Nach den 800 Zivilisten und 300 israelischen Soldaten, die bei einem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres getötet wurden, hat ein neuer Ausbruch der Barbarei 150 Tote und 300 Verletzte gefordert, die von einem Kommando des Islamischen Staates (IS) bei der Erstürmung eines Rockkonzerts am 25. März in der Peripherie von Moskau mit Kugeln niedergemäht und einigen mit Messern die Kehle durchgeschnitten wurden. Zwischen diesen beiden tragischen Ereignissen rissen die Schrecken der israelischen Offensive in Gaza und die Eskalation des blutigen Krieges zwischen Russland und der Ukraine immer wieder unschuldige Menschen mit ins Grab und machten ganze Städte dem Erdboden gleich: Ersteres war für mehr als 32.000 Tote verantwortlich, darunter mehr als 13.000 Kinder. Und die tödliche Kombination aus anhaltenden Bombenangriffen, zunehmender Hungersnot und der Ausbreitung von Epidemien unter einer buchstäblich am Ende ihrer Kräfte befindlichen Bevölkerung kann die Bilanz nur noch stark erhöhen. Die zweite, die Intensivierung des Krieges in der Ukraine, hat die zweijährige Bilanz des Ukraine-Konflikts auf die erschreckende Zahl von mindestens 500.000 Toten erhöht, ganz zu schweigen von den zivilen Opfern, den Ruinen und der Verwüstung, die nun die Umgebung eines Teils der Ukraine bilden und auch die russische Stadt Belgorod bedrohen, die regelmäßig von der ukrainischen Artillerie bombardiert wird, aber auch Moskau selbst und weite Teile Russlands.
Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung des Westblocks im Jahr 1990 sind die dem dekadenten Kapitalismus innewohnenden Kriege nicht mehr symptomatisch für die Spannungen zwischen zwei rivalisierenden imperialistischen Blöcken und der von ihnen ausgeübten Disziplin. Sie gehorchen immer mehr der Logik des „Jeder für sich“ und des allgemeinen Chaos. Die aktuelle Weltlage veranschaulicht diese Tendenz insofern, als sich ein Land, nämlich Russland, mit zwei Gegnern im Krieg befindet, nämlich der Ukraine und dem Islamischen Staat, die kein Bündnis miteinander eingegangen sind.
Denn hinter der Ungeheuerlichkeit des Moskauer Attentats schimmert der ganze Ernst der Weltlage durch. Als die USA Russland dazu veranlassten, in die Ukraine einzumarschieren, damit sie sich in diesem Konflikt selbst schwächt, wollten sie nicht deren Zusammenbruch mit all den immensen Risiken, die ein Zerfall dieses Landes mit sich bringt, herbeiführen. Dennoch ist dies heute ein ernsthaftes Risiko.
Auch der IS, der Schlächter des Anschlags in einem Vorort von Moskau, steht sinnbildlich für die Tendenz zu einem allgemeinen Chaos. Immer häufiger beteiligen sich finstere Milizen an imperialistischen Konflikten, indem sie versuchen, ihre Gesetze durch Terror durchzusetzen und sich manchmal selbst zu töten, immer unter dem Banner des religiösen Fundamentalismus nach dem Vorbild von Al-Qaida, Hisbollah, ...
Der Islamische Staat in Khorasan (IS-K), der die Verantwortung für den Anschlag in Moskau übernahm, ist ein afghanischer Zweig der Terrorgruppe. Sie veröffentlichte eine Bekennerbotschaft mit einem Video, das die vier Angreifer in Aktion zeigt. Es besteht kein Zweifel an der Bedeutung dieses barbarischen Akts, der auch ein kriegerischer Akt ist und in Russland nicht ohne Vorgeschichte ist. Bereits am 31. Dezember 2018 explodierte ein Gebäude in einer Stadt im Ural und tötete 39 Menschen. Wenige Stunden später war die Stadt Schauplatz einer bewaffneten Auseinandersetzung. Der IS-K hatte kürzlich seine „militärischen“ Fähigkeiten demonstriert, da er hinter dem Anschlag im Iran am 3. Januar stand, bei dem fast neunzig Menschen getötet wurden. Seine Mitglieder, die in Afghanistan besonders brutale Angriffe auf Mädchenschulen und Krankenhäuser durchführen, befinden sich heute sogar in einem offenen Kampf mit den Taliban.
Die Rivalität zwischen dem IS-K und Moskau ist eine Folge der Schwächung Russlands an seinen Grenzen, die das Eindringen der Terrorgruppe in die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken (Kirgisien, Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan, aus denen die Attentäter stammen) und einige autonome Republiken in der Russischen Föderation selbst ermöglicht hat. Die Annäherung zwischen Moskau und den Taliban erklärt sich somit aus dem Bedürfnis Russlands, seinen Einfluss in der Region zu verteidigen. Für Russland bedeutet dies jedoch die Eröffnung einer zweiten militärischen Front in einer Situation, in der es sich in einem endlosen Krieg in der Ukraine erschöpft.
Die Art und Weise, wie Putin mit dem Terroranschlag in Moskau umgegangen ist, kann nur zu einer Schwächung seiner Glaubwürdigkeit führen. Seine erste Reaktion, die Ukraine direkt oder indirekt für den Anschlag verantwortlich zu machen, war grotesk, obwohl alles auf den IS hindeutete, da die USA zuvor verschiedene Länder, darunter auch Russland, gewarnt hatten, die möglicherweise Ziel von Terroranschlägen waren. Als Putin seinen Fehler bemerkte, setzte er der Groteske noch eins drauf, indem er erklärte, es bestünden weiterhin Zweifel daran, wer den Anschlag in Auftrag gegeben habe. Als dann der IS den Anschlag für sich beanspruchte, war es um ihn geschehen. Er konnte nichts anderes tun, als sich bedeckt zu halten, zumal es einen Präzedenzfall gab, der die Wahrscheinlichkeit der von den US-Geheimdiensten übermittelten Warnung untermauerte.
Tatsächlich konnte dieser Terroranschlag umso weniger eine Überraschung für den Kreml darstellen, als „Wladimir Putin bereits am 15. Oktober 2021 ‘über die Ambitionen und die Stärke der dschihadistischen Gruppe Islamischer Staat in Afghanistan’ alarmiert war und die ‘Kampferfahrung’ hervorhob, die ihre Mitglieder im Irak und in Syrien gesammelt hatten“. Putin, der die Fähigkeit der afghanischen Taliban, diese bewaffneten Gruppen zu besiegen, in Frage stellte, meinte damals, dass „die Anführer des IS Pläne schmieden, um ihren Einfluss in den Ländern Zentralasiens und den russischen Regionen auszuweiten, indem sie ethnisch-konfessionelle Konflikte und religiösen Hass schüren“.[1] Mehr noch: Der IS-K hatte bereits im September 2022 einen Anschlag auf die russische Botschaft in Kabul organisiert. Putin hat also gerade einen riesigen Fehltritt begangen, der sicherlich nicht unbemerkt bleiben wird, während er eine Frühjahrskampagne zur Einberufung von 150.000 Menschen zum obligatorischen Militärdienst startet – im Grunde: eine Kampagne zur Requirierung von Kanonenfutter für den Krieg. Dieser Fehltritt untergräbt nur seine Autorität und seine Legitimität gegenüber seinen Rivalen.
Während der Krieg die Autorität des Kremls immer weiter schwächt, wächst die Gefahr, dass die Russische Föderation schlicht und einfach auseinanderbricht. Die Folgen eines solchen Auseinanderbrechens wären in erster Linie die Verteilung des Atomwaffenarsenals auf verschiedene Kriegsherren mit unkontrollierbaren Handlungen. Es würde auch eine gewaltige Flucht ins Chaos bedeuten, und das inmitten einer Region, die für die Weltwirtschaft von besonderer strategischer Bedeutung ist (Rohstoffe, Transport, etc.). Dieser neue Kriegsherd ist also weit davon entfernt, irgendeiner Kriegspartei zu nützen, und hat erhebliche dramatische Folgen für einen Teil der Welt.
Fern, 3. April 2024
[1] "Attentat près de Moscou : l'Asie centrale, nouvelle tête de pont de l'organisation État islamique", Le Monde (25 March 2024).
Die organisierte Gewalt im Nahen Osten hat weltweit tiefe Empörung ausgelöst. Erstens wegen des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober, bei dem 1200 israelische Bürgerinnen und Bürger getötet und 2700 verletzt wurden, und zweitens wegen des anhaltenden Massenmords der israelischen Verteidigungskräfte (IDF) an der Bevölkerung des Gazastreifens. Revolutionäre Organisationen haben die Pflicht, diese imperialistische Barbarei anzuprangern, wie sie es im Laufe der Geschichte der Arbeiterbewegung getan haben, und zwar seit dem Manifest "An die Arbeiter aller Nationen" der Pariser Mitglieder der Internationale: "Krieg wegen einer Frage der Vorherrschaft oder einer Dynastie kann in den Augen der Arbeiter nichts anderes sein als ein verbrecherischer Wahnsinn".[1]
Angesichts dieser Verantwortung sind also Gruppen wie die Internationale Kommunistische Tendenz (IKT), Internationalist Voice oder Internationalist Communist Perspective (Korea) dieser grundlegenden Pflicht nachgekommen, indem sie in ihren Artikeln eine klare internationalistische Position zum Krieg im Nahen Osten vertreten haben.
- "Die Arbeiterklasse muss sich weigern, in die Kriege der herrschenden Klasse hineingezogen zu werden, und gegen die Ausbeuter in beiden Ländern kämpfen. Es gibt nur einen Weg für die israelische und die palästinensische Arbeiterklasse [...]: den Kampf über Nationen und Grenzen hinweg für die gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse. Nur ein internationaler Klassenkampf zum Sturz des kapitalistischen Systems kann dem Blutvergießen und den Kriegen ein Ende setzen".[2]
- "Nur der Klassenkampf der Arbeiter kann eine Alternative zur Brutalität des Kapitalismus bieten, denn das Proletariat hat kein Vaterland zu verteidigen, sein Kampf muss nationale Grenzen überschreiten und sich international entwickeln".[3]
- "Alle Bourgeoisien sind gleichermaßen Todfeinde der ArbeiterInnenklasse, die nicht einen Tropfen Blut für diejenigen vergießen sollte, die sie ausbeuten, um ihre nationalistischen und imperialistischen Ziele zu verfolgen. [...] Vor diesem Hintergrund ist die grundlegende Orientierung auf die Klasseneinheit aller Sektoren der ArbeiterInnenklasse – gegen die Bourgeoisie und die imperialistische Zielsetzung ihrer Staaten umso wichtiger".[4]
Im Fall der verschiedenen bordigistischen Gruppen ist die Situation differenzierter. Als Teil des revolutionären Milieus ist ihre Position insofern grundsätzlich internationalistisch, als sie das imperialistische Massaker anprangern und jegliche Unterstützung für die eine oder andere der gegnerischen Seiten ablehnen. Doch trotz der großen Reden über ihr internationalistisches Engagement ist ihre konkrete Verteidigung des Internationalismus nicht unmissverständlich. Indem die einen den Kampf gegen die "nationale Unterdrückung" der palästinensischen Proletarier und Massen unterstützen, die anderen die Vorstellung haben, dass diese Massaker eine Entwicklung der Arbeiterkämpfe in der Region und weltweit hervorbringen werden, offenbaren diese Gruppen gefährliche Unklarheiten darüber, wie der proletarische Internationalismus in der gegenwärtigen Periode des kapitalistischen Zerfalls gefördert und verteidigt werden soll.
Die Internationale Kommunistische Partei (IKP – Le Prolétaire) ruft hinter ihrer Solidaritätserklärung gegenüber den palästinensischen Proletariern in Wirklichkeit zum Kampf gegen die nationale Unterdrückung der Palästinenser auf: "Palästina: ein Proletariat und ein Volk, die dazu verurteilt sind, abgeschlachtet zu werden. Israel: ein Staat, der aus der Unterdrückung des palästinensischen Volkes entstanden ist, und ein jüdisches Proletariat, das in den unmittelbaren Vorteilen gefangen ist und zum Komplizen dieser Unterdrückung wird".[5] Während also internationalistische Revolutionäre die Spirale imperialistischer Konfrontationen zwischen den Bourgeoisien anprangern sollten, in die die verschiedenen Fraktionen des Proletariats im Nahen Osten hineingezogen werden, sollten sie bei den Arbeitern für die Ablehnung jeder Bewegung der "nationalen Befreiung" werben, denn "Proletarier haben kein Vaterland", ruft Le Proletaire zunächst zu einem Kampf auf, um die Unterdrückung der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland durch Israel zu beenden, was in der Folge jede Solidarität mit der israelischen Arbeiterklasse ausschließt, die „in den unmittelbaren Vorteilen gefangen und zum Komplizen dieser Unterdrückung" werde.
Eine andere Gruppe, die IKP - Il Partito Comunista, scheint überzeugende internationalistische Positionen zu vertreten, wenn sie schreibt: "Wir müssen die palästinensischen und israelischen Proletarier aufrufen, sich nicht von ihrer Bourgeoisie täuschen zu lassen [...], sich nicht als Kanonenfutter in Kriegen zu opfern, die ihren Interessen zuwiderlaufen". Aber im nächsten Satz fügt sie hinzu: "Wir müssen die jüdisch-israelischen Proletarier dazu aufrufen, die Kriegsanstrengungen ihrer imperialistischen und völkermordenden Bourgeoisie zu sabotieren und gegen ihre Bourgeoisie und die nationale Unterdrückung ihrer palästinensischen Klassenbrüder zu kämpfen".[6] Sie ruft hier also nicht zur internationalen Solidarität aller Proletarier gegen den imperialistischen Krieg auf, sondern fordert die israelischen Proletarier dazu auf, den Kampf der palästinensischen Arbeiter gegen diese nationale Unterdrückung zu unterstützen.
Schließlich stellt die IKP - Il Programma Comunista die Erschöpfung der antikolonialen "nationalen revolutionären" Bewegungen fest und stellt daher in Aussicht, dass "in dieser schrecklichen Situation das Proletariat des Nahen Ostens die Kraft finden kann, den Schlingen des Opportunismus, die es gefangen halten, zu entrinnen. Wir wünschen uns, dass es, wie in den großen Schlachten der Vergangenheit, die besten Kämpfer für seine Sache aufstellen kann, damit es die leider unvermeidliche Niederlage von heute zum Ausgangspunkt einer siegreichen Zukunft machen könne".[7] Mit anderen Worten: Sie propagiert die trügerische Aussicht, dass das Proletariat im Nahen Osten allein, mobilisiert hinter religiösen und nationalistischen Mystifikationen und zermalmt von imperialistischen Massakern, die Lehren aus diesen Niederlagen ziehen und die Grundlage für das Wiederaufleben von Kämpfen bilden könne, die an die "großen Schlachten der Vergangenheit" anknüpften (man fragt sich: welche? – vielleicht die sogenannten "national-revolutionären Bewegungen" der 1960er und 1970er Jahre, in denen die Arbeiterklasse des Nahen Ostens hinter verschiedenen nationalen bürgerlichen Fraktionen mobilisiert wurde?).
Auch wenn diese Organisationen nicht offen eine imperialistische Seite unterstützen (weder die palästinensische Bourgeoisie im Westjordanland noch die im Gazastreifen), lassen sie die Tür offen für eine Unterstützung des Kampfes der palästinensischen „Massen" und des „Volkes" gegen ihre nationale Unterdrückung, was die Kluft zwischen der Arbeiterklasse in Israel und der in den arabischen Ländern nur noch vertiefen kann. Dieses Abgleiten der sogenannten „national-revolutionären" Perspektive stellt eine Bedrohung für die internationalistische Positionierung dieser Organisationen dar.
Der proletarische Internationalismus ist eine Klassengrenze, die im Angesicht des imperialistischen Krieges die Arbeiterklasse von der Bourgeoisie trennt. Diesen Grundsatz müssen wir jederzeit mit Zähnen und Klauen verteidigen: in unseren Interventionen in den Arbeiterkämpfen, in unseren öffentlichen Veranstaltungen, in unseren Berichten und in unserer Presse. In diesem Sinne machen wir uns Lenins Worte zu eigen: "Es gibt nur einen wirklichen Internationalismus: die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern. Alles andere ist Betrug und Manilowerei."[8] Die Bolschewiki standen mit ihrer Kritik an opportunistischen Positionen in der Kriegsfrage oft allein da, aber das war ein unverzichtbarer Teil ihrer Arbeit am Aufbau der Weltpartei. Dieser theoretische Kampf war und ist wesentlich, um alle Konsequenzen einer internationalistischen Position zu vertiefen und Revolutionäre von den Feinden der Arbeiterklasse, insbesondere den Sozialchauvinisten, zu unterscheiden.
In der Periode des kapitalistischen Niedergangs, einer Periode, in der sich die durch die kapitalistische Produktionsweise geschaffenen Produktionsverhältnisse in ein immer größeres Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte verwandelt haben, hat die Bourgeoisie keine fortschrittliche Rolle mehr bei der Entwicklung der Gesellschaft zu spielen. Die Schaffung einer neuen Nation, die rechtliche Verfassung eines neuen Landes, ermöglicht heute keinen wirklichen Fortschritt in der Entwicklung, zu dem die ältesten und mächtigsten Länder selbst nicht in der Lage sind. In einer Welt, die von imperialistischen Auseinandersetzungen beherrscht wird, stellt jeder Kampf um "nationale Befreiung", weit davon entfernt, eine fortschrittliche Dynamik zu sein, in Wirklichkeit nur eine Episode imperialistischer Auseinandersetzungen dar, an denen die freiwilligen oder gezwungenermaßen eingezogenen Proletarier und Bauern nur als Kanonenfutter teilnehmen.
Die Bewegungen zur "nationalen Befreiung", die insbesondere die 1960er und 1970er Jahre prägten, zeigten deutlich, dass die Ersetzung der Kolonialherren durch eine nationale Bourgeoisie keineswegs einen Fortschritt für das Proletariat darstellte, sondern es stattdessen in zahllose imperialistische Interessenkonflikte hineinzog, in denen Arbeiter und Bauern massakriert wurden. Aber der veraltete theoretische Rahmen der bordigistischen Gruppen hindert sie daran, die tatsächlichen Herausforderungen zu verstehen, mit denen das internationale Proletariat und seine Elemente in Israel/Palästina im imperialistischen Inferno von Gaza konfrontiert sind.
Le Prolétaire analysiert die Palästinafrage weiterhin im Rahmen des „‘national-revolutionären‘ Unabhängigkeitsgeistes und -schubs, der die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung in Algerien, im Kongo und später in Angola und Mosambik kennzeichnete und der lange Zeit auch für die spontane Revolte des palästinensischen Proletariats kennzeichnend war".[9] Das Drama und die Herausforderung der palästinensischen "Befreiungsbewegung" besteht für Le Prolétaire darin, dass "das gigantische Klassenpotenzial, das vom palästinensischen Proletariat und den proletarisierten Massen repräsentiert wird, sich zwar in ihrem bewaffneten und unbezwingbaren Kampf in Palästina, Libanon, Syrien und Jordanien manifestiert, aber kein eigenständiges politisches Klassenprogramm zum Ausdruck bringt, das die nationale Bewegung leiten könnte". So ruft diese Gruppe immer noch zu einer palästinensischen "Befreiungsbewegung" auf, während Revolutionäre stattdessen die Position vertreten müssen, dass heute alle Staaten, alle Bourgeoisien imperialistisch sind und dass Proletarier unter keinen Umständen Bewegungen gegen nationale Unterdrückung unterstützen dürfen.
Il Partito Comunista teilt grundsätzlich denselben Rahmen, denn er formuliert die Kritik, dass dieser Krieg kein echter "nationaler Befreiungskampf" der Palästinenser sei, weil ein solcher Kampf "die Bevölkerung von Gaza nicht mit solchem Zynismus der entsetzlichen Rache Israels ausgesetzt hätte".[10] Während Revolutionäre dazu aufrufen müssen, jegliche Unterstützung für nationalistische Ziele zurückzuweisen, besteht diese Gruppe darauf, die Unterstützung der israelischen Arbeiterklasse für den Kampf gegen die nationale Unterdrückung zu gewinnen, und bedauert zynisch, dass das von der Hamas verübte Massaker dies unmöglich gemacht habe: "Darüber hinaus hätte der Kampf gegen die abscheuliche nationale Unterdrückung, die den Palästinensern auferlegt wurde, sogar die Unterstützung der Israelis, hauptsächlich der Arbeiterklasse, gewinnen können, wenn er nicht auf die Ebene des Massakers an Zivilisten gestellt worden wäre, gemäß dem vorsätzlichen Programm, Juden zu töten, wo immer sie sich befinden, das von der obskuren Hamas umgesetzt wurde".
Il Programma Comunista stellte seinerseits die Erschöpfung der antikolonialen Bewegungen seit Mitte der 1970er Jahre fest und betonte, dass "die 'nationalen Fragen' Mitte der 1970er Jahre ungelöst waren, d. h. zu dem Zeitpunkt, als sich das Potenzial der antikolonialen Bewegungen in ein konterrevolutionäres Geschwür verwandelt hatte".[11] Aufgrund der Unmöglichkeit zeitgenössischer nationaler revolutionärer Bewegungen behauptet diese Gruppe jedoch, dass dieser Kontext totaler imperialistischer Zerstörung und barbarischen Chaos' einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung einer breiten proletarischen Bewegung darstellt: „Was die Regierungen am meisten alarmieren wird, wenn das Blutbad weitergeht, sind die massiven Solidaritätsbekundungen aus den arabischen Hauptstädten [...] und aus den vielen kapitalistischen Metropolen (wo seit Jahren das eingewanderte arabische, insbesondere das palästinensische Proletariat wohnt)".[12]
Natürlich wird die lokale Bourgeoisie im Bündnis mit den verschiedenen religiösen und nationalistischen Führern die religiösen und nationalistischen Spaltungen ausnutzen, „um eine Ansteckung der Klasse zu verhindern. Die bürgerlichen Regierungen werden alles tun, um die instinktive Verbindung zu den entfernten Proletariern, die von so mächtigen Kräften niedergemetzelt wurden, zu unterbrechen: Diese Verbindung hat auch eine materielle Rolle im Kampf zu spielen, während der Sturm aus "geschmolzenem Blei" auf die Häuser und Körper niedergeht". Kurz gesagt, wie der Titel ihres Artikels bereits andeutet, ist seine Perspektive, dass die proletarische Reaktion von den Blutbädern der imperialistischen Konfrontationen und von den Teilen des Weltproletariats selbst ausgehen werde, die im „konterrevolutionären Geschwür" der nationalen Befreiung gefangen seien und von den verschiedenen Imperialismen im Nahen Osten massakriert würden. Aber anders als im Ersten Weltkrieg werde in der gegenwärtigen Periode des kapitalistischen Zerfalls die Ausweitung des Kampfes des Weltproletariats gegen die durch die Wirtschaftskrise und die Ausbreitung des Militarismus verursachten Angriffe den Proletariern im Nahen Osten eine Perspektive bieten.
In keinem Fall seit dem Ersten Weltkrieg hat ein "national-revolutionärer" Kampf eine Perspektive für den revolutionären Kampf des Proletariats dargestellt, die den Ausgangspunkt für eine echte proletarische Reaktion hätte bilden können. Der veraltete Rahmen dieser bordigistischen Gruppen hindert sie daran, die aktuellen Herausforderungen im Nahen Osten zu verstehen, und verleitet sie dazu, zweideutige Positionen zu entwickeln, die opportunistischen Auswüchsen Tür und Tor öffnen.
Der Krieg in Gaza ist nicht, wie Il Programma Comunista behauptet, "die x-te Welle von Massakern", auf die angeblich eine neue Periode der Stabilität und des Friedens folgen wird. Im Gegenteil, dieser Krieg stellt einen weiteren bedeutenden Schritt in der Beschleunigung des Chaos in der Region und sogar darüber hinaus dar. "Das Ausmaß des Mordens zeigt, dass die Barbarei ein neues Niveau erreicht hat: [...] Beide Seiten schwelgen in der entsetzlichsten und irrationalsten Mordwut!".[13] Wir haben es hier mit dem ultimativen Ausdruck der Barbarei zu tun, einem blutigen Kampf, bis nur noch Ruinen in einer völlig unbewohnbar gewordenen Region übrig sind. Der Krieg in der Ukraine war bereits ein weiterer Schritt in der Verschärfung der imperialistischen Auseinandersetzungen. Der Krieg in Gaza geht noch einen Schritt weiter.
Selbst wenn dies nicht zum Ausbruch eines Weltkriegs führt, können die Kumulation und die kombinierten Auswirkungen all dieser Kriege ähnliche oder sogar noch schlimmere Folgen für das Leben auf dem Planeten haben.
Aber die bordigistischen Gruppen bringen eine starke Tendenz zum Ausdruck, die Herausforderungen der aktuellen Situation zu unterschätzen, was zu falschen Schlussfolgerungen und Orientierungen führt. Ihre Unfähigkeit, die tatsächlichen Gefahren der aktuellen Situation zu verstehen, wird deutlich durch die Tatsache, dass diese Organisationen die historische Schwere und die Auswirkungen des Gaza-Krieges verharmlosen.[14] Einerseits argumentiert Le Prolétaire, dass die gegenwärtigen Bedingungen es dem palästinensischen Proletariat immer noch erlaubten, für seine eigenen Interessen gegen die israelische und palästinensische Bourgeoisie zu kämpfen. Andererseits neigt Il Partito Comunista zur Position, dass der Weltkrieg "eine unausweichliche wirtschaftliche Notwendigkeit" sei, weil der Kapitalismus "nur durch Zerstörung überleben kann. Deshalb braucht er den globalen Krieg".[15]
Was wir in den letzten drei Jahren gesehen haben, ist kein Anstieg in Richtung eines globalen Krieges, sondern eine Situation, die sich auf globaler Ebene durch eine Anhäufung von Krisen beschleunigt hat: Pandemie, Umweltkrise, Nahrungsmittelkrise, Flüchtlingskrise und Wirtschaftskrise.
Auch wenn einige dieser Gruppen diese Anhäufung von Krisen erkannt haben, versteht keine von ihnen, dass diese Krisen nicht voneinander isoliert sind, sondern Teil desselben Zerfallsprozesses der kapitalistischen Welt sind, wobei jede Krise die Auswirkungen der anderen verstärkt. In diesem Zersetzungsprozess ist der Krieg zum zentralen Faktor, zum eigentlichen Katalysator geworden, der alle anderen Krisen verschärft. Er verschärft die Weltwirtschaftskrise und stürzt große Teile der Weltbevölkerung in die Barbarei; er führt in den mächtigsten kapitalistischen Ländern zu Arbeitslosigkeit und sozialem Elend und verstärkt die zerstörerischen Auswirkungen der ökologischen Gefahr. Es ist daher falsch, den gegenwärtigen Krieg in Gaza als ein x-tes Massaker im Nahen Osten zu betrachten, auf das eine wie auch immer geartete Periode der Ruhe oder des Wiederaufbaus folgen könnte.[16]
Angesichts dieses Krieges zeigen die verschiedenen bordigistischen Gruppen ihre völlige Unfähigkeit, die Herausforderungen der aktuellen imperialistischen Konfrontationen zu verstehen.
Das Fehlen eines angemessenen Rahmens, nämlich des Rahmens der Dekadenz und des Zerfalls des Kapitalismus, führt dazu, dass alle bordigistischen Organisationen an einem veralteten Konzept festhalten, das nicht in der Lage ist, die gesamte Dynamik der aktuellen Situation zu erklären, und das die Tür für schwerwiegende opportunistische Entgleisungen öffnet.
D&R, 22. Februar 2024
[1] Le Réveil vom 12. Juli 1870 (zitiert von Marx in Der Bürgerkrieg in Frankreich)
[2] Against the carnage in the Middle East, beyond nationalism to class war against the ruling class! [4], Internationalist Communist Perspective (Korea, 2023)
[3] The Propaganda War, The War of Propaganda [5] (Der Propagandakrieg, der Krieg der Propaganda), Internationalist Voice (2023)
[4] Das jüngste Massaker im Nahen Osten ist ein weiterer Schritt hin zu einem verallgemeinerten Krieg [6], Internationalistische Kommunistische Tendenz (2023)
[5] Ce ne sont pas les actions terroristes du Hamas mais la lutte de classe indépendante et la solidarité prolétarienne de tous les pays qui pourront mettre fin à l’oppression des Palestiniens ! [7] ("Nicht die Terroraktionen der Hamas, sondern der unabhängige Klassenkampf und die proletarische Solidarität aller Länder können der Unterdrückung der Palästinenser ein Ende setzen"), Le Prolétaire Nr. 551 (Dezember 2023 - Januar 2024)
[6] War in Gaza [8], veröffentlicht auf der Website von PCI - Il Partito Comunista (Oktober 2023)
[7] Israël et Palestine : Terrorisme d’État et défaitisme prolétarien [9], Cahiers internationalistes (29. Dezember 2023)
[8] Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (1917)
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/aufgaben.html [10]
[9] "Die Terroraktionen der Hamas heute wie gestern die der Fatah oder anderer Guerilla-Organisationen können die israelische Unterdrückung der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland nicht beenden.
Die Zukunft des palästinensischen Proletariats wie auch der Proletarier im gesamten Nahen Osten, in Europa und der Welt liegt im unabhängigen Klassenkampf und in der proletarischen Klassensolidarität aller Länder!", veröffentlicht auf der Website der IKP – Le Prolétaire [7] unter der Rubrik "Stellungnahmen" („Prises de positions“, 4. Januar 2024).
[10] The Gazan Proletariat Crushed in a war between world imperialisms [11], The Communist Party Nr. 56 (Februar/März 2024)
[11] Israel and Palestine: State terrorism and proletarian defeatism [12], The Internationalist (29. Dezember 2023)
[12] A.a.O.
[13] Weder Israel noch Palästina! Die Arbeiter haben kein Vaterland [13], IKS online Oktober 2023
[14] Il Programma Comunista veröffentlichte 2009 erneut einen Artikel über den Gaza-Krieg, eine Entscheidung, die diese Gruppe damit begründete, dass "sich nichts geändert hat, außer der exponentiellen Zunahme der Feuerkraft, die im Gaza-Streifen [vom Staat Israel] entfesselt wird".
[15] A May Day against War To Workers of all Countries [14], Flugblatt von Il Partito Comunista
[16] Diese Unterschätzung kommt zum Beispiel auch darin zum Ausdruck, dass diese Gruppen zu Beginn dieses Krieges kaum öffentliche Aktivitäten entfalteten: Le Prolétaire veröffentlichte nur zwei Artikel, Il Partito Comunista publizierte zwei Artikel und organisierte eine öffentliche Veranstaltung, Il Programma Comunista bot zwei Artikel und eine öffentliche Veranstaltung an.
1. Die Situation in Deutschland kann nur vor dem Hintergrund der Existenz der beiden internationalen Dynamiken verstanden werden, die den Weltkapitalismus durchziehen: die phänomenale Verschärfung des Zerfalls des kapitalistischen Systems und der Prozess der Wiederaufnahme des weltweiten Klassenkampfes nach mehreren Jahrzehnten der Flaute.
Die zahlreichen zerstörerischen Kräfte des „Strudel-Effekts“, bei dem alle verschiedenen Ausdrucksformen einer zerfallenden Gesellschaft miteinander interagieren und den Abstieg in die Barbarei beschleunigen und insbesondere die zentrale Rolle, die der imperialistische Krieg als Ergebnis der bewussten Entscheidungen der herrschenden Klasse in dieser Verkettung von Effekten spielt, haben zu tiefgreifenden Umwälzungen für das deutsche Kapital geführt.
„Es ist besonders Deutschland, das alle Widersprüche dieser neuartigen Situation explosionsartig konzentriert. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt das deutsche Kapital in eine beispiellose Situation strategischer und wirtschaftlicher Fragilität: Die Wettbewerbsfähigkeit seiner gesamten Industrie steht auf dem Spiel. Das deutsche Kapital (und Europa) läuft Gefahr, von der Abhängigkeit von russischem Gas in die Abhängigkeit von amerikanischem LNG wechseln zu müssen, welches die USA dem europäischen Kontinent aufzwingen und damit die Rolle übernehmen wollen, die Russland bislang innehatte. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (indem es sich auch einen Teil der Last der Militärausgaben für die „Friedensdividende“ seit 1989 erspart hat), wirkt sich direkter auf seine exportbasierte Wirtschaftskraft aus. Schließlich stellt der Druck der USA, ihre „Verbündeten“ zu zwingen, sich am wirtschaftlichen/strategischen Krieg gegen China zu beteiligen und auf Märkte in China zu verzichten, Deutschland vor ein enormes Dilemma, da die Bedeutung des chinesischen Marktes für Deutschland lebenswichtig ist. Aufgrund seiner führenden Stellung in der EU hat das Schwanken der deutschen Macht Auswirkungen auf ganz Europa, das in unterschiedlichem Maße von denselben Widersprüchen und Dilemmata geprägt ist.“ (Bericht des 25. Kongresses der IKS 2023)
Vor dem weltweiten Hintergrund der Überproduktion und der Verschärfung der Wirtschaftskrise durch die Covid 19-Pandemie und die Aussperrungen, die steigenden Kosten der Umweltkatastrophen und den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten befindet sich das deutsche Kapital, das durch die Erschütterung der Grundfesten seiner Macht wesentlich geschwächt ist, seit mehreren Quartalen in einer Rezession und wird wieder zum kranken Mann Europas.
Das große historische Ereignis der Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in einer Reihe von Ländern hat sich in Deutschland nicht mit der gleichen Kraft wie in den USA, Großbritannien oder Frankreich manifestiert. Dennoch sind einerseits die Ausdrucksformen der Kampfbereitschaft und die Streiks für Lohnerhöhungen, die in einigen Bereichen (öffentlicher Dienst, Transportwesen) stattgefunden haben, sowie andererseits die Anpassung der Gewerkschaften, die eine „kämpferische und fordernde“ Haltung einnehmen, Indizien für die veränderte Situation, die im Klassenkampf auch in Deutschland am Werk ist. „Heute verändert die Kombination aus einer Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter und der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise (im Vergleich zu 1968 oder 2008), die keinen Teil des Proletariats verschonen wird und sie alle gleichzeitig trifft, objektiv die Grundlagen des Klassenkampfs. Die Vertiefung der Krise und die Verschärfung der Kriegswirtschaft können sich weltweit nur fortsetzen, und überall kann dies nur wachsende Kampfbereitschaft erzeugen.“ (Resolution des 25. Kongresses der IKS, 2023)
2. Die erste Zäsur war der Krieg in der Ukraine, gefolgt von einer weiteren Phase mit dem Krieg im Nahen Osten, jeweils verbunden mit einer gleichzeitigen Eskalation der Konfrontation zwischen den USA und China und wachsenden Destabilisierungstendenzen in Europa.
Der Druck aus den Konflikten mit Russland, China und den USA hat sich damit in einigen Bereichen geradezu explosionsartig verschärft. Für den deutschen Imperialismus bedeutete der Krieg in der Ukraine:
3. Diese Schwächung des deutschen Imperialismus durch die USA wurde im Gegenzug von Deutschland ausgenutzt, indem die Militärausgaben verdoppelt und die Hindernisse für Waffenlieferungen an die Ukraine aufgehoben wurden. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Notwendigkeit, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ausdrücklich ideologisch begründet. Vor dem Hintergrund eines neuen Wettrüstens werden Forderungen wie die nukleare Aufrüstung und die Schaffung eines militärischen Arms der EU deutlicher formuliert.
Die Einführung von Kriegsführungsfähigkeiten und die damit verbundene Umwandlung der Wirtschaft in eine viel stärker ausgeprägte Kriegswirtschaft wird jedoch auf Schwierigkeiten stoßen, da allein die Rekrutierung zusätzlicher Soldaten große Probleme aufwirft. Gleichzeitig fordert der deutsche Imperialismus eine größere Führungsrolle in Europa. Dies wird wiederum neue Reibungspunkte mit Frankreich hervorrufen, da trotz aller Zwänge zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in vielen Bereichen ein solcher Führungsanspruch, insbesondere auf dem Hintergrund der Dynamik des Jeder-für-sich, nur auf Kosten von Frankreich durgesetzt werden könnte.
4. Im Rahmen der globalen Präventionsstrategie der USA, um zu verhindern, dass China die USA von ihrer Führungsposition verdrängt, haben die USA neben der strategischen Einbettung des Ukraine-Russland-Krieges in diese Strategie eine Reihe direkter Sanktionen gegen China beschlossen, die sie auch allen anderen Staaten aufzwingen wollen. Deutschland (und z.B. Frankreich) sind davon besonders betroffen. Ziel ist es, die Abhängigkeit des deutschen Kapitals von China zu verringern und Deutschland direkt in die Militärstrategie gegen China einzubinden. Die deutsche Bourgeoisie wehrt sich gegen diesen Ansatz, was wiederum zu Konflikten mit den USA führt.
5. Die bis vor kurzem grenzenlos loyale Unterstützung des deutschen Imperialismus für Israel, die lange Zeit Teil des gemeinsamen Vorgehens mit den USA war, erweist sich angesichts des jüngsten Krieges im Nahen Osten als große Belastung, da dies Deutschland nicht nur viel zu eng an die USA bindet, sondern auch in die Isolation gegenüber den arabischen Staaten treibt. Wie Deutschland aus diesem Dilemma herauskommen kann, bleibt auch deshalb unklar, weil ideologisch der Schatten des Faschismus noch immer über der deutschen Bourgeoisie hängt und die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, den Handlungsspielraum einschränkt.
6. Unter Trump hatte die Dynamik des Jeder-für-sich, und damit z.B. die Infragestellung der Nato und ein möglicher Rückzug der USA aus ihr, an Dynamik gewonnen. Auch verfolgte Trump einen sehr offensiven Kurs, insbesondere gegenüber dem deutschen Kapital. Zwar hatte sich der Ton unter Biden geändert, aber in den praktischen „Daumenschrauben“, die der amerikanische Imperialismus den Nato-Mitgliedsstaaten und insbesondere Deutschland angelegt hatte, wurde auf Deutschland viel mehr Druck ausgeübt als unter Trump. Dennoch wird eine mögliche zweite Amtszeit Trumps als eine Katastrophe für das deutsche Kapital angesehen, da ein Kurswechsel in der Russlandpolitik unter Trump als wahrscheinlich gilt. Dies könnte zwar theoretisch neue Handlungsspielräume für das deutsche Kapital eröffnen, wäre aber aus Sicht der USA unter Trump vor allem mit einem stärkeren Druck auf China verbunden und damit der Notwendigkeit, dass sich andere Länder diesem Druck der USA beugen. Deshalb wird die Bewegung zur Distanzierung Deutschlands von den USA weitergehen, unabhängig davon, ob Biden oder Trump der nächste Präsident ist. Im Einklang mit dieser Dynamik wird Deutschland seine Bemühungen verstärken, stärkere Beziehungen zu Ländern aufzubauen, die sich von den USA distanzieren (Indien, Brasilien usw.). Insgesamt hängt die weitere Entwicklung der USA wie ein Damoklesschwert über dem deutschen Imperialismus.
7. Während die Wirtschaftskraft des deutschen Kapitals hauptsächlich auf ihrer Industrie und ihren Exporten beruht, wirken sich die Verlangsamung der Weltwirtschaft ebenso wie die Auswirkungen des Zerfalls auf die Weltwirtschaft, aber insbesondere die Schockwelle des imperialistischen Krieges in der Ukraine, direkt auf den Zustand der nationalen Wirtschaft aus. Die Covid 19-Pandemie, die Kosten der Umweltzerstörung und die mittlerweile beträchtlichen Kriegskosten im Rahmen der internationalen Verschärfung des Wettbewerbs, vor allem zwischen China und den USA, die das Bestreben der USA einschließt, ihre europäischen Rivalen (imperialistisch wie wirtschaftlich) zu schwächen, haben zu einer massiven Destabilisierung und Umwälzung geführt, die das deutsche Kapital schwächt.
Die Verschlechterung der Lage des deutschen Kapitals zeigt sich durch:
Angesichts der Verschärfung der gesamten historischen Situation des Zerfalls und des Krieges in der Ukraine, sowie auch angesichts des Krieges im Nahen Osten schwinden die Grundlagen und die Bedingungen, die die Macht des deutschen Kapitals begründet haben. Gleichzeitig wachsen die neuen entscheidenden Herausforderungen, denen es gegenübersteht:
8. Die US-Regierung unter Biden hat ihre Offensive gegen China an mehreren Fronten verschärft:
Das deutsche Kapital kann nicht davon ausgehen, dass der Druck aus den USA nach den nächsten Präsidentschaftswahlen nachlassen wird. Im Gegenteil: Ob unter Trump oder Biden – die deutsche Bourgeoisie muss sich auf noch mehr Konflikte mit den USA einstellen. Das alles wird auch mit zusätzlichen Staatsausgaben verbunden sein, etwa um im Investitionskrieg überhaupt mithalten und Subventionen für Investitionen in Deutschland anbieten zu können.
Eine Eskalation zwischen China und den USA um Taiwan würde der Weltwirtschaft insgesamt und der deutschen Wirtschaft im Besonderen einen entscheidenden Schlag versetzen. Fazit: Die USA werden Deutschland unter enormen wirtschaftlichen Druck setzen.
Gleichzeitig gerät Deutschland zunehmend unter Druck durch China:
Deshalb: Verschärfte Auseinandersetzungen auf verschiedenen Schauplätzen um/mit China sind zu erwarten.
9. Die deutsche Bourgeoisie konnte das Projekt der Wiedervereinigung und des Aufbaus im Osten nur dank einer astronomischen Verschuldung realisieren. Einerseits verbesserte dies die Position Deutschlands auf der imperialistischen Leiter, andererseits wurde ein gigantischer Schuldenberg aufgetürmt. Dieser wurde durch die riesigen Rettungspakete während der Corona 19-Pandemie und jetzt durch den Krieg in der Ukraine weiter erhöht.
Im internationalen Wettbewerb ist die staatskapitalistische Unterstützung auf verschiedenen Ebenen unerlässlich. Keine neuen Hightech-Unternehmen, keine ökologische Umstellung, keine Windräder, keine Wärmepumpen, keine neuen Hightech-Investitionen usw. ohne Steuergelder. Gleichzeitig wurde jahrzehntelang eine tiefgreifende Vernachlässigung von Infrastruktur, Gesundheitswesen und Bildung in Kauf genommen. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit wurde also durch den Abbau in anderen Bereichen „erkauft“.
Angesichts der Wahlmöglichkeiten und Dilemmata, mit denen sie sich konfrontiert sieht, sind die Entscheidungen zwischen den dominierenden Fraktionen der deutschen Bourgeoisie in Bezug auf die Optionen, die für die Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals am besten geeignet sind (wie z.B. die Haltung gegenüber Russland, den USA, China, der Staatsverschuldung, der Entwicklung der Kriegswirtschaft... ) im Augenblick unklar. Auch lässt sich zurzeit die Tiefe und der Umfang der Divergenzen innerhalb der Bourgeoisie zu diesen Fragen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen noch nicht ermessen. Doch in der Zwischenzeit nutzt die deutsche Bourgeoisie die Debatte über den Sinn der Schuldenbremse, um ihren Angriff auf die Arbeiterklasse zu verstärken. Das Zusammenspiel der oben genannten Faktoren setzt die herrschende Klasse unter Druck, vor allem aber verschlingt die ganze Kriegsdynamik riesige Geldsummen, die in erster Linie der Arbeiterklasse auferlegt werden sollen.
10. Die eingetretene Entwicklung ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass zum ersten Mal eine Verschärfung der Wirtschaftskrise mit einem gleichzeitigen Mangel an Arbeitskräften (qualifizierten und unqualifizierten) in vielen Bereichen einhergeht. Dies hat verschiedene Ursachen:
Wie sich dies auf den Klassenkampf auswirken wird, ist derzeit schwer abzuschätzen.
11. Die IKS analysierte schon 1989 in den Thesen zum Zerfall und der Aktualisierungen der Thesen zum Zerfall von 2023 umfangreich die einzelnen Aspekte des Zerfalls des Kapitalismus. Heute, mit dem zunehmenden Zerfall, insbesondere dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, hat Europa (die EU) seinen größten Trumpf verloren: seine Stabilität.
Nach 1989 machte Deutschland die EU durch die Bildung eines Tandems mit Frankreich zu einer Säule seiner Macht. Der Beginn des Aufbaus eines militärischen Arms, die Einführung des Euro und die Entwicklung größerer Entscheidungskompetenzen auf europäischer Ebene sorgten dafür, dass der Staatskapitalismus in der EU stärker koordiniert und gelenkt wurde (und sich damit selbstverständlich als Bürokratie weiter aufblähte). Die derzeitige Entwicklung multipler Bruchlinien aufgrund des Vordrängens des Jeder-für-sich auf wirtschaftlicher und imperialistischer Ebene, die die EU mit Fragmentierung bedrohen, können die Stabilität und Macht des deutschen Kapitals nur beeinträchtigen, während die Tendenz, die Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals durch Deutschland in den Vordergrund zu stellen, Deutschland auch zu einer treibenden Kraft der Entwicklung des Jeder-für-sich innerhalb der EU macht.
Osteuropa: Hier sind zahlreiche zentrifugale Kräfte auf Kosten Deutschlands am Werk. Nach 1989 ermöglichte das durch das Verschwinden des Ostblocks entstandene Vakuum den osteuropäischen Staaten den Beitritt zur EU und ihre Integration in die NATO. Dies gestattete es Deutschland zunächst, seinen Einfluss zu vergrößern, und bot dem Kontinent gleichzeitig eine gewisse Stabilität. Doch nun bildet das Streben der meisten Staaten, die dem ehemaligen sowjetischen Machtbereich angehörten, nach NATO-Schutz, und die eher pro-amerikanische Ausrichtung einiger dieser Länder, welche sich wiederum dem Einfluss Deutschlands widersetzt, die wichtigste Bruchlinie. Andere Faktoren (die pro-russische Haltung einiger Regierungen, Chinas Bestreben, seinen Einfluss auf den alten Kontinent auszuweiten), die durch die Machtübernahme populistischer Regierungen, die ihre Autonomie gegenüber der EU einfordern, noch verstärkt werden, führen dazu, dass die destabilisierenden Kräfte unweigerlich zunehmen werden.
Auf wirtschaftlicher Ebene droht der „Globalisierung“ auch in Osteuropa eine Umkehrbewegung.
Westeuropa: Die jüngsten Entwicklungen – seit der Krise von 2008, der Covid 19-Pandemie, den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten – haben auch hier die Tendenz verstärkt, dass jeder auf sich selbst gestellt ist. So verschärfen sich die Interessenkonflikte innerhalb des damaligen deutsch-französischen Tandems in Bezug auf die Steuerung und die Ausübung der Führungsrolle in der EU, vor allem in folgenden Bereichen:
12. Lediglich aus Platzgründen gehen wir an dieser Stelle nur kurz auf die verheerenden Auswirkungen der Umweltzerstörung und die Vernachlässigung der sozialen Infrastruktur ein.
Die Auswirkungen der Umweltzerstörung haben in Deutschland auf verschiedenen Ebenen katastrophale Folgen gehabt (z.B. Dürre, Überschwemmungen, Waldbrände etc.). Unter grüner Regierungsbeteiligung wurden alle (ohnehin fragwürdigen) ökologischen Maßnahmen in der einen oder anderen Form den Erfordernissen der Kriegswirtschaft geopfert.
Da die Wiedervereinigung nach dem Zusammenbruch der DDR u.a. durch die gleichzeitige Vernachlässigung der Infrastruktur im Westen sowie des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesens finanziert wurde, sind diese Strukturen besonders stark vom Zerfall betroffen. Der Zerfall ist jedoch viel umfassender und tiefgreifender als die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Stalinismus und der Wiedervereinigung und deren langfristige Folgen.
Diese Entwicklung betrifft die herrschende Klasse und ihren Macht- und Parteiapparat. Er äußert sich in der Tendenz, dass die herrschende Klasse die Kontrolle über ihr politische Strategie verliert, was sich in Folgendem äußert:
13. In den letzten 30 Jahren waren alle Parteien mit sinkender Glaubwürdigkeit und zunehmender Desillusionierung konfrontiert. Eine Folge: sinkende Wahlbeteiligung (zumindest bis Anfang 2013), bis insbesondere die Protestpartei AfD aufkam und es schaffte, bisherige Nichtwähler an die Urnen zu locken, um aus Protest die AfD zu wählen.
Die Protestpartei AfD ist inzwischen zur zweitstärksten Partei geworden, der Niedergang der SPD ist unaufhaltsam und auch die CDU befindet sich – mit einigen temporären, eher geringen Zuwächsen – langfristig im Niedergang. Obwohl es innerhalb der Parteienlandschaft Gewichtsverschiebungen gibt, ist der Rückgang historisch und zieht sich durch alle Parteien mit Ausnahme von 2 Parteien (AfD und Grüne).
Am deutlichsten ist die historische Schwächung der beiden Flaggschiffe der Marktwirtschaft zu erkennen – die CDU mit ihrer offenen Propaganda über die Tugenden des Kapitalismus und die SPD mit ihren Reformversprechen – beide sind stark abgenutzt und haben in den letzten Jahren keine wirkliche Erneuerung erreicht.
14. Während es international in fast allen europäischen Ländern einen Aufschwung populistischer und rechtsextremer Kräfte gibt, ist diese Entwicklung auch in Deutschland zu beobachten.
Hauptprofiteur ist die AfD. Insofern spiegelt die Popularität dieser populistischen und rechten Parteien die Perspektivlosigkeit und die Tatsache wider, dass viele, die sonst aus Frust etc. nicht wählen gegangen wären, wieder an die Wahlurnen gelockt wurden. Diese Popularität bedeutet nicht, dass die Protestwähler einen größeren Glauben an die Möglichkeit haben, das bürgerliche System zu verbessern und zu reformieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen populistische oder rechtsextreme Gruppierungen direkt an der Spitze der Regierung beteiligt sind, ist dies in Deutschland noch nicht der Fall. Die Wahlaussagen der AfD stehen zu sehr im Widerspruch zu den Interessen des deutschen Kapitals – (sofern sie für bare Münze genommen werden können): EU-Feindlichkeit (wobei die Machtposition Deutschlands untrennbar mit seiner Dominanz in der EU verbunden ist), Offenheit gegenüber Russland, krude Fremdenfeindlichkeit und allzu brachiale Abwehr von Einwanderern, Blockade der Zuwanderung von ausländischen Fachkräften, unsinnige Verleumdung der ökologischen Katastrophe usw.. Diese „Unfähigkeit zu regieren“ und damit zur „ewigen Opposition auf Bundesebene“ verdammt zu sein, wird die AfD noch lange Zeit zu einem Sammelbecken für Protestwähler machen.
Im Zusammenhang mit dem Erstarken populistischer Kräfte haben rechtsradikale Parteien in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen, so dass kleine rechtsradikale Parteien neben und/oder innerhalb der AfD zu einem Sammelbecken für rechtsradikale, oft gewaltbereite Anhänger geworden sind. Gleichzeitig haben rechtsradikale Kräfte eine größere Präsenz im Staatsapparat, insbesondere in den Sicherheitsdiensten, entwickelt. Diese Gruppen propagieren und planen auch immer häufiger offen oder verdeckt gewalttätige Aktivitäten.
Weder die AfD noch die rechtsradikalen Gruppen haben bisher Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung. Diese Kräfte spiegeln aber vor allem die wachsende Gewaltbereitschaft bis hin zu Pogromen in Teilen der Bevölkerung wider, die insbesondere durch eine Hetzkampagne gegen Migrantinnen und Migranten angeheizt wird.
15. Die beiden großen Parteien sind nun auf Koalitionspartner angewiesen. Ohne Koalitionspartner kann keine der beiden großen Parteien eine Koalition führen; lange Zeit bildete eine „große“ Koalition die Regierung, was dem Ruf der Demokratie und dem Ansehen der beiden beteiligten Parteien schadete. Noch konfliktträchtiger sind jedoch „Dreierkoalitionen“. In der jetzigen Konstellation sind die drei Parteien der Koalition jedoch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen und werden wohl bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenbleiben müssen.
16. Um die aktuellen Perspektiven der Arbeiterklasse zu verstehen und eine zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes zu prognostizieren, müssen wir uns die historischen Schwächen der Arbeiterklasse in Deutschland in Erinnerung rufen.
Neben der russischen Arbeiterklasse erlitt die Arbeiterklasse in Deutschland die schwerste Niederlage in den revolutionären Kämpfen während der revolutionären Welle 1917-1923. Das Gewicht der Konterrevolution, der desorientierende Einfluss des Rätekommunismus, die Unfähigkeit der schnell im Stalinismus versunkenen KPD und das Unvermögen der KAPD, die wirklichen Lehren aus der revolutionären Welle zu ziehen, und der politische Einfluss der Frankfurter Schule nach 1945 hatten tiefe Narben hinterlassen, als die Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre wieder auf die Bühne trat.
Bei ihrem Wiederauftauchen war die Arbeiterklasse in Deutschland stark durch den kleinbürgerlichen Druck der Studentenbewegung belastet – insbesondere Spontaneität und Organisationsfeindlichkeit in alter rätekommunistischer Tradition wirkten wie eine Fessel. Tausende von jungen Menschen wurden von der extremen Linken aufgesogen und politisch vernichtet oder instrumentalisiert.
In den zwei Jahrzehnten von 1969 bis 1989 folgte die Arbeiterklasse weitgehend den internationalen Entwicklungen, aber sie war nie in der Lage, sich durch massive oder besonders radikale Momente an die Spitze einer internationalen Bewegung zu setzen. Nach 1989 wurde die Arbeiterklasse mit der Euphorie der Wiedervereinigung konfrontiert, durch welchen sie sich jedoch nie wirklich einspannen ließ. Zwar war auch ihre (ohnehin schwache) Kampfbereitschaft im Westen im Rückfluss, und auch ihr Bewusstsein litt unter der Kampagne gegen den Kommunismus.
Darüber hinaus sorgten verschiedene Spaltungskräfte (durch die Millionen Arbeitssuchenden Niedriglohnarbeiter aus Osteuropa) und die Einführung extrem prekärer Arbeitsbedingungen für eine immer größere Zahl von Beschäftigten für weitere Spaltungen innerhalb der Belegschaft, während gleichzeitig in florierenden Branchen relativ hohe Löhne gezahlt wurden.... Inzwischen ist in Deutschland der vielleicht größte Fachkräftemangel in Europa entstanden. Insofern kann man von Spaltungsfaktoren sprechen, die jahrelang dominiert haben – die nun aber durch die Inflation und die Angriffe, die aus der Verschlechterung der Situation resultieren, nivelliert werden und die Basis für ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl bilden können.
17. Die Arbeiterklasse in Deutschland ist von den ideologischen Auswirkungen des Zerfalls in einer Weise geprägt, die sie von anderen Teilen des Proletariats in Europa unterscheidet: Während verschiedene Teile der Arbeiterklasse mit der Frage der Abspaltung bestimmter nach Autonomie strebender Regionen (Spanien, GB) oder des Regionalismus konfrontiert sind, war kein anderer Teil der Arbeiterklasse mit solchen politischen Konsequenzen konfrontiert, die mit den Auswirkungen der Wiedervereinigung vergleichbar sind. Rasch löste dies im Osten eine Nostalgie nach der alten (angeblich) „sicheren Existenz“, Reaktionen der Flucht vor der Realität des Kapitalismus und die Suche nach Sündenböcken sowie Ressentiments im Westen aus.
Die für den Zerfall typische politische und ideologische Verwirrung, die aus der Schwierigkeit oder Unfähigkeit resultiert, die Ursachen und Folgen der Ausbeutung als im Kapitalismus verwurzelt zu verstehen, hat zum Aufkommen von Sündenbockdenken, Fremdenfeindlichkeit, verstärktem Nationalismus, Verschwörungsideologien, reinem Protestverhalten gegenüber „denen da oben“ anstelle von Klassenkonfrontation, Polarisierung um Identitätsfragen, Festhalten an religiösem Fundamentalismus, wachsender Gewaltbereitschaft, Populismus und dem Wiederaufleben rechtsradikaler Bewegungen geführt. Durch das Aufkommen von Bewegungen wie Fridays-for-future und Protesten von Klimaaktivisten sollte die Perspektivlosigkeit dieser Bewegungen noch mehr Verwirrung und Demoralisierung stiften.
Die allgemeine historische Rückständigkeit des Bewusstseins der Arbeiterklasse in Deutschland, in Verbindung mit der politischen Rückständigkeit des Teils der Arbeiterklasse in Ostdeutschland, erklärt die besondere Verwundbarkeit des deutschen Proletariats für die Auswirkungen des Zerfalls und die Wirkung bürgerlicher Kampagnen, die diese ausnutzen, um sie gegen das Proletariat zu wenden. All diese Phänomene haben sich mit der Pandemie, der Verschärfung der Krise und dem ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen, der Wohnungsnot, der Verarmung und der ständigen Hetze und dem Aufstacheln durch die Herrschenden aller Couleur usw. noch verschärft.
18. Die Haltung der herrschenden Klasse, die Anpassungen, die von ihren Organen zur Kontrolle des Klassenkampfes in Deutschland produziert werden, belegen, dass die veränderte Situation im internationalen Klassenkampf, die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach mehreren Jahren der Passivität, auch in Deutschland sehr wohl existiert. Die Bourgeoisie setzt alles daran, dem entgegenzuwirken:
19. Die Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiter zur Verteidigung ihrer Lebensbedingungen muss sich einen schwierigen Weg bahnen und stößt auf zahlreiche Hindernisse.
Die Angst vor der Zukunft, die demokratischen Illusionen und die Perspektivlosigkeit, die das Proletariat bietet, werden vom Staat in hohem Maße ausgenutzt. Sie geben dem Staat jede Menge Spielraum, um die Ergebnisse der Fäulnis seines Systems, den Aufstieg der extremen Rechten, gegen die Klasse zu wenden und eine riesige Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und ihres Systems zu entfachen, die seine Verantwortung für den bestehenden Zustand der Dinge verschleiern und die Klasse auf das Terrain der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung locken und sie somit lähmen soll.
Die Existenz von Bewegungen nicht-proletarischer kleinbürgerlicher Zwischenschichten, die Opfer der kapitalistischen Krise sind, wie die aktuellen Proteste von Landwirten (denen sich Kleinunternehmer, Händler und sogar Arbeiter anschließen), birgt für das Proletariat die Gefahr, in klassenübergreifende Kämpfe hineingezogen zu werden, in denen die Klasse in das undifferenzierte Ganze der Masse der 'Bürger' der kapitalistischen Gesellschaft aufgelöst wird.
Die Herausforderung für die Arbeiterklasse besteht darin, ihre eigene Stärke auf ihrem Klassenterrain zu entwickeln, ihre Klassenautonomie zu verteidigen, indem sie Forderungen formuliert, die ihren spezifischen Klasseninteressen entsprechen, und die spezifischen Waffen ihres Kampfes schmiedet, die Vollversammlungen und die Solidarität im Kampf über die Branchengrenzen hinweg.
20. Der Druck auf die Arbeiterklasse, auf die sich verschlechternde Situation zu reagieren, wird zwar zunehmen, doch gibt es mehrere unvorhersehbare Faktoren:
Mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise beginnen sich die Angriffe in vielen Bereichen zuzuspitzen: Ein Tsunami von mehreren tausend Stellenstreichungen betrifft die Automobilhersteller (ZF, Michelin, Continental, Bosch), die Automobilindustrie (Ford, VW), die Chemieindustrie (BASF, Bayer), die Versicherungsbranche (Allianz), Siemens, den Handel (Zalando, Karstadt/Kaufhof), Postbank. Kein einziger Bereich wird ausgespart bleiben.
Auch wenn es noch keine offene Reaktion gegen die deutsche Kriegsbeteiligung gibt, ist die Arbeiterklasse nicht bereit, ihr Leben für die Interessen des deutschen Kapitals zu opfern und steht nicht hinter ihrer herrschenden Klasse bei deren Kriegsvorbereitungen. Angesichts der massiven Angriffe auf die Beschäftigung, der Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Inflation kann die Zukunft nur von der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse geprägt sein.
IKS, Anfang März 2024
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/russland-kaukasus-zentralasien
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/terroranschlag-moskau
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kriege-im-zerfall
[4] https://communistleft.jinbo.net/xe/index.php?mid=cl_bd_03&document_srl=344069
[5] https://en.internationalistvoice.org/the-propaganda-war-the-war-of-propaganda/
[6] https://www.leftcom.org/de/articles/2023-10-12/das-j%C3%BCngste-massaker-im-nahen-osten-ist-ein-weiterer-schritt-hin-zu-einem
[7] https://www.pcint.org/
[8] https://www.international-communist-party.org/English/TheCPart/TCP_055.htm#Gaza
[9] https://www.internationalcommunistparty.org/index.php/fr/3450-israel-et-palestine-terrorisme-detat-et-defaitisme-proletarien
[10] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/aufgaben.html
[11] https://www.international-communist-party.org/English/TheCPart/TCP_056.htm#Gaza
[12] https://www.internationalcommunistparty.org/index.php/en/english/3446-israel-and-palestine-state-terrorism-and-proletarian-defeatism
[13] https://de.internationalism.org/content/3139/weder-israel-noch-palaestina-die-arbeiterklasse-hat-kein-vaterland
[14] https://www.international-communist-party.org/OtherLanguages/All_Lang/PDF/1_May_2022_En.pdf
[15] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/deutschland