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Im August 1980 haben uns die Arbeiter in Polen ein Beispiel für den Massenstreik, für die Selbstorganisation der Klasse und die wahre Solidarität der Arbeiter gegeben. Seit dem 13. Dezember 1981 sind sie für uns auch ein Beispiel für den Mut und den Kampfgeist, was beweist, daß die Reaktion der Arbeiter heute nicht mit den 30er Jahren zu vergleichen ist. Weil die Arbeiterklasse heute nicht vor der geballten bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates einknickt, weil selbst ein ganzes Jahr der Gewerkschaftssabotage und all der Illusionen, die von den verschiedenen Agenturen der Bourgeoisie gefördert wurden, nicht ausreichte, um diese außergewöhnliche Kraft des Kampfgeistes auszutrocknen, wissen wir, daß die Revolution möglich ist.
Auch wenn sie sich dessen nicht direkt bewußt sind, kämpften die Arbeiter in Polen nicht als "Polen". Ihr Mut, ihre Entschlossenheit in diesem ungleichen und verzweifelten Kampf sind keine besonderen Merkmale des "polnischen Volkes". Es sind typische Züge der Weltarbeiterklasse. Es gibt zahlreiche Beispiele in der Geschichte für den heldenhaften Mut, zu dem das Proletariat in allen Ländern fähig ist: die Kämpfer der Kommune 1871, die russischen und polnischen Arbeiter 1905-1906, die Arbeiter in Rußland, Deutschland, Österreich, Italien, China und vielen anderen Ländern zwischen 1917 und 1927.
Welche Art von Niederlage?
Heute wird in Polen ein Battaillon des Weltproletariats mit all der Gewalt attackiert, zu der der Kapitalismus fähig ist: Panzer, Maschinengewehre, Massenverhaftungen, Konzentrationslager, Bergwerke, die mit Gas oder Wasser geflutet werden (eine alte kapitalistische "Technik", die vor allem von der englischen Bourgeoisie in den 30er Jahren in Indien angewandt wurde). Ein Battaillon der Weltarbeiterklasse, das großartig, mit äußerstem Mut kämpfte. Daß dieser Kampf verloren ist, ist offensichtlich: Heute verkünden die staatlichen Behörden mit Genugtuung, daß es keine Widerstandsnester mehr gibt. Auch der passive Widerstand wird langfristig überwunden werden, weil er nicht mehr das Produkt einer Massenbewegung, der kollektiven und organisierten Aktion der Arbeiterklasse ist, sondern das Produkt einer Summe von Arbeitern,die durch die Repression und den Terror atomisiert sind.
Und selbst wenn diese Form des Widerstands noch längere Zeit anhielte, so hätte die Bourgeoisie dennoch einen Sieg errungen, weil es ihr gelungen ist, all die direkten Formen des Lebens in der Klasse zum Schweigen zu bringen: Massenstreiks, Vollversammlungen, Austausch von Erfahrungen und offene Diskussionen unter Arbeitern.
Wir müssen uns der Realität stellen. Das Proletariat in Polen hat eine Niederlage erlitten. Aber diese Niederlage ist weder endgültig noch unumkehrbar. Die Arbeiter sind mitnichten vernichtend geschlagen worden.
Wie die Revolutionäre, namentlich Marx und Rosa Luxemburg, bereits seit langem beobachtet haben, muß das Proletariat bis zu seinem endgültigen Sieg über den Kapitalismus viele Niederlagen hinnehmen. Indem es so klar wie möglich die Lehren aus den Niederlagen zieht, wird das Proletariat die Kraft finden, um die Siege von morgen vorzubereiten.
Als solche ist eine Teilniederlage für die Arbeiterklasse nicht katastrophal. Sie ist ein Teil ihres langen und beschwerlichen Weges zur Revolution. Sie ist eine Schule, in der das Proletariat lernt, seinen Feind und sich selbst besser zu verstehen, die Kräfte, die es für die künftigen Schlachten entwickeln muß, und die Schwächen einzuschätzen, die es überwinden muß. Sie ist ein unvermeidbarer Bestandteil im Reifungsprozeß des Klassenbewußtseins, das eine der wichtigsten Waffen in den kommenden, entscheidenden Zusammenstößen sein wird.
Jedoch haben nicht alle Niederlagen des Proletariats die gleiche Bedeutung. Manche Niederlagen führen zu einer langfristigen Demoralisierung und Orientierungslosigkeit innerhalb der Klasse. Dies sind Niederlagen, die im Kontext des allgemeinen Rückzugs des Klassenkampfes, des Triumphes der Konterrevolution stattfinden. Solcherart war die Niederlage der Arbeiterklasse in Spanien zwischen 1936 und 1939. In diesem Fall verlor das Proletariat nicht nur eine Million Klassenbrüder und -schwestern, sondern ebnete mit diesem Opfer lediglich den Weg für die 50 Millionen Toten im II. Weltkrieg. Im allgemeinen zeichnet sich diese Art von Niederlage dadurch aus, daß das Proletariat nicht direkt auf seinem Klassenterrain kämpft, sondern sich auf ein bürgerliches Terrain wie den "Antifaschismus" 1936 drängen läßt.
Auf der anderen Seite finden Niederlagen im Zusammenhang mit einem Kurs in Richtung eines zunehmenden Klassenkampfes statt, der auf einem proletarischen Terrain ausgefochten wird. Die Arbeiterklasse ist besiegt, aber sie ließ sich nicht für die Ziele der Bourgeoisie mobilisieren. Die Revolution von 1905 war eine Generalprobe für den Sieg 1917, weil das Proletariat in Rußland 1905 auf seinem eigenen Terrain gekämpft hatte, auch wenn es nicht auf Anhieb siegte: nämlich auf dem Terrain des Massenstreiks, des Kampfes für die Verteidigung seiner ökonomischen und politischen Interessen, der Selbstorganisierung in den Sowjets.
Trotz all des negativen Gewichtes und der Manöver Solidarnoscs, trotz all der polnischen Fahnen und der Bilder der Jungfrau, die die Bewegung des Proletariats in Polen behinderten, war das Proletariat in Polen fähig, in seinem Kampf gegen die wachsende Ausbeutung und die kapitalistische Repression auf seinem eigenen Terrain zu bleiben. Jene, die sich darauf versteifen, daß die Arbeiterklasse noch nicht taub gegenüber dem bürgerlichen Gewäsch ist, können dies nicht begreifen und begegnen dem Kampf der Arbeiter in Polen mit Skepsis. Sie gehören zur gleichen Kategorie wie jene, die 1936 sich einbildeten, daß eine rote Fahne dem Antifaschismus einen proletarischen Charakter verleiht.
Im Verlauf von anderthalb Jahren der Kämpfe in Polen hat es an Subjekten der bürgerlichen Mystifikation nie gefehlt. Doch waren es nicht die Themen, die die Arbeiterklasse mobilisierten. Im Gegenteil, es waren Themen zur De-Mobilisierung der Arbeiterkämpfe, die im allgemeinen mit Klassenforderungen (gegen Preiserhöhungen, gegen Lebensmittelrationierungen, Repression, gegen die Willkür der Bosse, für die Verkürzung der Arbeitszeit usw.) aus dem Boden schossen.
Dies erlaubt uns zu sagen, daß das Proletariat von heute ganz anders gegen die Krise kämpft als in den 30er Jahren. Es zeigt uns, daß der großartige Widerstand der Arbeiter in Polen nicht einfach ein Schuss ins Blaue war, sondern der Weg, auf dem die Arbeiter in Polen ihren Klassenbrüdern in anderen Ländern die Fackel des Kampfes überreichen.
Die heutige Niederlage gehört also in die Kategorie jener Kämpfe, die direkt zur Vorbereitung des endgültigen Triumphes des Proletariats beitragen. Dies kann jedoch nur dann so sein, wenn die Klasse so viele Lehren wie möglich zieht und sich selbst die Mittel gibt, um solche Niederlagen in Zukunft zu vermeiden. Im Grunde besteht die Taktik, die die Bourgeoisie heute, wie in der Vergangenheit (besonders in Deutschland Anfang der 30er Jahre), zu verwenden versucht, darin, das Proletariat Gruppe für Gruppe, Fabrik für Fabrik, Land für Land zu schlagen. Eine Reihe solcher Teilniederlagen wie die heutige könnte zu einer unwiderruflichen Schwächung der Arbeiterklasse, zu einer Umkehrung des historischen Kurses führen. Dann gäbe es nicht mehr die Perspektive der proletarischen Reaktion gegen die Krise - die Revolution -, sondern nur die bürgerliche Antwort - der Weltkrieg.
Welche Lehren?
Die Hauptfragen, die heute beantwortet werden müssen, sind daher:
Wie konnte dies geschehen?
Was versetzte die Bourgeoisie in die Lage, dem Proletariat solch einen blutigen Rückschlag zuzufügen?
Wie können wir in Zukunft solche Niederlagen, solche Repression verhindern?
Der erste grundlegende Punkt, der für das Proletariat klar sein muß, ist,daß die Bourgeoisie nicht sporadisch und zerstreut auf den Klassenkampf reagiert, sondern auf konzertierte Weise. Natürlich ist die Bourgeoisie gespickt mit einer Vielzahl von Interessenskonflikten, die die Krise nur noch mehr verschärfen und in der Spaltung der Welt in Militärblöcke ihren Höhepunkt finden. Aber die Geschichte lehrte uns, und die heutige Realität bestätigt dies erneut, daß die Bourgeoisie fähig ist, ihre Widersprüche zu überwinden, wenn ihre eigene Existenz als Klasse auf dem Spiel steht. Wir haben bei vielen Gelegenheiten in den Spalten dieser Zeitschrift und in unserer territorialen Presse auf die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Teilen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterkämpfe in Polen hingewiesen: zwischen der Regierung und Solidarnosc, zwischen Ost und West, zwischen Rechts und Links. Wir kommen hier darauf zurück, um die ungeheure Doppelzüngigkeit des US-Blocks zu denunzieren, der sich zunehmend empört gibt über die Repression der polnischen Arbeiter und über Rußlands Kollaboration in dieser Repression.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß von dieser "Empörung", für die Reagan nun das Hauptsprachrohr ist und die zu einem wichtigen Bestandteil in den ideologischen Kriegsvorbereitungen des westlichen Blocks geworden ist, überhaupt nichts zu hören war, als der Belagerungszustand ausgerufen wurde.
Mehrere Tage lang hat die Bourgeoisie im Westen, Washington eingeschlossen, den Mythos der "rein polnischen Angelegenheiten" lanciert. Erst nachdem klar wurde, daß die Arbeiter im Westen nicht in der Lage waren, eine wirkliche Solidarität gegenüber ihren Klassenbrüdern in Polen zum Ausdruck zu bringen, daß die Solidaritätsgefühle der Arbeiter da, wo sie auftauchten, von den Linken und den Gewerkschaften angemessen kanalisiert wurden, erst dann konnte sich die westliche Bourgeoisie, sich in Sicherheit vor der Front des Klassenkampfes wähnend, den Luxus leisten, die Repression, die sie selbst mit vorbereitet hatte, für ihre Propaganda gegen den russischen Block zu nutzen.
Wenn es noch eines Beweises für die Komplizenschsaft zwischen den Großmächten bei der Repression der Arbeiter in Polen bedarf, so nehme man nur die Erklärung von M. Doumeng, Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und Bonze in einem großen französischen Unternehmen, in der Wochenzeitschrift PARIS-MATCH (1. Januar 1982) zur Kenntnis. Auf die Frage: "Was den Militärputsch in Polen angeht, glauben Sie, daß die Sowjetunion und die USA sich vorher abgesprochen haben?"; antwortete Doumeng offen: "Was mir auffällt, ist, daß alle beide daran interessiert sind, die Ordnung in Polen wiederherzustellen. Vor drei Wochen war ich in Polen. Dort habe ich einen sehr mächtigen amerikanischen Geschäftsmann getroffen. Er war dort, um der polnischen Regierung zu erklären, daß er bereit wäre, ihr eine Milliarde Dollar zu leihen - unter einer Bedingung: Die Ordnung muß in Polen wiederhergestellt werden". Dieses Individuum sagt nicht solche Dinge, nur weil es Mitglied der KPF ist; die gleichen Töne konnte man am Tag nach der Verhängung des Kriegsrechts im WALL STREET JOURNAL vernehmen.
Doch was beide nicht einräumen, ist, daß die Solidarität zwischen Ost und West sich nicht auf den finanziellen Bereich beschränkt. In letzter Instanz ist die Bourgeoisie bereit, den wirtschaftlichen Zusammenbruch Polens abzuschreiben. Worauf es ihr vor allem ankam, war, ein Proletariat, das ein zu "schlechtes Beispiel" für die Proletarier in den anderen Länder war, zum Schweigen zu bringen - und dies zu tun, ehe andere Arbeiter dieses Beispiel unter dem Druck des wachsenden Elends aufgreifen.
Dies ist der zweite Kernpunkt, der für die Arbeiterklasse klar sein muß: Die bürgerliche Repression in Polen war nur möglich, weil das Proletariat in diesem Land isoliert geblieben ist (siehe Artikel dazu in der INTERNATIONALEN REVUE und WELTREVOLUTION).
Insbesondere diese Isolierung ermöglichte es Solidarnosc, die Arbeiterklasse in Polen zu schwächen und den Einfluß ihrer demokratischen, gewerkschaftlichen, nationalistischen und Selbstverwaltungs-Mystifikationen zu erleichtern.
Heute wird in Polen auf tragische Weise die Notwendigkeit deutlich, daß das Proletariat seine Kämpfe weltweit ausdehnen muß. Wenn es diese Lehre nicht versteht, wenn es sich durch die falschen "Solidaritäts"-Kampagnen, die von den linken Fraktionen der Bourgeoisie orchestriert werden, umdrehen läßt, wenn es nicht versteht, daß die einzig wahre Solidarität im gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung und Misere besteht, dann wird es noch weitere, schlimmere Repressionen und am Ende einen imperialistischen Holocaust geben.
FM
(4. Januar 1982)