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WESEN UND FUNKTION DES STAATES
Im Mittelpunkt der Marxschen Staatstheorie befindet sich der Begriff des Absterbens des Staates.
In seiner Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, mit welcher sein Leben als revolutionärer Denker und Militant anfing, bekämpfte Marx nicht nur den Idealismus Hegels, für welchen die Idee der Ausgangspunkt aller Bewegung ist, wonach die Idee das Subjekt, das wirkliche Subjekt oder richtig gesagt das Prädikat ist, sondern er verurteilte auch heftig die Schlußfolgerungen dieser Philosophie. Denn diese Philosophie sieht in dem Staat den Vermittler zwischen dem gesellschaftlichen Menschen und dem universellen politischen Menschen, den Versöhner im Konflikt zwischen dem "privaten" Menschen und dem universellen Menschen. Hegel stellt den wachsenden konfliktreichen Gegensatz zwischen der zivilen Gesellschaft und dem Staat fest, dessen Auflösung er in der Selbstbeschränkung der zivilen Gesellschaft und ihrer Eingliederung in den Staat sehen möchte, denn, so sagt er, "nur in dem Staat hat der Mensch eine der Vernunft entsprechende Existenz", und "alles was der Mensch ist, verdankt er dem Staat, dort befindet sich sein Wesen. Sein ganzer Wert, seine ganze geistige Wirklichkeit besitzt er nur durch den Staat". Dieser berauschenden Bewertung des Staates, die Hegel zu dessen größtem Verteidiger macht, stellte Marx gegenüber:
"Erst wenn der Mensch seine `forces propres`als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat, und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht" (Marx, "Zur Judenfrage", MEW, Bd 1, S. 370.
Von Anfang an nahm Marx in seinen theoretischen Arbeiten immer Stellung gegen den Staat, der das Ergebnis, der Ausdruck und der aktive Faktor in der Entfremdung der Menschen ist. Der Hegelschen Verstärkung des Staates und der Aufsaugung der zivilen Gesellschaft stellte Marx entschlossen das Absterben des Staates entgegen, als gleichbedeutend mit dem Prozeß der Emanzipation der Menschheit. Dieser grundlegende Begriff wurde während Marxens Leben und Wirken immer wieder aufgegriffen, bereichert und weiterentwickelt.
Diese radikale Opposition gegenüber dem Staat und die Ankündigung seines möglichen und unvermeidlichen Absterbens sind kein Ergebnis der persönlichen Genialität Marxens, obgleich man bei ihm eine genaue Untersuchung und eine der kohärentesten Verdeutlichungen des Problems findet. In der Realität der damaligen Zeit waren diese Probleme gegenwärtig, und in dieser selben Realität zeichneten sich die ersten Umrisse der Antwort ab mit dem Erscheinen und dem Kampf einer historisch neuen Klasse: dem Proletariat. Wie groß auch immer sein Beitrag und sein Verdienst gewesen sein mögen, machte Marx lediglich die Bewegung des Proletariats, die sich in der Wirklichkeit abspielte, theoretisch greifbar, verständlich.
Zur gleichen Zeit wie er den Idealismus und die Rechtfertigung des Staates bei Hegel bekämpfte, verwarf Marx ebenso alle "rationalistischen" Theorien, die den Staat auf der "kritischen Vernunft" gründen wollten; gleichfalls wandte sich Marx gegen die Theorien von Stirner bis Bakunin, die den Staat eines moralischen Prinzips wegen verdammten.
Als historisches Produkt der Entwicklung der Produktionskräfte und der Teilung der Arbeit - die die alte urkommunistische Gesellschaft zerbrechen ließen - bringt die neue Gesellschaft, die auf dem Privateigentum ruht und in antagonistische Klassen gespalten ist, notwendigerweise diese Überbaustruktur hervor: nämlich den Staat.
Als Ausdruck einer historischen Situation, in welcher die Gesellschaft in ein Stadium unauflösbarer Widersprüche und Gegensätze eingetreten ist, ist der Staat gleichzeitig die unabdingbare Institution zur Aufrechterhaltung eines gewissen Zusammenhaltes, einer sozialen Ordnung; er soll verhindern, daß die Gesellschaft in sterilen Kämpfen zugrunde geht. Der Staat ist eine Institution, die den ausgebeuteten Klassen diese Ordnung mit Gewalt aufzwingt. Diese Ordnung ist die ökonomische Herrschaft einer ausbeutenden Klasse in der Gesellschaft, deren Wächter der Staat ist, und mit Hilfe dessen findet die ausbeutende Klasse, die die ökonomische Macht ausübt, den Zugang zur politischen Herrschaft in der Gesellschaft. Der Staat ist somit immer der Ausfluß der ausbeutenden Klassen und im allgemeinen immer der ökonomisch und unmittelbar herrschenden Klasse. Der Staat geht aus diesen Klassen hervor, und in dieser Klasse spezialisiert sich eine Fraktion auf die Ausübung der Staatsfunktion.
Aus dem Geschilderten geht hervor, daß die Hauptrolle des Staates darin besteht, Hüter dieser herrschenden (ökonomischen) Verhältnisse zu sein.
Wenn neue ausbeutende Klassen entstehen, die die neuen Produktivkräfte verkörpern, welche sich innerhalb der Gesellschaft bis zu einem Grad entwickelt haben, von wo an sie mit den bestehenden Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten und deren Umwälzung erfordern, stoßen diese neuen Klassen mit dem Staat zusammen, der das letzte Bollwerk der alten Gesellschaft ist. Die revolutionäre Dynamik befindet sich immer in der zivilen Gesellschaft, in den neuen, aufsteigenden Klassen, aber niemals in dem Staat als solchem. Der Staat ist somit hauptsächlich ein Instrument der Aufrechterhaltung der Gesellschaft. Zu behaupten, daß der Staat einmal konservativ und dann revolutionär sei, je nach dem Zustand der Klasse, die den Staat beherrscht, diese beiden Elemente auf die gleiche Ebene zu stellen, sie nebeneinanderzustellen, bedeutet, daß man das Problem des grundlegenden Wesens des Staates, die Frage nach seiner grundlegenden Rolle umgeht. Selbst wenn die revolutionäre Klasse den Staat mit Gewalt erobert hat, und den Staat bei seinem Wiederaufbau an die Bedürfnisse und Interessen der revolutionären Klasse anpaßt, ändert das nichts an dem grundsätzlich konservativen Wesen des Staates, und es verleiht ihm auch kein neues revolutionäres Wesen, und dies aus zweierlei Gründen:
1) der neue Staat ist nur das Ergebnis, das Resultat einer Umwälzung, die schon anderswo in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft stattgefunden hat. Der neue Staat registriert und bestätigt den neuen Zustand.
2) sobald der neue Staat entstanden ist, hat dieser nicht so sehr zur Hauptaufgabe, sich der Überreste der alten, schon besiegten Klassen zu entledigen, sondern vor allem die neue gesellschaftliche Ordnung gegen die Bedrohung der neuen ausgebeuteten Klassen zu schützen, sowie diese zu unterwerfen. Es ist wichtig, nicht den Schein des Staates als sein eigentliches Wesen aufzufassen.
Sich auf diese oder jene Handlung oder sporadisches Ereignis stützend, die sich vor allem in Zeiten sozialer Krisen und Revolutionen ergaben, glauben viele, daß der Staat ein doppeltes Wesen habe: er sei sowohl konservativ als auch revolutionär. So hat man als Beispiele die Handlungen des Konvents und den Terror, der gegen die feudale Aristokratie gerichtet war, angeführt, sowie die Unterstützung der Bourgeoisie in gewissen Augenblicken durch die Monarchie in Frankreich und ebenso die Politik von Peter dem Großen in Rußland usw. Gegen diese Einwände wollen wir mehrere Bemerkungen anführen.
1) "Ausnahmen bestätigten die Regel".
2) Man kann nicht den Verlauf der Geschichte und die grundlegenden Gesetze auf der Ebene einzelner Ereignisse untersuchen und begreifen, so wenig wie man den Abstand zwischen Galaxien in Zentimeter messen kann.
3) Wir haben nicht die Absicht, jedes einzelne, isolierte Ereignis zu untersuchen und eine detaillierte Erklärung dazu abzugeben (das wäre reine Phänomenologie), sondern wir wollen die allgemeine Verknüpfung der einzelnen Ereignisse erklären, daraus die Gesetze und die allgemeine Orientierung herausarbeiten.
4) Wir untersuchen hier den Staat in der Geschichte und nicht die Geschichte des Staates. Wir untersuchen nicht jeden Augenblick, jeden Tag seines Bestehens, sondern sein Bestehen selber, das einem genau bestimmten und begrenzten historischen Zeitraum entspricht: dem Zeitraum des Bestehens der in Klassen geteilten Gesellschaft. Während dieses ganzen historischen Zeitraums hat der Staat nur zur Hauptaufgabe, die bestehende gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Aufrechterhalten, unterhalten, beibehalten - all dies sind Ausdrücke, um zu sagen "konservieren" im Gegensatz zu "schaffen", das Passive gegenüber dem Aktiven, so wie die Statik der Gegensatz der Dynamik ist.
5) Gegen wen muß der Staat die Verteidigung der bestehenden Ordnung sicherstellen? Wer, welche Kräfte bedrohen diese gesellschaftliche Ordnung? Eine mögliche Antwort: die alten herrschenden Klassen[1].
Diese Klassen sind vor allem auf ökonomischer Ebene entmachtet und besiegt worden. Die Revolution entscheidet diesen Verfall nicht, sie besiegelt ihn vielmehr. Daher konnten die Marxisten von den politischen Revolutionen während jenes Zeitraums als von "Palastrevolutionen" sprechen, denn die wirkliche Umwälzung hatte sich im Inneren der Gesellschaft, in der Realität und der ökonomischen Struktur schon vollzogen.
Eine andere wichtige Feststellung: revolutionäre Bewegungen werden nie innerhalb eines bestehenden Staates ausgelöst, sondern die Revolution (selbst die politische Revolution) wird in der zivilen Gesellschaft gegen den Staat ausgelöst. Der Grund dafür ist: nicht der Staat revolutioniert die Gesellschaft, sondern die revolutionierte Gesellschaft ist es, die den Staat verändert und ihn anpaßt.
Der neue Staat entsteht nach den Ereignissen der Revolution, er kann einige spektakuläre Maßnahmen gegen die Mitglieder der alten herrschenden Klasse ergreifen, aber das geht niemals sehr weit, und es dauert auch nicht sehr lange. Die alte Klasse besteht weiterhin und ihre Mitglieder übt weiterhin eine lange Zeit wichtige Posten im Staatsapparat aus; oft handelt es sich um ausschlaggebende Posten. Das ist ein Beweis dafür, daß die alte herrschende Klasse nicht die Bedrohung darstellt, die als entscheidend vorgegeben wird, und daß die Verstärkung des neuen Staates nicht gegen die alte Klasse gerichtet ist, was dem Staat nämlich ein revolutionäres Wesen verleihen würde. Das ist eine gewaltige Überschätzung, die von der Geschichte hinreichend widerlegt worden ist.
Die grundlegende Bedrohung der bestehenden Ordnung rührt nicht von den verfallenen Klassen her, sondern von den unterdrückten und den neuen, historisch im Aufstieg befindlichen Klassen. Diese sind es (die erstgenannten auf ständige Weise, die letztgenannten potentiell), die die tödliche Bedrohung ausüben, gegen welche die bestehende Ordnung den Staat benötigt; denn der Staat ist die gebündelte Kraft des Zwangs und der Unterdrückung, die der Verteidigung der bestehenden Ordnung dient. Der Staat ist nicht mehr so sehr eine Schranke gegen die Vergangenheit als vielmehr gegen die Zukunft. Dies macht seine Verteidigung des Gegenwärtigen (Konservatismus) zu einer Funktion, die eher der Vergangenheit (reaktionäre) angehört als der Zukunft (revolutionäre). In diesem Sinne kann man sagen, wenn die Klassen in der Entwicklung befindliche Produktivkräfte darstellen, tritt der Staat als Verteidiger der Produktionsverhältnisse auf. Die historische Dynamik geht immer aus dem Ersteren hervor, die Fesseln aus dem Letzteren.
6) Was die Beispiele für die vorgebrachte progressive, gar revolutionäre Rolle der französischen Monarchie, Peter des Großen usw. angeht, ist es selbstverständlich, daß der Staat zu progressiven Handlungen gezwungen war, nicht weil diese in seinem Wesen begründet wären, sondern gerade trotz seines konservativen Wesens. Dies geschah unter dem Druck der neuen Produktivkräfte, denn der Staat kann dem Druck, den die zivile Gesellschaft auf ihn ausübt, nicht ausweichen.
Es ist eine Tatsache, daß die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Entwicklung der kapitalistischen Industrialisierung in Rußland unter dem Regime des Zaren geschah, ebenso wie die Industrialisierung Deutschlands unter der Herrschaft der preußischen Junker und in Frankreich unter dem Bonapartismus stattfand. Dies macht jedoch diese Regime und Staaten nicht zu revolutionären Kräften, die letzteren, das deutsche und das französische Regime waren gar direkt aus der Konterrevolution von 1848-52 hervorgegangen.
7) Was das Argument des doppelten Wesens des Staates angeht - gleichzeitig revolutionär und konterrevolutionär - ist dieses kaum ernster zu nehmen als das Argument, das oft zur Verteidigung der Gewerkschaften vorgebracht wird: demnach hätten die Gewerkschaften neben ihrem bürgerlichen Wesen auch ein proletarisches, weil sie bei dieser oder jener Gelegenheit diesen oder jenen Arbeiter verteidigen. Aus dieser Sicht könnte man ebenso von einem Doppelwesen der Bürgerkriegspolizei sprechen, da diese hin und wieder einige Leute vor dem Ertrinken rettet. Tatsächlich ist es so, wenn man versucht zu argumentieren und nicht argumentieren kann, greift man ganz natürlich auf das Argument des "Doppelwesens" zurück.
Diese Bemerkungen bieten nichts grundlegend Neues, aber sie waren notwendig, um die Nichtigkeit der Einwände zu zeigen, und sie erlauben vielleicht eine Präzisierung unserer Auffassung über das konservative Wesen und die konservative Rolle des Staates.
Wir müssen sehr vorsichtig sein, und wir dürfen nicht in die Verwirrung und den Eklektizismus verfallen, der den Staat als konservativ und als revolutionär begreift. Somit würde man die Tatsache auf den Kopf stellen und dem Fehler Hegels, der in dem Staat das Subjekt der Bewegung der Gesellschaft sieht, Tür und Tor öffnen.
Die These vom konservativen Wesen des Staates, der vor allem mit seiner eigenen Konservierung befaßt ist, ist mit der anderen These, wonach die Emanzipation der Menschheit gleichbedeutend mit dem Absterben des Staates ist, eng und dialektisch verbunden. Die eine hebt die andere hervor. Indem man die erste These umgeht, sie abschwächt, verschleiert man die Theorie und die Verwirklichung des notwendigen Absterbens des Staates.
Das Unverständnis des Begriffs des konservativen Wesens des Staates muß unvermeidlich sein Gegenstück darin finden, daß man den grundlegenden marxistischen Begriff des Absterbens des Staates außer Acht läßt. Dies beinhaltet gefährliche Schlußfolgerungen.
Noch wichtiger, und was uns hier an erster Stelle interessiert, ist hervorzuheben, daß der Staat - der alte und der neue - niemals der Definition nach der Träger der Bewegung des Absterbens des Staates sein kann. Er kann dies auch niemals sein. Nun haben wir gesehen, daß die Marxsche Theorie des Staates die Bewegung des Absterbens mit der Emanzipation der Menschheit identifiziert. Da der Staat nicht der Träger seines eigenen Absterbens sein kann, folgt daraus, daß der Staat aufgrund seines Wesens niemals die Triebkraft und niemals das Instrument der Emanzipation der Menschheit sein kann.
Die Marxsche Staatstheorie zeigt ebenso die dem Staat innewohnende Tendenz, und daß die Fraktion der herrschenden Klasse, die ihn bildet und sich zu einem abgesonderten Organ entwickelt, sich aus der zivilen Gesellschaft ablöst, von dieser trennt, um sich über diese zu erheben.
Ohne dies vollständig zu erreichen und weiterhin die allgemeinen Interessen der herrschenden Klasse verteidigend, ist diese Tendenz jedoch eine Realität, und sie bringt neue Widersprüche, Antagonismen und Entfremdungen hervor, die Hegel schon erkannt und auf welche er hingewiesen hatte. Marx hat diese wieder aufgegriffen: vor allem den wachsenden Gegensatz zwischen dem Staat und der zivilen Gesellschaft mit all dem, was dies beinhaltet. Diese Tendenz wiederum erklärt die zahlreichen sozialen Unruhen, die Krisen in der herrschenden Klasse selber, die verschiedenen Staatsformen, die in einer gleichen Gesellschaft existieren und deren besondere Beziehungen mit der gesamten Gesellschaft. Diese Tendenz, von der Gesellschaft unabhängig zu werden, macht aus der Selbsterhaltung des Staates einer der Hauptaufgaben desselben und dies verstärkt noch sein konservatives Wesen.
Mit der Entwicklung der aufeinanderfolgenden Gesellschaften, der Teilung der Gesellschaft in Klassen, dehnt sich der Staat aus und verstärkt sich; er steckt seine Fangarme in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Seine numerische Masse wächst proportional. Diese riesige schmarotzende Masse hält sich am Leben, indem sie einen stets wachsenden Anteil der gesellschaftlichen Produktion verzehrt. Mittels der direkten und indirekten Steuern - die er nicht nur den Einkommen der arbeitenden Massen auferlegt, sondern gar von den Profiten der Kapitalisten abzieht - gerät der Staat in einen Interessenskonflikt mit seiner eigenen Klasse, die einen starken, aber gleichzeitig "billigen" Staat fordert. Diese äußere Feindseligkeit und ihre eigenen Interessen bringen für die Angehörigen des Staatsapparates, den Geist eines zusammengeschweißten Körpers einer besonderen Kaste, mit sich.
Unter all diesen Tätigkeitsfeldern des Staates sind die systematische Zwangsausübung und die Unterdrückung am charakteristischsten. Zu diesem Zweck verfügt der Staat als einziger über das Gewaltmonopol. Der Zwang und die Unterdrückung sind der Daseinsgrund des Staates; sie sind seine Wesen selber. Der Staat ist das spezifische Produkt der Gewalt, und er reproduziert diese unaufhörlich. Komplize in Massaker und Terror zu sein, ist die festeste Grundlage für die Einheit des Staates.
Mit dem Kapitalismus wird der Gipfel der ganzen Geschichte der in Klassen geteilten Gesellschaften erreicht. Wenn dieser lange Weg in der Geschichte, der mit Blut und Leiden getränkt ist, der unvermeidbare Tribut der Menschheit für die Entwicklung der Produktivkräfte ist, so haben heute die Produktivkräfte solch einen Entwicklungsgrad erreicht, daß sie solch einen Gesellschaftstyp zu einem überholten, veralteten machen. In Wirklichkeit ist das eigentliche Überleben des Staates zur größten Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte geworden, und dies geht gar soweit, daß es die Existenz der Menschheit selber bedroht.
Mit dem Kapitalismus haben die Ausbeutung und die Unterdrückung ihren Höhepunkt erreicht, denn der Kapitalismus ist die verdichtete Form aller Gesellschaften, in denen der Mensch durch den Menschen ausgebeutet wurde. Der Staat hat im Kapitalismus endlich seine Bestimmung erfüllt, indem er zu dem greuelhaften und blutigen Monster geworden ist, das wir heute kennen. Mit dem Staatskapitalismus hat er die Auffassung der zivilen Gesellschaft verwirklicht; er ist zum Verwalter der Wirtschaft geworden, zum Leiter der Produktion, zum absoluten und unangefochtenen Herrscher über alle Mitglieder der Gesellschaft, ihr Leben und ihre Aktivitäten, den Terror entfesselnd, den Tod aussäend und die allgemeine Barbarei anführend.
DIE PROLETARISCHE REVOLUTION
Die proletarische Revolution unterscheidet sich radikal von allen vorhergehenden Revolutionen in der Geschichte. Wenn alle Revolutionen die Revolte der Produktivkräfte gegen die Produktionsverhältnisse der bestehenden Ordnung ausdrücken und ebenso durch diese bestimmt waren, so drückt die proletarische Revolution nicht nur eine quantitative Entwicklung aus, sondern sie beinhaltet auch die Notwendigkeit einer grundlegenden qualitativen Änderung des Verlaufs der Geschichte. Alle vergangenen Veränderungen, welche in der Entwicklung der Produktivkräfte stattgefunden haben, blieben im historischen Zeitraum des Mangels verfangen, der die Ausbeutung der Arbeitskräfte unvermeidbar macht. Die von den vorigen Revolutionen hervorgerufenen Veränderungen zielten nicht auf eine Verminderung der Ausbeutung ab, sondern auf deren Verstärkung, auf eine rationellere Ausbeutung, die sich auf immer größer werdende Massen der Bevölkerung ausdehnte. Sie bewirkten eine immer wachsende Enteignung der Massen von den Arbeitsinstrumenten und den Produkten ihrer Arbeit.
In der dialektischen Bewegung der Geschichte der Menschheit gehören diese Änderungen ein- und demselben Zeitraum an, dem der Negation der menschlichen Gemeinschaft, dem der Antithese. Diese grundlegende Einheit der verschiedenen Gesellschaften, die in dieser Ära aufeinanderfolgen, stellt sie - ungeachtet der bestehenden Unterschiede - als eine Progression in der Kontinuität dar. Ohne diese Kontinuität könnte man solche widersprüchlichen und auf den ersten Blick unverständlichen Ereignisse nicht verstehen und erst recht nicht erklären:
- das lange andauernde gesellschaftliche Überleben der alten Klassen und die aktive Rolle, die sie weiterhin in der neuen Gesellschaft spielen;
- die Möglichkeit für die neuen herrschenden Klassen, Ausbeutungsformen aufrechtzuerhalten oder sie wiedereinzuführen, obgleich sie diese lange bekämpft haben; z.B. der Sklavenhandel, der von dem kapitalistischen England in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts betrieben und verteidigt wurde;
- die Bündnisse von Fraktionen der Bourgeoisie mit dem Adel und gegen ihre eigene Klasse;
- die militärische Unterstützung der feudalen Vendée gegen die französische Revolution durch das bürgerliche England. Das militärische Bündnis Englands mit allen feudalen Ländern gegen die herrschende Bourgeoisie in Frankreich. Das lang andauernde Bündnis desselben Englands mit dem erzreaktionären Regime des Zaren und dessen Unterstützung. Die Unterstützung der sklavenhaltenden Südstaaten der USA durch das meist entwickelte kapitalistische Land im amerikanischen Sezessionskrieg gegen den von der industriellen und fortschrittlichen Bourgeoisie beherrschten Norden.
Dies erklärt, daß sich die Revolutionen dieser Epoche uns als die einfache Übertragung des Staatsapparates von einer ausbeutenden Klasse auf eine andere darbieten, und daß häufig Umwälzungen gar ohne politische Revolutionen stattfanden.
Mit der proletarischen Revolution verhält es sich ganz anders. Sie steht nicht in Kontinuität mit den Lösungen der vom Mangel gestellten Probleme, sondern sie setzt dem Mangel an Produktivkräften ein Ende. Sie steht nicht vor dem Problem der Organisierung einer wirksameren Ausbeutung, sondern vor der Frage der Abschaffung der Ausbeutung; ebensowenig stellt sie sich die Frage der Verstärkung der Unterdrückung, sondern vielmehr wie diese ein für allemal abgeschafft werden kann. Sie ist nicht die Kontinuität der Negation, sondern die Negation der Negation; sie bedeutet die Wiederherstellung der menschlichen Gemeinschaft auf einer neuen, viel höheren Ebene. Die proletarische Revolution kann nicht die Eigenschaften der vergangenen Revolutionen, von denen wir einige Beispiele zitiert haben, reproduzieren, da sie gegenüber ihnen einen totalen Bruch darstellt, sich in grundlegenden Widerspruch zu ihnen sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch in Bezug auf die Form und die Mittel befindet.
Eine der wesentlichen Eigenschaften der proletarischen Revolution - im Gegensatz zu den Revolutionen in der Vergangenheit und angesichts des von den Produktivkräften erreichten Entwicklungsstandes - liegt darin, daß die notwendigen Umwälzungen nicht mehr von einem Land zum anderen mit einem großen Zeitabstand stattfinden können, sondern von Anfang an auf der ganzen Welt wirksam werden. Die proletarische Revolution ist international oder sie ist nichts. Nachdem sie in einem Land begonnen hat, muß sie sich auf alle Länder ausdehnen oder früher oder später untergehen. Die anderen Revolutionen waren das Werk von ausbeutenden und sich in der Minderheit befindlichen Klassen gegen die Mehrheit der arbeitenden Klassen; die proletarische Revolution ist die Revolution der großen Mehrheit der Ausgebeuteten gegen eine Minderheit. Da sie die Befreiung der großen Mehrheit im Interesse der großen Mehrheit ist, kann sie nur durch die aktive und ständige Teilnahme der großen Mehrheit verwirklicht werden. Sie kann auf keinen Fall die anderen Revolutionen als Modell übernehmen, da sie in jeder Hinsicht das Gegenteil ist.
Die proletarische Revolution hat zur Aufgabe, alle Strukturen und alle bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, angefangen von der vollständigen Zerstörung des Überbaus, des Staates, von Grund auf umzuwälzen. Im Gegensatz zu den früheren Revolutionen, die nur die ökonomische Herrschaft der neuen Klasse abschließen, ist die Revolution des Proletariats - das als Klasse über keine ökonomische Macht verfügt - der erste politische Akt, der durch die revolutionäre Gewalt den Prozeß der totalen gesellschaftlichen Umwälzung eröffnet.
DIE DIKTATUR DES PROLETARIATS
Wie im Kommunistischen Manifest aufgezeigt wird, hat die Bourgeoisie nicht nur die materiellen Bedingungen der Revolution geschaffen, sondern sie hat auch die Klasse hervorgebracht, die ihr Totengräber, der Träger der Revolution sein wird: das Proletariat. Das Proletariat ist der Träger dieser radikalen Revolution, da es eine "Klasse mit großen Ketten" ist; eine Klasse, die die "Negation der Gesellschaft" ist, welche in den Begriffen Marxens alle Leiden der Gesellschaft beinhaltet, gegen welche kein bestimmtes Unrecht, sondern ein "Unrecht als solches" begangen wird. Das Proletariat hat nichts als seine Ketten zu verlieren, und kann sich nur befreien, indem es die ganze Menschheit befreit. Es ist die produktive Klasse und die Klasse der assoziierten Arbeit par excellence. Deshalb ist das Proletariat die einzige Klasse, die die nunmehr unüberwindbaren und untragbaren Widersprüche der in Klassen geteilten Gesellschaft lösen kann. Die historische Lösung, die das Proletariat in sich trägt, ist der Kommunismus. Die Tragweite dieser historischen Umwälzung und die Unmöglichkeit, innerhalb des Kapitalismus irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, die sich auf dieses Ziel hinbewegen - die Revolution ist dafür die Vorbedingung - machen die Abschaffung der Herrschaft der Kapitalistenklasse durch das Proletariat unabdingbar. Die proletarische Diktatur ist zweifellos mit der Herrschaft des Proletariats verbunden, aber sie ist vielmehr als das.
"Diktatur bedeutet... eine uneingeschränkte, sich auf Gewalt und nicht auf das Gesetz stützende Macht" (Lenin, Bd 10, S. 211, "Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei").
Die Idee der Gewalt, die mit der Diktatur verbunden ist, ist nicht neu; was uns hier interessanter erscheint, ist der erste Teil des Satzes, der die Idee einer unbegrenzten Macht enthält. Lenin betonte es sehr: "... diese Macht erkannte keinerlei andere Macht und keinerlei Gesetz an, sie erkannte keinerlei Norm an, von wem immer sie auch ausgehen mochte" (ebenda).
Besonders interessant ist dieser andere Abschnitt. Indem er von der Diktatur des Proletariats als etwas spricht, das weit mehr ist als die einfache Gewalt:
"Diese Frage wird gewöhnlich von Leuten gestellt, die zum ersten mal Zeugen sind, daß der Terminus Diktatur in einer für sie neuen Bedeutung gebraucht wird. Die Menschen sind es gewohnt, nur die Polizeimacht, nur die Polizeidiktatur zu sehen. Es erscheint ihnen sonderbar, daß es eine Macht ohne jede Polizei, eine Diktatur, die keine Polizeidiktatur ist, geben soll" (ebenda, S. 242-243).
Dies ist die Macht der Arbeiterräte, die Lenin so rühmte, und die "neue Organe revolutionärer Macht, Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, eine neue Macht in der Stadt und auch auf dem Lande" geschaffen hat, und dies "war nicht die Gewalt der Bajonette... nicht die Gewalt des Polizeiterrors,... hatte nichts gemein mit den alten Gewaltwerkzeugen" (ebenda, S. 241).
Beruht diese Diktatur nicht gleichzeitig auf Gewalt und Ausübung von Zwang? Selbstverständlich ja, aber worauf es ankommt, ist ihre neue Qualität zu begreifen. Während die Diktatur der alten Klassen vor allem gegen die Zukunft gerichtet ist, gegen die Emanzipation der Menschheit, ist die Diktatur des Proletariats die Diktatur des Volkes gegen die Unterdrückung durch die Polizeiorgane der alten Macht. Deshalb kann und muß sie sich auf mehr stützen als nur auf Gewalt:
"Die neue Macht, als Diktatur der gewaltigen Mehrheit, konnte sich halten und hielt sich einzig und allein, weil sie das Vertrauen der breitesten Massen genoß, einzig und allein dadurch, daß sie die ganze Masse aufs freieste, umfassendste und stärkste zur Teilnahme an der Macht heranzog. Kein Versteckspiel, keine Geheimniskrämerei, keine Reglements, keine Formalitäten... Das ist eine Macht, die allen offensteht, die alles vor den Augen der Masse macht, die der Masse zugänglich ist, die unmittelbar von der Masse ausgeht, ein direktes und unmittelbares Organ der Volksmasse und ihres Willens" (ebenda S. 242).
Hier handelt es sich nicht um eine Beschreibung des Kommunismus, wo das Problem der Macht nicht existiert, sondern um eine revolutionäre Periode, in der die Frage der Macht eine Hauptrolle einnimmt. Von dieser Macht der Diktatur des Proletariats ist hier die Rede. Wir finden hier im Zitat Lenins das, was die Diktatur des Proletariats ist und sein muß, und wir finden hier auch das Wesen selber des marxistischen Begriffs des Absterbens des Staates. In dem gleichen Sinne konnte Engels schreiben: "Meine Herren, wollen Sie wissen, was die Diktatur des Proletariats ist? Schauen Sie sich die Kommune an!".
Die Diktatur des Proletariats ist die unbeschränkte Macht der Klasse, um ihre schöpferischen Aktivitäten frei und vollständig ausüben zu können; die Arbeiterklasse nimmt ohne jegliche Einmischung ihr Schicksal und das der gesamten Gesellschaft in die eigenen Hände, und zieht dadurch die anderen nicht-ausbeutenden Schichten hinter sich. Diese Macht kann vom Proletariat an kein besonderes Organ weiter übertragen werden, denn das würde den Verzicht auf seine eigene Befreiung bedeuten, denn die "Emanzipation der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein".
Die Kapitalistenklasse sowie die anderen ausbeutenden Klassen in der Geschichte - vereint in dem Ziel der Ausbeutung - ist selber in sich feindlich gegenüberstehende Fraktionen gespalten, die unterschiedliche Interessen verfolgen. Diese Fraktionen können nur ihre Einheit unter der Herrschaft einer besonderen Fraktion finden, nämlich von der, die den Staat verwaltet. Innerhalb des Proletariats gibt es keine unterschiedlichen und sich feindlich gegenüberstehenden Interessen. Das Proletariat findet seine Einheit in seinem Ziel: dem Kommunismus und in seinen Einheitsorganisationen: den Arbeiterräten. In sich selber und aus sich selber schafft das Proletariat seine Einheit und schmiedet seine Kraft. Es gibt keine Vermittlung zwischen seinem Sein und seinem Bewußtsein. Der Prozeß der Bewußtwerdung drückt sich in dem Erscheinen von Strömungen und Gedanken von politischen Organisationen innerhalb des Proletariats aus. Diese können manchmal Trägen von Ideologien sein, deren Klasseninhalt dem Proletariat fremd ist, oder sie können die äußerst wichtige und wertvolle Widerspiegelung einer wirklichen Bewußtwerdung seiner historischen Interessen sein. Die kommunistische Partei ist die bewußteste Fraktion der Klasse, aber sie kann niemals vorgeben, die Klasse selber zu sein, und sie kann die Arbeiterklasse auch nicht in der Verwirklichung der historischen Aufgaben der Arbeiterklasse ersetzen. Keine Partei, selbst nicht die kommunistische Partei, kann ein "Recht" auf Führung beanspruchen, und auch nicht auf eine besondere Entscheidungsbefugnis innerhalb der Klasse. Die Entscheidungsbefugnis ist das ausschließliche Recht der Einheitsorganisation der Klasse und ihrer gewählten und abrufbaren Organe. Es handelt sich um eine Macht, die nie an ein anderes Organ übertragen werden darf, denn dies birgt das Risiko in sich, daß das Funktionieren der Organisation der Klasse und die Erfüllung ihrer Aufgaben schwerwiegend gehemmt wird. Deshalb ist es undenkbar, daß die Führungsorgane dieser oder einer besonderen Gruppe, selbst durch eine Wahl, übertragen werden. Denn somit würde man innerhalb des Proletariats die Funktionsweise und die Praktiken der nicht-proletarischen Klassen reproduzieren. Alle politischen Organisationen, die die Autonomie des Proletariats gegenüber den anderen Klassen sowie die uneingeschränkte Vorherrschaft des Proletariats in der Gesellschaft anerkennen, müssen die volle Aktions- und Propagandafreiheit innerhalb der Klasse genießen, denn "eine der Bedingungen des Bewußtwerdens der Klasse ist der freie Verkehr und die Konfrontation der Ideen innerhalb der Klasse" (Marx).
Manch ein trauriges Gemüt glaubt in dieser Auffassung der Diktatur des Proletariats den Ausdruck eines "Demokratismus" entdecken zu können. So wie es die bürgerlichen Revolutionen als ein Modell der proletarischen Revolution übernimmt, faßt es die Diktatur des Proletariats als eine Wiederholung der Diktatur der Bourgeoisie auf. Da die Diktatur der Bourgeoisie der Staat ist und nichts als der Staat, halten sie den nach dem Sieg der proletarischen Revolution unvermeidlich entstehenden Staat der Übergangsperiode für die Diktatur des Proletariats und machen überhaupt keinen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen. Sie untersuchen nicht einmal die Tatsache, daß die Bourgeoisie keine andere Einheitsorganisation als den Staat hat; das Proletariat dagegen schafft diese Einheitsorganisation, indem es die gesamte Klasse in den Arbeiterräten zusammenfaßt, mit welchen es die Revolution macht und sie nachher behält, ohne sie in den Staat aufzulösen. Die unbegrenzte Macht der Arbeiterräte: darin besteht die Diktatur des Proletariats gegenüber dem gesamten Leben der Gesellschaft, dem Staat der Übergangsperiode eingeschlossen. Der marxistische Begriff des Halbstaats oder des Kommune-Staates bleibt ihnen unbegreiflich, und bei dem Begriff der Diktatur des Proletariats denken sie nur an das Wort "Diktatur", das sie mit dem starken Staat, dem Terrorstaat identifizieren. Weiterhin identifizieren sie Diktatur der Klasse mit der der Partei, wobei die letztere ihre Gesetze mittels der Gewalt der Klasse aufzwingt. Diese Auffassung kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: die Einheitspartei ergreift die Staatsmacht, übt den Terror aus, um die Einheitsorgane der Klasse - die Arbeiterräte - und das gesamte Rätesystems der Übergangsgesellschaft zu unterwerfen. Solch eine Diktatur des Proletariats gleicht, so wie ein Ei dem anderen, der vollentwickelten Form des totalitären Staatskapitalismus: dem stalinistischen und dem faschistischen Staat.
Die vorgetragenen Argumente hinsichtlich der Verwerfung eines jeden Bezuges auf das Minderheits-Mehrheitsschema, das auf eine lächerliche Frage von 49 und 51% gebracht wird, sind Spitzfindigkeiten, hohle Phrasen, ein Scheinradikalismus, die das wahre Problem umgehen. Die Frage ist nicht, daß die Mehrheit nicht unbedingt die richtige Position vertritt, weil sie eine Mehrheit sei, sondern es kommt darauf an zu verstehen, daß die proletarische Revolution nicht das Werk einer Minderheit der Klasse sein kann. Es ist keine formelle Frage, sondern es geht um das Wesen, den Inhalt der Revolution selber: die Klasse "organisiert ihre eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kraft" (Marx) und trennt sie nicht mehr als äußere, von ihr unabhängige Kräfte. Die Verwirklichung der Revolution ist somit untrennbar von der wirklichen und unbegrenzten Teilnahme der großen Masse der Klasse, ihrer Aktivität und ihrer Organisation. Die Diktatur des Proletariats besteht vor allem darin, und sie ist somit mit einer Verstärkung eines allmächtigen Staates unvereinbar. Vielmehr ist die Diktatur des Proletariats mit der Schwächung des Staates verbunden. Der Staat wird von Anfang an durch den Willen und die uneingeschränkte Macht des Proletariats amputiert werden.
Die Diktatur des Proletariats geht mit der Auffassung des Absterbens des Staates einher, so wie der Marxismus von Marx bis Lenin in "Staat und Revolution" es immer verteidigt hat. Nicht der Staat übt die Diktatur aus, sondern die Diktatur des Proletariats duldet die unvermeidliche Existenz des Halbstaates, und sie garantiert den Prozeß seines Absterbens.
DER STAAT IN DER ÜBERGANGSPERIODE
Der Unterschied zwischen den Marxisten und den Anarchisten liegt nicht in den verschiedenen Auffassungen eines "Sozialismus mit Staat" für die ersten und einer "Gesellschaft ohne Staat" für die letzten. Über diesen Punkt besteht völlige Einigkeit. Eher im Verhältnis zu den Pseudomarxisten der Sozialdemokratie, den Erben Lassalles, die den Sozialismus mit dem Staat verbanden, besteht dieser grundlegende Unterschied (siehe die "Kritik des Gothaer Programms" von Marx und "Staat und Revolution" von Lenin). Der Streit mit den Anarchisten bezog sich auf deren totales Unverständnis der Notwendigkeit einer Übergangsperiode. Als gute Idealisten hielten sie einen unmittelbaren, direkten Sprung vom Kapitalismus zur kommunistischen Gesellschaft für möglich[2].
Man kann die Frage des Staates nach der Revolution nur dann behandeln, wenn man folgendes begriffen hat: "zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere" (Marx, "Kritik des Gothaer Programms", MEW Bd. 19, S. 28).
- warum sich diese Periode nicht vor, sondern nach der siegreichen Revolution befindet,
- den radikalen Charakter der proletarischen Revolution gegenüber ähnlichen Perioden in der Vergangenheit,
- nach der Zerstörung der Herrschaft der Kapitalistenklasse bestehen noch große Massen der arbeitenden Bevölkerung, die zutiefst antikapitalistisch aber nicht prokommunistisch sind,
- es kann keine Rede davon sein, diese Massen vom politischen Leben und von der aktiven Teilnahme an der Organisierung der Gesellschaft auszuschließen.
Nur wenn man von diesen objektiven, historischen Tatsachen ausgeht, und nicht vom Staat als solchem, kann man begreifen, daß:
- 1) das Wiederentstehen des Staates unvermeidbar ist,
- 2) es einen grundsätzlichen Unterschied gegenüber den anderen Staatstypen gibt,
- 3) eine aktive Einstellung seitens des Proletariats notwendig ist, um die Funktion des Staates im Hinblick auf sein Absterben schrittweise zu beschränken.
Untersuchen wir diese Punkte etwas näher:
1) DAS UNVERMEIDBARE ENTSTEHEN DES STAATES
Mehr noch als in anderen Revolutionen wird das Proletariat auf den grausamen und unbarmherzigen Widerstand der besiegten Kapitalistenklasse stoßen. Es muß betont werden, daß die Arbeiterklasse während des "Aktes" der Revolution, d.h. wenn die Kapitalistenklasse von ihrer herrschenden Stellung weggejagt und der Staatsapparat zerschlagen wird, sich nur auf ihre Klassenherrschaft stützen kann, d.h. ihre eigenen Organisationen, ohne somit einen Staat zu benötigen. Der heiße Atem der Revolution wird die ständige Armee, die hauptsächlich aus Arbeitern und Bauern zusammengesetzt ist, demoralisieren und zersetzen, und die Mehrheit der Soldaten werden sich der Revolution anschließen. Aber sobald die Bourgeoisie besiegt ist, wird sie verrückt vor Wut und Rache ihren Widerstand verstärken, ihre Kräfte sammeln, eine Armee mit ausgewählten Freiwilligen und Söldnern zusammenstellen, und einen konterrevolutionären, gnadenlosen Krieg entfesseln. Angesichts eines solchen Krieges, der von der Bourgeoisie mit allen Regeln der militärischen Kunst geführt werden wird, kann sich das Proletariat nicht damit begnügen, diesem nur die bewaffneten Massen entgegenzustellen, sondern es wird seinerseits dazu gezwungen, eine reguläre Armee aufzubauen, die nicht nur aus Arbeitern, sondern aus Teilen der gesamten Bevölkerung bestehen wird. Krieg, Repressalien, systematischer Zwang gegen die Angriffe der Konterrevolution: das sind die ersten Bedingungen, die ein Entstehen staatlicher Institutionen notwendig machen.
Aber wie bedeutend auch diese Gründe für den militärischen Kampf und die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen gegen das konterrevolutionäre Treiben der Kapitalistenklasse sein mögen (die während des Bürgerkriegs gar den Vorrang vor anderen Aufgaben haben können), es wäre ein simplistischer Fehler, diese als die Hauptgründe, oder gar als die ausschließlichen Gründe für das Entstehen des Staates aufzufassen. Die einfache Tatsache, daß der Staat sich aufrechterhält, und nach der Bürgerkriegsperiode weiter besteht, ist ein ausreichender Beweis.
Ebenso wichtig ist es, diesen Unterschied zu berücksichtigen, wie er zwischen den Staaten der Vergangenheit besteht, für welcher der Zwang wesentlich gegen die aufsteigenden Klassen diente - also dauerhaft war -, während sie sich mit den alten Klassen jeweils arrangierten, und dem Staat der Übergangsperiode, bei welchem das genaue Gegenteil der Fall ist: gegen aufsteigende Klassen, die es von nun an nicht mehr gibt, richtet sich keinerlei Zwang; einzig und allein die alten Klassen, mit denen keine Zusammenarbeit möglich ist, werden unterdrückt.
Die Gesellschaft der Übergangsperiode ist noch in Klassen geteilt. Der Marxismus und die Geschichte lehren uns, daß keine in Klassen geteilte Gesellschaft ohne einen Staat bestehen kann, wobei der Staat nicht als Vermittler wirkt, sondern als unabdingbare Institution zur Aufrechterhaltung des notwendigen Zusammenhaltes der Gesellschaft, um zu verhindern, daß die Gesellschaft auseinanderfällt und sich selbst zerstört.
Weiterhin ist es für das Proletariat unbedingt notwendig und möglich, den Mitgliedern der alten Klassen - die nur eine sehr kleine Minderheit sind - alle politischen Rechte abzusprechen, dagegen wäre es nicht nur ein großer Fehler und ein großer Nachteil, sondern auch unmöglich, die großen nicht-proletarischen aber auch nicht-ausbeutenden Massen vom politischen und gesellschaftlichen leben auszuschließen. Diese Massen sind lebhaft an all den ökonomischen, politischen und kulturellen Problemen des unmittelbaren Lebens der Gesellschaft interessiert und davon betroffen. Das Proletariat kann ihre Existenz weder außer Acht lassen, noch gegenüber ihnen in den revolutionären Umwälzungen systematischen Zwang ausüben. Gegenüber diesen Massen muß das Proletariat eine Politik der Reformen, der Propaganda und der Eingliederung dieser Massen in das gesellschaftliche Leben durchführen, ohne sich damit gleichzeitig in diesen Massen aufzulösen, oder seine historische Aufgabe oder seine Vorherrschaft, d.h. die Diktatur des Proletariats aufzugeben.
Die notwendige Eingliederung dieser Massen nimmt die Form der besonderen Institution an, die man Kommune-Staat nennt, welche noch ein Staat ist. Vor allem das Bestehen dieser Klassen, ihre langsame Auflösung und die dringende Notwendigkeit ihrer Eingliederung machen das Entstehen des Staates der Übergangsperiode zum Sozialismus unvermeidbar.
Neben den beiden obigen Faktoren muß auch die Notwendigkeit der Zentralisierung und Organisierung der Produktion, der Verteilung, der Beziehungen mit der umgebenden Welt usw. berücksichtigt werden. Kurzum, die Verwaltung der Dinge und des öffentlichen Lebens - von der Revolution vollständig umgewälzt -, was die Gesellschaft noch nicht gelernt hat, und noch nicht in der Lage ist, von der Regierung der Menschen zu trennen.
Diese drei Faktoren wirken machtvoll zusammen, um das Entstehen des Staates nach der Revolution zu bestimmen.
2) DER GRUNDLEGENDE UNTERSCHIED ZWISCHEN DIESEM STAAT UND ANDEREN STAATSTYPEN
Als F. Engels die Pariser Kommune untersuchte, meinte er, daß es sich nicht mehr um einen wirklichen Staat handelte. Indem sie den grundlegenden Unterschied gegenüber dem klassischen Staat hervorheben wollten, gaben Marx, Engels und Lenin ihm verschiedene Namen: Kommune-Staat, Halb-Staat, Volksstaat, Demokratische Diktatur, Revolutionäre Diktatur usw. All diese Namen beziehen sich auf die spezifischen Eigenschaften, die ihn von den früheren Staaten unterscheiden.
- Vor allem hebt sich dieser Staat durch die Tatsache hervor, daß er zum ersten Mal in der Geschichte der Staat der ausgebeuteten Klassen und nicht der ausbeutenden Klassen ist. Er ist der Staat einer Mehrheit im Interesse einer Mehrheit gegen eine Minderheit. Er besteht nicht, weil er neue Privilegien verteidigen sollte, sondern um diese zu zerstören. Er übt die Gewalt nicht wegen der Unterdrückung aus sondern zur Abschaffung der Unterdrückung. Er ist kein Körper, der sich über die Gesellschaft erhebt, sondern er steht in ihrem Dienst. Seine Mitglieder und seine Funktionäre werden nicht ernannt, sondern gewählt und sie sind abwählbar, seine ständige Armee wird durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes ersetzt; er ersetzt die Unterdrückung durch ein Maximum an Demokratie, d.h. die Meinungsfreiheit, Freiheit der Kritik und Redefreiheit, und vor allem ist er ein absterbender Staat. Aber er bleibt ein Staat, d.h. eine Regierung, weil er eine Institution einer noch in Klassen geteilten Gesellschaft bleibt, selbst wenn er der letzte Staat ist.
Lenin zufolge wird dieser Übergangsstaat nicht so wie die Staaten sein, "die die Bourgeoisie geschaffen hat, von den konstitutionellen Monarchien bis zu den demokratischen Republiken", aber er wird "den Lehren der Pariser Kommune und den darüber von Marx und Engels angefertigten Untersuchungen entsprechen... Dies ist der Staat, den wir brauchen... Diesen Weg müssen wir beschreiten, so daß es unmöglich sein wird, eine vom Volk getrennte Polizei oder eine Armee aufzustellen".
Lenin stellte diesen Staat nicht mit der Diktatur des Proletariats gleich, denn dieser Staat ist nur "die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der armen Bauern"! Sicher ist die Demokratie auch eine Staatsform, die verschwinden muß, wenn der Staat selbst verschwindet, aber dies wird nur mit dem endgültigen Sieg des Sozialismus, dem Aufbau des vollständigen Kommunismus geschehen.
Und Lenin definierte die Rolle des Proletariats nach der "Zerstörung" des bürgerlichen Staates darin, daß das Proletariat alle ausgebeuteten Elemente der Bevölkerung organisieren muß, so daß sie selbst die Organe der Staatsmacht in ihre eigenen Hände nehmen können, sie selbst die Institutionen dieser Macht bilden können.
Diese Zeilen wurden Anfang März 1917 geschrieben, kaum einen Monat nach der Februarrevolution. Dieses Thema, die Übernahme des Staates durch "all die ausgebeuteten Elemente der Bevölkerung" wurden von Lenin in Dutzenden von Artikeln, insbesondere in "Staat und Revolution" entwickelt. Und wir können wiederholen, daß "dies die Art Staat ist, die wir brauchen", und den die Revolution hervorbringt.
3) DIE NOTWENDIGKEIT EINER AKTIVEN HALTUNG DES PROLETARIATS, UM DURCH EINE SCHRITTWEISE BESCHRŽNKUNG DER FUNKTION DES STAATES SEIN ABSTERBEN HERBEIZUFÜHREN
Wir haben auf den enormen Unterschied aufmerksam gemacht, der den Staat in der Übergangsperiode - der Engels zufolge kein wirklicher Staat mehr ist - von all den anderen Staaten unterscheidet. Und dennoch sagt uns der gleiche Engels, daß der Staat ein Übel sei, das das Proletariat erbt, und Engels warnt das Proletariat vor diesem Übel. Wie soll man das verstehen?
Marx und Engels haben die Maßnahmen, die die Pariser Kommune gegen den Halb-Staat zu ergreifen als notwendig empfand, hervorgehoben, insbesondere die Abwählbarkeit der Delegierten zu jeder Zeit, und die Beschränkung der Gehälter ihrer Gewählten und Funktionäre, die nicht höher als das Durchschnittsgehalt eines Arbeiters sein dürften. Somit sollten schädliche Tendenzen eingeschränkt werden. Lenin rief diese Maßnahmen oft in Erinnerung, und damit zeigte er die Bedeutung, die seines Erachtens die großen Gefahren der Bürokratisierung darstellten, und die sogar dieser Kommune-Staat in sich barg.
Die Pariser Kommune, die auf eine Stadt beschränkt und von kurzer Dauer (2 Monate) war, konnte kaum die gefährlichen Seiten dieses Halb-Staates aufzeigen. Wir können daher nur den ungeheuren politischen Scharfblick Engels bewundern, der angesichts der Umstände in der Lage war, das Übel im Wesen des nachrevolutionären Staates aufzuspüren und davor zu warnen.
Die Oktoberrevolution, die in einem ungeheuer großen Land mit mehr als 100 Mio. Einwohnern stattfand, und die mehrere Jahre dauerte, sollte eine ganz andere Erfahrung werden. Diese Erfahrung war eine tragische Bestätigung dessen, was Engels von dem Staat als Übel gesagt hatte: tatsächlich ging die Erfahrung über das hinaus, was man sich in den schlimmsten Alpträumen vorstellen konnte.
Wenn wir nach Marx, Engels und Lenin die unterscheidenden Kriterien dieses Staates aufzählen, dann sprechen wir eher von dem Staat, wie er sein sollte, als von dem, wie er tatsächlich ist. Der Staat trägt in sich selber eine schwere Last all der Makel, die er von all den vorhergehenden Staaten geerbt hat. Das Proletariat muß außergewöhnlich wachsam gegenüber dem Staat sein. Das Proletariat kann das Entstehen des Staates nicht vermeiden, es kann nicht umhin, ihn zu verwenden, aber um dies zu tun, muß es von seiner Entstehung an die schädlichsten Aspekte ausschalten, um ihn für seine eigenen Zwecke nutzbar zu machen.
Der Staat ist weder der Träger, noch der aktive Motor des Kommunismus. Er ist eher sein Hemmschuh. Er spiegelt den jeweiligen Zustand der Gesellschaft wider, und wie jeder Staat neigt er dazu, den Status Quo aufrechtzuerhalten, zu konservieren. Das Proletariat dagegen, als Träger der Bewegung der sozialen Umwälzung, zwingt den Staat dazu, in dieser Richtung zu handeln. Das Proletariat kann ihn nur dazu zwingen, indem es ihn von innen her kontrolliert und ihn von außen her beherrscht. Dazu muß es ihn - soweit die Bedingungen es erlauben - in seinen Funktionen einschränken, beschneiden, um somit den Prozeß seines Absterbens sicherzustellen.
Der Staat neigt immer dazu, maßlos anzuwachsen, sich auszudehnen. Dies bietet eine Grundlage für das Gesindel von Aufsteigern, Strebern und anderen Parasiten, und er wählte gerne seine Kader aus unter dem Abfall und den Überresten der alten herrschenden Klasse, die in der Auflösung begriffen ist. Lenin konnte dies feststellen, als er von dem Staat als dem Wiederaufbau des alten zaristischen Staatsapparates sprach. Diese Staatsmaschinerie, wie Lenin weiter bemerkte, neigt dazu, unserer Kontrolle zu entweichen und sich in einer uns entgegengesetzten Richtung zu entwickeln.
Es war ebenso Lenin, der keine ausreichend harten Worte fand, um den ungeheuren Mißbrauch und die Schikanen aller Art zu brandmarken, die die Stellvertreter des Staates gegen die Bevölkerung begingen. Dies wurde nicht nur von dem alten zaristischen Pack ausgeübt, das der Staatsapparat verseucht hatte, sondern auch von den Leuten, die aus den Reihen der Kommunisten kamen, und für die Lenin das Wort "Komtschwanstwa" (kommunistische Strolche) geprägt hat.
Man kann solche Erscheinungen nicht bekämpfen, wenn man sie als zufällig betrachtet. Um sie wirksam zu bekämpfen, muß man den Dingen auf den Grund gehen, erkennen, daß sie ihre Wurzel in dem Übel haben, dem unvermeidbaren Überleben des Überbaus, des Staates.
Man braucht deshalb nicht zu jammern, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, und sich dieser "Fatalität" unfähig zu unterwerfen. Der Determinismus ist keine Philosophie des Fatalismus. Es kommt auch nicht darauf an, vorzutäuschen, daß die Gesellschaft mit unserem Willen allein der Notwendigkeit der Entstehung des Staates ausweichen kann. Das wäre reiner Idealismus. Aber wenn wir erkennen müssen, daß der Staat als eine Notwendigkeit der Situation sich aufzwingt, ist es wichtig, aus dieser Notwendigkeit keine Tugend zu machen, und zum Verteidiger des Staates zu werden und Loblieder auf ihn zu singen. Der Marxismus erkennt den Staat als Notwendigkeit an, aber auch als Plage, und er stellt das Proletariat vor das Problem, so daß dieses Maßnahmen ergreift, um das Absterben des Staates zu gewährleisten.
Es nützt überhaupt nichts, die Begriffe Staat, Proletariat und Arbeiter auf verschiedene Weisen zusammenzufassen. Man löst das Problem nicht, indem man die Namen auswechselt, im Gegenteil: man weicht ihm aus und verschlimmert es noch durch diese Verwirrung. Der proletarische Staat ist ein Mythos. Lenin verwarf ihn, als er erinnerte, daß es sich um eine bürokratisch deformierte Arbeiter- - und Bauernregierung handelte. Das sind widersprüchliche Begriffe und es ist ein Widerspruch in der Wirklichkeit. Die große Erfahrung der russischen Revolution bezeugt es. Jede Ermüdung, jede Schwäche, jeder Fehler des Proletariats hat unmittelbar eine Verstärkung des Staates zur Folge, und umgekehrt zieht jeder Sieg, jede Verstärkung des Staates ein Zurückdrängen des Proletariats nach sich, aus der Schwächung des Proletariats und seiner Klassendiktatur. Der Sieg des einen ist die Niederlage des anderen.
Es nützt überhaupt nichts, aus der Einheitsorganisation des Proletariats, den Arbeiterräten, den Staat machen zu wollen. Sowohl Schlauheit als auch Ignoranz der wirklichen Probleme, die die Realität stellt, weisen diejenigen auf, die das Zentralkomitee der Arbeiterräte zum Staat ernennen wollen. Warum soll man die Räte mit dem Namen Staat herausputzen, wenn die beiden synonym sind und das gleiche bedeuten? Oder finden sie das Wort Staat so schön? Haben diese Schlauberger, die den Mund so voll radikaler Wörter nehmen, jemals von Arbeiterräten gehört, die ein Übel waren, oder von der Notwendigkeit des Absterbens der Räte? Indem sie den Rat zum Staat erklären, schließen sie jegliche Teilnahme der arbeitenden, nicht-proletarischen Massen am Leben der Gesellschaft aus und verbieten es, wobei doch die Teilnahme dieser Schichten, wie wir gesehen haben, der Hauptgrund für das Entstehen des Staates ist. Somit erweist sich dies gleichzeitig als Unmöglichkeit und Absurdität[3]. Wenn man, um dieser Absurdität auszuweichen, diese Klassen und Schichten an den Arbeiterräten teilnehmen lassen will, werden die Arbeiterräte somit umgewandelt, und sie verlieren ihre Eigenschaft als autonome Einheitsorgane des Proletariats.
Ebenso verworfen werden muß ein Aufbau des Staates auf der Grundlage einer Zusammenstellung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Arbeiter, Bauern, freiberuflich Tätige, Handwerker usw.), welche getrennt organisiert wären. Somit würde man ihre Existenz institutionalisieren und das korporative Staatsmodell Mussolinis nachahmen. Man würde aus den Augen verlieren, daß wir nicht in einer Gesellschaft mit einer beständigen Existenzweise leben, sondern in der Übergangsgesellschaft. Die nicht-ausbeutende Bevölkerung wird am gesellschaftlichen Leben als Mitglied der Gesellschaft teilnehmen (durch die territorialen Sowjets), und nur das Proletariat - als der Träger des Kommunismus - und weil es seine beherrschende Teilnahme und die Führung im gesellschaftlichen Leben sicherstellt - wird als eine Klasse in seinen Arbeiterräten organisiert sein.
Ohne auf die Einzelheiten der Modalitäten einzugehen, können wir als Prinzipien der Struktur der Gesellschaft in der Übergangsperiode folgendes festlegen:
1) die gesamte nicht-ausbeutende Bevölkerung ist auf der Grundlage von territorialen Räte-Kommunen organisiert; sie ist von unten nach oben zentralisiert, somit geht daraus der Staat hervor.
2) die Arbeiter beteiligen sich an dieser Räteorganisation:
- individuell wie alle andere Mitglieder der Gesellschaft,
- kollektiv durch ihre Organisierung als autonome Klasse auf allen Ebenen dieser Räteorganisation.
3) das Proletariat muß seine Vorherrschaft in der Vertretung auf allen, vor allem aber in den höheren Ebenen sicherstellen,
4) das Proletariat behält seine vollständige Freiheit gegenüber dem Staat. Unter keinem Vorwand kann das Proletariat irgendwelche Vorherrschaft der Entscheidungen der Organe des Staates gegenüber einer Klassenorganisation, den Arbeiterräten, anerkennen. Die Arbeiterklasse muß das Gegenteil erzwingen.
5) Insbesondere darf das Proletariat keine Einmischung und keinen Druck durch den Staat auf das Leben und die Aktivitäten der organisierten Klasse dulden, dies schließt jedes Recht und jede Möglichkeit von Repressalien des Staates gegen die Arbeiterklasse aus.
6) Das Proletariat behält weiterhin unabhängig von jeder staatlichen Kontrolle seine Bewaffnung aufrecht.
Wir müssen weiterhin bestätigen, daß die politische Partei kein Organ des Staates ist. Die Revolutionäre haben dies lange Zeit geglaubt; es war ein Zeichen der Unreife der Lage und des eigenen Mangels an Erfahrung. Die Russische Revolution hat bewiesen, daß solch eine Auffassung falsch ist. Die Struktur des Staates, die auf den politischen Parteien ruht, ist typisch für den bürgerlichen Staat, insbesondere für die bürgerliche Demokratie. Die Gesellschaft der Übergangsperiode delegiert ihre Macht nicht an Parteien, d.h. an spezialisierte Organismen. Der Halb-Staat dieser Periode ist auf einer Struktur des Rätesystems aufgebaut, d.h. auf einer ständigen und direkten Teilnahme der Massen am Leben und am Funktionieren der Gesellschaft. Dies bedeutet, daß die Massen zu jeder Zeit ihre Stellvertreter abrufen können und eine ständige und direkte Kontrolle über sie ausüben können. Die Delegierung der Macht an welche Parteien auch immer, hieße, die Teilung zwischen Macht und Gesellschaft erneut wieder einzuführen; sie erweist sich somit als die größte Fessel für die Emanzipation der Gesellschaft.
Wie die Oktoberrevolution gezeigt hat, wird die Übernahme der Macht oder die Teilnahme am Staat durch die Partei des Proletariats ebenso die Funktion des Staates tiefgreifend verändern. Ohne in die Diskussion über die Rolle der Partei und ihr Verhältnis zur Klasse einzusteigen - dies müßte in einer anderen Debatte behandelt werden - können wir uns hier darauf beschränken, darauf hinzuweisen, daß die vorübergehenden Bedürfnisse und die des Staates die Überhand über die Partei gewinnen würden, indem die Partei sich mit dem Staat identifiziert und sich selbst von der Klasse abspaltet, ihr gar gegenübertritt.
Abschließend muß noch eins für allemal klar sein. Wenn wir von Autonomie sprechen, dann meinen wir die Autonomie der Klasse gegenüber dem Staat und nicht die Autonomie des Staates gegenüber der Klasse. Die Aufgabe des Proletariats besteht darin, das Absterben des Staates zu überwachen. Die Grundbedingung dafür ist, daß sich die Klasse nicht mit dem Staat identifiziert.
MC (aus der Internationalen Revue, Nr. 15, 4. Quartal 1978).
1. Wir behandeln hier nicht die Gefahren von Außen, d.h. zwischen den Ländern. Das Problem existiert natürlich, aber im Rahmen dieses Artikels würde die Berücksichtigung dieses Problems die Klärung der hier gestellten Frage - die Rolle des Staates in der Entwicklung der Gesellschaft - nur behindern.
2. Wie so oft beim Idealismus, je radikaler er im abstrakten Denken ist, umso opportunistischer ist er in der konkreten Praxis. Dies ist auch bei den Anarchisten der Fall. Ihre wilde Ablehnung jeder Staatsform nach der Revolution, die auf einer bewußten Unkenntnis der Notwendigkeiten der historischen Periode beruht, führte sie dazu, im spanischen Bürgerkrieg 1936-39 sich in den "republikanischen" bürgerlichen Staat zu integrieren und diesen grenzenlos zu verteidigen.
3. Dem gleichen Irrtum verfiel die russische "Arbeiteropposition", als sie die Übernahme des Staates durch die Gewerkschaften forderte. Zurecht kritisierte Lenin ihre anarcho-syndikalistische Auffassung.