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Weltrevolution Nr. 125

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Daimler-Chrysler: Die Antwort auf die kapitalistische Krise: die Arbeitersolidarität

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Das Kalkül der Unternehmer scheint aufzugehen. Millionen Lohnabhängiger werden mit der Nachricht in den Urlaub geschickt, dass beim größten Industrieunternehmen Europas, im Mercedes-Stammwerk Stuttgart-Sindelfingen, demnächst bis fast eine halbe Milliarde Euro Produktionskosten zu Lasten der Beschäftigten “eingespart” werden soll. Wir sollen alle wissen, dass selbst dort, wo Unternehmen noch Gewinne erwirtschaften, die Beschäftigten durch die Drohung mit Produktionsauslagerungen und mit massivem Arbeitsplatzabbau im höchsten Grade erpressbar geworden sind. Wir sollen uns während der Ferienzeit damit abfinden, dass demnächst immer längere Arbeitszeiten für immer weniger Geld auf uns zukommen werden. Genau zu dem Zeitpunkt, wenn die Belegschaften in der großen Sommerpause auseinandergehen, und in der Vereinzelung das Gefühl der Ohnmacht besonders stark empfinden können, soll uns eingehämmert werden: Ein Dammbruch auf Kosten der Arbeiter und Angestellten ist erzielt worden, welche nicht allein die Daimler-Chrysler Belegschaft, sondern alle Lohnsklaven trifft.

Die Marktwirtschaft – nur Verarmung, Unsicherheit und endlose Plackerei

In der Tat: Nachdem bereits, wenige Wochen zuvor, die Belegschaften der Siemenswerke in Bocholt und Kamp-Lintfort dazu erpresst wurden, die Wiedereinführung der 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich hinzunehmen; nachdem Bayern den Anfang gemacht hatte, um auch im öffentlichen Dienst die Arbeitszeiten ohne Ausgleich auszudehnen, wird von den Unternehmern je nach Lage die 40, die 42, ja sogar die 50 Stundenwoche lauthals von uns eingefordert. Bei Karstadt etwa heißt es: Entweder werden 42 Stunden ohne Lohnausgleich gearbeitet, oder 4000 Stellen werden gestrichen. In der Baubranche, bei MAN oder Bosch – von überall her werden nun ähnliche Forderungen laut.

Die Erfahrungen der vergangenen Wochen bestätigen somit, was immer mehr Lohnabhängige ohnehin zu ahnen begonnen haben: Dass die vielgelobte “Marktwirtschaft” (mit oder ohne das Prädikat “sozial”) nichts außer Verarmung, Unsicherheit und endloser Plackerei für uns bereit hält.

Das Gespenst der Arbeitersolidarität

Doch neben dieser bitteren, aber notwendigen Erkenntnis gibt es andere Lehren aus den Auseinandersetzungen der letzten Wochen zu ziehen und anzueignen. Die Herrschenden wollen, dass wir aus dem Arbeitskampf bei Daimler-Chrysler die Schlussfolgerung ziehen, es lohne sich nicht sich zu wehren; die Logik des Standortes des kapitalistischen Wettbewerbs werde sich so oder so durchsetzen, man solle sich lieber gleich damit abfinden; die Ausbeuter und die Ausgebeuteten säßen letztendlich doch im selben Boot, wenn es darum gehe, “die Arbeitsplätze in Deutschland zu halten”.

Doch vom Standpunkt der arbeitenden Bevölkerung gibt es ganz andere Erkenntnisse aus dieser Auseinandersetzung zu gewinnen. Über 60.000 Daimler-Chrysler Beschäftigte in ganz Deutschland haben sich an den Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen der letzten Tage beteiligt. Arbeiter von Siemens, Porsche, Bosch und Alcatel haben sich an Demonstrationen in Sindelfingen beteiligt. Dieser Kampf hat gezeigt, dass die Arbeiter und Angestellten wieder begonnen haben, sich zur Wehr zu setzen. Wenn man sich vergegenwärtigt, welches Leid und welche Misere in den kommenden Jahren auf die Arbeiterschaft weltweit zukommen wird, wird man erkennen, dass das Wichtigste jetzt nicht die Tatsache ist, dass die Kapitalisten sich wieder mal durchgesetzt haben. Das Wichtigste ist, dass diesmal die Angriffe nicht widerspruchslos hingenommen wurden.

Das Allerwichtigste ist aber dies: als Daimler-Chrysler der Belegschaft in Sindelfingen, Untertürkheim und Mannheim damit drohte, die Produktion der neuen C-Klasse ab 2007 nach Bremen zu verlagern und die Wagen der neuen C-Klasse nicht mehr im Raum Stuttgart bauen zu lassen, wollte man damit die Arbeiter der verschiedenen Standorten bewusst gegeneinander ausspielen. Die Tatsache, dass die Beschäftigten in Bremen sich an den Protestaktionen gegen Lohnverzicht, Arbeitszeitverlängerung und Pausenstreichungen in Baden-Württemberg beteiligt haben, machte den Unternehmern einen Strich durch die Rechnung. Dies machte zumindest ansatzweise deutlich, dass unsere Antwort auf die Krise des Kapitalismus, nur in der Arbeitersolidarität liegen kann. Diese Solidarität ist die Kraft, welche unseren Abwehrkampf möglich und auch sinnvoll macht.

Die herrschende Klasse will uns den Eindruck vermitteln, als ob der Kampf bei Mercedes ein ohnmächtiger Schlag ins Wasser war, der sie völlig unbeeindruckt gelassen hat. Wenn man aber die Ereignisse der vergangenen Tage näher untersucht, wird man feststellen, dass alles darauf hinweist, dass die Machthaber durchaus besorgt sind angesichts der beginnenden Abwehr der Arbeiterklasse. Sie fürchten vor allem, dass die Besitzlosen erkennen werden, dass die Solidarität nicht nur die wirksamste Waffe ihrer eigenen Selbstverteidigung darstellt, sondern darüber hinaus das Grundprinzip einer alternativen, höheren Gesellschaftsordnung in sich trägt.

Eine “konzertierte Aktion” der Kapitalistenklasse

Es war alles andere als Zufall, dass der Rückkehr zur 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich bei Siemens im Ruhrgebiet unmittelbar die massive, öffentliche Herausforderung der Beschäftigten von Daimler-Chrysler folgte. Der Fall Siemens war als Lehrbeispiel dafür gedacht, dass die Arbeiter überall dort, wo es darum geht, Werksschließungen abzuwenden, sich nicht nur mit immer unzumutbareren und schlechter bezahlten, sondern auch noch mit immer längeren Arbeitszeiten abfinden müssen. Bei Mercedes in Stuttgart hingegen kann derzeit von Werksschließungen keine Rede sein. Die dortigen Standorte gelten – noch – als höchst leistungsfähig und gewinnbringend. Bei Mercedes gilt es, ein zweites Exempel zu statuieren. Hier lautet die Botschaft: die grenzenlose Ausdehnung der Ausbeutung gilt nicht nur dort, wo das Unternehmen oder das Werk mit dem Rücken zur Wand steht. Es hat überall zu gelten. Dafür hat man extra Daimler ausgesucht, wohl wissend, dass es sich dabei um das Flaggschiff der deutschen Industrie, um die größte Konzentration der Industriearbeiterschaft in Deutschland, mitten in Baden-Württemberg mit seinen vielen Hunderttausenden von Metallarbeitern handelt. So sollte die Botschaft der Kapitalisten klar und deutlich rüber kommen: Wenn selbst eine so starke und bekanntermaßen kampferprobte Belegschaft diese Angriffe nicht abwehren kann, müssen die übrigen Lohnabhängigen sich erst recht damit abfinden.

Die Unternehmer schließen sich nicht umsonst in ihren sogenannten Arbeitgeberverbänden zusammen. Sie tun es, um ihr Vorgehen gegen die Arbeiterklasse zu koordinieren. Darüber hinaus sind diese Zusammenschlüsse der Unternehmer mit dem gesamten Staatsapparat verschmolzen. Das bedeutet, dass die Vorgehensweise der Unternehmer in eine Gesamtstrategie eingebettet ist, welche von den Regierungen in Bund und Ländern – und somit auch von der Sozialdemokratie – geleitet wird. Dabei entsteht zwischen Regierung und Industrie eine Art Arbeitsteilung. Während in der ersten Hälfte der Legislaturperiode der Bundesregierung die meisten “Reformen” beschlossen und direkt vom Staat auf den Weg gebracht werden (dazu gehörten in den letzten beiden Jahren die unerhörtesten Angriffe auf die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung: die “Gesundheitsreform”, die “Hartz”-Gesetzgebung gegen die Erwerbslosen, die “Lockerung” des Kündigungsschutzes), so überlässt die SPD jetzt in der Zeit vor der Bundestagswahl hingegen den Unternehmern bei den Angriffen gerne den Vortritt in der Hoffnung, dass sich die Leute weiterhin mit dem Staat identifizieren, wählen gehen, und ihr Vertrauen in die Sozialdemokratie nicht ganz aufkündigen.

Man darf sich also nicht in die Irre führen lassen, wenn die SPD jetzt erklärt, ihre Sympathien lägen bei den Arbeitern von Daimler-Chrysler. In Wirklichkeit stehen die jetzigen Angriffe in den Unternehmen in direktem Zusammenhang mit den “Reformen” der Bundesregierung. Es war sogar wahrscheinlich kein Zufall, dass die publikumswirksame Verschickung der “Hartz-4”-Fragebögen an die Arbeitslosen zeitgleich mit der Durchsetzung der Angriffe bei Daimler-Chrysler geschah. Das Absenken des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau sowie die verschärfte Überwachung und das Aushorchen der Erwerbslosen dient eben nicht nur dazu, die kapitalistische Staatskasse auf Kosten der Ärmsten der Gesellschaft zu entlasten. Es dient eben so sehr der größeren Wirksamkeit sämtlicher Erpressungsmittel gegen die noch Beschäftigten. Sie sollen wissen: wenn sie nicht lautlos nachgeben, werden sie selbst in eine bodenlose Verarmung abstürzen.

Die Nervosität der Herrschenden angesichts der Arbeitersolidarität

Dass die Angriffe des Kapitals dennoch nicht unwidersprochen hingenommen werden, beweisen nicht nur die Proteste bei Daimler, sondern auch die Art und Weise, wie die Herrschenden darauf reagierten. Schnell wurde das Bestreben der Politiker, der Gewerkschaften und Betriebsräte, aber auch der Konzernleitung erkennbar, den Arbeitskampf bei Daimler möglichst rasch zu beenden. Die Strategie der Kapitalseite war ursprünglich darauf angelegt, die Standorte Stuttgart und Bremen gegeneinander auszuspielen. Zwar rechnete man mit dem Widerstand der selbstbewussten und unmittelbar betroffenen Belegschaften im Südwesten. Offensichtlich war man aber vom Elan überrascht, mit dem vor allem die Arbeiter am Standort Bremen sich beteiligt haben. Das längst tot gesagte Gespenst der Arbeitersolidarität drohte zurückzukehren. Angesichts dessen wurden die Vertreter des kapitalistischen “jeder gegen jeden” sichtlich nervös.

So haben Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien – einschließlich Westerwelles FDP, der selbsternannten Partei der Spitzenverdiener – den Vorstand von Daimler-Chrysler dazu gedrängt, seinerseits einen “Gehaltsverzicht” anzubieten. Eine solche Maßnahme ist natürlich nichts als Augenwischerei. Da der Vorstand sein Gehalt selber festlegt, hat er es jederzeit in der Hand, einen solchen “Verzicht” wieder auszugleichen. Außerdem haben die Arbeiter, die für die Erziehung ihrer Kinder oder für das Abbezahlen der eigenen Wohnung nicht mehr aufkommen können, herzlich wenig davon, wenn ein Jürgen Schrempp eventuell eine Million mehr oder weniger einheimst.

Interessanter ist es, der Frage nachzugehen, weshalb die politische Klasse diese Geste der Vorstandsmitglieder jetzt einfordert. Sie fordert sie ein, um die Ideologie der Sozialpartnerschaft zu stützen, welche durch das Austragen eines erbitterten Arbeitskampfes Kratzer abzubekommen drohte.

Deshalb hagelte es auch Kritik von Seiten der Politik am arroganten Auftreten des Daimler-Vorstands. Es zeigt sich hier die problematische Seite der jetzigen Situation, wo die Unternehmer als Angreifer das Zepter übernehmen und der Staat sich im Hintergrund als neutrale Instanz zu gebärden versucht. Einem Manager wie Schrempp oder Hubbert fehlt es am Fingerspitzengefühl eines erfahrenen Sozialdemokraten, wenn es darum geht, einerseits den Arbeitern demonstrativ eine Niederlage zuzufügen, andererseits aber die Arbeiterschaft nicht zu stark zu provozieren. Vor allem fürchten die Herrschenden, die Arbeiter könnten sich zu viele Gedanken machen über ihren Kampf sowie über die Perspektiven ihres Lebens im Kapitalismus. In diesem Zusammenhang ist die Kritik von Bundeskanzler Schröder bedeutsam: “Ich rate dazu, diese Dinge in den Betrieben zu regeln und möglichst wenig darüber zu reden.” (von uns unterstrichen).

Denn seitdem 1989 der Stalinismus – eine besonders leistungsschwache, starre, rückständige, staatlich überreglementierte Form des Kapitalismus – zusammenbrach, wird unaufhörlich behauptet, es gebe keine Perspektive des Sozialismus, keinen Klassenkampf und auch keine Arbeiterklasse mehr. Doch nichts ist geeigneter als die Entwicklung größerer Arbeiterkämpfe, um der Welt unter Beweis zu stellen, dass weder die Arbeiterklasse noch der Klassenkampf der Vergangenheit angehören.

Die Spaltungspolitik der Gewerkschaften und der Medien

Es geht nicht darum, die Kämpfe bei Daimler zu überschätzen. Diese Kämpfe reichten vorne und hinten nicht aus, um den kapitalistischen “Dammbruch” zu verhindern. Zum einen, weil die Auseinandersetzung im wesentlichen auf die Daimler-Beschäftigten beschränkt blieb. Alle Erfahrungen der Geschichte beweisen, nur eine Ausweitung der Kämpfe auf andere Teile der Arbeiterklasse ist in der Lage, selbst vorübergehend, die Herrschenden zum Nachgeben zu zwingen. Zum Anderen, weil diese Kämpfe zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise die gewerkschaftliche Kontrolle in Frage gestellt oder auch nur angezweifelt haben. Die IG Metall und der Betriebsrat vor Ort haben es wieder einmal meisterlich verstanden, genau das in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, was die Lage der Mercedes-Beschäftigten von der der anderen Lohnabhängigen unterscheidet: Die Profitabilität des “eigenen” Konzerns, die besonders starke Auslastung des “eigenen” Betriebs, die viel besungene Leistungsfähigkeit der baden-württembergischen Metaller. Somit wurde einer weitergehenden, aktiven Solidarität mit dem Rest der Arbeiterklasse ein Riegel vorgeschoben. Die Medien wiederum griffen dasselbe Thema dankbar vom anderen Ende her auf, indem sie Neid gegenüber den Daimler-Arbeitern schürten, die als besonders privilegiert dargestellt wurden. So fiel z.B. auf, dass die Medien täglich aus Sindelfingen berichteten (wo die Zebrastreifen aus Carrara-Marmor selten unerwähnt blieben), während die Lage in Bremen (wo das Element der Solidarität am Stärksten zum Vorschein gekommen war) ausgeblendet wurde.

Noch bevor die Konzernleitung mit der Forderung nach “Einsparungen” von einer halben Milliarde Euro an die Öffentlichkeit getreten war, hatte der Gesamtbetriebsrat von Daimler bereits ein eigenes Streichpaket mit einem Volumen von 180 Mio. Euro vorgeschlagen. Und nachdem der Vorstand der Augenwischerei der Eigenbeteiligung der Konzernspitze an den Streichungen zugestimmt hatte, präsentierten IG Metall und Betriebsrat ihre Zustimmung zu einem “Gesamtpaket”, welches den Wünschen des Konzerns im vollen Umfang entsprach, als einen Sieg der Arbeiter, welcher angeblich eine “Arbeitsplatzgarantie” eingebracht habe.

Nicht aus Bösartigkeit spalten die Gewerkschaften die Arbeiter und verteidigen die Interessen des “Standorts” auf Kosten der Beschäftigten, sondern weil sie selbst längst ein Teil des Kapitalismus und seiner Logik geworden sind. Dies bedeutet aber, dass die Arbeitersolidarität, die Ausdehnung des Kampfes nur durch die Arbeiter selbst erreicht werden kann. Dies verlangt wiederum souveräne Massenversammlungen und eine Kampfweise, die sich auf eine Ausweitung des Widerstandes durch das direkte Zusammenkommen verschiedener Teile der Beschäftigten und Erwerbslosen stützt. Dies kann nur unabhängig von und gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzt werden.

Ein Kampf mit Signalwirkung

Von einer solchen, autonom geführten, auf aktive Solidarität ausgerichteten Kampfweise sind wir noch weit entfernt. Dennoch finden wir heute den Keim solcher künftiger Kämpfe bereits angelegt. So waren sich die Daimler-Beschäftigten durchaus bewusst, dass sie nicht nur für sich, sondern für die Interessen aller Beschäftigten gestritten haben. Unbestreitbar ist auch, dass ihr Kampf – aller Hetze über die angeblichen Privilegien der Sindelfinger zum Trotz – unter der arbeitenden Bevölkerung auf eine solche Sympathie gestoßen ist, welche in Deutschland seit Krupp Rheinhausen nicht mehr erlebt wurde.

Damals haben die “Kruppianer” zumindest ansatzweise die Frage der aktiven Ausdehnung des Kampfes auf andere Sektoren aufgeworfen sowie die Notwendigkeit der Infragestellung der gewerkschaftlichen Kontrolle über die Arbeiterkämpfe angedacht. Dass diese Fragen heute noch gar nicht gestellt werden, zeigt, wie sehr die Arbeiterklasse, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit in den letzten 15 Jahren an Boden verloren hat. Andererseits aber stellten Kämpfe wie bei Krupp oder die der englischen Bergarbeiter den Abschluss einer Serie von Arbeiterkämpfen dar, welche sich von 1968 bis 1989 erstreckten, um dann von einer langen Phase des Rückzugs abgelöst zu werden. Die gegenwärtigen Kämpfe hingegen – ob die im öffentlichen Dienst Frankreichs und Österreichs im vorigen Jahr oder jetzt bei Daimler – sind lediglich der Auftakt zur einer neuen Serie bedeutender sozialer Kämpfe. Diese Kämpfe werden sich viel langsamer und schwieriger entwickeln als in der Vergangenheit. Denn heute ist die Krise des Kapitalismus viel fortgeschrittener, die allgemeine Barbarei des Systems viel offensichtlicher, das drohende Unheil der Arbeitslosigkeit viel allgegenwärtiger geworden. Doch viel mehr als damals bei Krupp-Rheinhausen hängt heute die große Sympathie der lohnabhängigen Bevölkerung mit den kämpfenden Arbeitern mit der langsam aufdämmernden Erkenntnis über den Ernst der Lage zusammen. Die Herrschenden – auch ihre Gewerkschaften – sind emsig bestrebt, die jetzt durchgesetzten Arbeitszeitverlängerungen als vorübergehende Maßnahmen hinzustellen, um die Arbeitsplätze so lange zu erhalten, bis der jeweils eigene Standort “wieder konkurrenzfähig wird.” Doch die Arbeiter beginnen zu erahnen, dass es sich um mehr und um Grundsätzlicheres handelt. In der Tat! Es handelt sich heute darum, dass die Errungenschaften nicht nur von Jahrzehnten, sondern von zwei Jahrhunderten des Arbeiterkampfes über den Haufen geworfen werden sollen. Es geht darum, dass der Arbeitstag wie im Frühkapitalismus immer mehr ausgedehnt werden soll – wobei die Arbeitsbedingungen immer noch die des modernen Kapitalismus mit seiner höllischen Arbeitsintensität bleiben werden. Es geht darum, dass immer mehr die menschliche Arbeitskraft als Quelle des Reichtums der Gesellschaft geschunden und letztendlich zu Grunde gerichtet wird. Dies aber nicht wie im Frühkapitalismus als Ausdruck der Geburtswehen eines neuen Systems, sondern als Ausdruck eines heute maroden, den Fortschritt der Menschheit behindernden Kapitalismus. Langfristig geht das heutige, oft unbeholfene Herantasten an den Arbeiterkampf, an das Wiederbeleben der Solidarität einher mit einem tieferen Nachdenken. Dies kann und muss aber münden in die Infragestellung des barbarischen Systems, in die Perspektive eines höheren, sozialistischen Gesellschaftssystems. 22.07.04

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Der Kommunismus nur eine Utopie? (II)

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Im ersten Teil des Artikels haben wir aufgezeigt, dass der Kommunismus nicht nur ein uralter Traum der Menschheit und schon gar nicht das Ergebnis des bloßen Willens der Menschen ist, sondern die einzige Gesellschaftsform, die die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft überwinden kann und deren materielle Grundlagen gerade durch diesen Kapitalismus gelegt wurden. Der Eintritt des Kapitalismus in den tödlichen Kreislauf von Krise - Krieg - Wiederaufbau, der mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zu Tage trat, beweist nicht nur, dass der Kommunismus eine materielle Möglichkeit geworden ist, sondern auch eine Notwendigkeit im Sinne des Fortschritts, aber auch des nackten Überlebens der Menschheit.

In diesem zweiten Teil werden wir die Auffassungen derer untersuchen, die zwar dazu bereit sind, die materielle Möglichkeit des Kommunismus zu akzeptieren, sich aber dann hinter dem Argument verstecken, die Natur des Menschen sei nicht für den Kommunismus gemacht, der Mensch zeichne sich in Folge seiner Veranlagung durch eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, Trieben, Bedürfnissen aus, die es ihm unmöglich machten, solch eine Gesellschaft aufzubauen.

Bevor wir diese Argumente näher untersuchen, müssen wir uns zunächst mit dieser berühmten “menschlichen Natur” befassen.

Die menschliche Natur

Diese “menschliche Natur” entspricht ein wenig dem “Stein der Weisen”, den die Alchimisten Jahrhunderte lang gesucht haben. Bislang haben alle Untersuchungen über die “gesellschaftlichen Invarianzen” (wie die Soziologen so gerne sagen), d.h. über jene Eigenschaften des menschlichen Verhaltens, die in allen Gesellschaftstypen die gleichen sind, vor allem bewiesen, wie stark die Psychologie und die menschlichen Verhaltensweisen sich unterscheiden und wie stark sie von dem gesellschaftlichen Rahmen abhängig sind, in dem sich die untersuchten Menschen entwickelt haben. Wenn man eine grundlegende Eigenschaft dieser berühmten “menschlichen Natur” nennen müsste, dann wäre es in Wirklichkeit die gewaltige Bedeutung des “Erworbenen”, “Erlernten” im Verhältnis zum “Angeborenen”, die entscheidende Rolle der Erziehung und damit der gesellschaftlichen Umwelt, in die jeder hineingeboren wird.

“Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister von der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.” (Marx, Das Kapital, Band 1).

Bienen haben die Fähigkeit, perfekte Waben zu bauen, weil sie genetisch dazu vorprogrammiert sind, genauso wie die Brieftauben, die aus einer Entfernung von 1000 km mit schlafwandlerischer Sicherheit zum heimatlichen Taubenschlag zurückfinden. Dagegen wird die Form des Gebäudes unseres Architekten weniger durch irgendeine genetische Erbmasse bestimmt als vielmehr durch eine Reihe von Elementen, die ihm die Gesellschaft übermittelt. Ob es die Art von Gebäude ist, für dessen Entwurf er beauftragt wurde, oder die verwendeten Werkzeuge und das eingesetzte Material, die Produktionstechniken der daran beteiligten Berufe, die wissenschaftlichen Kenntnisse, auf die er sich stützen kann, die handwerklichen Regeln, die ihn dabei leiten - immer ist es die gesellschaftliche Umwelt, die dies bestimmt.

Der Anteil des “Angeborenen”, der ihm dabei von seinen Eltern übertragen wird, ist mehr als gering. Im Gegenteil, erst musste der Architekt sich alles von der Gesellschaft aneignen, bevor er die Fähigkeit erwarb, ein Gebäude zu entwerfen und für dessen Verwirklichung zu sorgen. Der Anteil der Gesellschaft ist somit Ausschlag gebend.

Was für die Arbeitsprodukte zutrifft, gilt auch für das Verhalten. So wird der Diebstahl als ein Verbrechen betrachtet, d.h. als eine Funktionsstörung der Gesellschaft, die - falls sie die Regel wäre - für Letztere in einer Katastrophe enden würde. Ein Dieb, oder noch schlimmer, jemand, der Menschen mit dem Ziel bedroht oder tötet, sie zu bestehlen, ist ein Krimineller, einer, der einhellig als boshafter, schädlicher Mensch eingestuft wird, und der daran gehindert werden muss, seine Verbrechen auszuüben (es sei denn, er praktiziert sie innerhalb des Rahmens der bestehenden Gesetze; in diesem Falle würde er für die Fähigkeit, Profite auszupressen, als “genial” gerühmt). Aber würde es “Diebe”, “Entführer” oder “gemeine Schwerverbrecher”, Gesetze, Richter, Polizisten, Gefängnisse, Kriminalromane usw. geben, wenn es nichts zu stehlen gäbe, weil dank der Entwicklung der Produktivkräfte alle materiellen Güter jedem Menschen im Überfluss zur Verfügung stehen und jeder frei darüber entscheiden kann? Natürlich nicht! Man könnte eine ganze Reihe anderer Beispiele aufführen, um zu zeigen, wie stark das Verhalten, die Einstellungen, die Gefühle, die Beziehungen zwischen den Menschen durch die gesellschaftliche Umwelt bestimmt werden.

Kleingeister werden einwenden, dass bestimmte asoziale Verhaltensweisen darauf zurückzuführen sind, dass es im tiefsten Innern der “menschlichen Natur” einen Teil gesellschaftsfeindlichen Verhaltens, der Aggressivität gegen Mitmenschen, gar eine potenzielle Kriminalität gebe. Ihnen zufolge stehlen die Menschen oft nicht aus materieller Not, gebe es Verbrechen als Selbstzweck und bewiesen die Verbrechen der Nazis, dass im Menschen ein Hang zum Bösen existiere, der zum Ausdruck komme, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Aber was steckt wirklich hinter solchen Aussagen? Sie zeigen nur, dass es keine “menschliche Natur” gibt, die als solche “gut” oder “böse” ist, sondern nur eine Gattung Mensch, deren verschiedene Potenziale sich den Bedingungen entsprechend entfalten, in denen der Mensch lebt. Die Statistiken sind in dieser Hinsicht aufschlussreich: Verhält es sich nicht so, dass in Krisenzeiten Kriminalität und alle gefährlichen Verhaltensweisen zunehmen? Ist nicht das Aufkommen von asozialen Verhaltensweisen bei verschiedenen Individuen eher der Ausdruck der Unfähigkeit der Gesellschaft, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen?

Dieselben Kleingeister stützen ihre Ablehnung des Kommunismus auf folgendes Argument: ‚Ihr sprecht von einer Gesellschaft, die die menschlichen Bedürfnisse wirklich befriedigen würde, doch sind nicht gerade das Eigentum, die Macht über den Anderen grundlegende menschliche Bedürfnisse, die der Kommunismus, der so etwas gerade verhindern will, nicht befriedigen kann? Der Kommunismus ist unmöglich, weil der Mensch egoistisch ist.‘

Das Bedürfnis nach Eigentum

In ihrer “Einführung in die Nationalökonomie” beschreibt Rosa Luxemburg das Entsetzen der englischen Bourgeoisie, als diese bei der Eroberung Indiens Völker entdeckte, die das Privateigentum nicht kannten. Sie tröstete sich damit zu sagen, dass es sich um “Wilde” handelte; doch wurde sie, die von klein auf gelernt hatte, dass das Privateigentum “natürlich” sei, in Verlegenheit gestürzt, als sie feststellte, dass gerade die Wilden demnach eine “künstliche” Lebensart besaßen. In der Tat war das “Bedürfnis” der Menschen nach Privateigentum so groß, dass sie Hunderttausende von Jahren ohne dieses ausgekommen sind. Und oft war es nur mit Hilfe von Massakern möglich, den Menschen - wie Rosa Luxemburg es im Falle Indiens beschreibt - das Privateigentum als “natürliches Bedürfnis” einzuhämmern. Das Gleiche trifft übrigens auch für den Handel zu, der angeblich die “einzige und natürliche” Form des Warenverkehrs ist und dessen Unkenntnis unter den Einheimischen die Kolonialherren in Rage versetzte; er ist untrennbar mit dem Privateigentum verbunden, tauchte mit ihm auf und wird auch mit ihm wieder verschwinden.

Eine andere Idee ist ebenfalls weit verbreitet: Wenn es nicht den Profit als Anreiz für die Produktion und deren Weiterentwicklung gäbe, wenn der Lohn für einen Arbeiter nicht der gerechte Ausgleich für die erbrachten Leistungen wäre, würde niemand mehr arbeiten und produzieren. In der Tat würde niemand mehr auf kapitalistische Weise produzieren, d.h. in einem System, das auf Profit und Lohnarbeit beruht, in dem die geringste Erfindung “rentabel” sein muss, wo die Arbeit aufgrund ihrer Dauer, ihrer Intensität, ihrer unmenschlichen Form zu einem Fluch für die Mehrheit der Proletarier geworden ist. Braucht dagegen der Forscher, der durch seine Forschungen an dem Fortschritt der Technik mitwirkt, einen “materiellen Anreiz”, um zu arbeiten? Im Allgemeinen wird er weniger gut bezahlt als ein leitender Angestellter, ein Manager, der zum Fortschritt keinen Deut beiträgt. Ist die Handarbeit möglicherweise unangenehm? Wie soll man den Begriff der “Liebe zur Arbeit” oder die Begeisterung für das Basteln und für viele andere Arten manueller Tätigkeiten verstehen, die oft sehr kostspielig sind? Im Wirklichkeit wird die Arbeit, wenn sie nicht entfremdet, absurd, erschöpfend ist, wenn ihre Produkte keine dem Arbeiter gegenüber feindlichen Kräfte sind, sondern Mittel, um die wirklichen Bedürfnisse der menschlichen Gemeinschaft zu befriedigen, zum ersten menschlichen Bedürfnis, zu einer der Hauptformen der Entfaltung der menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Im Kommunismus werden die Menschen mit Vergnügen produzieren.

Das Bedürfnis nach Macht

Von der Tatsache, dass es heute Chefs und Vorgesetzte gibt, wird abgeleitet, dass die Menschen nicht ohne Autoritäten leben können.

Wir wollen hier nicht noch einmal aufgreifen, was der Marxismus schon seit langem zur Rolle der politischen Institutionen, zum Wesen der Staatsmacht gesagt hat und das darin zusammengefasst werden kann, dass die Existenz einer politischen Autorität, der Macht von Menschen über Menschen das Ergebnis der Existenz von Gegensätzen und Zusammenstößen zwischen Gruppen von Individuen in der Gesellschaft (den gesellschaftlichen Klassen) ist, die entgegengesetzte Interessen haben.

Eine Gesellschaft, in der die Menschen in Konkurrenz zueinander treten, in denen ihre Interessen zusammenstoßen, wo die produktive Arbeit ein Fluch ist, permanente Zwänge bestehen und die elementarsten Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen mit Füßen getreten werden - eine solche Gesellschaft “braucht” Chefs (genauso wie sie die Polizei und Religion benötigt). Doch vorausgesetzt, diese Gesellschaft wird eines Tages mit all ihren Perversionen abgeschafft, dann stellt sich die Frage, ob die Chefs und die Macht immer noch notwendig sind. ‚Ja‘, meint dazu erneut der Kleingeist, ‚der Mensch ist so veranlagt, dass er andere beherrschen muss oder selbst beherrscht werden will. In jeder Gesellschaft wird die Herrschaft einiger weniger fortbestehen‘. Es stimmt, dass der Sklave, der immer Ketten getragen hat, das Gefühl hat, nicht ohne sie auszukommen, um sich fortzubewegen, doch ein freier Mensch wird nie dieses Gefühl verspüren.

Das Bedürfnis der Menschen, Macht über andere auszuüben, ist lediglich das Pendant dessen, was man “Sklavenmentalität” nennt. Das Beispiel der Armee, wo der dumme und gehorsame Feldwebel nichts lieber tut, als selbst zu kommandieren, ist in dieser Hinsicht erhellend. Im Wirklichkeit verhält es sich nämlich so, dass Menschen, die Macht über andere ausüben möchten, tatsächlich wenig Macht über ihr eigenes Leben besitzen, ganz zu schweigen von der Macht über die Gesellschaft. Das Machtbedürfnis eines jeden Einzelnen spiegelt seine eigene reale Machtlosigkeit wider. In einer Gesellschaft, in der die Menschen keine machtlosen Sklaven sind, in der sie nicht von den Gesetzen der Natur abhängen, und auch nicht von denen der Wirtschaft, in der sie also “Herrscher ohne Sklaven” sind, werden sie diesen Ersatz für ihre eigene Machtlosigkeit, die Beherrschung anderer, nicht mehr brauchen.

Der “Egoismus” des Menschen

Angeblich ist das “Jeder für sich” eine typische Eigenschaft des Menschen. In der Tat ist dies typisch für den Bourgeois, den “Selfmademan”. Es ist nur ein ideologischer Ausdruck der ökonomischen Wirklichkeit des Kapitalismus und hat überhaupt nichts mit dem “Wesen des Menschen” zu tun. Andernfalls müsste man behaupten, dass die “Natur des Menschen” sich seit dem primitiven Kommunismus, ja, selbst seit dem Feudalismus mit seinen dörflichen Gemeinschaften radikal gewandelt hat.

Tatsächlich trat der Individualismus massiv in Erscheinung, als die kleinen unabhängigen Grundbesitzer auf dem Lande auftauchten (Abschaffung der Leibeigenschaft) und sich in der Stadt weiterentwickelten. Als Großgrundbesitzer, die es vor allem geschafft haben, durch die Ruinierung ihrer Nachbarn zum Erfolg zu kommen, unterstützte die Bourgeoisie fanatisch diese Ideologie und stellte sie als “natürlich” dar. So behauptete sie ohne Skrupel, die von Darwin erarbeitete Evolutionstheorie sei eine Rechtfertigung “für den Kampf ums Überleben”, den Kampf eines “Jeden gegen Jeden”.

Doch mit dem Erscheinen des Proletariats, der assoziierten Klasse par excellence, wurde die bis dahin unangetastete Herrschaft des Individualismus in ihren Grundfesten erschüttert. Denn für die Arbeiterklasse ist die Solidarität an erster Stelle ein Mittel, um die Verteidigung ihrer materiellen Interessen sicherzustellen. Man kann also bereits hier dem Argument von der “egoistischen Natur” des Menschen entgegenhalten: Wenn der Mensch egoistisch ist, dann ist er auch intelligent genug zu wissen, dass sein einfacher Wunsch, seine Interessen wirksam zu verteidigen, ihn zur Verbrüderung und zur Solidarität mit seinen Schicksalsgenossen zwingt, sobald die gesellschaftlichen Umstände es zulassen.

Solidarität und Selbstlosigkeit sind grundlegende Bedürfnisse. Genauso wie der Mensch die Solidarität anderer braucht, so spürt er auch das Verlangen, selbst Solidarität gegenüber Mitmenschen zu praktizieren. Dies sieht man auch in unserer Gesellschaft sehr häufig, wenn auch in entstellter Form. Manch einer mag nun behaupten, die Selbstlosigkeit sei immer noch eine Form des Egoismus, denn derjenige, der sie praktiziert, täte dies an erster Stelle zu seinem eigenen Wohl. Das mag stimmen! Doch in diesem Fall handelt es sich nur eine andere Version der von den Kommunisten vertretenen Idee, dass es keinen grundlegenden Gegensatz zwischen dem individuellen und kollektiven Interesse gibt, im Gegenteil! In den Ausbeutungsgesellschaften, d.h. in den Gesellschaften, in denen es Privateigentum gibt, kommt dagegen der Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft zum Vorschein, und das ist nur allzu logisch. Denn wie könnte es eine Harmonie zwischen denen geben, die unterdrückt werden, und denen, die von dieser Unterdrückung leben und sie aufrechterhalten. In solchen Gesellschaften kann die Selbstlosigkeit nur in Form von Mildtätigkeiten, Almosen oder von Opfern zum Ausdruck kommen, d.h. in der Form der Verneinung seiner selbst oder anderer und nicht als Bestätigung, als gegenseitige Befruchtung.

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Bourgeoisie ist der Kommunismus also nicht die Verneinung der Individualität. Es ist der Kapitalismus, der, indem er den Proletarier zu einem Anhängsel der Maschinen macht, eine wirkliche Negation des Menschen betreibt und sie in Gestalt einer verfaulten Gesellschaft, des Staatskapitalismus, auf die Spitze treibt. Erst in einer kommunistischen Gesellschaft, in der es keinen Staat – jenem Feind jeglicher Freiheit – mehr gibt, wird das “Reich der Freiheit” für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft gelten. Wenn der Mensch seine verschiedenen Fähigkeiten gesellschaftlich verwirklichen kann und der Antagonismus zwischen individuellen und kollektiven Interessen verschwunden ist, wird sich ein neues und gewaltiges Feld für die Entfaltung eines jeden Individuums eröffnen.

Der Kommunismus ist die typische Gesellschaft der Vielfalt, weil er es möglich macht, die Arbeitsteilung zu zerschlagen, die jedes Individuum in eine Rolle zwingt, die ihm ein ganzes Leben lang anhaftet, weil er diese trübselige, generalisierte Uniformität der kapitalistischen Gesellschaft überwindet. Jeder neue Fortschritt in der Wissenschaft oder der Technik wird im Kommunismus nicht mehr die Spezialisierung weiter vorantreiben, sondern das Feld für die verschiedensten Aktivitäten eröffnen, auf dem sich jeder Mensch entfalten kann. Wie Marx und Engels in der “Deutschen Ideologie” schrieben:

“Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden” (MEW Bd. 3, Deutsche Ideologie, S.33).

Ja, auch wenn das den Bourgeois, den Skeptikern und den Kleingeistern nicht gefällt, der Kommunismus wird für die Menschen gemacht, der Mensch ist für den Kommunismus geschaffen.

Nun bleibt noch ein letztes Argument übrig, das untersucht werden muss: ‚Gut, der Kommunismus mag notwendig und materiell möglich sein, und er mag durchaus erstrebenswert für den Menschen sein, allein das Ausmaß der Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft ist derart fortgeschritten, dass der Mensch nie die Kraft haben wird, solch eine gewaltige Umwälzung wie die kommunistische Revolution vorzunehmen.‘

Auf dieses Argument werden wir in einem weiteren Artikel antworten.

(aus Révolution Internationale, Nr. 62, 6/1979, Zeitung der IKS in Frankreich).

 

Theorie und Praxis: 

  • Kommunismus - Keine schöne Utopie,sondern eine Notwendigkeit [4]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [5]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [6]

Diskussionsveranstaltung des Aufbaus zu den Gewerkschaften:

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Diskussionsveranstaltung des Aufbaus zu den Gewerkschaften Den Bock zum Gärtner machen?

Ende Juni 2004 führte der Revolutionäre Aufbau in Zürich eine Veranstaltung zum Thema Gewerkschaften durch. Die Einladung zu diesem Treffen versprach eine Diskussion über interessante Fragen: “Immer häufiger rufen Gewerkschaften in der Schweiz zum Streik auf (...). Sind die Gewerkschaften nun revolutionär? Oder sind sie nur ein regulierendes Rad im kapitalistischen System? Welche Interessen verfolgen die Gewerkschaften? Welche Abhängigkeiten bestehen? (...) Was können wir uns von der Gewerkschaftsbewegung erhoffen und was nicht?”

Den Bock zum Gärtner machen?

Ende Juni 2004 führte der Revolutionäre Aufbau in Zürich eine Veranstaltung zum Thema Gewerkschaften durch. Die Einladung zu diesem Treffen versprach eine Diskussion über interessante Fragen: “Immer häufiger rufen Gewerkschaften in der Schweiz zum Streik auf (...). Sind die Gewerkschaften nun revolutionär? Oder sind sie nur ein regulierendes Rad im kapitalistischen System? Welche Interessen verfolgen die Gewerkschaften? Welche Abhängigkeiten bestehen? (...) Was können wir uns von der Gewerkschaftsbewegung erhoffen und was nicht?”

Wenn man diese Fragen beantworten will, muss man grundsätzlich über den Charakter der Gewerkschaften diskutieren. Dies ist für die Arbeiterklasse gerade in der heutigen Zeit von zentraler Bedeutung, da die kampfbereiten Arbeiter, ob sie wollen oder nicht, auf die Gewerkschaften stossen und die Illusionen über deren Charakter weit verbreitet sind. Die Entwicklung des Klassenkampfs hängt aber entscheidend von der Überwindung dieser Illusionen ab. Da die IKS davon ausging, dass diese Veranstaltung Leute anzieht, die an einer wirklichen Klärung der Fragen um die Gewerkschaften interessiert sind, beteiligte sie sich mit einer Delegation an der Diskussion.

Die Gretchenfrage

Ein Funktionär der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), der im Namen des Aufbaus sprach, hielt ein kurzes Einleitungsreferat. Darin kam zwar zum Ausdruck, dass er ein kritisches Verhältnis zur Praxis der verschiedenen Gewerkschaften in der Schweiz hat. Aber die Einführung beschränkte sich auf die Darstellung einzelner gewerkschaftlicher Aktionen (namentlich der Maler und Gipser im Frühjahr 2004), des Arbeitsfriedens und der Funktionsweise des Gewerkschaftsapparates. Dabei erwähnte der Referent auch, dass die Gewerkschaften keine revolutionären Kämpfe führen, sondern Lösungen innerhalb des kapitalistischen Systems suchen würden. Wie man dies aus den Publikationen des Aufbaus gewöhnt ist, beschränkte sich auch hier die Stellungnahme dieser Gruppe zur Gewerkschaftsfrage auf eine Beschreibung gewisser Fakten; es gab keine Analyse über die materiellen und geschichtlichen Bedingungen der Gewerkschaften, geschweige denn über ihre Klassennatur.

Auch die Diskussion, die auf die Einführung folgte, verlief zunächst in diesen Bahnen: Lamento über die herrschenden Zustände und die nicht gerade kämpferischen Gewerkschaften, Lamento über die Gewerkschaftsbürokratie, alles auf dem Hintergrund und anhand der Beispiele der Streiks und anderer Aktionen der letzten 12 Monate (1).

Die Delegation der IKS stellte dann die Grundsatzfrage: Sind die Gewerkschaften überhaupt Organe der Arbeiterklasse, oder sind sie nicht vielmehr Organe des bürgerlichen Staates? Ist es Zufall, dass die Gewerkschaften systemerhaltend wirken, oder gehört dies zu ihrem Wesen? Interessanterweise widersprach niemand (nicht einmal der GBI-Funktionär) der IKS-Delegation, als sie behauptete, dass die Gewerkschaften, die ursprünglich im 19. Jahrhundert als Organe der Arbeiterklasse zur Erkämpfung von Reformen entstanden waren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts unwiderruflich in den bürgerlichen Staatsapparat integriert wurden. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine niedergehende Phase, d.h. spätestens mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, wurde der Kampf um Reformen illusorisch; die Arbeiterklasse konnte von nun an ihre Lebensbedingungen dauerhaft nur noch mit der proletarischen Weltrevolution verbessern. Die materielle Unmöglichkeit, Reformen zu erkämpfen, die nicht gleich wieder rückgängig gemacht werden, verwandelte die Gewerkschaften, die diese Reformfunktion hatten, notwendigerweise in Instrumente des Staatskapitalismus, der Bewahrung der herrschenden Ordnung, der Kanalisierung des Arbeiterwiderstands in Sackgassen. Die Gewerkschaften sind somit seit rund 100 Jahren zur Polizei in den Reihen der Arbeiterklasse geworden. Es ist also kein Zufall, wenn der Gewerkschaftsapparat heute als Teil der staatlichen Strukturen (z.B. im Parlament oder bei den paritätischen Kommissionen) erscheint. Dieser Schein entspricht der tatsächlichen Klassennatur der Gewerkschaften, und zwar nicht bloss der Gewerkschaftsbürokratie, sondern der Gewerkschaften insgesamt (2).

Es ist deshalb zwingend, dass die Gewerkschaften heutzutage nicht mehr die Interessen der Arbeiterklasse vertreten, sondern vielmehr ihr Todfeind sind. Die Revolution wird nicht in und mit den Gewerkschaften erkämpft, sondern ausserhalb und gegen sie. Wer die proletarische Revolution auf seine Fahnen geschrieben hat, muss deshalb die Arbeiter und Arbeiterinnen vor den Gewerkschaften warnen, und nicht kritisch von innen oder aussen diese Organe zu “verbessern” versuchen. Je “besser” sie sind, desto wirksamer für den kapitalistischen Staat.

Auf die Erfahrungen der früheren Generationen zurückgreifen ...

Obwohl der IKS nicht grundsätzlich widersprochen wurde, meinten doch die meisten Teilnehmer, insbesondere auch einige junge Arbeiter und Lehrlinge, die sich in der “Gruppe Rote Autonome” (GRA) zusammengeschlossen haben, es gebe in der heutigen Realität keine Alternative zu den Gewerkschaften. In ihnen seien wenigstens die Arbeiter zu finden, und zwar gerade die kämpferischen unter ihnen.

Es trifft zwar zu, dass die Gewerkschaftsmitglieder Arbeiter sind. Richtig ist auch, dass die meisten Arbeiter, die heutzutage kämpfen wollen, zuerst auf die Gewerkschaften stossen und vielleicht nach einem ersten Kontakt mit ihnen sogar Mitglied werden wollen, wenn sie es nicht schon sind. Dies passierte im letzten Jahr beispielsweise nach dem Streik bei Orange in Lausanne, wo meist junge, nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen den Kampf führten und einige dann der Gewerkschaft beitraten. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Gewerkschaften als unausweichliches Schicksal akzeptieren und alle Erfahrungen und Enttäuschungen der Arbeiter in den vergangenen 100 Jahren selber noch einmal erleben müssen. Gerade in den Kämpfen nach 1968, die sich jeweils in Wellen auf zahlreiche Länder und Kontinente ausweiteten, zeigte sich, dass die Gewerkschaften die Kämpfe nicht antreiben und befruchten, sondern sie vielmehr bremsen und verzetteln. Immer wenn die Arbeiter selbstbestimmt für ihre Ziele kämpften, stiessen sie sofort auf den Widerstand der Gewerkschaften, die den Kampf offen oder versteckt sabotierten. Es ist gerade heute wichtig, sich an die Beispiele aus der Zeit zwischen 1968 und 1989 zu erinnern, wo die Arbeiter nicht nur diese Erfahrung machten, sondern sich je länger je mehr auch bewusst gegen die gewerkschaftliche Kontrolle zu wehren begannen. Die kämpferischsten Arbeiter in Rheinhausen im Ruhrgebiet, bei den Eisenbahnen in Frankreich und den Krankenhäusern in Italien fand man in den Streiks 1985-88 nicht bei den Gewerkschaften, sondern in den Vollversammlungen der Arbeiter, die die Streiks selber in die Hände nahmen, und wo gegen den Widerstand der Gewerkschaften entschieden wurde, Delegationen zu anderen Betrieben unabhängig von der Branche zu schicken und den Kampf unter der eigenen Kontrolle auszuweiten.

Das Prinzip der Selbstorganisation ist bei der Entwicklung des Klassenkampfes zentral. Wenn die Arbeiter den Kampf aufnehmen, dürfen sie die Initiative und die Kontrolle nie aus den Händen geben, insbesondere nicht den Gewerkschaften überlassen. Die Vollversammlungen entscheiden über die Forderungen sowie über Fortsetzung, Ausdehnung, und Abbruch des Streiks. Die Verhandlungen mit den Unternehmern und dem Staat können nicht an die Gewerkschaften delegiert werden, vielmehr müssen die von der Vollversammlung zu den Verhandlungen Delegierten ständig Rechenschaft über den Stand der Gespräche ablegen, bleiben jederzeit abwählbar und dürfen keine Beschlüsse hinter verschlossenen Türen, ohne Rücksprache mit den Versammlungen fassen. Die Stärke der kämpfenden Arbeiter ist ihre Einheit, nicht das Verhandlungsgeschick einzelner. Die Arbeiter der Lenin-Werft in Danzig haben es 1980 vorgemacht: Als die Regierung mit einer Delegation der Streikenden hinter geschlossener Tür verhandeln wollte, stellten die Arbeiter Mikrofone auf, so dass die ganze Versammlung die Gespräche über Lautsprecher mitverfolgen konnte.

Die Arbeiter sind also in den vergangenen Kämpfen nicht nur auf die Sabotagearbeit der Gewerkschaften gestossen, sondern haben auch die Mittel gefunden, mit denen sie den Kampf selber führen konnten: Vollversammlungen, Streikkomitees, Ausweitung des Kampfes mittels Delegationen, jederzeitige Abwählbarkeit der Verhandlungsdelegationen. In einer revolutionären Situation wie 1917-20 organisierte sich die kämpfende Arbeiterklasse in Räten, die eine Weiterentwicklung derselben Mittel im grossen Massstab und im Hinblick auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft sind.

... und die Lehren weitergeben

Die Prinzipien der Selbstorganisierung, der Einheit der Arbeiterklasse, der gemeinsamen Interessen über alle beruflichen und nationalen Grenzen hinweg können und sollen die Revolutionäre überall, wo Arbeiter zusammenkommen und diskutieren, verteidigen: am Arbeitsplatz, auf Demonstrationen, in Streiks. Es gibt keinen Grund, deshalb einer Gewerkschaft beizutreten. Unabhängig und ausserhalb der Gewerkschaft zu kämpfen, heisst nicht, abseits zu stehen, sondern nach Kräften dort zu intervenieren, wo gekämpft wird oder Arbeiter sich treffen, um Fragen des Klassenkampfes zu klären.

Ein Mitglied der GRA erzählte in der Diskussion, dass sie versucht hätten, einen Streik am Arbeitsplatz zu organisieren. Es habe aber nicht funktioniert. Sie hätten nicht gewusst, wie es anzustellen sei.

Auch noch so kampfbereite Arbeiter müssen sich bewusst sein: Einen Streik kann man nicht einfach organisieren; vielmehr muss die entsprechende Unzufriedenheit bei den Arbeitern reifen. Dieser Prozess ist im wesentlichen spontan. Den Kommunisten kommt dabei die Aufgabe zu, die Entwicklung vorauszusehen und die Ziele zu propagieren, nicht aber, künstlich einen Streik anzuzetteln. Die Delegation der IKS verwies in der Diskussion über diesen Punkt auf Rosa Luxemburg, die 1906 aufgrund der Erfahrung der Kämpfe des Vorjahres in Russland in ihrer Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften geschrieben hatte: “Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, dass der Massenstreik nicht künstlich ‚gemacht’, nicht ins Blaue hinein ‚beschlossen’, nicht ‚propagiert’ wird, sondern dass er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.” Dies heisst aber nicht, dass die Revolutionäre einfach warten und zuschauen müssten. Vielmehr unterstrich Rosa Luxemburg die besondere Rolle der klassenbewussten Vorhut des Proletariats: “Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der ‚revolutionären Situation’ warten, darauf warten, dass jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muss, wie immer, der Entwicklung vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen. Dies vermag sie aber nicht dadurch, dass sie zur rechten und unrechten Zeit ins Blaue hinein plötzlich die ‚Losung’ zu einem Massenstreik ausgibt, sondern vor allem dadurch, dass sie den breitesten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht.” (3)

Die Revolutionäre sollen also nicht das betreiben, was Lenin “Nachtrabpolitik” nannte, d.h. der Masse hinterher traben, sondern der Bewegung vorauseilen, ihre Ziele propagieren und Prinzipien verteidigen.

Aus diesem Grund nahm die IKS-Delegation auch die Berichterstattung des Revolutionären Aufbaus über die verschiedenen Streiks in der Schweiz aufs Korn. In den Publikationen des Aufbaus erschöpfen sich die Artikel zur gesellschaftlichen Lage in einer Aufzählung von gewerkschaftlichen Aktionen in den einzelnen Betrieben und Branchen: Tamedia, Allpack, Zyliss, Isotech, Maler und Gipser etc. Diese Berichte sind eine Glorifizierung der Gewerkschaften. Ausser der “reaktionären christlichen Gewerkschaft” Syna wird keine kritisiert, geschweige denn, dass das Gewerkschaftswesen als solches in Frage gestellt würde. Verdient eigentlich der Aufbau das Attribut revolutionär? P/J, 12.07.04

1) Vgl. dazu den Artikel “Wie Niederlagen der Arbeiter als Siege verkauft werden” in Weltrevolution Nr. 124

2) Vgl. dazu unsere Broschüre “Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse”

3) Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften in Gesammelte Werke Bd. 3, S. 100 u. 146

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [7]

Irak, Madrid, Naher Osten: Die neue Weltunordnung

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Im Juli fand in Köln eine Diskussionsveranstaltung der IKS zur ‘neuen Weltunordnung’ statt. Wir veröffentlichen nachfolgend das Einleitungsreferat der IKS.

Das Thema unserer heutigen Veranstaltung ist das zunehmende Chaos in der Welt. Die Idee des zunehmenden Chaos als solche dürfte kaum kontrovers sein. Die Medien sind voller Nachrichten darüber: Terroranschläge, Geiselnahmen, Instabilität ganzer Regionen wie im Nahen Osten oder in Afrika. Unsere These lautet aber, dass die Zunahme des Chaos gegenwärtig die Haupttendenz in der modernen Gesellschaft ist; dass dieses Chaos heute eine neue Qualität erreicht; dass diese zunehmende Anarchie Ausdruck der Auflösung der niedergehenden kapitalistischen Gesellschaft ist. Es handelt sich aus unserer Sicht um eine wachsende Barbarei, welche die Gefahr in sich birgt, den Untergang der gesamten Menschheit herbeizuführen, falls es nicht rechtzeitig gelingt, eine neue, höhere, sozialistische Gesellschaftsordnung einzuführen.

Auch wenn Jeder mit eigenen Augen diese Anarchie beobachten kann, ist die IKS sich dessen bewusst, dass unsere These ‚eine neue Qualität des Chaos heute als Haupttendenz der Gesellschaft‘ durchaus keine gängige Meinung darstellt und als solche heute kontrovers diskutiert werden sollte.

Die Meinungsmacher der westlichen Demokratien geben natürlich zu, dass die Lage im Irak und in einigen anderen Teilen der Welt äußerst instabil ist, wie sie auch zugeben, dass eine Zunahme und Ausbreitung des internationalen Terrorismus auf der Tagesordnung steht. Aber im Unterschied zur Auffassung der IKS stellt die bürgerliche Staatsräson dieses Chaos lediglich als ein geographisch beschränktes Phänomen dar. Genauso sieht sie den Terrorismus ausschließlich als Ausdruck einer bestimmten Kultur in der heutigen Gesellschaft an, nämlich die des Islams. Also sei das Chaos nicht die Haupttendenz der heutigen Gesellschaft.

Die sich ausbreitende Anarchie wird vielmehr als Fremdkörper betrachtet, welche die an und für sich stabile Welt der westlichen Demokratien bedroht.

Gerne weist man darauf hin, dass die westlichen Staatschefs allen Gegensätzen zum Trotz vereint sind gegen die Instabilität und von dem gemeinsamen Willen beseelt sind, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. So weist man beispielsweise auf die große Zustimmung zur jüngsten UN-Resolution zur Einsetzung des neuen irakischen Regimes hin, welche sowohl von den Kriegsbefürwortern im Falle Iraks (USA, Großbritannien, Italien) als auch von den sog. Kriegsgegnern (Deutschland, Frankreich, Russland) mitgetragen wurde, um eine weitere Destabilisierung des Zweistromlandes zu verhindern. Oder aber: Man weist, wie der amerikanischen Präsident Bush es jüngst getan hat, darauf hin, dass beispielsweise ein Land wie Deutschland sich zwar militärisch nicht im Irak engagiert, dafür aber zur Entlastung der USA in Afghanistan beiträgt.

Wir hingegen wollen in unserer Einleitung aufzeigen, dass hinter dem zunehmenden Chaos, z.B. im Irak, oder den verschiedenen Terroranschlägen nicht allein lokale oder periphere Tendenzen am Werk sind, sondern die Haupttendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Wir wollen aufzeigen, dass die Alternative, vor der die Menschheit steht, die zwischen Sozialismus und Barbarei, wie es die Kommunistische Internationale 1919 bereits formuliert hat, noch nie so gültig war wie heute.

Wir wollen unsere These anhand von zwei aktuellen Beispielen konkretisieren: der Bürgerkrieg im und um den Irak und die Terroranschläge in Madrid

Zur Lage im Irak:

Im Frühjahr 2003 wurden die Armeen Saddam Husseins binnen weniger Wochen auf eindrucksvolle Weise durch die amerikanisch-britischen Invasionskräfte hinweggefegt. Heute aber, knapp ein Jahr später, hat sich dieser triumphale Siegeszug in sein Gegenteil verkehrt. Die amerikanische Führungsmacht sitzt im Irak heute sozusagen in der Falle. Spätestens seitdem zu Ostern dieses Jahres gleichzeitig in mehreren irakischen Städten Aufstände gegen die Besatzungsmächte ausbrachen, wurde offensichtlich, dass es den USA nicht gelingt, die Ordnung im Irak wiederherzustellen. Außerdem wird Washington so sehr durch die irakischen Wirren gebunden, dass es zur Zeit gar nicht mehr imstande ist, glaubwürdig andere Staaten, wie z.B. Iran, Syrien oder Nordkorea wirkungsvoll zu bedrohen und einzuschüchtern.

Das heißt, die Schwäche der USA im Irak hat weltweite Auswirkungen. Die USA sitzen insofern in der Klemme, als sie sich andererseits zur Zeit gar nicht aus dem Irak zurückziehen können. Denn ein solcher Rückzug würde nicht nur den zentrifugalen Kräften im Irak freien Lauf lassen, sondern darüber hinaus zu einem kaum wieder gut zu machenden Verlust an Glaubwürdigkeit der USA führen. Deshalb möchte der Herausforderer Bushs bei den Präsidentschaftswahlen, John Kerry, die amerikanischen Truppen ausdrücklich nicht aus dem Irak zurückziehen, sondern im Gegenteil ihre Anzahl verdoppeln.

Man sieht also, egal welche Politik die USA einschlagen, die Folgen werden verheerend und weltweit zu spüren sein.

Was die Lage im Irak betritt, haben wir bis jetzt lediglich Tatsachen wiedergegeben, die Jedem bekannt sein dürften. Die wirkliche Frage aber, die man beantworten muss, lautet:

Weshalb hat die amerikanische Okkupation des Iraks nicht zu einer Stabilisierung, sondern Destabilisierung geführt?

Darüber hinaus muss man hinterfragen, ob dieses Ergebnis der Stabilisierung ein lokales Ereignis darstellt oder das Produkt einer historischen Grundtendenz ist.

Wir wollen also die Ursachen des irakischen Chaos kurz unter die Lupe nehmen. Wir machen dabei eine erste Feststellung: Das erste Ergebnis des Irakkrieges von 2003 war der Zusammenbruch der Zentralmacht im Lande. Seitdem gibt es keine wirksame Zentralmacht im Irak mehr, sondern das Land löst sich auf in einer Reihe gegeneinander konkurrierenden ethnischen, religiösen und politischen Gruppierungen, die, wenn überhaupt, nur in ihrer Gegnerschaft zur USA eine Gemeinsamkeit finden. Diese Auflösung der Zentralgewalt liefert auch eine erste Haupterklärung dafür, weshalb Washington die Lage vor Ort nicht in Griff bekommen kann. Zugleich öffnet diese Zersplitterung die Einflussnahme der Nachbarstaaten Iraks Tür und Tor. So ist bekannt, dass die schiitischen Aufständischen im Süden des Landes vom Iran ermuntert werden; dass die baathistische Guerilla im sog. sunnitischen Dreieck vom syrischen Geheimdienst tatkräftig unterstützt werden, oder dass die wahabitischen Kämpfer vom Schlage der al-Qaida von Saudiarabien aus aktiv werden, ohne dass die USA all diese Einmischungen unterbinden können.

Wir haben es hiermit mit einer Grundtendenz des heutigen Kapitalismus zu tun, welche sich nicht allein durch lokale Bedingungen erklären lässt. Es handelt sich um das Phänomen der „failed states“, sprich: scheiternde, auseinanderbrechende Staatsgebilde. Dieses Phänomen hat bereits Ende der 80er Anfang der 90er Jahre beim Zusammenbruch der Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam eine zentrale Rolle gespielt. Damals führte die Schwächung der UdSSR zur Auflösung des Ostblocks, was wiederum zum Auseinanderbrechen der UdSSR selbst führte. Kurz darauf löste der Zerfall Jugoslawiens eine Reihe von Kriegen auf dem Balkan aus – die ersten Kriege in Europa seit 1945. Man sieht also: Das Phänomen der „failed states“ beschränkt sich keineswegs auf Länder wie Libanon in den 80er Jahren oder Afghanistan, Irak und Zaire heute, sondern stand im Mittelpunkt der welthistorischen Ereignisse, welche um 1989 herum die Phase des Zerfalls des Weltkapitalismus eingeleitet hat. Und dieses Phänomen äußerte sich auch in Europa, wie die Beispiele der UdSSR, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei zeigten. Das heißt: Dieses Problem, vor dem die USA im Irak stehen, ist eine globale Grundtendenz. Das Paradoxe dabei ist, dass dieses Auseinanderbrechen des Iraks absolut vorhersehbar war. Dies war auch der Grund, weshalb Bush sen. im 1. Irakkrieg seinen Marsch auf Bagdad stoppte und Saddam wohlweislich an der Macht ließ. Wenn die USA vor einem Jahr dennoch Saddams Sturz herbeiführten und damit das Risiko auf sich nahmen, das Land ins Chaos zu stürzen, dann weil die imperialistischen Spannungen zwischen den Großmächten selbst mächtig zugenommen haben. Der 1. Irakkrieg unter Bush sen. hatte als Hauptziel die Eindämmung der Tendenz des „Jeder für sich“ der imperialistischen Staaten, nachdem die imperialistischen Blöcke sich aufgelöst hatten.

Da dieser Versuch der gewaltsamen Unterordnung der anderen führenden Industriestaaten unter die Knute der USA scheiterte, mussten die USA eins draufsetzen, indem sie Saddam, der Verbündete Deutschlands, Frankreichs und Russlands, vom Sockel stürzten, um damit der Welt zu demonstrieren, was den Staaten blüht, die sich den USA widersetzen.

Natürlich ist dieses Phänomen der „failed states“ auch ein Produkt der Wirtschaftskrise - nach dem Motto: Wenn die Beute nicht mehr für alle reicht, dann fallen die Räuber gegenseitig über sich her. Doch nicht die alteingesessenen kapitalistischen Staaten, wie die USA oder Deutschland brechen auseinander, sondern die Staaten, die ohnehin jahrzehntelang durch nackte Gewalt zusammengehalten wurden. Gerade sie werden durch die zunehmende politische Instabilität in der Welt aus der Bahn geworfen.

Zu den Terroranschlägen in Madrid:

Diese Attentate haben den Ausgang der Parlamentswahlen in Spanien entscheidend beeinflusst, indem sich der zuvor sicher erscheinende Sieg des pro-amerikanischen Aznar plötzlich in einen Sieg für den pro-europäischen Sozialisten Zapatero verwandelt hatte. Diese Anschläge haben somit nicht nur etliche Menschleben gekostet, sie haben auch das momentane Kräfteverhältnis innerhalb der EU durcheinander gewirbelt. Und obwohl die Sozialistische Partei in Spanien, obwohl die Achse der sog. Kriegsgegner in Europa die Hauptprofiteure der Anschläge waren, gibt es keine überzeugenden Hinweise darauf, dass diese Anschläge von eben diesen Nutznießern initiiert oder zugelassen wurden. Zum einen ist es sehr zweifelhaft, ob die europäischen Staaten heute logistisch und vor allem politisch in der Lage sind, solche Anschläge durchzuführen, welche die Interessen Washingtons unmittelbar angreifen, ohne dass die USA zuvor davon Wind bekommen. Zum anderen war der überraschende Wahlausgang mit seinem ebenso überraschenden Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak nicht allein das Ergebnis der Anschläge, sondern auch das Resultat der besonders plumpen und ungeschickten Vorgehensweise der Regierung Aznar in dieser Situation – etwas, was vorher nicht unbedingt absehbar war.

Das heisst: Die Nutznießer dieser Anschläge können sich nicht wirklich über ihren Erfolg freuen, insofern als diese Erfolge mehr oder weniger ein Zufallsprodukt waren. Denn dies bedeutet, dass das imperialistische Kräfteverhältnis in Europa heute oder morgen genauso leicht in eine andere Richtung, z.B. zugunsten der USA, umgeworfen werden könnte auf Grund erneuter, kaum absehbarer Ereignisse. Somit zeigt Madrid auf, wie sehr die Instabilität in der Welt bis in die Zentren des Weltkapitalismus vorgedrungen ist. Zwar werden die Großmächte weiterhin die Waffe des Terrorismus auch im interimperialistischen Kampf einsetzen, wie die USA dies am 11. September getan haben, indem sie diese Anschläge bewusst zugelassen haben, um ihre imperialistische Offensive in Afghanistan und Irak zu rechtfertigen. Doch die Anschläge von Madrid, wie anscheinend auch der im letzten Augenblick abgewendete Bombenanschlag in Amman, Jordanien, der mindestens 80.000 Opfer gekostet hätte, unterstreichen, dass auch das Phänomen des Terrorismus zunehmend außer Kontrolle gerät. Es wird immer mehr zu einem unkontrollierbaren Phänomen der Agonie eines zerfallenden Gesellschaftssystems.

Dieser Terrorismus ist nicht zuletzt das Ergebnis der Perspektivlosigkeit und Verzweiflung von immer mehr Menschen in der heutigen Welt, welche keinen Grund zum Leben sehen, und nur noch von Hass und der Sehnsucht erfüllt sind, zu sterben und möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen. Insofern versinnbildlicht das Phänomen der Selbstmordattentate die Sackgasse, in die der Kapitalismus die Menschheit geführt hat. Die Anzeichen mehren sich, dass sich heute eine Art internationaler Bürgerkrieg ausbreitet, an dem sich nicht nur die imperialistischen Staaten, sondern auch warlords aus den auseinanderbrechenden Staaten dieser Welt, aus Afghanistan, Irak, Libanon, Palästina usw., beteiligen, in dem zunehmend alle Mittel erlaubt sind. Besonders beängstigend erscheint auch die Tatsache, dass der Feind unsichtbar ist und willkürlich Jeden treffen könnte.

Das irrationale Phänomen der warlords ist an und für sich nicht neu. Es entwickelte sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in China. Damals war dieses blutige Auseinanderbrechen der herrschenden Klasse das Ergebnis der Pattsituation zwischen der aufsteigenden Bourgeoisie, welche nicht stark genug war, ihre revolutionären Ziele durchzusetzen, und einem Feudaladel, welcher der Gesellschaft keine Perspektive mehr bot, aber genügend Beharrungsvermögen besaß, um sich nicht aus dem Wege räumen zu lassen.

Heute ist der gesellschaftliche Zerrfall kein lokales Phänomen mehr, sondern global. Es ist das Ergebnis der historischen Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft: zwischen einer Bourgeoisie, deren Weg zum Weltkrieg durch die Arbeiterklasse versperrt ist, und einer Arbeiterklasse, die seit 1968 zwar ungeschlagen bleibt, aber bisher nicht in der Lage war, eine eigene revolutionäre Perspektive zu entwickeln. Dies bedeutet, dass die Entwicklung einer solchen revolutionären Perspektive der einzige Ausweg aus der Barbarei der heutigen Gesellschaft darstellt. In diesem Sinne möchten wir unser Referat mit folgendem Zitat Rosa Luxemburgs beenden: „Die geschichtliche Dialektik bewegt sich eben in Widersprüchen und setzt auf jede Notwendigkeit auch ihr Gegenteil in die Welt. Die bürgerliche Klassenherrschaft ist zweifellos eine historische Notwendigkeit, aber auch der Aufruhr der Arbeiterklasse gegen sie; das Kapital ist eine historische Notwendigkeit, aber auch sein Totengräber, der sozialistische Proletarier; die Weltherrschaft des Imperialismus ist eine historische Notwendigkeit, aber auch ihr Sturz durch die proletarische Internationale. Auf Schritt und Tritt gibt es zwei historische Notwendigkeiten, die zueinander in Widerstritt geraten, und die unsrige, die Notwendigkeit des Sozialismus, hat einen längeren Atem. Unsere Notwendigkeit tritt in ihr volles Recht, mit dem Moment, wo jene andere, die bürgerliche Klassenherrschaft, aufhört, Trägerin des geschichtlichen Fortschritts zu sein, wo sie zum Hemmschuh, zur Gefahr für die weitere Entwicklung der Gesellschaft wird.“ (aus: Krise der Sozialdemokratie)

Geographisch: 

  • Naher Osten [8]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [9]

Nicht der Standort Deutschland, der Kapitalismus verursacht Krise und Elend

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Heutzutage werden sämtliche Angriffe gegen die Arbeiterklasse in Deutschland ohne Ausnahme – insbesondere die “Agenda 2010” der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung - damit gerechtfertigt, dass es notwendig sei, den “Reformstau” in der Bundesrepublik “aufzulösen”, damit der Standort wieder wettbewerbsfähig werde. Deutschland sei der neue “kranke Mann Europas” geworden. So gäbe es kein anderes Mittel als das Wiedererlangen der Konkurrenzfähigkeit, um die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Die Botschaft ist klar: Nicht der Kapitalismus als Wirtschaftsweise, als Gesellschaftssystem ist schuld an der chronischen Stagnation und am wachsenden Elend im führenden Industriestaat Europas, sondern das Fehlen einer zufriedenstellend kapitalistischen, sprich wettbewerbsorientierten Einstellung “der Deutschen” – und in erster Linie der deutschen Arbeiterschaft – zum Wirtschaftsleben. Zu hohe Arbeitskosten, zu großzügige Sozialleistungen, zu kurze Arbeitszeiten, zu viele Urlaubs- und Feiertage seien somit Schuld an den nicht abreißenden Meldungen von Werksschließungen und Massenentlassungen in Deutschland. Diese Argumentationslinie hat – vom Standpunkt des Kapitals – den großen Vorteil, dass sie nicht nur die täglich stattfindenden Angriffe gegen die Arbeiter rechtfertigt, und die Arbeiter selbst dafür verantwortlich macht, dass die Krise des Systems ihre Situation so brutal verschlechtert, sondern darüber hinaus sozusagen die Systemfrage von der Tagesordnung streicht. Da sie von vorn herein den Kapitalismus als einzig denkbares System voraussetzt, kann es nur noch darum gehen, wie man sich für den kapitalistischen Wettbewerb im “Zeitalter der Globalisierung” fit macht.

In der Zeit nach 1989, als infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus das Scheitern einer angeblichen Alternative zum Kapitalismus die Unmöglichkeit einer anderen als die bürgerliche Welt des Jeder gegen Jeden als eine Art Binsenwahrheit erscheinen ließ, war es für die Herrschenden noch verhältnismäßig unproblematisch, so zu argumentieren. Die Illusionen über eine neue Epoche des florierenden Kapitalismus “jenseits aller totalitären Ideologien” waren noch frisch. Die “humanitären” Rechtfertigungen der imperialistischen Kriegseinsätze auf dem Balkan sowie die Euphorie über die neuen Märkte im Osten oder im Bereich der Informationstechnologien verliehen der versprochenen neuen Weltordnung des Friedens und des Wohlstandes für alle noch eine gewisse Glaubwürdigkeit.

Heutzutage hingegen werden an der “Standortdebatte” gewisse Korrekturen vorgenommen. Zum einem man hat an die “Spitze des Staates” einen Mann namens Horst Köhler als Staatspräsidenten geholt, der nicht nur ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann sein soll, sondern der es auch noch versteht, Optimismus zu verbreiten. Denn dieser Mann liebt nicht nur sein Vaterland, sondern glaubt auch noch an “die Ideen” seiner Landsleute, welche imstande seien, Deutschland an die Weltspitze der Wohlstandspyramide zurückzuführen. Leute vom Schlage des einstigen Chefs des Internationalen Währungsfonds hegen mittlerweile den Verdacht, dass das einseitige Jammern über die Misere des Standorts letzten Endes – da die Lage so oder so nicht besser wird – in eine Art Pessimismus gegenüber dem Kapitalismus insgesamt ausarten könnte. Bekanntermaßen wird ein solcher Pessimismus unter “Fachleuten” inzwischen dafür verantwortlich gemacht, dass die Leute angesichts drohender Einkommenseinbußen und Dauerarbeitslosigkeit den viel zitierten “Konsumstreik” angetreten sein sollen.

Doch neben dieser Art von Zweckoptimismus fällt in letzter Zeit außerdem auf, dass den Argumenten der Gewerkschaftslinken und der ihnen nahestehenden Wirtschaftsforschungsinstitute in der Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Von dieser Seite wird bestritten, dass Deutschland überhaupt an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. So brachte “Die Zeit” von 15. April einen Leitartikel mit der Schlagzeile “Der Mythos vom Abstieg”, welcher die starke Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik betonte, und deren wirtschaftliche Schwierigkeiten auf die Folgen der Wiedervereinigung und der Euro-Einführung zurückführte.

Auf den ersten Blick kann dieser Standpunkt arbeiterfreundlicher erscheinen als der andere. Denn er wird von Gewerkschaftsvertretern ins Feld geführt als Argument gegen bestimmte “Opfer”, welche die Unternehmer von den Lohnabhängigen einfordern, nach dem Motto: wenn die Behauptung, dass die deutsche Wirtschaft ihren Konkurrenten gegenüber im Nachteil sei, so nicht stimmt, dann müssen bestimmte Maßnahmen auch nicht hingenommen werden. Denn diese Maßnahmen wären aus dieser Sicht zum Wohle der Wirtschaft nicht notwendig, sondern seien eher Ausdruck der maßlosen Profitgier der Unternehmer.

Doch bei Lichte betrachtet erweist sich auch diese Betrachtungsweise als urkapitalistisch. Denn die Kehrseite des Arguments, dass Maßnahmen, welche zur Verteidigung der Wettbewerbsfähigkeit des Konzerns oder des Standortes nicht zwingend erforderlich sind, nicht hingenommen werden müssen, lautet, dass alles, was diesem Ziel wirklich dient, widerspruchslos hingenommen werden muss. Diese Logik kann man als die Quintessenz der gewerkschaftlichen Sichtweise bezeichnen.

Auch wenn die Gewerkschaften niemals revolutionäre Organe waren, so waren sie doch als Interessenvertreter der Arbeiter immer darauf aus, die Verbesserungen für ihre Mitglieder herauszuschlagen, welche mit dem Gedeihen des Unternehmens bzw. des Staates vereinbar sind. Seitdem der Kapitalismus Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch in eine Phase permanenter Krisenhaftigkeit eingetreten ist – die Niedergangsphase des Systems – verschwindet dieser wirtschaftliche Spielraum für systemverträgliche Reformen und damit auch die Existenzberechtigung der Gewerkschaften als Vertreter von Arbeiterinteressen. Doch die Gewerkschaften selbst verschwinden nicht, sondern übernehmen nunmehr eine neue Rolle, indem sie - mit einer “Arbeitersprache” verbrämt – für die Durchsetzung und Rechtfertigung der Angriffe sorgen, welche wirklich “notwendig” sind, um auf Kosten der Arbeiterklasse die Arbeitsplätze oder den Standort zu verteidigen.

Somit dient die Verbreitung solcher Argumente heute in erster Linie einer notwendig gewordenen Verstärkung der Präsenz der Gewerkschaften und ihrer Ideologie in den Reihen der Arbeiter, um die immer schärfer werdenden kapitalistischen Angriffe wirkungsvoller durchzusetzen.

Darüber hinaus dient die Verbreitung der gewerkschaftlichen und “linken” Argumente über die Vorteile des Standortes gerade heute der Erschwerung der Befassung von klassenbewussteren Arbeitern mit einer über den Kapitalismus hinausgehenden, kommunistischen Perspektive. Denn gerade die Einsicht, dass der Kapitalismus heute für seine Lohnsklaven außer ständigen Verschlechterungen nichts anzubieten hat, verleitet gerade politisch aktive, mit der Sache des Proletariats sich identifizierende Menschen dazu, das System insgesamt in frage zu stellen. Wie die “Antiglobalisierungsbewegung” dient auch der Hinweis von “Die Zeit” und anderer bürgerlicher Sprachrohre dazu, dass es dem System bzw. dem “eigenen” Standort gar nicht so schlecht gehe, dazu, Illusionen über die Möglichkeit von Reformen innerhalb des bestehenden Systems zu schüren.

Wir haben jetzt unsererseits vor, die Wettbewerbslage des deutschen Kapitals unter die Lupe zu nehmen, um aufzuzeigen, dass die Probleme des “Standortes” in Wirklichkeit entscheidende Hinweise auf die neue Phase des historischen Bankrotts des Kapitalismus liefern.

Deutschland: Der kranke Mann Europas?

Die Argumente zugunsten der These von Deutschland als “der kranke Mann Europas” beziehen sich zu allererst darauf, dass die Bundesrepublik ab Mitte der 90er Jahre das niedrigste Wirtschaftswachstum der Europäischen Union aufzuweisen hat. Dies fällt um so mehr auf, da die alte Bundesrepublik vor 1989 - innerhalb einer Weltwirtschaft also, deren Wachstum seit dem 2. Weltkrieg ohnehin von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer schwächer wurde – immerhin eine überdurchschnittliche Wachstumsrate zustande brachte. Deshalb wurde die alte BRD neben Japan damals in der Welt noch als Wirtschaftsmodell hochgehalten. Die Dinge haben sich gewissermaßen ins Gegenteil verkehrt. Denn heute weist beispielsweise Großbritannien – das in den 70er Jahren als der “kranke Mann Europas” traurige Berühmtheit erlangte – kontinuierlich ein höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland auf. Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik im Verlauf der 90er Jahre immer mehr von ausländischen Investoren gemieden wurde, während die angelsächsischen Länder kräftig von ausländischen Investitionen profitieren konnten. So erregte im vorigen Jahr die Tatsache Aufsehen, dass das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens pro Einwohner erstmals seit Jahrzehnten das von Deutschland übertraf.

Das besonders niedrige Wachstumsniveau der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren ist unstrittig. Aber in wie fern lässt sich daraus auf einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit schließen? Die Stagnation der Wirtschaft ist eine allgemeine, sich regelmäßig verschärfende Tendenz des niedergehenden, an seiner eigenen Überproduktion erstickenden Kapitalismus. Muss man nicht die “deutsche Malaise” vielmehr als globalen Ausdruck der Systemkrise des Kapitalismus betrachten, auf den die Bundesrepublik als stark exportabhängige Industrienation besonders empfindlich reagiert?

Betrachten wir zunächst die Entwicklung des pro Kopf Bruttoinlandsproduktes innerhalb der Europäischen Union. Abgesehen von Luxemburg (das als kleines Land mit einem großen Finanzplatz die Leistungstabelle einsam anführt) liegen Dänemark und Irland mit circa 35.000 Euro jährlich vorn, während die großen Industrienationen Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien (in der Reihenfolge) ungefähr bei 25.000 Euro (Italien deutlich weniger) jährlich liegen. Nimmt man aber die alte Bundesrepublik – ohne die neuen Bundesländer – so liegt die Wirtschaftsleistung pro Einwohner mit Dänemark und Irland gleichauf. Mit anderen Worten: Das Zurückfallen Deutschlands gegenüber Großbritannien und anderen Nachbarländern ist nicht Ausdruck einer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit der traditionellen westdeutschen gewerblichen Produktion, sondern legt Zeugnis ab von dem Scheitern des “Aufbaus Ost”. Und tatsächlich – während in den alten wie in den neuen Bundesländern in den letzten 10 Jahren mehrere Millionen Industriearbeitsplätze verloren gegangen sind, sind neue Jobs, wenn überhaupt, fast ausschließlich “im Westen” entstanden.

Wir sehen also, dass an den Argumenten der Kritiker der relativen Leistungen des deutschen Standortes etwas dran ist, dass aber diese Argumente auch kritisch hinterfragt werden müssen. Kommen wir nun zu den Argumenten der Gewerkschaften und “linken” Wirtschaftsforscher. Sie weisen darauf hin, dass sich die deutschen Exporte in den letzten 10 Jahren beinahe verdoppelt haben, und damit viel rascher gestiegen sind als die der Eurozone insgesamt oder als die von Großbritannien, der USA oder Japans. Die Folge: Deutschland hat seine Stellung als “Exportweltmeister” aus der Zeit vor der Wiedervereinigung zurückerobert, bestreitet heute 10% des gesamten Welthandels. V.a. im Bereich der “Königsdisziplin” der kapitalistischen Wirtschaft – im Maschinenbau, der Produktion von Produktionsmittel – soll der Abstand der deutschen Industrie zu seinen Konkurrenten nicht schmaler, sondern größer geworden sein. Dazu “Die Zeit” von 15.04.2004: “Die Innovationsoffensive, die der Kanzler ankündigte, ist in vielen Firmen längst Realität. “Wir sind technologisch weltweit führend” sagt Olaf Wortmann vom Maschinenbauverband VDMA. Infolgedessen haben sich die Lohnstückkosten weit günstiger entwickelt als in fast allen Konkurrenzländern. “Die Wettbewerbsfähigkeit ist in Deutschland kein Problem mehr” sagt Harald Jörg, Volkswirt bei der Dresdner Bank.”.

Nun, auch diese Argumente sind größtenteils zutreffend. Es handelt sich auf beiden Seiten – auf Unternehmer- ebenso wie auf Gewerkschaftsseite – um Halbwahrheiten, welche bekanntlich die Wahrheit viel wirksamer entstellen als glatte Lügen. Die Unternehmer haben recht, dass die deutsche Wirtschaft noch radikaler stagniert als die ihrer Konkurrenten. Sie führen uns aber hinters Licht, wenn sie behaupten, diese “Krankheit” sei ein spezifisches Produkt lokaler, deutscher Bedingungen. Die bürgerliche Linke hat recht, wenn sie bestreitet, dass der Niedergang des einstigen “Wirtschaftsmodells” auf einen allgemeinen Verlust an Konkurrenzkraft zurückgeht. Doch auch die Linke führt den Zusammenbruch des deutschen Modells allein auf spezifische Bedingungen zurück: Die Kosten der Wiedervereinigung, die Folgen der Euroeinführung und die Auswirkungen einer “falschen, neoliberalen” Wirtschaftspolitik. Sie können und wollen nicht erklären, weshalb die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht mehr die für die Kapitalisten so erfreulichen Auswirkungen auf ihre Gewinnmargen hat sowie auf die Stabilität der sozialen Lage wie in den Nachkriegsjahrzehnten. Da der kapitalistische Wettbewerb angesichts einer immer allgemeiner werdenden Überproduktion stets brutaler und auch kostspieliger wird, steigen die Investitionsrisiken, fällt die durchschnittliche Profitrate.

Die Bedeutung des Rückgangs der Massenkaufkraft

Worauf ist also das immer schwächere Wirtschaftswachstum im einstigen “Wirtschaftswunderland” zurückzuführen? Hier sprechen die Statistiken eine deutliche Sprache. Während die deutschen Exporte steigen, wird seit Mitte der 90er Jahre eine Flaute der Binnennachfrage beklagt. Selbst die nach oben beschönigten, offiziellen bürgerlichen Statistiken z.B. der OECD weisen nach, dass in kaum einem anderen Industriestaat die Reallöhne sich – für die Arbeiter und Angestellte – so negativ entwickelt haben wie in Deutschland. Und angesichts von Werksschließungen, direkten Lohnkürzungen und brutalsten Kürzungen der Sozialleistungen (Gesundheitsreform, Hartzgesetze usw.) erscheint nichts sicherer als die Fortsetzung dieses Trends.

Es steht außer Frage: das Schrumpfen der Massenkaufkraft der arbeitenden Bevölkerung spielt die Hauptrolle bei der mittlerweile chronisch gewordenen Stagnation der deutschen Wirtschaft. Die bürgerliche Linke, die Gewerkschaften und die “Globalisierungskritiker” wollen daraus schließen, dass kräftige Lohnerhöhungen das Beste wären, um die kapitalistische Wirtschaft zu stützen. Doch sie glauben ihren eigenen Argumenten nicht. Denn überall, in den Konzernen wie in der Politik, sind die Gewerkschaften, sind die Linken emsig dabei, eigene “Sparvorschläge” zu entwickeln, um auf Kosten der Arbeiterklasse den “Standort” zu verteidigen.

Was ist also die Ursache dieses Verlustes an Massenkaufkraft der Bevölkerung, welche sich so negativ auf die Weltkonjunktur auswirkt? Auffallend ist, dass dieses Phänomen weltweit anzutreffen ist. Noch bedeutender aber ist die Tatsache, dass dieses Phänomen gerade heute sich besonders dort bemerkbar macht, wo der Lebensstandard des Proletariats im internationalen Vergleich bisher am höchsten war. Es handelt sich neben Deutschland um Länder wie Frankreich, Italien, aber auch die Schweiz. Ferner fällt auf, dass es gerade diese Länder sind, deren Wirtschaftswachstum neuerdings besonders schwach ausfällt. Deutschland, Frankreich und Italien sind beispielsweise auch diejenigen Länder, welche innerhalb der Europäischen Union am meisten gegen die einst in Maastricht beschlossenen Stabilitätskriterien verstoßen. Schließlich handelt es sich (außer bei der Schweiz) um Länder, wo die offizielle Arbeitslosenrate heute besonders hoch ist. Alles nur Zufall? Nein, kein Zufall. In Großbritannien oder den USA begann die radikale Demontage des “Sozialstaates” bereits in den 80er Jahren. Die führenden Bourgeoisien des westlichen Kontinentaleuropas betrieben diese Demontage weitaus langsamer. Einerseits, weil diese Länder sich noch auf traditionelle “Standortvorteile” stützen konnten, und andererseits, weil eine größere Vorsicht auch geboten erschien angesichts besonders großer Konzentrationen des Proletariats, welche zudem potenziell über eine besondere geschichtliche Kampferfahrung verfügen. Was die Wirtschaftsflaute dieser Länder zum Ausdruck bringt, ist v.a. die Tatsache, dass selbst die stärksten nationalen Kapitalien sich ein ausgedehntes Sozialsystem überhaupt nicht mehr leisten können, und dieses auch dann radikal abbauen müssen, wenn die Folge ein noch größeres und gefährlicheres Schrumpfen der Weltwirtschaft ist.

Die deutsche Wirtschaftsmisere ist somit in erster Linie Ausdruck einer historischen Wende in der Geschichte des Kapitalismus hin zu einer immer massiveren Verelendung der Arbeiter in den Kernländern des Weltsystems.

Das Paradox der modernen Massenarbeitslosigkeit

Heute ist es für die Herrschenden wirtschaftlich nicht mehr tragbar, Millionen Erwerbsloser zu unterstützen. Die Tatsache beispielsweise, dass ausländische Investoren in der Ära von Helmut Kohl einen großen Bogen um Deutschland gemacht haben, ist in erster Linie auf die dort noch bestehenden “zu hohen” Sozialleistungen zurückzuführen. Erst in Folge des unter Rot-Grün eingeleiteten, viel radikaleren “Sozialabbaus” wurde eine Trendwende erreicht. Dazu “Die Zeit”: “Seit 1998 verzeichnen die Statistiker einen kräftigen Zustrom ausländischen Kapitals nach Deutschland. Zuletzt konnte außer Frankreich kein Industrieland so viele Investitionen aus dem Rest der Welt anziehen.”

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, auf die marxistische Sicht der Rolle der Erwerbslosigkeit im Kapitalismus zurückzukommen. In der vorkapitalistischen Klassengesellschaft wird die Mehrarbeit, von der die herrschenden Klassen leben, den Ausgebeuteten mit Gewalt aufgezwungen. Eine Besonderheit des Kapitalismus ist, dass die Mehrarbeit - sprich die Ausbeutungsverhältnisse - nicht mehr offen zu Tage liegt. Die Mehrarbeit, welche die Proletarier zugunsten des persönlichen Konsums der Kapitalisten v.a. aber zugunsten der Kapitalakkumulation leisten, wird nicht mehr mit Gewalt erzwungen, sondern aufgrund des wirtschaftlichen Mechanismus selbst den Ausgebeuteten aufgenötigt. Es ist vornehmlich die Arbeitslosigkeit, welche diesen Zwang ausübt. Somit bedarf die effizient von statten gehende kapitalistische Ausbeutung eines bestimmten Grades an Erwerbslosigkeit und an "pauperisierten" Menschen, um den Zwang zur Lohnarbeit sowie den auf die Löhne gerichteten Druck aufrecht zu erhalten. Marx nennt diese - für einen normal funktionierenden Kapitalismus erforderliche - Schicht des Proletariats die "industrielle Reservearmee". Die Wichtigkeit der Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus lässt sich übrigens auch durch die negativen Folgen belegen, welche auftreten, wenn dessen Entfaltung eingeschränkt wird. Dort wo, wie im Stalinismus oder im Faschismus - aus politischen und ideologischen Erwägungen, und im Hinblick auf die Kriegsmobilisierung - der Mechanismus der Reservearmee zu Gunsten einer staatlich gelenkten "Vollbeschäftigung" mehr oder weniger außer Kraft gesetzt wird, muss die kapitalistische Ausbeutung dann doch mit Gewaltmitteln durchgedrückt werden. Dies erweist sich auf Dauer jedoch als ein wenig wirksames Mittel der Mehrwertauspressung.

Die Arbeitslosigkeit kann also ein bestimmtes Niveau nicht unterschreiten, ohne dass das normale Funktionieren des kapitalistischen Arbeitsmarktes darunter leidet. Gibt es aber einen Pegelstand der Arbeitslosigkeit, welcher nach oben hin nicht überschritten werden darf, ohne das System zu gefährden?

Das gibt es. Allerdings ist diese Begrenzung keine starre, sondern bildet eine mehr politische als wirtschaftliche Größenordnung. Ein zu großes Arbeitslosenheer gefährdet nämlich die soziale Stabilität des Kapitalismus - den sog. "sozialen Frieden".

Da die herrschende Klasse sich dieser Gefahr wohl bewusst war, führte sie relativ früh - in Deutschland bereits unter Bismarck - die Arbeitslosenversicherung ein. Im niedergehenden Kapitalismus wurde dieses Versicherungssystem v.a. nach dem 2. Weltkrieg ausgebaut, um eine bereits geschlagene Arbeitergeneration ideologisch ideologisch fester an das System zu binden. In den Jahrzehnten nach 1968 wurde dieses System - der Entwicklung einer Massenerwerbslosigkeit zum Trotz - angesichts von einer neuen, ungeschlagenen Arbeitergeneration im Prinzip aufrecht erhalten. Zwar wurden immer wieder schmerzhafte Einschnitte in diesem "sozialen Netz" vorgenommen. Doch an das Prinzip der minimalen Absicherung wagte man sich noch nicht heran.

Zwar stimmt es, dass es sich um eine kapitalistische Versicherung wie jede andere handelt, für deren Kosten die Arbeiter selbst aufzukommen haben. Auf Dauer jedoch belastet dieses System die kapitalistische Wirtschaft immer mehr. Denn wenn die Massenarbeitslosigkeit wie heute zu einem Dauerphänomen wird, dann werden in den Reproduktionskosten der lebendigen Arbeitskräfte nicht nur die Kosten des Erhalts der beschäftigten Arbeiter und der Aufzucht einer neuen Arbeitergeneration, sondern nun auch die des Erhalts der Arbeitslosen eingeschlossen. Es entsteht folgendes Paradox: Die Arbeitslosigkeit, welcher im Kapitalismus die Funktion der Verbilligung der Arbeitskräfte zukommt, ist zu einem wichtigen Faktor deren Verteuerung geworden.

Wenn heute also in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien oder wie in der Schweiz die Leistungen des "Sozialstaates" und der Arbeitslosenversicherungen regelrecht demontiert werden, und wenn diese Demontage über ein brutales Abwürgen der Massenkaufkraft die wirtschaftliche Stagnation dieser Länder verstärkt, dann ist dies ein sicheres Anzeichen dafür, dass weltweit die Tage des "Wohlfahrtstaates" als Garant des "sozialen Friedens" gezählt sind.

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