diktators gegen die Tyrannei der Massen eintauschen sollten“, wobei sie sich auf die „arabische Revolution“ im Frühjahr 2011 bezog. Und schließlich hörten wir den Papst die Ausmerzung des Fundamentalismus (natürlich des islamischen) fordern!
In diesem Stimmengewirr besorgter Politiker wiesen nur eine Handvoll Kommentatoren auf die augenscheinliche ideologische Manipulation hin, die auf beiden Seiten vor sich ging:
· Einerseits weist die Tatsache, dass solch ein Filmchen (1) ausgerechnet im Angesicht wachsender Spannungen und Kriegsgefahren im Zusammenhang mit Syrien und dem Iran, aber auch mit den Radikalislamisten in Mali und in der Sahel-Zone herauskam, mehr noch: dass er am 11. September erschien, dem Jahrestag des Angriffs auf die Zwillingstürme 2001, der mit dem Tod von 4.000 Zivilisten und schließlich der US-amerikanischen Invasion in Afghanistan endete, darauf hin, dass auf den „islamischen Extremismus“ in der ganzen Welt an den Pranger gestellt werden soll.
· Andererseits tappten die islamistischen Extremisten geradewegs in die Falle hinein und enthüllten damit einmal mehr ihr zerstörerisches Potenzial und ihre Entschlossenheit, Amerika und den westlichen Mächten Paroli zu bieten, um sich selbst gegen rivalisierende bürgerliche Cliquen zu behaupten.
Es ist offensichtlich, dass dies eine Eskalation durch beide Seiten zu einem Zeitpunkt war, als sich neue militärische Interventionen und Massaker am Horizont andeuteten. Diese Art von Kampagnen dient dazu, den Boden dafür auf ideologischer Ebene vorzubereiten.
Die herrschende Klasse und all ihre Fraktionen, welcher Religion auch immer angehörig, werden Ereignisse wie dieses benutzen, um die Ausgebeuteten zu spalten und einzuschüchtern. Doch vor allem ist es - trotz all ihrer heuchlerischen Appelle, Ruhe und Vernunft zu bewahren - ihr Ziel, die nächsten Schritte in die Barbarei des Krieges zu rechtfertigen.
Mulan, 28.9.2012
(1) Uns sollte die Tatsache zu denken geben, dass dieses Video zwei Tage lang bei YouTube zu sehen war, einem Ableger von Google, dessen Charta besagt, dass „wir keine Auffassungen autorisieren werden, die zum Hass aufstacheln oder die andere Gruppen auf der Grundlage der Rasse, der ethischen Herkunft, der Religion, einer Behinderung, des Geschlechts, des Alters, des Veteranenstatus‘ oder der sexuellen Orientierung angreifen oder verleumden“.
Zusammenfassender Auszug aus einem Interview mit Chris Knight (Professor für Anthropologie an der University of East London) auf ReadySteadyBook (2006)
(…) Tatsache ist schlicht und einfach, dass Gene komplexe Moleküle sind, die die Körper, die sie bewohnen, dazu benutzen, um sich zu vervielfältigen. Ein Gen, das die Konkurrenz auf eigene Kosten repliziert, wäre kein Gen. Selbst wenn diese Anomalie aus unerfindlichen Gründen in einer Generation existierte, wäre es schon in der nächsten
Diese Theorie erklärt unter vielen anderen auch Konflikte: Konflikte zwischen den Geschlechtern, zwischen den Eltern und ihrem Nachwuchs und so weiter. Sie zeigt auf, wie Konflikte entstehen und wie widerstreitende Interessen den evolutionären Wandel antreiben. Für Marxisten sollten dies bekannte Themen sein. Der größte Teil der kleinbürgerlichen „Linken“ weigert sich, mehr als den Titel von Dawkins‘ Buch zur Kenntnis zu nehmen. Unfähig zu verstehen, worum es dem Autor ging, dichten sie ihm an, Kapitalismus, Rassismus und Ähnliches zu rechtfertigen. Nichts könnte abwegiger sein. Es war ebendiese Theorie des egoistischen Gens, die die frühere Vorstellung platzen ließ, dass die natürliche Auswahl „Rassen“ gegenüberstellt. Die Antwort der Linken auf diese wissenschaftliche Revolution war in peinlicher Weise ignorant und selbstzerstörerisch. Genau genommen, war sie eine Schande. Man stelle sich vor, was Marx und Engels davon gehalten hätten….
1844, im Anschluss an einer vierjährigen Reise rund um die Welt, teilte Charles Darwin einem engen Freund mit, dass er zu einer gefährlichen Schlussfolgerung gelangt sei. Sieben Jahre lang, schrieb er, habe er sich „mit einer sehr vermessenen Arbeit beschäftigt“, vielleicht „eine sehr törichte“. Er hatte bemerkt, dass auf jeder der Galapagos-Inseln die Finken leicht unterschiedliches Futter fraßen und unterschiedliche Schnäbel hatten. In Südamerika hatte er viele außergewöhnliche Fossilien ausgestorbener Tiere untersucht. Über die Bedeutung all dessen sinnierend, sah er sich veranlasst, seine Meinung über den Ursprung der Arten zu ändern. Darwin schrieb an seinem Freund: „Ich bin entgegen meiner ursprünglichen Auffassung nun beinahe überzeugt, dass die Arten (es ist wie einen Mord zu gestehen) nicht unveränderlich sind.“
In jenen Zeiten war der Glaube an Transmutation – die Idee, dass Arten sich zu anderen Arten entwickeln können – politisch gefährlich. Während Darwin noch an seinen Freund schrieb, ließen Atheisten und Revolutionäre Pfennig-Magazine in Londons Straßen zirkulieren, in denen revolutionäres Gedankengut vertreten wurde, das im Gegensatz zu den etablierten Doktrin von Kirche und Staat stand. Damals war der bekannteste Evolutionstheoretiker Jean-Baptiste Lamarck, der für die Ausstellung von Insekten und Würmern im Naturgeschichtlichen Museum in Paris verantwortlich war. In enger Anlehnung an den Atheismus, den Chartismus und anderen Formen der Subversion, die vom revolutionären Frankreich ausgingen, wurde der Evolutionismus in Großbritannien „Lamarckismus“ genannt. Jeglicher „Lamarckist“ – mit anderen Worten: jeder Wissenschaftler, der die gottgegebene Unveränderlichkeit der Arten in Frage stellte – riskierte, mit Kommunisten, Aufrührern und Aufständischen in einen Topf geschmissen zu werden. Gefangen zwischen seiner vorsichtigen liberalen Politik und seiner Wissenschaft, war Darwin so besorgt, dass er krank darüber wurde und seine Erkenntnisse verheimlichte und unterdrückte, als habe er einen Meuchelmord begangen.
Die Periode der revolutionären Erhebungen fand ihren Höhepunkt in den Ereignissen von 1848, als ArbeiterInnen Aufstände planten und die Straßen von London und in ganz Europa eroberten. Nach der Niederlage dieser Aufstände setzte die Konterrevolution ein. Während des folgenden Jahrzehnts schwand die Bedrohung durch die Linken. Um 1858 kam ein anderer Wissenschaftler, Alfred Wallace, unabhängig von Darwin, von sich aus auf das Evolutionsprinzip der natürlichen Auswahl; wenn Darwin nicht veröffentlicht hätte, hätte Wallace all den wissenschaftlichen Ruhm erlangt. Da die Revolution keine unmittelbare Gefahr mehr war, wurde Darwin mutiger, und 1859 veröffentlichte er endlich Über den Ursprung der Arten.
In seinem großen Werk skizzierte Darwin ein Evolutionskonzept, das sich von jenem Lamarcks deutlich unterschied. Lamarck hatte die Evolution als die Folge des ständigen Strebens der Tiere nach Selbstverbesserung in ihrer Lebensspanne erklärt. Darwins grimmigere, grausamere Idee war dem Pastor Thomas Malthus entliehen, einem Ökonomen, der bei der Ostindischen Gesellschaft beschäftigt war. Malthus hatte kein Interesse an dem Ursprung der Arten; seine Agenda war politisch. Menschliche Populationen, argumentierte er, werden ständig schneller als die Nahrungsmittelversorgung wachsen. Kampf und Hunger seien das unvermeidliche Resultat. Öffentliche Wohlfahrt, so Malthus, könne das Problem nur verschärfen: Almosen würden die Armen bequem machen, sie ermutigen, sich zu vermehren. Mehr Mäuler zu ernähren müsse zu noch mehr Armut und so zu noch mehr – unstillbaren – Forderungen nach Wohlfahrt führen. Die beste Politik sei es, die Armen sterben zu lassen.
Darwins Genie war es, Botanik und Geologie mit dieser politisch motivierten Befürwortung des freien Wettbewerbs und des „Überlebenskampfes“ zu verknüpfen. Darwin sah in der ganzen Natur eine Moralität des Laissez-faire am Werk. Das Wachstum von Populationen in der Tierwelt würde stets die lokale Nahrungsmittelversorgung übersteigen; daher die Unvermeidlichkeit des Wettbewerbs, der im Hungertod des Schwächsten ende. Während Moralisten und Gemütsmenschen stets danach getrachtet haben, das Bild einer grausamen und herzlosen Natur abzumildern, folgte Darwin Malthus darin, diese zu zelebrieren. So wie der Kapitalismus die Armen und Bedürftigen brutal bestraft, so merzt die „natürliche Auswahl“ jene Kreaturen aus, die weniger imstande sind, für sich selbst zu sorgen. Da die wenigen Lebensuntüchtigen in jeder Generation aussterben, sei der Nachwuchs der Überlebenden unverhältnismäßig zahlreich, werden doch ihre vorteilhaften ererbten Anlagen an die künftigen Generationen übertragen. Der Hungertod sei also ein positiver Faktor innerhalb einer evolutionären Dynamik, die Versagen unerbittlich bestraft und Erfolg belohnt.
Auf diese Weise gelang es Darwin, die politischen Implikationen der Evolutionstheorie umzuwandeln. Weit davon entfernt, der Rechtfertigung jeglichen Widerstandes gegen die kapitalistische Ausbeutung oder die gesellschaftliche Ungleichheit zu dienen, war diese Malthusianische Version des Evolutionismus dazu bestimmt, einer entgegengesetzten politischen Funktion zu dienen. Darwin schilderte die Natur als eine Welt ohne Moral. Folglich verlieh dies einem Wirtschaftssystem die Existenzberechtigung, das auf hemmungsloser Konkurrenz basierte, frei von jeglicher fehlgeleiteter „moralischer“ Einmischung durch Religion oder Staat. In Darwins Lebenszeit verlief die wichtigste öffentliche Kontroverse über seine Theorie zwischen den Evolutionisten und jenen Philosophen, Klerikern und anderen, die befürchteten, dass solch eine Vision zum Zusammenbruch aller Moral in der Gesellschaft führen könnte.
Nach Darwins Tod 1881 versuchten etliche einflussreiche Denker, Darwins scheinbar harsche, amoralische Argumentation zu entkräften, indem sie nach Wegen suchten, die Evolutionstheorie mit religiösen oder humanistischen Werten zu versöhnen. In Russland schrieb der Anarchist Peter Kropotkin den Text Gegenseitige Hilfe, in dem er argumentierte, dass Kooperation, nicht die Konkurrenz, das fundamentale Naturgesetz sei. Eine sehr populäre Methode, eine „moralische“ Dimension aus Darwins Argumentation zu bergen, bestand in dem Gedanken, dass der kompetitive Antrieb des evolutionären Wandels Gruppen, aber nicht Individuen gegenüberstelle. Die Phrase „Überleben des Stärkeren“ (survival of the fittest) bedeutete demnach das Überleben der stärksten Gesamtgruppe oder Art, was eine enge Kooperation innerhalb jeder Spezies bedingte. Gemäß dieser Argumentationslinie waren Individuen dazu erschaffen, den Interessen der Art dienlich zu sein. Mitglieder jeglicher Art mussten mit anderen kooperieren, ihr individuelles Überleben hing vom Schicksal des größeren Ganzen ab.
Diese Idee war sehr populär um die Jahrhundertwende; sie stieß auf Widerhall in Strömungen der moralischen Philosophie einschließlich des kleinbürgerlichen Sozialismus und des Nationalismus. Nationen wurden mit „Rassen“ assoziiert und mit Tierarten verglichen. Jede Art, Rasse oder Nation sei angeblich in einem Kampf um Leben oder Tod gegen ihre Rivalen verstrickt. Jene, deren Mitglieder unter kollektiven Auflagen miteinander kooperieren, würden überleben; jene, deren Mitglieder „egoistisch“ handelten, würden ausgelöscht werden. Wenn Tiere oder Menschen ein kooperatives Verhalten an den Tag legten, so wurde dies mit „moralischen“ Begriffen unter Bezugnahme auf die Erfordernisse der Gruppe erklärt.
In Großbritannien argumentierte Churchill, dass es dem ärmsten Bereich der Gesellschaft nicht gestattet werden sollte, sich zu vermehren, denn wenn diese Menschen starben, würde dies nur den „nationalen Bestand“ (national stock) schwächen. Eugenetik kam groß in Mode, auch unter vielen Linken; in Deutschland spielte sie eine Schlüsselrolle bei der Formierung der Nazi-Ideologie. In den 1940er Jahren erfreute sich der wegweisende Ethologe Konrad Lorenz großer Beliebtheit unter den Nazipropagandisten, da er argumentierte, dass die Kriegsführung natürlich und von Wert sei. Er verglich den Krieg mit dem weit verbreiteten Verhaltensmuster, das männliche und weibliche Säugetiere während der Paarungszeit an den Tag legen, wenn Erstere sich auf grausame Weise gegenseitig bekämpfen und Letztere sich nur mit den Siegern paaren. Dies, so Lorenz, sei ein gesunder Mechanismus, um Schwache zu eliminieren und damit die Reinheit und Vitalität der Rasse zu bewahren und zu verbessern.
Die Theorie der „Gruppenselektion“ – wie sie nun genannt wird – fand ihren ausgefeiltesten und explizitesten Ausdruck 1962, als der schottische Naturalist V.C. Wynne-Edwards ein Buch veröffentlichte, das den Titel Animal dispersion in relation to social behavior trägt. Für Wynne-Edwards bestand das fundamentale Problem, mit dem sich jede Gruppe oder Art konfrontiert sah, nach Malthus in der schrankenlosen Vermehrung. Die Überbevölkerung würde letztlich zu Nahrungsmittelkürzungen führen, die den Hungertod in einem Maße mit sich bringen würden, das die gesamte lokale Bevölkerung bedrohen könnte. Wo lag die Lösung? Laut Wynne-Edwards lag es an der Spezies in ihrer Gesamtheit, etwas zu unternehmen. Sie müsste besondere Mechanismen entwickeln, um eine Reproduktion über die tragfähigen Kapazitäten ihrer Umwelt hinaus zu vermeiden. Von den Individuen würde erwartet werden, dass sie ihre Fruchtbarkeit im Interesse der Gruppe zügeln.
Auf der Grundlage dieser Theorie trachtete Wynne-Edwards danach, die zahllosen verwirrenden Merkmale des tierischen und menschlichen sozialen Verhaltens zu erklären. Insbesondere behauptete er, scheinbar abscheuliche Verhaltensweisen wie Kannibalismus, Kindsmord oder (Banden)-Krieg erklären zu können. Auf den ersten Blick negativ, bilden solche Praktiken, näher betrachtet, eine Bandbreite von nützlichen Anpassungen, durch die jede Art danach strebt, ihre Population zu begrenzen. Viele Naturalisten waren verblüfft darüber, als sie beobachteten, wie Vögel in großen Kolonien den Nachwuchs anderer zerstörten oder wie Löwen gerade geborene Jungen tot bissen. All dies, sagt Wynne-Edwards, könne nun verstanden werden. Solche Verhaltensweisen seien nicht egoistisch oder anti-sozial; sie nutzten der Art, indem sie die Population im Zaum hielten. Im Falle der Menschen dienten gewaltsame Handlungen wie die Kriegsführung einer ähnlichen Funktion. Irgendwie musste die menschliche Population niedergehalten werden; der Krieg half zusammen mit anderen Gewaltformen, dies zu erreichen.
„Gruppenselektionistische“ Denkweisen dieser Art blieben bis in die 1960er Jahre hinein einflussreich innerhalb des Darwinismus. Doch genau weil er sie mit solch strittigen, zugespitzten Begriffen formulierte, gab Wynne-Edwards seine Überlegungen zu den Artvorteilen ungewollt einer klar akzentuierten Attacke preis, die das gesamte Denkgebäude dieser Theorie untergrub. Sobald Wissenschaftler über die angeblich „die Populationen reduzierenden Mechanismen“ nachzudenken begannen, wurde aus rein theoretischen Gründen ersichtlich, warum diese nicht funktionieren. Wie konnte eine ganze Spezies ihre Mitglieder für eine kollektive Handlung mobilisieren, so als ob sie mit Voraussicht auf künftige Nahrungsmittelkürzungen antwortet? Angenommen, dass es – um des Arguments willen – ein Gen gibt, das ein Verhalten auslöst oder erleichtert, das folgende zwei Merkmale hat: (a) es dient der Spezies in künftiger Zeit, während es (b) den Reproduktionserfolg seiner Träger von heute vermindert. Wie kann solch ein Gen jemals in die Zukunft übermittelt werden, wo sein angeblicher Nutzen verwirklicht werden würde? Ein Gen für eine verringerte Reproduktionsrate ist schlicht und einfach ein Widerspruch in sich. Es würde nicht weitergereicht werden. Sein angeblicher künftiger Nutzen könnte niemals realisiert werden. Die ganze Theorie der „Gruppenselektion“ war einfach unlogisch.
Diese Einsicht führte zu einer wissenschaftlichen Revolution – einer der folgenschwersten Umbrüche in der jüngsten Wissenschaftsgeschichte, mit vielen Implikationen für die Human- und Gesellschaftswissenschaften. Wenn Marx und Engels heute lebten, würden sie sich selbst an die Spitze dieser Entwicklungen stellen. Im Grunde stimmen alle Evolutionswissenschaftler heute darin überein, dass Wynne-Edwards‘ Theorie der „Gruppenselektion“ falsch war. Der Gedanke, dass Sex, Gewalt oder andere Formen tierischen Verhaltens sich „zum Nutzen der Spezies“ entfalten, ist mittlerweile völlig diskreditiert. Tiere praktizieren keinen Sex, um „die Art fortbestehen zu lassen“; sie tun es aus viel profaneren Gründen – um ihre eigenen spezifischen Gene fortbestehen zu lassen. Kein Gen kann dazu bestimmt werden, seine eigene Replikation zu minimieren – in einer Welt der Konkurrenz würde es rasch eliminiert und ersetzt werden. Angenommen, ein Löwe tötet seine eigenen Jungen, um zu helfen, das Bevölkerungsniveau zu reduzieren. Im Verhältnis zu anderen Löwen würde dieses besondere Exemplar einen geringen Reproduktionserfolg erzielen. Ungeachtet dessen, was der gesamten Gruppe zustößt, würden alle Exemplare in einer künftigen Population ausschließlich von den „egoistischeren“ Vervielfältigern abstammen – jenen Löwen, die darauf programmiert bleiben, die Übermittlung ihrer Gene (auf Kosten von rivalisierenden Genen) an künftige Generationen zu maximieren.
Sobald dies einmal vergegenwärtigt war, waren Wissenschaftler in der Lage aufzuzeigen, dass Löwen, die Jungen töten, in Wahrheit nicht ihren eigenen Nachwuchs töten, sondern den Nachwuchs, der von rivalisierenden Männchen gezeugt wurde. Dasselbe traf auch auf andere Beispiele der so genannten „Bevölkerungsregulierung“ zu. In jedem Fall konnte gezeigt werden, dass die verantwortlichen Tiere von einem genetischen Standpunkt aus „egoistisch“ handelten, dass ihre Gene so viel eigene Kopien wie möglich auf die künftigen Generationen übertragen, ganz ungeachtet der langfristigen Konsequenzen für die Populationsdichte. Lebenstüchtigkeit bedeutet, den eigenen Genen eine erfolgreiche Zukunft zu gewährleisten; sie kann nicht anders definiert werden. Eine Konsequenz daraus war, dass eugenetische Ideen wie jene von Winston Churchill keinen darwinistischen Sinn mehr machten. Churchill meinte, dass die Armen sich zu schnell vermehren; da sie „weniger lebenstüchtig“ seien, sollte ihre Fruchtbarkeit gedrosselt werden. Um bei dem Argument zu bleiben – ausgehend davon, dass die Armen zu Churchills Zeiten die Reichen faktisch in ihrer Anzahl übertrumpften, hieße dies gemäß der modernen Darwinschen Standards, dass die Armen „lebenstüchtiger“ waren, und nicht umgekehrt. Dasselbe würde zutreffen, sollten ethnische Minderheiten eine höhere Reproduktionsrate haben als alle anderen um sie herum. „Lebenstüchtigkeit“, wie dieser Begriff von den modernen Darwinisten verstanden wird, kann nur in Bezug auf die Gene gemessen werden – nicht in Bezug auf Rassen oder Arten. In Zukunft werden daher rassistische oder andere reaktionäre Politiker ohne Beistand durch den Darwinismus mit ihren Theorien hausieren gehen.
Der neue Darwinismus machte es von nun an unmöglich, das individuelle Eigeninteresse gegenüber dem Interesse der Art insgesamt zu überhöhen. Gruppenselektionistische Denker verbrämen Kindsmord, Gewalt oder Aggression mit Blick auf die höheren Interessen der „Nation“ oder der „Gruppe“ hartnäckig als „Moral“. Militaristen und rassistische Mörder wurden als Wächter höherer Interessen konzeptualisiert, da sie überschüssige Bevölkerungen „keulen“ oder Schwache für das übergeordnete Wohl eliminieren. Der Darwinismus des „egoistischen Gens“ setzte all dem ein abruptes Ende. Tiergruppen oder Arten konnten von nun an nicht mehr mit Nationalstaaten verglichen oder als kohärentes, moralisch reguliertes Ganzes dargestellt werden. Stattdessen ging man bei Tieren davon aus, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgten und dabei bewusst oder unbewusst ihre Gene aussähen. Entsprechend wurde von den sozialen Einheiten erwartet, dass sie nicht nur Kooperation praktizieren, sondern auch Konflikte austragen, in denen periodisch Mann gegen Frau, Jung gegen Alt, selbst der Nachwuchs gegen seine eigenen Eltern ausgespielt werden. Diese Betonung des Kampfes und Konflikts brachte den Darwinismus auf eine Linie mit dem Marxismus, der nicht von Harmonie und Brüderlichkeit ausgeht, sondern von einer durch Klassen, Geschlechter und andere Konfliktarten zerrissenen menschlichen Gesellschaft. Wo die Harmonie herrscht oder sich erfolgreich etabliert, muss dies erklärt werden und kann keineswegs vorausgesetzt werden.
In dem Moment, als der „Gruppenselektionismus“ gestürzt war, waren die Wissenschaftler gezwungen, das Leben neu zu betrachten, indem sie eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Puzzles angingen, klärten und oftmals lösten. Wie begann das Leben auf der Erde? Wann und warum entwickelte sich der Sex? Wie werden die sozialen Insekten so kooperativ? Warum werden wir – wie alle lebenden Organismen – krank und sterben letztendlich? Von jetzt an musste jede Theorie ihre Stimmigkeit mit dem unnachgiebigen, kompromisslosen „Egoismus“ der Gene demonstrieren. Das Resultat war eine spektakuläre Serie von intellektuellen Durchbrüchen, die auf eine wahrhaftige Revolution in den Biowissenschaften hinauslief, welche noch immer im Gange ist. Richard Dawkins‘ Buch Das egoistische Gen fasste viele der neuen Entdeckungen zusammen, als es 1976 zur großen Freude – und zur gleichermaßen lautstarken Anklage der kleinbürgerlichen „Linken“ – veröffentlicht wurde.
Ungefähr so wie sich Karl Marx und Friedrich Engels gegen die utopischen Sozialismus-Theorien wandten, so entschieden sind die modernen Darwinisten in ihrer Ablehnung aller nebulösen, unrealistischen Evolutionstheorien. Der „utopische“ Sozialismus scheiterte, weil er den Kapitalismus nie zu Leibe rückte. Er erklärte nie, wie man von „A“ nach „B“ kommt – von der Konkurrenzlogik des Kapitalismus zu seiner sozialistischen oder kommunistischen Antithese. Stattdessen stellten die „utopischen“ Träumer ihre idealistischen Visionen einfach den grausamen Realitäten des zeitgenössischen Lebens entgegen und plagten sich niemals damit ab zu ergründen, wie der Kapitalismus funktioniert. Ähnlich hatten sich Biologen vor der Revolution des „egoistischen Gens“ in den Biowissenschaften auf die „Kooperation“ in der Tierwelt als ein erläuterndes Prinzip berufen, ohne jemals erklärt zu haben, woher das Prinzip selbst kam. Der große Wert des neuen Darwinismus bestand darin, dass er nicht „utopisch“ war. Wenn Tiere, wie sich herausstellte, sich gegenseitig beistehen oder gar ihr Leben für andere aufs Spiel setzen – wie es häufig geschah -, dann musste solch ein Altruismus erklärt werden und konnte nicht einfach vorausgesetzt werden. Vor allem musste jeglicher Altruismus auf der Ebene des sozialen Verhaltens mit dem replikatorischen „Egoismus“ dieser tierischen Gene in Einklang gebracht werden.
Von diesem Standpunkt aus könnte der neue Darwinismus fast schon als „Wissenschaft der Solidarität“ bezeichnet werden. Egoismus ist leicht zu erklären. Die wahre Herausforderung besteht darin zu erklären, warum Tiere so oft nicht egoistisch sind. Dies ist eine besondere Herausforderung im Falle der Menschen, die sich – vielleicht mehr als jedes andere Tier – in todesmutigen und aufopferungsvollen Handlungen engagieren. Es gibt seriöse Berichte über Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sich auf explodierende Handgranaten warfen, um das Leben ihrer Kameraden zu retten. Muss solch ein Mut den Menschen mühsam beigebracht, eingepaukt werden oder speist er sich aus mächtigen Instinkten? Wenn man, wie die meisten Darwinisten, davon ausgeht, dass es in den Menschen steckt, von Natur aus kooperativ und gar heroisch zu sein, dann tut sich hier ein intellektuelles Paradoxon auf. Warum werden die Gene, die Heroismus zulassen oder ermöglichen – jene mutigen Instinkte, die in Krisenzeiten unsere feigeren, egoistischeren Triebe außer Kraft setzen -, nicht allmählich eliminiert? Der Mann, der in der Schlacht stirbt, wird keinen Nachwuchs mehr haben. Im Gegenteil, es wird der Feige sein, der viele Nachfolger hinterlässt. Könnten wir vor diesem Hintergrund nicht erwarten, dass jede Generation weniger heroisch – also: egoistischer – ist als die vorherige? Die utopische Theorie der „Gruppenselektion“ hat dieses Problem verschleiert, indem sie allzu leichte Antworten vorschlägt. Der Heroismus fungiere für das Allgemeinwohl der Gruppe. Das Problem war, dass sie nicht erklären konnte, wie solch ein Mut Bestandteil der menschlichen Natur sein kann, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Es war exakt diese Schwierigkeit, die die neuen Darwinisten dazu ermunterte, mit einer besseren Antwort aufzuwarten. Als die Lösung gefunden wurde, wurde sie zum Eckpfeiler der evolutionistischen Wissenschaft.
Die Lösung für das Puzzle war die Idee der inklusiven Lebenstüchtigkeit (inclusive fitness). Heldenmut in der Schlacht stützt sich auf Instinkte, die sich nicht radikal von jenen unterscheiden, die eine Mutter dazu veranlasst, ihr Leben für den Schutz ihrer Kinder einzusetzen. Eben weil ihre Gene „egoistisch“ sind – nicht trotz dieses „Egoismus“ -, kann der Mut einer Mutter aus tiefen instinktiven Quellen gespeist werden. Tatsächlich schließt eine Mutter, die instinktiv ihr Leben für ihre Kinder riskiert, ihre Kinder als Teil ihres potenziell unsterblichen „Selbst“ ein. In genetischer HinsichtinsichtH ist dies realistisch, da ihre Kinder ihre Gene teilen. Wir können hier unschwer erkennen, warum die „egoistischen“ Gene einer Mutter sie dazu veranlassen können, selbstlos zu handeln – es ist eindeutig im Interesse der Gene selbst. Eine vergleichbare Logik mag Schwester und Bruder dazu veranlassen, selbstlos gegenüber dem anderen zu handeln.
In einem sehr frühen Entwicklungsstadium entfalteten sich die Menschen in verhältnismäßig kleinen Gruppen, die auf Blutsverwandtschaft beruhten. Die statistische Chance, dass die Menschen, mit denen man zusammenarbeitete oder eng verbunden war, dieselben Gene teilten, war groß. Die Gene hätten sozusagen gefordert: „Vervielfältige mich, indem du dein Leben aufs Spiel setzt, um deine Schwestern und Brüder zu retten!“ Wir Menschen sind dazu bestimmt, dem anderen zu helfen – selbst zu sterben für den anderen -, vorausgesetzt, wir haben eine Chance, eine Blutsbande zu knüpfen. Selbst heute, unter Bedingungen, wo wir weitaus weniger verwandtschaftsbezogen sind, stehen wir nach wie vor unter dem mächtigen Einfluss dieser Instinkte. Der Begriff der „brüderlichen Solidarität“ hängt nicht vollkommen von äußeren, sozialen Faktoren wie Bildung oder Propaganda ab. Die Solidarität muss den Menschen nicht gegen ihre innere Natur eingeflößt werden. Sie ist fester Bestandteil einer uralten Tradition, eine evolutionäre Strategie, die vor langer Zeit wesentlich für die menschliche Natur geworden ist. Sie ist ein unschätzbarer Ausdruck der „Selbstsucht“ unserer Gene.
Damals schrieben die Zeitungen, dass „sie im Triumph kamen“; Cameron und Sarkozy kamen vor rund einem Jahr nach Tripolis und Bengasi, um den Jubel einer kriegsmüden Bevölkerung entgegenzunehmen und „den neuen Aufbruch Libyens zu grüßen“. Dies nachdem sie sowohl die Anti- als auch die Pro-Gaddafi-Fraktionen im libyschen Staat unterstützt hatten und kurz nach der Tötung einer unbekannten Zahl von Libyern, als diese durch Bombardierungen aus der Luft und Spezialkräfte vom Boden aus von Gaddafis Griff „befreit“ wurden. Der Krieg wurde, entgegen früherer Berichte, von Anfang an vollständig vom US-amerikanischen Imperialismus gebilligt, der – „aus dem Hintergrund agierend“ – die Briten und Franzosen dazu drängte, diese eminent wichtige Erdölregion im eigenen Interesse zu sichern, und gleichzeitig ein weiteres Gerangel unter den anderen imperialistischen Mitspielern eröffnete, die um einen möglichst großen Einfluss buhlten. Deutschland, das während des Krieges eine unbedeutende Rolle spielte, scheint kraft seiner wirtschaftlichen Schlagkraft und Kontakte besonders stark von Wirtschaftsabkommen mit Libyen zu profitieren; seine wirtschaftliche Stärke ist ein wachsender Faktor auf dem imperialistischen Schachbrett. Die lokale Ausbreitung der imperialistischen Barbarei geht weit über mögliche wirtschaftliche Vorteile aus dem libyschen Krieg hinaus. Ein weiterer kriegstreibender Faktor, der vom US-Standpunkt aus auf das imperialistische Gleichgewicht lastete, war die wachsende Instabilität in der Levante angesichts eines Post-Mubarak-Regimes in Ägypten, das sich plötzlich zweideutig gegenüber Israel verhält und iranischen Kriegsschiffen gestattet, den Suez-Kanal zu passieren.
Nicht dass die Feierlichkeiten anlässlich des ersten Jahrestags eines solch wichtigen Ereignisses verhalten gewesen waren; die Jahresfeiern des „Triumphes der Befreiung“ von Cameron und anderen waren schlicht nicht existent. Was nicht wirklich überraschend ist. Dies war angeblich der Krieg, in dem sie endlich die Lektionen aus dem Irak gelernt haben wollen, wie man Nationen nach dem Fall ihrer Tyrannen beschützt und wiederaufbaut. Doch der – größeren – Bevölkerung Libyens brachte die „Befreiung“ und ihre Nachwehen nichts anderes als Elend, Terror, Einschüchterung, Kürzungen, Inflation und eine Arbeitslosigkeit – einer der Auslöser für den ursprünglichen Aufstand -, die höher denn je ist. Das Land selbst ist zerrissen in diverse, sich bekriegende Fraktionen, einschließlich wiedererwachter dschihadistischer Kräfte, die mit al Qaida verknüpft sind. Am 27. August gab das US-State Department eine Warnung an US-Bürger vor unnötigen Reisen in Libyen heraus und fügte hinzu: „Die politische Gewalt, einschließlich Autobomben in Tripolis und Anschläge gegen militärisches Personal und angebliche Ex-Staatsfunktionäre in Bengasi, hat zugenommen. Konflikte zwischen den Milizen können jederzeit und überall im Lande ausbrechen.“ Simon Tisdall, der dies in The Guardian am 13. September zitierte, sagt ferner, dass die Rebellenarmee in Misrata über 30.000 Kleinwaffen unter ihrer Kontrolle hat, des Weiteren „revolutionäre Brigaden“, die über „mehr als 820 Panzer, Dutzende von schweren Artilleriegeschützen und mehr als 2.300 mit Maschinengewehren und Flugabwehrwaffen ausgerüstete Fahrzeuge verfügen“. Schaut man sich weiter in der Region um, so zeigt sich, dass der Krieg in Libyen noch mehr kriegerische und blutige Instabilität in Mali und in der gesamten Sahel-Zone verbreitet und den islamistischen Fundamentalisten im Maghreb, wenn man so will, zu einem neuen „Aufbruch“ verholfen hat. Bereits im Juni wurde das britische Konsulat in Bengasi angegriffen, wobei der Botschafter mit dem Leben davonkam. Diese Art von Ereignissen könnte gut Vorbote eines Zusammenbruchs à la Irak kombiniert mit einem endlosen Krieg wie in Afghanistan sein. Es geht nicht darum, ob die Amerikaner, Briten, etc. „ihre Lektionen gelernt haben“ aus ihren katastrophalen Kriegen der jüngsten Zeit, können doch der Imperialismus im Allgemeinen und diese Imperialismen im Besonderen, was immer ihre Bestrebungen sind, nur mehr Chaos, Instabilität und Krieg verbreiten.
Die Ermordung des US-Botschafters Stevens und dreier weiterer Botschaftsmitarbeiter in Bengasi am 11. September wird von der US-Administration als Reaktion auf den mittlerweile berüchtigten Film, der den muslimischen Glauben beleidigt, hingestellt. Doch der Zeitpunkt ist ein Indiz, und die Tatsache, dass der angeblich sichere US-Unterschlupf in Bengasi ebenfalls als Ziel auserkoren wurde, wie auch die zuvor nicht veröffentlichten Warnungen aus dem US-Bureau for Diplomatic Security deuten auf ein viel größeres und weitaus besorgniserregenderes Komplott gegen die Amerikaner und ihre Alliierte hin. Der Angriff war als Präventivschlag gegen eine CIA-Operation gedacht, der es daraufhin erforderlich machte, dass eine große Anzahl von US-Personal unverrichteter Dinge das Land verließ – laut offiziellen Angaben aus Washington.
Es gilt mehr oder weniger als sicher, dass die mit al Qaida verknüpfte islamistische Brigade Ansar al-Sharia für die Morde an die US-Bürger verantwortlich ist. Der amtierende Präsident des libyschen Parlaments, Mohammed al Magriaf, äußerte, dass er Aktionen gegen die Militanten in Betracht zöge, und fuhr fort, dass dieser Angriff, der fünfte in Bengasi seit April, „Teil einer breiter angelegten Kampagne (sei), um Libyen zu destabilisieren“ (THE GUARDIAN, 17. September). Magriaf war seit 1981 der Führer der Nationalen Front zur Befreiung (Rettung) Libyens. Er hat historische Verbindungen zum US-amerikanischen und britischen Establishment, und seine Gruppierung wurde Berichten zufolge vom CIA und von Saudi-Arabien finanziert. Sie hatte kaum Unterstützung in Libyen, und ausgerechnet dieser Profiteur der Befreiung und Freund der westlichen Koalition ist gegenwärtiger Präsident des Nationalen Übergangsrates – ein klares Anzeichen für das Ausmaß westlicher Einflüsterungen in diesem so genannten befreiten Land. Doch während Magriaf Maßnahmen gegen die Islamisten „in Betracht zog“, nahm die Bevölkerung am 22. September mit einem ganz außergewöhnlichen Aufstand die Dinge selbst in die Hand. Nach einer Demonstration von über 30.000 Menschen gegen die Milizen am Nachmittag gingen Hunderte von jungen, zumeist unbewaffneten Männern gegen die Miliz auf ihrem Gelände vor. Zwar ließen 20 von ihnen ihr Leben, doch wurden die verhassten Milizen vertrieben. Dabei wurde nicht nur die anti-amerikanische Ansar al-Sharia attackiert, sondern auch die regierungsfreundlichen, pro-amerikanischen islamistischen Milizionäre von Rafallah al-Sahiti, die eine Lizenz von der Regierung erhalten hatten und dem libyschen Verteidigungsministerium gegenüber verantwortlich sind. Seit dem Ende des Krieges gab es eine Reihe kleinerer Streiks und Demonstrationen im Land gegen die empörenden Zustände; besonders groß ist der Ärger über die islamistischen und anderen Milizen mit ihren Check-Points, Durchsuchungen, Entführungen, mit ihren prahlerischen Drohgebärden. Doch auch wenn es sicherlich einen Kern sozialer Unzufriedenheit gab, der dieser Massenbewegung zugrundelag, so ist sie bereits als „Unterstützung für die Armee und die Regierung“ vereinnahmt und im Westen als „pro-demokratische Bewegung“ (Channel 4-Nachrichten, 23.9.12) dargestellt worden. Auch im Osten Libyens, in Derna, sind dschihadistische Milizen von der lokalen Bevölkerung angegriffen und vertrieben worden. Derna war lange Zeit eine Brutstätte des islamischen Fundamentalismus gewesen, der vom Gaddafi-Regime toleriert, möglicherweise sogar ermutigt wurde, mit dem Hintergedanken, ein Problem zu kreieren, das man dann selbst „erledigt“, um sich bei den Amerikanern und Briten anzubiedern.
Die jüngste Geschichte des britischen Imperialismus und seiner Manöver in Libyen zeichnet sich durch seine besondere Durchtriebenheit und Rücksichtslosigkeit in seinem Umgang mit der arabischen Welt aus. Großbritannien hieß in den 1990er Jahren Anti-Gaddafi-Terroristen willkommen, gewährte ihnen Unterschlupf und zahlte große Geldsummen für eine Anti-Gaddafi-Zelle in Libyen 1996. Dann, nach der Umarmung Gaddafis durch Tony Blair 2004, wurden die ehemaligen terroristischen Helfershelfer Großbritanniens ausgeliefert und faktisch den Folterknechten des libyschen Regimes übergeben. Doch der imperialistische Kreisel eiert weiter herum; nun unterstützten die westlichen Mächte erneut die Fundamentalisten in dem Krieg gegen Gaddafi, d.h. sie säten den Wind, um nun den Sturm zu ernten. Das ist nichts Neues, nur dass es immer schlimmer und gefährlicher wird. Es waren der CIA und der MI6, die die Fundamentalisten und Taliban für den Krieg an der afghanisch-pakistanischen Grenze aufgerüstet hatten. Die Amerikaner und Briten arbeiteten zusammen mit Kräften des islamischen Fundamentalismus, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und ihre eigenen Unterstützer zu beschützen. Besonders in Basra nutzten die Briten die schiitischen Fundamentalisten sowohl zum Selbstschutz als auch zur Kontrolle der örtlichen Bevölkerung. Die Amerikaner finanzierten, trainierten und bewaffneten die tschetschenischen Dschihadisten für den Krieg in Bosnien in den 90er Jahren. Und heute benutzen die Amerikaner und Briten in Syrien erneut die Kräfte des islamischen Fundamentalismus für ihre eigenen Ziele. Es hat bereits Verbindungen zwischen dem Außenministerium und Muslimbruderschaft gegeben, und die USA haben libysche Elemente, einige davon religiös, durch die Türkei nach Syrien geschleust. Es ist nicht so, dass sie weiterhin dieselben Fehler begehen oder dass sie nicht aus ihren Fehlern lernen wollen – der Imperialismus kann nicht anders, als die Kräfte der Reaktion, des Todes und der Zerstörung wachzurufen und auszubeuten. Der Imperialismus selbst heißt, zur Sackgasse des dekadenten Kapitalismus verdammt zu werden. Und die Kräfte des islamischen Fundamentalismus sind besonders nützlich für die großen imperialistischen Staaten. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte: Während Moslems hauptsächlich friedlich gegen den erbärmlichen Anti-Islam-Film protestierten, waren die Regierungen Großbritanniens und der USA aktiv dabei, die schlimmste Art islamistischer Fanatiker in den sensibelsten Regionen der Welt finanziell, militärisch und politisch zu unterstützen. Hier zeigt sich das ganze Orwellsche Ausmaß: eine Bourgeoisie, die ebenjene Kräfte der Zerstörung aktiv fördert, mit denen wir uns angeblich im Krieg befinden.
Dieser berüchtigte Film oder besser dieser Ausschnitt aus ihm, in dem der Prophet Mohammed herabgewürdigt wird, ist von allen möglichen Seiten benutzt worden. Er ist von den örtlichen religiösen und politischen Führern benutzt worden, um ihre Unterstützung zu verstärken, die auf der Mobilisierung von Demonstrationen basiert, und in einem Fall von einem pakistanischen Minister, der ein Kopfgeld auf den Kopf des Filmemachers auslobte. Mehr als zwanzig Menschen wurden auf Demonstrationen gegen den Film und die vermeintliche Beleidigung in Pakistan getötet. Es ist nicht sehr schwer, angesichts der Tracht Prügel, die das Land durch das US-Militär erhält (1), eine Anti-US-Demonstration in Pakistan aufzuziehen. Andererseits hat sich die ganze Auseinandersetzung rund um den Film (bzw. seinen Trailer) zu einer Verteidigung „unserer Lebensweise“, der „Freiheit“ und der „Meinungsfreiheit“ mit Salman Rushdie und vielen anderen Künstlerpersönlichkeiten, zu einem Demokratiebekenntnis ausgewachsen.
Es gibt hier einen weiteren, wachsenden Faktor des Zerfalls des Kapitalismus, den die IKS ausführlich analysiert hat: die historische Schwächung des US-Imperialismus nach dem Zusammenbruch seines russischen Feindes und dem Auftauchen einer „Neuen Weltordnung“ 1990. Die zentrifugalen Tendenzen eines imperialistischen Jeder-für-sich-selbst stellen die US-Vorherrschaft vor wachsenden Herausforderungen. Die Beziehungen zwischen den USA und Israel kühlen sich immer weiter ab, und wer braucht schon Feinde, wenn er, wie die USA, Verbündete wie Pakistan hat? Trotz der scheinbaren Wiederannäherung gibt es Spannungen zwischen den USA und der Türkei und ihrer Rolle in der Region. Auch die Regierungen des Irak und Afghanistans neigen dazu, ihren eigenen Weg zu gehen; trotz 1,2 Milliarden Dollar teuren „Zuwendungen“ pro Jahr weigerte sich Obama vor einer Woche, Ägypten als einen „Verbündeten“ zu bezeichnen. Und trotz enormer, nicht nachlassender, hochrangiger diplomatischer Bemühungen wird die „Asien/Pazifik-Vision“ der USA bereits ernsthaft von den Aktionen des chinesischen Imperialismus untergraben. Der „Triumph der Befreiung Libyens“, dessen Geruch immer ranziger wird, ist ein weiteres Beispiel für die – einstweilige - Schwächung des US-Imperialismus und seiner französischen und britischen Alliierten und eine weitere Drehung an der Spirale des imperialistischen Chaos, der Instabilität und des Krieges.
Baboon, 25.09.2012 (Übersetzung aus dem Englischen)
(1) Gestern gab es einen Bericht von Stanford und den New Yorker Universitäten, demzufolge US-Drohnenangriffe in den pakistanischen Stammesgebieten eine „Todesrate“ von gerade einmal zwei Prozent unter den Gotteskriegern erzielen, und der letzte Trick besteht nun darin, einige Zeit nach dem ersten Angriff eine weitere Hellfire-Rakete hinterherzuschicken. Dies war ursprünglich eine terroristische Taktik, um Rettungskräfte, Angehörige und besorgte Passanten zu treffen. Sie sind eine wahre Terrorwaffe, in ihrem Ausmaß schlimmer als die V 1-Raketen der Nazis. Sie sind alltäglich in der Luft sichtbar und jede Nacht zu hören. Jede Versammlung, Hochzeit, Feier, was auch immer, ist ein potenzielles Ziel. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Obama-Administration selbst die kühnsten Träume der Neokonservativen übertrifft. Derzeit läuft im britischen Fernsehen ein Werbespot der Luftwaffe, in dem die Lüge aufgetischt wird, dass es keine zivilen Opfer gebe. Andererseits sind das britische Militär und die Medien hinsichtlich der steigenden Zahl von Opfern britischer Drohnenangriffe kurz angebunden.
Wir veröffentlichen hier einen Artikel, den ein Sympathisant unserer Organisation geschrieben hat und der von der kürzlich stattgefundenen Mobilisierung der Arbeiter_innen und unterdrückten Massen in Palästina berichtet und daraus Lehren zieht. Wir begrüßen die Initiative des Genossen. Palästina ist eine Region mit brutalen imperialistischen Zusammenstößen mit enormem Leiden für die Bevölkerung; Worte wie Klasse, Proletariat, gesellschaftlicher Kampf, Autonomie der Arbeiterklasse usw. werden begraben unter dem, was die Barbarei des kapitalistischen Systems hervorbringt: Krieg, Nationalismus, ethnische Konflikte, religiöse Kämpfe etc. Umso wichtiger sind deshalb jene Proteste, wie der Genosse zu Recht unterstreicht, und die Nachrichten darüber sollten zu den Proletarier_innen der ganzen Welt gelangen und von ihnen in ihrer Bedeutung erkannt werden. Man ruft uns auf zu Solidarität mit Nationen, Völkern, Regierungen, „Befreiungsorganisationen" - diese Solidarität müssen wir ablehnen! Unsere Solidarität gilt nur Arbeiter_innen und Unterdrückten - in Palästina, Israel, Ägypten, Tunesien und der ganzen Welt. KLASSENSOLIDARITÄT GEGEN NATIONALE SOLIDARITÄT.
Aus einer Gegend der Welt, dem Nahen Osten, aus der normalerweise Nachrichten über militärische Massaker und Barbarei verbreitet werden; über Rivalitäten zwischen verschiedenen imperialistischen Gangstern, welche die Zivilbevölkerung als Geisel nehmen; über alle möglichen Hassgefühle und nationalistischen, ethnischen und religiösen Bewegungen (welche die „demokratischen" Mächte des Westens je nach Interessenlage kreieren, aufbauen und propagandistisch unterstützen, wie in Libyen und Syrien), ist, während die Schlagzeilen in der bürgerlichen Presse in den letzten Tagen von den Unruhen in den muslimischen Ländern nach den Mohammed-Karikaturen besetzt waren, wenig oder nichts berichtet worden[1] über die bedeutenden Proteste und Streiks, die im September gegen die Auswirkungen der weltweiten kapitalistischen Krise auf die Lebensbedingungen des Proletariats und die unterdrückten Schichten in den palästinensischen Gebieten in der Westbank stattfanden und als die größten Proteste seit Jahren beschrieben worden sind.
Auf dem Hintergrund einer oft verzweifelten Situation, in der das Proletariat und die Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten der militärischen Besetzung, der Blockade und der absoluten Geringschätzung ihres Lebens und Leidens durch den israelischen Staat ausgesetzt sind, wird es ihnen besonders schwierig gemacht, sich den nationalistischen und islamistischen Einflüssen und der Tendenz zu entziehen, sich hinter verschiedenen Organisationen in den "militärischen Widerstand" gegen Israel einzureihen (ein wahrer Weg des Martyriums für Tausende von Palästinenser_innen angesichts der Überlegenheit des monströsen israelischen Militärapparates). Genau der Kampf gegen die Auswirkungen der tiefen Wirtschaftskrise des Kapitalismus weltweit eröffnet die Perspektive des Wiedererstarkens massenhafter proletarischer Kämpfe auf Weltebene und die Aufhebung der sektoriellen, nationalen, ethnischen oder anderer Spaltungen in der Arbeiterklasse sowie auf die Überwindung aller möglichen Illusionen und Mystifikationen ("demokratische" Illusionen im kapitalistischen Rahmen; über die "nationale Befreiung"; usw.).
Der Auslöser der Welle von Protesten und Streiks war die Ankündigung der Regierung von Ministerpräsident Fayyad[2], die Preise von elementaren Konsumgütern (einschließlich Nahrungsmittel und Benzin) zu erhöhen. Dieser Umstand war der Tropfen, der das Fass der ständig wachsenden Enttäuschungen der Bevölkerung durch die Palästinensische Autonomiebehörde zum Überlaufen brachte. Diese Behörde hat sich je länger je mehr als Hort von Karrieristen und Korrupten entpuppt, unter deren Schutz eine Kaste von palästinensischen und ausländischen Kapitalisten ihre Geschäfte machten und die genau in Fayyad personifiziert sind[3]; sie hat ihre Legitimität verloren durch die lange Zeit seit den letzten Wahlen 2006 und durch den Konflikt mit der Hamas; sie ist unfähig, die Probleme der äußerst verletzlichen und von ausländischen Spenden abhängigen palästinensischen Wirtschaft[4] zu lösen, die nicht nur von der militärischen Besetzung, sondern auch von der ebenfalls durch Israel ausgeübten peinlichen Kontrolle der Importe und Exporte, der Preise, der Steuereinnahmen, der Naturschätze (Pariser Abkommen, dem wirtschaftlichen Pendant zu den Osloer Abkommen) erdrosselt wird.
Schon im Laufe des Sommers wurden das Unbehagen und die verschiedenen Proteste offensichtlich. Zum Beispiel artete Ende Juni eine Demonstration in Ramallah nach der Ankündigung eines Treffens zwischen dem Präsidenten Abbas und dem israelischen Vizeministerpräsidenten Shauz Mofaz in eine brutale Repression von Seiten der palästinensischen Polizei aus[5].
Bei einer Massenarbeitslosigkeit (57% gemäß UNO, besonders unerträglich bei den Jungen) und Lebenshaltungskosten, die der Mehrheit kaum das Überleben erlauben, und angesichts weiterer großer Teile unzufriedener Menschen (zum Beispiel sind die Lohnzahlungen an die 150'000 Angestellten der Palästinensischen Autonomiebehörde[6] ausstehend), brachte die Ankündigung der Preiserhöhung am 1. September die Lunte zum Brennen.
Seit dem 4. September gibt es täglich neue Massendemonstrationen für Verbesserungen der Lebensbedingungen auf der ganzen Westbank (Hebron, Bethlehem, Ramallah, Jenin, usw.). Die Proteste richten sich auch gegen die israelische Kontrolle der Wirtschaft in der Zone (Pariser Abkommen), aber es ist offensichtlich, dass der Unmut beträchtlich über ein gegen Israel gerichtetes oder nationalistisches Gefühl hinausgeht, denn die zentrale Stoßrichtung der Proteste sind die Arbeits- und Lebensbedingungen. In Ramallah skandierten einige Jugendliche: "Früher kämpften wir für Palästina, jetzt kämpfen wir für einen Sack Mehl"[7].
Zu Beginn der Proteste zeigte Abbas auf dem Hintergrund eines Machtkampfes mit seinem Rivalen Fayyad Sympathien für den "palästinensischen Frühling". Doch die Entwicklung des Protests, in dem sich der Unmut nicht nur gegen die Regierung Fayyad oder gegen die Pariser Abkommen richtete, sondern ausweitete auf die Palästinensische Behörde selber, brachte die Fatah, die anfänglich vielleicht eine Möglichkeit zur Kanalisierung der Demonstrationen geboten hätte, dazu, zu versuchen, diese abzubrechen, da sie sich verschärften und ausweiteten[8].
Etwas Ähnliches lässt sich über die Hamas sagen, die höchstwahrscheinlich die Mobilisierungen ausnützen wollte, um zu versuchen, die gegenwärtige Regierung der Autonomiebehörde zu schwächen, aber dann doch davor zurückschreckte angesichts des Ausmaßes der Proteste und der Gefahr einer Ansteckung des Gazastreifens.
In Nablus erklärte ein Demonstrant: "Wir sind hier, um der Regierung zu sagen, dass es reicht ... Wir wollen eine Regierung, die so lebt, wie das Volk lebt, und das isst, was das Volk isst"[9].
"Wir sind es überdrüssig, von Reformen zu hören ... eine Regierung nach der anderen ... ein Minister nach dem anderen ... und die Korruption verschwindet nicht", steht auf einem Plakat in der Ortschaft Beit Jala[10].
In Jenin verlangten die Demonstrierenden die Festsetzung eines Mindestlohnes, die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Arbeitslosen und die Reduktion der Studiengebühren[11].
Ministerpräsident Fayyad erklärte, er sei "bereit, zurück zu treten".
Die Massenproteste gingen weiter mit Straßenblockaden und Zusammenstößen mit der Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Am 10. September begann ein Generalstreik im Transportwesen, der von den Gewerkschaften ausgerufen worden war. Daran beteiligten sich massenhaft Taxifahrer, Lastwagenfahrer und Buschauffeure, die empfindlich von den Preiserhöhungen beim Benzin betroffen waren. Zahlreiche andere Sektoren wie das Personal der Kindertagesstätten nahmen ebenfalls am Streik teil.
Die Bewegung stieg an. Am 11. September traten die Student_innen der Universität und des Gymnasiums in einen 24-stündigen Solidaritätsstreik mit dem Generalstreik[12].
Arbeiter_innen von allen palästinensischen Universitäten riefen zusammen mit den Uni-Student_innen zu einem 24-stündigen Streik am 13. September auf[13].
Angesichts dieser Lage und nach einem Treffen mit den Gewerkschaften, kündigte die Regierung Fayyad an, nachzugeben mit dem Verzicht auf die vorgesehene Preiserhöhung, mit der Auszahlung der Hälfte der ausstehenden Löhne des Monats August an die Angestellten und mit Kürzungen der Gehälter und Privilegien der Politiker und hohen Beamten der Autonomiebehörde.
Am 14. September sagte die Transportgewerkschaft den Streik wieder ab, weil es "konstruktive Gespräche" mit der Autonomiebehörde gebe.
Die Massenproteste schienen zumindest zeitweilig abzuflauen, aber der soziale Unmut hat sich nicht gelegt. Die Gewerkschaften der Staatsangestellten und der Lehrer kündigten weitere Mobilisierungen mit begrenzten Streiks ab dem 17. September an[14]. Die Gewerkschaften im Gesundheitswesen kündigten am 18. September an, dass sie mit Protesten beginnen würden, wenn die Regierung auf ihre Forderungen wie die nach Erhöhung der Belegschaften oder Verbesserung der Freizügigkeit und der Aufstiegsmöglichkeiten nicht eingehe[15].
Die Proteste sind offenbar auf die durch die Palästinensische Behörde kontrollierte Zone der Westbank beschränkt geblieben.
Über die konkreten Einzelheiten dieser Bewegungen hinaus beruht ihre Bedeutung auf der Besonderheit der Zone, die ständig von blutigen imperialistischen Konflikten heimgesucht wird (sei es direkt zwischen Staaten, sei es zwischen Stellvertretern[16]), bei denen immer die Zivilbevölkerungen am meisten unter den Folgen leidet[17], nebst den reaktionären Bewegungen nationalistischer oder religiöser Art. Es ist aber insbesondere wichtig zu unterstreichen, dass die Proteste klar im Zusammenhang mit ähnlichen Kämpfen sowohl in der Region als auch weltweit entstanden. Wir dürfen die großen Mobilisierungen in den letzten Monaten in Israel gegen die Verteuerung der Lebenshaltungskosten nicht vergessen, die trotz ihren Schwächen und "demokratischen" Illusionen einen ersten wichtigen Schritt zum Bruch mit der "nationalen Einheit" im Militärstaat Israel darstellen; wir dürfen nicht vergessen, dass die großen Arbeiterstreiks in Ägypten den entscheidenden Anstoß zum Sturz des Schützlings der USA, Mubarak, bildeten[18].
Das Proletariat und die unterdrückten Schichten Palästinas - und in der ganzen Welt - müssen wissen, dass ihre einzige Hoffnung darauf, würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen und eine friedliche Existenz (die sich die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung wirklich wünscht) zu haben, nur über die Entfaltung der massenhaften Kämpfe zusammen mit den Ausgebeuteten der Region zu erfüllen ist, über alle nationalen und religiösen Grenzen hinweg. Mit der palästinensischen "nationalen Einheit" zu brechen und die Kämpfe zu vereinen, insbesondere mit dem Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Israel und mit denjenigen der ganzen Region, das ist die mächtigste Waffe des Proletariats zur Schwächung und Lähmung der mörderischen Hand des israelischen Staates und der weiteren imperialistischen Gangster. Der "bewaffnete Widerstand", das heißt die Unterwerfung unter die Interessen der verschiedenen nationalistischen und religiösen Gruppen, führt es nur ins Massaker und ins endlose Leiden und stärkt die palästinensischen Ausbeuter und Räuber.
Daran ist für die palästinensischen Ausgebeuteten und diejenigen der ganzen Welt nicht zu zweifeln: Wenn sie nicht für ihre eigenen Klasseninteressen gegen den Kapitalismus kämpfen, wenn sie sich in die "Kämpfe der nationalen Befreiung" hineinziehen lassen, in "Rassenkämpfe" alle Art; wenn sie sich den "allgemeinen Interessen des Landes" unterwerfen (d.h. unter die allgemeinen Interessen der Bourgeoisie und ihres Staates), so werden die Gegenwart und die Zukunft, die sie unter kapitalistischem Regime erwarten, die gleichen sein, die der ANC von Mandela seinen "Brüdern" und "Genossen" Minenarbeitern offeriert: Elend, Ausbeutung und Tod[19].
Draba 23.09.12
[1] Ganz wenig dazu ist in der westlichen bürgerlichen Presse veröffentlicht worden, ganz im Gegensatz zu den Schlagzeilen über die muslimischen Proteste oder die Artikel über die „Freiheitskämpfer" gegen Assad in Syrien. Auch wenig ist in den „antiimperialistischen" (gegen die USA und ihre Verbündeten gerichteten) Medien von Kuba oder Iran berichtet worden. Auch die linken und linksextremen Foren (in Spanien lahaine.org oder kaosenlared.net oder rebelion.org) zeigten kein großes Interesse an den Ereignissen. Die „Solidarität mit dem palästinensischen Volk" beschränkt sich auf Nachrichten, die den verschiedenen Interessen auf dem imperialistischen Schachbrett dienen. Wenn das Volk gegen „seine" eigene Regierung kämpft und mit der „nationalen Einheit" bricht, um seine Lebensbedingungen zu verteidigen, verdient es keine Nachricht mehr.
[2] Ein Mann des Internationen Währungsfonds, 2007 ernannt durch Abbas auf Druck der USA im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Hamas.
[3] www.aljazeera.com/opinions/2012/9/13/economic-exploitation-of-palestinians-flourishes-under-occupation [18]. Für diejenigen, welche nicht Englisch lesen, sind online-Uebersetzer - wie z.B. Google Translator -, wenn auch bei weitem nicht perfekt, so doch ganz hilfreich.
[4] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=521815 [19]
[5] https://altahrir.wordpress.com/2012/07/01/ramallah-protesters-attacked-by-palestinian-authority-police/ [20]
[6] Die Regierung der Autonomiegebiete.
[7] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517262 [21]
[8] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517618 [22]
[9] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517618 [22]
[10] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=518944 [23]
[11] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517945 [24]
[12] https://www.latimes.com/archives/blogs/world-now/story/2012-09-10/palestinians-protest-in-west-bank-cities-over-economy [25]
[13] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=519320 [26]
[14] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=520696 [27]
[15] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=521159 [28]
[16] Es ist kein Geheimnis, dass sowohl Iran als auch Syrien Beziehungen zur Hamas gehabt haben und immer noch haben. Ebenso wenig ist es ein Geheimnis, dass Assads Syrien Russland als Hauptverbündeten unter allen großen imperialistischen Mächten hat und Iran als wichtigsten Verbündeten in der Region. Ebenso ist es eine Tatsache, dass sowohl Russland als auch Iran und China enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu lateinamerikanischen Staaten wie Brasilien, Venezuela oder Kuba pflegen.
[17] Vergessen wir nicht - ohne das Thema zu vertiefen -, dass der Krieg zwischen Hamas und Fatah um die Kontrolle über den Gazastreifen 2007 zahlreiche Opfer gefordert und viel Leiden über die Zivilbevölkerung gebracht hat - Kollateralschäden der „nationalen Befreiung" ... www.haaretz.com/1.4942705 [29]; https://libcom.org/article/palestinian-union-hit-all-sides [30]
[18] Vgl. dazu "Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel : von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe [31]" auf unserer Webseite ; und zur gegenwärtigen Phase: "eine Klassenanalyse über die Ereignisse im arabischen Raum [32]".
[19] Vgl. Massaker in Südafrika: Die Herrschenden hetzen ihre Bluthunde auf die Arbeiter, https://de.internationalism.org/Welt174_Suedafrika [33]
Wir veröffentlichen unten die Übersetzung eines Artikels von Internacionalismo, unserer Sektion in Venezuela. Er wurde noch vor der Verkündung des Wahlergebnisses verfasst.
Die Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober in Venezuela stellen einen Moment erhöhter Spannungen zwischen den bürgerlichen Fraktionen, den „Chavisten“ und den Oppositionsparteien, dar. Letztere fanden sich in der Plattform der Demokratischen Einheit zusammen und haben Henrique Capriles zu ihrem Kandidaten gekürt, während die offizielle Macht auf ihren ewigen Kandidaten, Hugo Chavez, setzt, der über seinen Parteiapparat und Hunderte von Millionen Bolivars (1) verfügt, um Stimmen zu kaufen, hauptsächlich unter den Arbeitermassen, die seit dem Machtantritt des Chavez-Regimes und davor in den 30 Jahren der politischen Konfrontationen verschlissen worden waren.
Der Aufstieg von Chavez war das Produkt aus dem Zerfall der venezolanischen Bourgeoisie, insbesondere der politischen Kräfte, die das Land vor seinem Machtantritt 1999 regiert hatten. Aufgrund seiner großen Popularität unterstützten ihn diverse Teile des Kapitals mit dem Ziel, gegen die ausufernde Korruption und für die Wiedererlangung der Glaubwürdigkeit offizieller Institutionen, vor allem aber der Regierung zu kämpfen. Mit anderen Worten, mit dem Ziel, das System der Unterdrückung und Ausbeutung im Interesse der Nation und damit der Bourgeoisie zu verbessern. Die oppositionellen Kräfte legten es trotz ihrer Schwächung schnell auf eine Kraftprobe mit dem Regime an, am spektakulärsten zurzeit des Staatsstreiches 2002 (2) und der Blockade der Ölförderung Ende desselben Jahres. Am Ende erwies sich all dies als fruchtlos und führte lediglich zu einer Stärkung der Macht von Chavez, der 2006 wiedergewählt wurde.
Nach einem Jahrzehnt des Chavismus hat die Krise verschiedene Fraktionen der Bourgeoisie in einen Gegensatz zur Macht des Zentralstaates geraten lassen. Die oppositionellen Kräfte profitieren vom Verlust der Glaubwürdigkeit des Regimes, der auf zwei Hauptursachen zurückgeführt werden kann:
· auf den wachsenden Zerfall des Chavez-Regimes, den wir in einem früheren Artikel in Internacionalismo so charakterisierten: „Es haben sich neue zivile und militärische Eliten gebildet und die Spitzenposten der Staatsbürokratie unter sich aufgeteilt. Sie sind in ihrem Bestreben gescheitert, die Probleme zu überwinden, die von den vorherigen Regierungen angehäuft worden waren, da sie weitaus mehr um ihre persönlichen Interessen und die Aufteilung der Ausbeute aus der Ölindustrie besorgt waren, was in eine exponentielle Steigerung der Korruption und in der wachsenden Preisgabe eines ernsthaften Staatsmanagements mündete. Diese Situation, die vom Größenwahn des Chavez-Regime verschärft wurde, das das ehrgeizige Ziel verfolgte, die ‚bolivarische Revolution‘ auf ganz Lateinamerika auszudehnen, führte dazu, dass die Staatskassen immer mehr geschröpft wurden. Es hat auch zur Verschärfung der politischen und gesellschaftlichen Antagonismen geführt, die die Regierungsunfähigkeit, welche bereits in den 90er Jahren ausgeprägt war, noch gesteigert hat“;
· auf die Intensivierung der Krise des Kapitalismus im Jahr 2007, die dem Vorhaben des Chavez-Regimes, sein Projekt des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ voranzutreiben, ein Strich durch die Rechnung machte. Obgleich Chavez wie andere Regierende erklärte, dass die venezolanische Wirtschaft gewappnet sei, hat in Wirklichkeit die Weltkrise des Kapitalismus die historische Zerbrechlichkeit der nationalen Wirtschaft aufgezeigt: Sie ist total vom Erdölpreis abhängig. Dem kann die Tatsache hinzugefügt werden, dass die populistischen Schemata erst durch die Angriffe auf die Löhne und die Reduzierung oder Unterdrückung von „Errungenschaften“ wie die Tarifvereinbarungen ermöglicht wurden, die der Chavismus als „Trinkgeld“ abtat und abschaffte.
Die Strategie des Oppositionskandidaten Henrique Capriles, der auf tägliche „Klinkenputzer“-Touren durch Städte und Dörfer setzt, ist es, das Versagen des Chavismus und die weitverbreiteten Gefühle des gesellschaftlichen Niedergangs auszuschlachten. Laut Meinungsumfragen hat seine Beliebtheit stark zugenommen. Seine Taktik besteht darin, ähnlich wie der Chavismus populistische Sozialprogramme vorzuschlagen und gleichzeitig die direkte Konfrontation zu vermeiden, und sie hat Früchte getragen. Hugo Chavez hat seinerseits die (Schein-)Erfolge seiner Armutsprojekte und seine Qualitäten als „Wächter“ bzw. „Ordnungsfaktor“ gegen die Anarchie, die das venezolanische Kapital in seiner Gesamtheit bedrohe, in die Waagschale geworfen.
Trotz all seiner Schwächen (Verlust der Kontrolle über die Provinzregierungen, Interessenskonflikte in den eigenen Reihen, die Erkrankung von Chavez, etc.) beabsichtigt der Chavismus nicht, von der Macht zu lassen, und hat in den letzten Monaten insbesondere dort nichts unversucht gelassen, wo die Opposition möglichweise Vorteile erzielen könnte: Er ordnete die obligatorische Mitgliedschaft der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (die chavistische Partei) an, erschwerte die Stimmenabgabe aus dem Ausland, besonders aus Miami und Spanien, neutralisierte die Parteien, die die Opposition unterstützen (PODEMOS, PPT, COPEI), durch Urteile des Obersten Gerichtshofes, etc. Dazu zählt auch die Kontrolle, die über die Medien und die Kommunikationsmittel ausgeübt wird und Chavez einen entscheidenden Vorteil auf der Ebene der Wahlpropaganda verschafft.
Chavez hat auch andere Strategien ausgeklügelt, die ihm helfen sollen, die Wahlen zu gewinnen. Er hat bereits angedeutet, dass die Opposition einen Plan zur Anprangerung eines Wahlbetrugs in der Schublade habe. Bei dieser Strategie verlässt er sich stets auf die Staatsmacht und besonders auf die Armee, die längst ihren Status als „professionelle, keine Entscheidung treffende und unpolitische Kraft zu Diensten der Nation“ zugunsten des Daseins als „eine patriotische, antikapitalistische, anti-imperialistische und chavistische Kraft“ aufgegeben hat. Hieraus wird klar, was hinter den häufigen Drohungen von Chavez und seiner Entourage gegen Opponenten steckt.
Auch die an der Macht befindliche Partei beschuldigt die Opposition, sich zu weigern, die Wahlergebnisse, deren Verkündung dem Nationalen Wahlgremium (NEC) zustehen, anzuerkennen. Daher schlägt die Regierung Alarm, um ihre Opponenten daran zu hindern, die Bevölkerung aufzuwiegeln, wenn das NEC den Triumph von Chavez verkündet. Die Opposition hat ihrerseits erklärt, dass sie dem NEC keinen Freibrief ausstellen könne, da es sowohl Richter als auch Beteiligter ist und Sanktionen gegen die Opposition verhängt habe, ohne hingegen die Gesetzesmanipulationen der Regierung zu kritisieren. Kurzum: dies ist schlicht und einfach eine Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen Parteien, in der jeder Clan Tricks benutzt, die typisch für eine Klasse sind, die ihren Griff nach der Macht verstärkt.
Das venezolanische Proletariat muss wachsam bleiben und darf nicht zum Opfer dieser „letzten Schlacht“ zwischen den Kräften des nationalen Kapitals werden, die es für ihre Machtkämpfe zu mobilisieren versuchen.
Der Chavismus hat einige sehr mächtige ideologische Waffen zur Mobilisierung der „Armen“ und der „Ausgeschlossenen“, die noch immer hoffen, dass Chavez zu seinen Versprechen steht, insbesondere zu jenen über die „Missionen“, die in der Theorie sich „gegen die räuberische Bourgeoisie (richten), die zurück in die Vergangenheit gehen wollen“. Doch Chavez bereitet sich auch auf eine bewaffnete Konfrontation vor, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Er weiß, er kann dabei auf die bolivarischen Milizen und auf die Stoßtruppen zählen, die sich in etlichen „Kollektiven“ sowohl in Caracas als auch im Landesinnern gebildet haben und vom Staat bewaffnet werden.
Die oppositionellen Kräfte ihrerseits werden, auch wenn sie keine öffentliche Strategie für den Fall einer Machtdemonstration haben, nicht verschränkten Armen zuschauen. Zu ihnen zählen traditionelle Parteien wie die sozialdemokratische Demokratische Aktion, die eine jahrzehntealte Erfahrung in der Organisierung bewaffneter „Kollektive“ besitzt. In den Reihen der Opposition gibt es auch Organisationen auf der Linken, die anfangs den Chavismus unterstützt hatten und sich gut mit seinen Konfrontationsmethoden auskennen.
Die ArbeiterInnen müssen sich darüber bewusst sein, dass es unmöglich ist, gegen prekäre Arbeit und Ausbeutung zu kämpfen, indem sie die Regierung auswechseln. Die Krise des Kapitalismus wird bleiben und sich vertiefen, wer von beiden – Chavez oder Capriles - auch immer gewinnt. Beide werden Austeritätsprogramme einführen.
Wir dürfen nicht in die ideologische Falle tappen, die von jenen ausgehoben wurde, die behaupten, dass es in dieser Wahl um „Kommunismus vs. Demokratie“ oder um „das Volk gegen die Bourgeoisie“ gehe. Beide, Chavez und Capriles, vertreten staatskapitalistische Programme, deren Grundlage allein die Ausbeutung des venezolanischen Proletariats ist.
Die Wahlauseinandersetzungen sind nur ein Moment in der Konfrontation zwischen den verschiedenen Fraktionen des nationalen Kapitals. Das Proletariat darf sich nicht in die Konflikte zwischen bürgerlichen Banden hineinziehen lassen. Es muss mit der demokratischen Ideologie brechen, die Lehren aus seinen eigenen Kämpfen ziehen, seine Bemühungen fortsetzen, um seine Klassenidentität, seine Einheit und Solidarität wiederzuentdecken.
Revolucion Mundial, Oktober 2012
(1) Die lokale Währung.
(2) Mit dem Staatsstreich zwischen dem 11. und dem 13. April 2002, der angeführt wurde von Pedro Carmona, wurde vergeblich versucht, Chavez von der Macht zu entfernen.
Am Montag, den 10. September 2012, streikten die LehrerInnen in Chicago zum ersten Mal seit 25 Jahren und nach Jahren des Angriffs auf ihre Vergünstigungen, des Lohnstopps und der noch haarsträubenderen und entwürdigenden Arbeitsbedingungen.
Dieser Streik knüpft nahtlos an jene Streiks an, die im Sommer wie Pilze aus dem Boden schossen, Streiks der New Yorker Beschäftigten von Con-Edison (einem US-Energieversorger), der Schulwarte in Houston, der ArbeiterInnen der Palermo Pizza-Fabrik in Milwaukee, Wisconsin – um nur einige der bekannteren Streiks zu erwähnen – und mehr als ein Jahr zurückreichend der Streik der Beschäftigten des IT-Unternehmens Verizon in New York City sowie die öffentlichen Kundgebungen der öffentlichen Angestellten in Madison, Wisconsin. Nun haben die LehrerInnen endlich gleichgezogen! Als Teil der Arbeiterklasse sind die LehrerInnen nicht ausgespart geblieben von der Wirtschaftskrise und den schonungslosen Attacken unserer Machthaber gegen ihren Lebensstandard und ihre Arbeitsbedingungen. Bisher waren die LehrerInnen wegen ihrer Stellung als Teil des öffentlichen Sektors, der damit beauftragt ist, die künftige Arbeitergeneration auszubilden, damit sie die Bedürfnisse eines nach Profit und Konkurrenz strebenden Kapitalismus befriedigen, durch eine brutale Medienkampagne verunglimpft und dämonisiert worden, die zwei wesentliche Zwecke verfolgt:
1. die Arbeiterklasse zu spalten, einen Bereich gegen den anderen auszuspielen;
2. die drakonischen Maßnahmen gegen Jobsicherheit, Vergünstigungen und Arbeitsbedingungen mit dem Hinweis auf die so dringend benötigte „Bildungsreform“ zu rechtfertigen.
Diese Attacken und Kampagnen sind ein internationales Phänomen, das auch in Frankreich, Griechenland, Spanien, Portugal, Holland, Italien, Großbritannien, Deutschland, Österreich und im Rest der Welt stattfand und stattfindet. Die Reaktionen waren häufig massiv gewesen, nicht nur in den europäischen Ländern, sondern auch in Indien, in Afrika (Swasiland) und Lateinamerika. Die Mobilisierung der Chicagoer LehrerInnen reiht sich ein in den erwachenden internationalen Klassenkampf gegen die Angriffe der Bosse.
Es gibt viele Gründe für die Unzufriedenheit der LehrerInnen. Ungeachtet der Behauptung des Chicagoer Bürgermeisters Rahm Emanuel, dass der Streik keinen ökonomischen Grund habe, und seines lächerlichen Ersuchens einer gerichtlichen Unterlassungsklage gegen die „illegal“ streikende Gewerkschaft gibt es jede Menge wirtschaftlicher Belange, die die LehrerInnen in den Streik getrieben haben: das Einfrieren der Beitragsraten der Krankenkassen, die Einführung einer neuen Lehrerevaluierung auf der Basis von Prüfungsleistungen der Studenten, d.h. ein Angriff auf die Jobsicherheit besonders im Zusammenhang mit der drohenden Schließung von mindestens 100 Schulen und und und. Die „Gehaltserhöhung“, die dieser Kontrakt feilgebot, würde nicht einmal ausreichen, um die erweiterten Schultage und –jahre zu bezahlen, und dies nennen sie eine Erhöhung! Sind diese keine ökonomischen Themen?? Nur unsere Bosse und Machthaber, die keine wirtschaftlichen Sorgen haben, die sie nicht schlafen lassen, empfinden diese Attacken nicht als ökonomisch! Aber natürlich liegen die LehrerInnen völlig richtig, wenn sie über die rein ökonomischen Fragen hinausgehen. Sie verlangen den Respekt all ihrer Klassenbrüder und -schwestern für ihren Kampf um ihre Würde als menschliche Wesen, für ihre Weigerung, ihre Leidenschaft fürs Lehren zu einem Gegenstand zu machen, der sich durch standardisierte Tests messen ließe, und für ihre Weigerung, ihre SchülerInnen der Mentalität und Praxis unserer Bosse auszusetzen, die menschliche Wesen als Objekte betrachten, welche sich entsprechend des Gesetzes der kapitalistischen Profitabilität und Konkurrenz quantifizieren lassen, die die Menschen auf bloße Waren reduzieren, welche verkauft oder verschleudert werden. Dies ist im Kern die Bedeutung ihrer vielgepriesenen Bildungs-„Reform“! Sie läuft auf eine versicherungstechnische Kalkulation hinaus: Wie viel sind die Bosse angesichts der durch die unaufhaltsame Krise ihnen aufgezwungenen Umstrukturierung der Arbeitskraft bereit für die öffentliche Bildung zu „verschwenden“? Wir können unseren KollegInnen Lehrer nur sagen: Wir bewundern und unterstützen eure Courage! Ihr seid eine Inspiration für alle von uns, die unter denselben Bedingungen leiden!
In den Medien drücken die herrschende Klasse und die Bosse ihre Sorge darüber aus, was dieser Streik für die Perspektive der Wiederwahl eines demokratischen Präsidenten bedeuten wird. Machen sie sich Sorgen darüber, dass die Arbeiterklasse immer mehr in der Lage sein wird, ihre Vernebelungsaktionen und Mystifikationen zu durchschauen und sich zu vergegenwärtigen, dass – ob nun blau (republikanisch) oder rot (demokratisch) lackiert – der Umfang, die Ziele und der Inhalt der Attacken im Grunde dieselben sind? Wenn sie sich Sorgen machen, dass die Arbeiterklasse sich irgendwann sagt, dass der wahre Kampf auf den Straßen ausgetragen werden muss, zusammen mit andern ArbeiterInnen, und nicht an der Wahlurne, dann täte die Arbeiterklasse auch gut daran, über die Rolle nachzudenken, die beide Parteien bei der Implementierung der Attacken spielen, und sodann die Frage stellen: Wer ist unserer wahrer Freund? Wem sollten wir uns zuwenden, um Hilfe zu bekommen? Ist das offizielle „Gewerkschaftswesen“ die Antwort auf diese Frage? Wie kann die Antwort „ja“ lauten, wenn die Gewerkschaftsführer hinter geschlossenen Türen mit den Bossen verhandeln? Wie kann es möglich sein, dass sie unsere Freunde sind, wenn Vertrag für Vertrag unsere Arbeits- und Lebensbedingungen immer mehr ausgehöhlt werden? Wie können wir ihnen glauben, wenn sie etwas, was für jedem Arbeiter eine Niederlage ist, als einen „Sieg“ preisen, da es ja noch viel „schlechter“ hätte kommen können? Ist es nicht genau dies, was uns Karen Lewis (Führerin der Chicagoer Lehrergewerkschaft) frecherweise sagen wollte, als sie damit hausieren ging, dass Rahm Emanuel sein Vorhaben, die LehrerInnen auf der Grundlage von Prüfungsleistungen der Studenten zu bewerten, immerhin von 40 auf 25 Prozent herabgesetzt habe? Doch wenn wir der offiziellen Gewerkschaft nicht trauen können, wem dann?
Die effektivste Art, einen Kampf zu führen, ist die Etablierung offener Generalversammlungen, wie die ArbeiterInnen es in der Geschichte bereits getan hatten und es nun wieder von neuem lernen. Wir haben erste Versuche, die Bestimmung des Kampfes in unsere eigenen Hände zu nehmen, in Spanien während der Indignado-Bewegung und hier in den Staaten in der Occupy-Bewegung gesehen. Was diese Bewegungen anzeigen, ist das Bedürfnis, einen Raum für offene Diskussionen zu schaffen, in dem wir frei und schöpferisch reale Lösungen für unsere Probleme in Betracht ziehen können. Wir sind die einzigen „Experten“, und die Verantwortlichkeit für unsere Entscheidungen sollte allein den Arbeitergeneralversammlungen überlassen werden, die von den ArbeiterInnen selbst kontrolliert werden. Wenn wir in der Lage sind, den Kampf in unsere Hände zu nehmen, ist es möglich, ihn auf andere Sektoren und ArbeiterInnen, auf Eltern und Studenten auszuweiten und auf diese Weise zu einer wirklichen Stärke, Einheit und Solidarität zu gelangen sowie aus der Isolation auszubrechen, in die uns unsere Gewerkschaften sperren! Die Sympathie, die euer Streik unter vielen anderen ArbeiterInnen, selbst unter Eltern, die eine Menge Schwierigkeiten haben, jemand zu finden, der sich um ihre Kinder kümmert, geweckt hat, sagt genug über die Notwendigkeit aus, den Kampf auszuweiten, wirkliche Solidarität auszudrücken, dem Rest der Arbeiterklasse Vertrauen zu schenken. Dieser Streik ist einstweilen in der Isolation ertränkt worden, und die LehrerInnen sind an die Arbeit zurückgekehrt, ohne in Bezug auf den Vertrag auch nur irgendetwas erreicht zu haben. Doch wenn die LehrerInnen imstande sind, etwas in Bezug auf die Lehren, wie man effektiver kämpfen kann und wer unsere wirklichen Freunde und Feinde sind, erlangen, dann werden sie nicht verloren haben.
In den zwei Wochen vor der endgültigen Unterzeichnung des Kontrakts sollten die LehrerInnen zusammenkommen, um zu diskutieren und die Lehren aus diesem Kampf zu ziehen, und sich darauf vorbereiten, aus der Isolation, die von der Gewerkschaft durchgesetzt wurde, auszubrechen, indem sie zu anderen ArbeiterInnen gehen und offene Diskussionsforen abhalten, wo die Entscheidungen kollektiv getroffen werden und in den Händen der ArbeiterInnen selbst verbleiben.
Internationalism 10.9.2012
Am 15. September gingen über 700.000 Menschen auf die Straßen Lissabons und anderer portugiesischer Städte, um gegen die Sparpolitik der neuen Regierung von Pedro Coelho zu demonstrieren. Ein siebenprozentiger Anstieg der TSU – eine einheitliche Sozialversicherungssteuer – für ArbeiterInnen zusammen mit einer 5,75%-igen Kürzung der Beiträge der Bosse stand hinter diesem spontanen Zornesausbruch, der die offiziellen Gewerkschaften außen vor ließ. Die Demonstrationen waren vorwiegend durch soziale Netzwerke organisiert worden. Angesichts des massiven Ausmaßes der Demonstrationen schien die Regierung zeitweilig den Rückzug anzutreten. Jedoch sollte man sich keine Illusionen machen: Dies macht sie nur, um morgen noch effektiver mit denselben Maßnahmen aufzuwarten, dies zudem mit dem Beistand von Gewerkschaften wie die CGTP (Allgemeine Konföderation der portugiesischen Arbeiter), die nächstes Mal besser positioniert sein werden, um das Terrain zu besetzen, wie sie dies mehr als ein Jahr lang getan haben, und die ihren eigenen Beitrag leisten, um die Sparmaßnahmen durchzupauken. Die CGTP reagierte schnell, um die Kontrolle über die Bewegung zu erlangen. Sie rief sofort zu einer neuen Demonstration für den 29. September auf, die diesmal von ihren eigenen Vertrauensleuten beaufsichtigt werden und unter ihren eigenen Schlachtrufen stehen sollte – eine Demonstration, die allerdings weitaus weniger Zulauf hatte.
In Griechenland gab es am 26. September im Anschluss an den dritten Generalstreik, zu dem die Gewerkschaften, insbesondere die PAME, aufgerufen hatten, neue Demonstrationen in Saloniki und Athen mit mehr als 30.000 ArbeiterInnen. Die Wut war so groß, dass es erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam, einschließlich Auseinandersetzungen zwischen streikenden Polizeibeamten und den Ordnungskräften!
In Spanien demonstrierten Zehntausende am 25. September vor dem Parlament, das von 2.000 Polizeikräften beschützt wurde, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen. Es gab Ausbrüche unkontrollierter Polizeigewalt „wie zu Zeiten Francos“, wie Augenzeugen berichten. Fünf Tage später, am 29. September, wurde das Parlament erneut umzingelt.
In Italien waren 30.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst auf den Straßen Roms unterwegs, um gegen eine neue Serie von Sparmaßnahmen (Rentenkürzungen und „Abstufungen“) zu protestieren.
Kurzum, die letzte Septemberwoche hatte eine steigende Wut in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern als Reaktion auf die brutalen Angriffe und die endlose Abfolge von Sparplänen erlebt.
Die Regierungen wie auch die Oppositionsparteien und Gewerkschaften schieben sich gegenseitig die Verantwortung für diese Maßnahmen der aus der EU, der Europäischen Zentralbank und dem IWF zusammengesetzten „Troika“ zu. All diese Leute wollen uns glauben machen, dass das Problem der Krise von Land zu Land gelöst werden könne, und versuchen, unsere Köpfe mit der Illusion zu benebeln, dass die Welt nicht im gleichen Boot sitzt, dass manche Länder das Schlimmste vermeiden können, ihre Wirtschaft wieder zum Laufen bringen können, wenn sie die notwendigen Anstrengungen unternähmen. Die Berichterstattung über die wirtschaftliche Lage der PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) verfolgt den Zweck, die Illusion zu verstärken, dass die Dinge in Großbritannien oder Frankreich gar nicht so schlimm sind, obwohl auch dort Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen stattfinden. Und dies ist das Los der Arbeiterklasse überall auf der Welt: wachsende Ausbeutung, eine immer schlimmere Schlacht ums Überleben und die Geißel der Repression, falls wir aufbegehren.
Die Bourgeoisie tut alles, um zu verhindern, dass wir uns darüber bewusst werden, dass überall ArbeiterInnen angegriffen werden, um den Lernprozess zu blockieren, dass wir einer internationalen Klasse angehören. Daher berichten die Medien sehr wenig über Widerstandsbewegungen gegen die Austerität, es sei denn, diese sind zu groß, um verborgen zu bleiben. Und wenn, dann lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf angsteinflößende Bilder der Gewalt oder auf diese oder jene Schwäche der Bewegung. Daher ist es für uns, die Ausgebeuteten, umso wichtiger, über die Grenzen zu schauen, die Erfahrungen aus den gegenwärtigen und vergangenen Kämpfen zu diskutieren und die Lehren für die vor uns liegenden Kämpfe zu ziehen.
Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise. Dies muss unmissverständlich klar sein. Auch wenn sich jeder insgeheim eine schönere wirtschaftliche Zukunft wünscht – dieses kapitalistische System kann uns lediglich Armut und Elend anbieten. 30 Jahre lang haben sie uns weismachen wollen, dass morgen alles besser werden wird, wenn wir nur den Opfern von heute zustimmen. Aber dann öffnete jedes Opfer die Tür zu weiteren Opfern, die gar noch schlimmer waren! Es handelt sich hier aber nicht einfach um böswillige Absicht der Bosse oder des Staates. Es ist der unaufhaltsame Sturz in den Bankrott, der dem gesamten System diese unerbittliche Logik aufzwingt. (1)
Trotz des wachsenden Zorns, der sich in immer häufigeren Auseinandersetzungen mit der Polizei ausdrückte, haben sich die offiziellen „Aktionstage“ als nutzlos erwiesen. Jahrzehntelang haben wir erlebt, dass diese Art von „Aktionen“ als ein Mittel zur Sterilisierung und Eindämmung des Klassenkampfes dienten, die uns hinter den Gewerkschaftsflaggen aufreihen, uns in verschiedene Sektoren spalten und uns einzwängen zwischen den Polizeireihen und den Gewerkschaftslautsprechern, die jegliche wirkliche Diskussion verhindern.
Die Arbeiterklasse weiß dies mehr oder weniger, doch hat sie noch nicht klar und bewusst begriffen, dass sie ihre Kämpfe in eigene Regie nehmen muss, dass sie ihre eigenen Forderungen aufstellen muss, andernfalls die Bewegung verpuffen wird.
Hier ist das Beispiel Spaniens sehr aufschlussreich. Im vergangenen Jahr war die Bewegung der Indignados eine reale und mächtige Demonstration des Willens der Bevölkerung und der Arbeiterklasse, auf kollektive Weise, außerhalb der Gewerkschaften, zusammenzukommen, um gemeinsam darüber zu diskutieren, wie man sich gegen die Angriffe zur Wehr setzen und seiner Empörung über die elenden Bedingungen Ausdruck verleihen kann, die vom spanischen Staat durchgesetzt worden wurden. Der bedeutendste Aspekt war die Schaffung eines Raumes für Diskussionen auf der Straße durch eine ganze Reihe von Generalversammlungen, die jedermann und allen Kämpfen, die im Rest der Welt ausgefochten wurden, offen standen. In Spanien war, wenn ein(e) Arbeiter(in) aus dem „Ausland“ das Mikrophon ergriff, um seine/ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen und manchmal zu schildern, was im eigenen Land vor sich ging, die Sympathie unvermittelt und greifbar, der Empfang warm und enthusiastisch. An diesem Punkt waren die wenigen nationalen oder regionalen Fahnen und jene, die den Kampf auf die Forderung nach regionaler Unabhängigkeit reduzieren wollten, nicht besonders willkommen; jedenfalls wurden ihre Reden nicht großartig beklatscht. Und die Indignados-Bewegung ließ sich nicht innerhalb der spanischen Grenzen einsperren. Sie hatte in vielen Ländern, von Israel bis hin zu den USA und Großbritannien mit der Occupy-Bewegung, Ableger.
Die Bourgeoisie ist sich der potenziellen Gefahr wohl bewusst, die in der Reifung solch absonderlicher Ideen in den Köpfen der Ausgebeuteten steckt: Von ihrem Standpunkt aus ist es eine ungute Sache, wenn Gefühle der Solidarität im Verlaufe von Arbeiterkämpfen entstehen, vor allem wenn dies auf internationaler Ebene geschieht. Nun erleben wir eine Gegenoffensive durch die Bourgeoisie, die darauf abzielt, der Arbeiterklasse das Gift des Nationalismus und Regionalismus einzuflößen. So wurde während des Aktionstages am 15. September unter dem Slogan „Wir dürfen uns nicht das Land von ihnen stehlen lassen“ zum „Sozialgipfel“ (CO, UGT [2] und 200 weitere Plattformen) in Madrid aufgerufen. Am 25. September organisierte eine Dachorganisation, die sich aus einer ganzen Reihe von Gruppen zusammensetzte, von der klassischen Linken des Kapitals wie die KP bis hin zu den zerfallenden Überresten der 15M-Bewegung, eine Protestaktion vor dem Abgeordnetenhaus „gegen die Beschlagnahme der nationalen Souveränität durch die Märkte“. All dies endete in Konfrontationen mit den Bullen (wobei Provokationen durch zwielichtige Elemente unübersehbar waren). Einen Tag später riefen die radikalsten Gewerkschaften (mit anderen Worten: die CGT und die CNT [3]) zusammen mit nationalistischen Gewerkschaften wie die ELA, LAB (4), etc. zu einem weiteren Generalstreik in ausgesuchten Teilen des Staates und zum Tag des Kampfes in anderen Teilen auf. Mit anderen Worten: sie riefen die ArbeiterInnen auf, für nationale Interessen zu kämpfen, die nicht die ihren sind. Die reale und ernste Gefahr dieser Art von Vereinnahmung wurde von der Tatsache unterstrichen, dass am 15. September eine Million Menschen an einer nationalistischen katalanischen Demonstration teilnahmen.
Am vielversprechendsten an der Indignados-Bewegung und den Diskussionen, die in ihr stattgefunden hatten, war die Hoffnung auf eine andere Welt. Diese Hoffnung, dieses Selbstvertrauen, das die Arbeiterklasse entwickeln muss, ist ein mächtiger Hebel, um aus den Fallen auszubrechen, die von einer verzweifelten Bourgeoisie gestellt werden. Dies wird es ermöglichen, über Methoden hinauszugehen, die nur in der Demoralisierung enden.
Dies wird jedoch nicht durch Zauberhand zustande kommen, sondern durch die tiefe Überzeugung, dass die einzige Perspektive für die Menschheit von einer Arbeiterklasse offeriert wird, die international vereint ist und sich auf den Sturz dieser verwesenden Gesellschaftsordnung zubewegt. Der Ernst der Krise bringt eine Menge Wut mit sich, hat aber auch einen Furcht einflößenden Aspekt: Er macht klar, dass es nicht darum geht, diesen oder jenen Boss zu verprügeln, diesen oder jenen Minister hinauszuwerfen, sondern um einen radikalen Wechsel des Systems, um ein Ringen für die Befreiung der gesamten Menschheit von den Ketten der Ausbeutung.
Sind wir dazu in der Lage? Können wir, die Arbeiterklasse, solch eine Aufgabe durchführen? Wie kann dies bewerkstelligt werden? Angesichts der Tatsache, dass der Kapitalismus nichts anderes anbieten kann als wachsende Barbarei, stellen wir uns, ob bewusst oder nicht, diese Fragen. Das Proletariat hat die Fähigkeit, sich zu vereinen, Solidarität zu etwas Handfesten zu machen, doch der Weg dahin ist niemals ein glatter, wie Karl Marx in den frühen Jahren der Arbeiterbewegung bemerkt hatte:
„Proletarische Revolutionen (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen:
Hic Rhodus, hic salta!
Hier ist die Rose, hier tanze!“
Wilma 28. September 2010
(1) So müssen wir das letzte Editorial der „revolutionären“ Zeitung Lutte Ouvrière unter die Überschrift „Kann es noch eine größere Lüge geben?“ setzen, erklärt es doch, dass es keine Krise gebe, dass alles an den Bossen liege, die sich ihre Taschen vollstopfen…
(2) Die CO (Arbeiterkommissionen) und die UGT (Allgemeine Arbeitergewerkschaft) sind die Mehrheitsgewerkschaften in Spanien. Erstere ist mit der Kommunistischen Partei verknüpft, Letztere mit den Sozialisten.
(3) Die CGT in Spanien ist eine anarchistische Gewerkschaft, eine Abspaltung von der historischen anarchistischen Gewerkschaft, der CNT.
(4) ELA und LAB sind zwei nationalistische baskische Gewerkschaften: Die erste ist „moderat“ (ursprünglich gegründet, um den „marxistischen“ und anarchistischen Gewerkschaften zu begegnen); die zweite ist Teil der abertzale, der (patriotischen) Linken.
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/islamismus
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/salafismus
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/richard-dawkins-das-egoistische-gen
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/darwin
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/lamarck
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/dawkins
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/darwinismus
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/utopischer-sozialismus
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/naher-osten
[10] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/befreiung
[11] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/dschihadismus
[12] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/milizen
[13] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/us-imperialismus-und-islamistischer-fundamentalismus
[14] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/sarkozy
[15] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/cameron
[16] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/blair
[17] https://de.internationalism.org/en/tag/3/51/terrorismus
[18] https://www.aljazeera.com/opinions/2012/9/13/economic-exploitation-of-palestinians-flourishes-under-occupation/
[19] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=521815
[20] https://altahrir.wordpress.com/2012/07/01/ramallah-protesters-attacked-by-palestinian-authority-police/
[21] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517262
[22] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517618
[23] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=518944
[24] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517945
[25] https://www.latimes.com/archives/blogs/world-now/story/2012-09-10/palestinians-protest-in-west-bank-cities-over-economy
[26] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=519320
[27] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=520696
[28] http://www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=521159
[29] https://www.haaretz.com/2007-06-13/ty-article/human-rights-watch-condemns-hamas-fatah-for-war-crimes/0000017f-dc8f-db22-a17f-fcbf605a0000
[30] https://libcom.org/article/palestinian-union-hit-all-sides
[31] https://de.internationalism.org/bilanzspangriechisrael
[32] https://es.internationalism.org/content/3121/comprendiendo-el-periodo-analisis-de-clase-y-los-acontecimientos-en-el-mundo-arabe
[33] https://de.internationalism.org/Welt174_Suedafrika
[34] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/palastina
[35] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/palastina
[36] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/palastinensische-behorde
[37] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/westbank
[38] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse
[39] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/venezuela
[40] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wahlen-venezuela
[41] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/chavismus
[42] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/militar
[43] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sozialismus-des-21-jahrhunderts
[44] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/hugo-chavez
[45] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/henrique-capriles
[46] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/vereinigte-staaten
[47] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/lehrerinnenstreik-chicago
[48] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/rahm-emanuel
[49] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/karen-lewis
[50] https://de.internationalism.org/en/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage
[51] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/europaische-union
[52] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/demonstrationen-und-proteste-portugal
[53] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/spanien-und-griechenland
[54] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/cnt
[55] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/cgt