Kein Begreifen der Periode ohne die Dekadenz des Kapitalismus

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Die Ausgabe Nr. 7 der "Kommunistische Po­litik (Organ internationaler revolutionärer Kommunisten)" beschäftigt sich auf 28 Seiten ausschließlich mit der Dekadenztheorie. Unter dem Titel "Wider die Dekadenz revolutionärer Theorie" wird gegen die Dekadenztheorie ge­wettert, die von der IKS vertreten wird, daß der Kapitalismus sich in seiner Niedergangs­phase befindet und die Menschheit in den Ab­grund führt. Die Broschüre der IRK besteht aus 2 Texten. Der erste, "Die Dialektik von Produktions­kräften und Produktionsverhältnis­sen gemäß der kommunistischen Theorie", stammt haupt­sächlich von "Communisme ou Civilisation" (C ou C), eine in Frankreich an­sässige Aka­demikergruppe, welche sich für die Theorien des bedeutenden marxistischen Revolutionärs Amadeo Bordiga interessiert. Der 2., "Wider die Dekadenz" kommt von der IRK.

Aus Platzgründen können wir hier in diesem Artikel nicht ausführlich diese Debatte aufrol­len. Die Argumentation der IRK ist keines­wegs neu - seit 40 Jahren setzt sich unsere Strömung vor allem mit der bordigistischen Ablehnung der Dekadenz auseinander. Unsere Antwort auf die einzelnen Argumente der IRK in Bezug auf die Dekadenz (die sog. fantasti­schen Wachstumsraten nach 1945, die Rolle des unproduktiven Sektors oder des Kredits usw.) liegt schon lange vor. Wir haben einge­hend geantwortet in unserer Dekadenzbro­schüre und der Artikelserie "Wie die Deka­denz des Kapitalismus verstehen" in unserer Internationalen Revue. Hier geht es um die Methode und politischen Konsequenzen bei der IRK

WIE EINE HISTORISCHE DEBATTE DER ARBEITERBEWEGUNG ABGESCHRIE­BEN WIRD

Obwohl der erste, von C ou C verfaßte Text zugibt, daß alle großen Revolutionäre z.Zt der revolutionären Welle von Kämpfen zwischen 1917-23 einschließlich der Kom­munistischen Internationalen von einer angebro­chenen Deka­denzphase des Kapitalismus aus­gingen, und obwohl das Konzept von auf- und absteigen­den Phasen von Klassengesellschaf­ten nach­weislich von Marx selbst stammt (siehe seine Einleitung zur Kritik der politi­schen Ökono­mie), wird diese Theorie in der gesamten IRK-Broschüre quasi als ein Hirnge­spinst ab­getan. Dabei schrieb die Kommunisti­sche Internatio­nale im März 1919: "Die neue Epoche ist ge­boren! Die Epoche der Auflösung des Kapita­lismus, seiner inneren Zerset­zung..."  Als ob es von den vergange­nen Gene­rationen marxi­stischer Organisatio­nen nichts zu lernen gäbe! Der C ou C Artikel be­hauptet, die Revolutio­näre der 20er und 30er Jahre wä­ren durch den 1. Weltkrieg so­wie durch die Stagnation vor allem in Europa bis 1945 ge­blendet gewesen, so daß sie vorei­lige Schlußfolgerun­gen über den Niedergang des Systems gezogen haben. Während hier der Eindruck erweckt wird, daß der Marxismus sich damals sozusa­gen primi­tiv-empirisch vom Schein der Ereig­nisse in die Irre führen ließ, war es in Wirk­lichkeit so, daß die bedeutend­sten Vertreter der kommunisti­sche Linke, die KAPD Anfang der 20er, und die Gruppe BI­LAN in den 30er Jahren, sich auf die tiefgrei­fende theoretische Vorarbeit ge­stützt haben, welche Rosa Luxemburg bereits vor 1914 in ihrem Werk "Die Akkumulation des Kapitals" leistete. Für die IRK wiederum ist es nichts als eine Drei­stigkeit, daß die IKS und andere re­volutionäre Organisationen heute noch diese Theorie auf­rechterhalten, obwohl nach Über­zeugung der IRK allein schon der Wiederauf­bauboom nach dem 2. Weltkrieg ausreichen müßte, um alle von der Hinfällig­keit der Vor­stellung eines Niedergangs des gegenwärtigen Systems zu überzeugen.

Das revolutionäre Proletariat braucht die of­fene theoretische Auseinandersetzung wie Luft zum Atmen. Nichts ist heute dringender als die Debatte über die Frage, ob der Kapita­lismus ein dekadentes System ist oder nicht. In der Tat handelt es sich bei der IRK-Broschüre um eine Auseinandersetzung zwi­schen 2 ent­gegengesetzten Auffassungen. Eine dieser Auffassungen behauptet, der Kapitalis­mus be­findet sich im Niedergang und ist weltweit reaktio­när. Die andere meint hinge­gen, das System sei noch fortschrittlich, im­mer noch fähig, eine gigantische wirtschaftli­che Expan­sion zu bewerkstelligen. Die erste Auffassung, welche die IKS vertritt, sagt, daß eine erfolg­reiche proletarische Revolution den Nie­dergang des Systems weltweit voraussetzt. Die zweite, welche die IRK hier verteidigt, glaubt, daß eine vorübergehende zyklische Konjunk­turkrise da­für ausreicht.

Leider wird diese Auseinandersetzung in der IRK-Broschüre nicht deutlich genug dargestellt  und auf die Spitze getrieben. Sie wird im Ge­genteil ver­tuscht. Auf 28 Seiten wird alles un­ternommen, um die politische Brisanz dieser Debatte zu verschleiern. Stattdessen versucht man, diese entscheidende Auseinandersetzung, welche vor 1914 von Rosa Luxemburg gegen die Re­formisten, während des 1. Weltkrieges von Lenin gegen Kautsky, und in den 40er Jahren vom Nachfolger "Bilans", der Gauche Communiste de France (GCF) gegen Bordiga ge­führt wurde, als etwas Lachhaftes, als eine Spinnerei der IKS hinzustellen. Dabei haben wir als IKS mit unserer Position zur Dekadenz nichts Neues erfunden, sondern vertreten nur einen Standpunkt, der in diesem Jahrhundert von führenden Revolutionären vertreten wurde. Wir wollen jetzt kurz:

1) die Tricks der IRK zeigen, welche die Nichtigkeit dieser De­batte beweisen wollen,

2) die tatsächli­che Aktualität und Brisanz die­ser Debatte hervortreten lassen.

DIE TRICKS DER IRK

Seitenlang versucht die IRK, die Argumente der IKS zur Dekadenz des Systems als nicht­marxistisch und unwissenschaftlich abzutun. Die IRK will die wirkliche Gegenüberstellung der beiden Posi­tionen umgehen, indem sie die Position der IKS so darstellt, als ob sie gar nicht ernstzunehmen sei.

Hier zwei kurze Beispiele, wie die IRK dies zu drehen versucht:

- Der größte Dorn in den Augen aller, welche die Dekadenztheorie als eine Abweichung von Marx hinzustellen versuchen, ist die berühmte Einleitung zur Kritik der politischen Ökono­mie, wo Marx selbst davon spricht: "Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhan­denen Produkti­onsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhält­nissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungs­formen der Produk­tivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fes­seln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein" (Marx-Engels-Werke Band 13 S.9) Hier ist klar und deutlich: "auf einer gewissen Stufe" werden die Produktiv­kräfte "gefesselt". Dieses Umschla­gen von "Entwicklungsformen" zu Fesseln "auf einer gewissen Entwicklungsstufe" will die IRK auf keinen Fall stehenlassen. Dazu die IRK: "Der erwähnte Konflikt zwischen Produktiv­kräften und Produktionsverhältnissen ist also keines­wegs eine Frage der Geschwin­digkeit der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern der sozialen Schranken ihrer Ent­wicklung. Diese sozialen Schranken, die Eigentumsver­hältnisse, verhindern eine Wei­terentwicklung der Produktivkräfte in Formen, die den gesell­schaftlichen Bedürfnissen ent­sprechen. Es kann aber keineswegs von dieser Tatsache ab­geleitet werden, daß sich die Pro­duktivkräfte überhaupt nur noch verlangsamt entwickeln." Marx meint laut IRK "eine ein­seitige Art der Entwicklung der Produktiv­kräfte. Die Fessel, von der Marx hier redet, ist die soziale Fessel: Verwertungsinteresse des Kapitals versus Le­bensinteresse des Proletari­ats" (Kompol 7, S. 353).

Marx spricht von einer Fesselung der Produk­tivkräfte. Die IRK behauptet das Gegenteil. Marx spricht von etwas, was auf einer gewis­sen Entwicklungsstufe eintritt, während die IRK plötzlich von etwas spricht, was vom er­sten bis zum letzten Tag des Kapitalismus im­mer vor­handen ist, nämlich der Akkumulations­zwang auf Kosten des Proleta­riats. Was Marx aufzeigt, ist, daß der Kapita­lismus trotzdem bis zu "einer gewissen Ent­wicklungsstufe" die Produktivkräfte entfalten kann, bis er an den Fesseln zunehmend reibt, welche die fallende Profitrate, vor allem aber (wie Luxemburg ge­zeigt hat) die Erschöpfung außerkapitalistischer Märkte darstellen.

- Ebenfalls ist das Konzept des globalen Ka­pitals der IRK ein Dorn im Auge. Hier geht es darum, daß Produktionsbereiche wie die Rü­stung, welche für einzelne Konzerne oder na­tionale Kapitalien äußerst gewinnbringend sein können, für das System insgesamt ein totes Gewicht dar­stellen. Wenn dies zutrifft, dann sehen die Wachstums- und Entwicklungszah­len der Nachkriegszeit, welche die IRK so nachhaltig beeindrucken, eher kümmerlich aus, wenn man die explodierenden unproduk­tiven Berei­che abzieht. Die Produktion von Särgen auf dem Balkan und in anderen Kriegsgebieten mag einen Riesenaufschwung genommen ha­ben: ob dies als eine Entwick­lung der Produktivkräfte betrachtet werden kann (die IRK be­hauptet dies in Bezug auf Rüstungsgü­ter), ist mehr als fraglich! Um das globale Ka­pital un­schädlich zu machen, ge­steht die IRK zuerst zu: "Auch das globale Kapital hat ge­meinsame Interessen, so zum Beispiel gegen­über der Ar­beiterklasse", um aber dann ein­zuwenden "Aber dieses weltweite Verhältnis impliziert gerade für das Kapital die Konkur­renz gegen­einander.." Deshalb "entpuppt" das sogenannte "Konzept des glo­balen Kapitals" sich als  "eine weitere Beigabe zum Gru­selkabinett der Entstellungen des Marxismus, als ein meta­physisches Konstrukt verkrampf­ter `Erneuerer'" (KOMPOL S. 365, 366).

Also: zuerst wird das globale Kapital mit der Klasse der Weltbourgeoisie verwechselt, um es dann unter dem Vorwand der Existenz der Konkurrenz als etwas dem Marxismus frem­des abzuschreiben. Von wegen! Wir zitieren Rosa Luxemburg:

"Die Sache bekommt aber gleich Gestalt und strengen Umriß, wenn wir die kapitalistische Produktion als Ganzes, vom Standpunkte des Gesamtkapitals, also dem in letzter Linie ein­zig maßgebenden und richtigen betrachten. Dies ist eben der Standpunkt, den Marx im 2. Band seines "Kapitals" zum erstenmal sy­stematisch entwickelt, den er aber seiner gan­zen Theorie zugrunde gelegt hat. Die selbst­herrliche Privatexistenz des Einzelkapi­tals ist in der Tat lediglich äußere Form, Ober­fläche des Wirtschaftslebens, die nur vom Vulgär­ökonomen als Wesen der Dinge und einzige Quelle der Erkenntnis betrachtet wird. Unter dieser Oberfläche und durch alle Ge­gensätze der Konkurrenz hindurch bewährt sich die Tatsache, daß alle Einzelkapitale ge­sellschaftlich ein Ganzes bilden." (Die Akku­mulation des Kapitals, Luxemburg Ge­sammelte Werke, Band 5, S. 419, 420.)

DIE POLITISCHEN KONSEQUENZEN

Das Beeindruckendste an der IRK-Broschüre ist die Inbrunst, womit nicht nur die Deka­denztheorie angegriffen, sondern auch die Überzeugung von der strotzenden Gesundheit des kapitalistischen Systems verkündet wird. Dieser Glaube hängt sicher mit folgender irri­ger Feststellung zusammen: "Marx dekla­rierte, daß die Märkte unbegrenzt seien, die IKS er­klärt die Märkte zu einer begrenzten Seeober­fläche". (Kompol 7 S. 358) Wir könn­ten Dutzende von Marx-Zitate dagegen anfüh­ren (siehe Internationale Revue Artikel zur Kri­sentheorie). Mehr noch: heute sucht die Bour­geoisie selbst verzweifelt aber ver­geblich nach diesen Märkten!

Wir erfahren weiter: "Die Krise mag subjektiv und für den Arbeiter als verheerend erschei­nen (...) Doch darüber darf nicht vergessen werden, daß die Krise gleichzeitig als "Gesundheitsbad" für den Kapitalismus wirkt, das zum Austreiben des überflüssig gewor­denen Kapitals dient". (S. 361) So lief das mit den zyklischen Krisen des vori­gen Jahrhun­derts. Aber die sich stets vertie­fende Krise der letzten 20 Jahre hat keine Gesundung zur Folge gehabt, sondern eine im­mer kränkere Weltwirtschaft. Auch das Ver­sagen der in den letzten Jahrzehnten massiv eingesetzten Mittel, um einen wirtschaftlichen Kollaps hinauszu­schieben, wie etwa die ufer­lose Verschul­dung, was selbst im bürgerli­chen Lager oft zuge­geben wird, wird von der IRK vom Tisch ge­wischt. "Diese Manipulatio­nen des Kapitals am Verlauf der Weltge­schichte wie am Wert­gesetz sind aber nichts anderes als die auf das Kapital projizierten Manipulationen der "Dekadenztheoretiker" an der marxistischen Theorie" (S. 362)

Nicht nur den Krisen des 20. Jahrhunderts wird eine dynamische, die Produktivkräfte ent­faltende Kraft zugeschrieben, sondern ebenso dem imperialistischen Krieg. Nicht nur die sog. nationalen Befreiungskriege werden als fort­schrittlich angesehen (wie bei den Bordigi­sten, von denen die IRK ihre besseren Argu­mente gegen die Dekadenz übernommen hat), son­dern sogar der 2. Welt­krieg! Da der Leser es sonst nicht glaubt, mü­ssen wir etwas aus­führlicher zitieren.

"Das politische System des Weltkapitalismus war  gerade in der Zwischenkriegsperiode für die Bedürfnisse der Akkumulation auf der in­zwischen erreichten Stufe selbst zu eng ge­worden (..) Aber diese Hindernisse waren durch das Kapital selbst hinwegzufegen ver­mittels Krieg und damit Aufhebung der ver­krusteten Strukturen.(...) Dabei spielten die Nazis, als politische Repräsentanten der deut­schen Bourgeoisie, so paradox dies erscheinen mag, eine weitaus progressivere Rolle vom Standpunkt des Kapitals aus gesehen als z.B. die verknöcherte englische Bourgeoisie, die damit beschäftigt war, mühsam das Empire zu­sammenzuhalten. Denn hinter aller großdeut­schen Phantasterei, die nur ideologisches Mittel war, verbarg sich bereits ein Konzept des europäischen Wirtschaftsraums (...) Aber die lange Phase des mehr oder weniger unge­hinderten Wachstums bis in die 60er Jahre war nicht Zaubermitteln der Bourgeoisie ge­schuldet, sondern war in gewisser Hinsicht zum einen unmittelbares Resultat der Kriegs­politik, zum anderen der Auflösung der kor­setthaften Kolonialstrukturen geschuldet. Aber dies zu sehen kann nicht von einer Strömung verlangt werden, die in den vergangenen anti­kolonialen Kriegen nichts als lokale Stellver­treterkriege sehen will" (S. 361-363). Ledig­lich dem letzten Satz stimmen wir zu.

Die IRK ist sicher stolz auf ihre theoretische Leistung. Man hat offenbar eine Menge hin­übergerettet aus der langen Zeit in linkskapi­talistischen "Kapitalzirkeln"! Aber es stellen sich Fragen. Etwa: wenn die Krise weiter­hin ein "Gesundheitsbad" bleibt, aus dem das Sy­stem jedesmal gestärkt hervorgeht, wo bleibt da die Möglichkeit der proletarischen Revolu­tion? Oder überhaupt die Notwendig­keit dazu? Läuft man hier nicht Gefahr, wie Bernstein durch das Leugnen der Fesselung der Pro­duktivkraftentwicklung dem Marxis­mus den Boden zu entziehen, die Revolution zum rei­nen Wunschdenken, einer Utopie zu machen? Wenn die proletarische Revolution nicht mehr aus der Notwendigkeit heraus ent­steht, durch die Überwindung des Privatei­gentums diese Fesseln zu sprengen, sondern nur das Ergeb­nis der materiellen Verschlech­terung der Le­benslage der Arbeiter sein soll. Dann wird damit die proletarische Revolution auf die Ebene von Hungersrevolten herabgedrückt, und die Arbeiterklasse mit den ausgebeuteten Klassen der Vergangenheit, mit den Sklaven und Leibeigenen gleichgesetzt, die zwar alle ausgebeutet wurden, aber nicht revolutionär waren. Es wird geleugnet, daß die proletari­sche Revolution nur eine bewußte Revolution sein kann. Wenn die imperiali­stischen Kriege, selbst Hitler als fortschrittlich angesehen wer­den, warum werden sie dann nicht "kritisch" unter­stützt, so wie Marx Bis­marcks Krieg ge­gen Frankreich 1870 oder Lincoln und den Nor­den im amerikanischen Bürgerkrieg mit Ein­schränkungen unter­stützte? In der Tat wird die materialistische Grundlage des proletari­schen Internationalis­mus hiermit zerstört, die Ableh­nung des Krieges zu einer moralischen Ange­legenheit degradiert (siehe unsere Pole­mik in Internationale Revue Nr.15 zum Wesen des Krieges).

Tatsächlich demoliert die IRK-Broschüre nicht die Dekadenztheorie etwa der IKS, sondern den Marxismus selbst - und dies im Namen der Invarianz, der angeblichen Unabänderlich­keit des marxistischen Programms. Deshalb übernimmt der IRK-Text konsequenterweise auch die historische Einschätzung der Ok­toberrevolution und der revolutionären Welle von 1917-23, welche die Pseudo-Marxisten wie Karl Kautsky oder die russischen Men­schewisten erstellten, d.h. daß die Weltrevolu­tion damals noch nicht auf der Tagesordnung stand.

"Die Oktoberrevolution und die damit zusam­menhängende proletarisch-revolutionäre Dy­namik in vielen anderen Ländern hat nur ge­zeigt, wie tief zu dem gegebenen Zeitpunkt die gesellschaftlichen Widersprüche gediehen wa­ren. Der Verlauf der darauf folgenden Konter­revolution zeigt aber gleichermaßen, daß diese Tiefe noch nicht ausreichend war für die WIRKLICHE Überwindung der kapitalisti­schen Produktionsweise - sprich, daß der Ka­pitalismus sein Potential noch nicht ausgereizt hatte." (S.361).

Nun scheint die IRK auch zu spüren, daß sie selbst die Bedingungen der Revolution verneint hat. Denn jetzt, nachdem die "Fesseln" seitenlang abgestritten werden, er­scheint plötzlich der Begriff der "finalen Krise", wohl um nicht ganz wie Bernstein zu erscheinen. "Die finale Krise des Systems wird erst eintreten, wenn der Kapitalismus die Welt vollständig durchdrungen und die Un­gleichzeitigkeit der Entwicklung zwischen den einzelnen Nationen durch die weltweite Di­spersion der ihm möglichen Produktions- und Verteilungsverhältnisse ein gutes Stück "nivelliert" hat, wenn sich also grob für das Weltproletariat wieder mehr oder weniger ein­heitliche Bedingungen herausgeschält ha­ben.." (S. 361)

Die letzten 80 Jahre haben ge­zeigt, daß Lenins (und Marxens) Formulie­rung des sog. Geset­zes der ungleichen Entwick­lung im Kapitalis­mus auch für seine Deka­denzphase gültig bleibt. Dies bedeutet, daß die Lage mögli­cherweise niemals eintreten wird, wo etwa die Arbeiter in Europa denselben Lebensstandard haben wie in Sahel-Afrika.

Das Werk ist vollbracht. Die Dekadenztheorie ist "widerlegt" worden. Die "Gefahr" der Re­volution ist auf Jahrzehnte hinaus gebannt. Die IRK darf ruhigen Gewissens in ihrer ru­higen Studierstube hocken - wo sie auch hin­gehört.

Aber es geht der IRK um weitaus mehr als ih­ren Seelenfrieden. Bordiga hat in den 40er Jahren die Dekadenztheorie bekämpft, weil er wußte, daß dies die theoretische Grundlage der Ablehnung insbesondere der "nationalen Befreiungsbewegungen" durch die "italienische Linke" im Exil war. Bordiga wollte nicht die opportunistischen Positionen des 2. bis 4. Kongresses der Kommunistischen Internationale infrage stellen, nicht zuletzt weil dies seine undialektische Idee eines "invarianten Marxismus" zu Fall gebracht hätte. Aber es war ein Disput zwischen Re­volutionären. Bei der IRK ist es anders. Wie bei vielen ehemaligen Stalinisten, welche sich von revolutionären Positionen teilweise ange­zogen fühlen, andererseits aber mit ihrer bür­gerlichen Vergangenheit nicht ganz brechen wollen, erscheint die Dekadenztheorie wie eine unerträgliche Provokation. Und zwar ge­rade deshalb, weil diese Theorie konsequen­terweise zu einem grundsätzlichen (und nicht nur einem "taktischen") Bruch mit Parlamen­tarismus, Nationalismus, gewerkschaftlicher Arbeit und dem Herumflirten mit stalinisti­schen oder trotzkistischen Gruppen verlangt. Deshalb konzentriert die IRK ihre Energien sowie ihr Blatt nicht auf die Formulierung der Interessen der Arbeiterklasse, sondern darauf die Dekadenztheorie lächerlich zu machen.

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