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Schülerproteste – Die Jugend meldet sich zurück
Am Mittwoch, den 12. November, gingen 120.000 SchülerInnen in Berlin, Köln, Hannover, München, Trier und in zahlreichen anderen Städten Deutschlands auf die Straße. Sie protestierten gegen das sog. Turboabitur (1), gegen den massiven Unterrichtsausfall, den Lehrermangel etc. - kurzum: gegen die unhaltbaren Zustände an den Schulen. Ihre Proteste straften den Sonntagsreden der Politiker Lügen, die in jüngster Zeit vermehrt - Stichpunkt: Pisa - wieder das Lied von der Bildung als "höchstes Gut" singen, "Bildungsoffensiven" am laufenden Meter ankündigen und sich telegen mit SchülerInnen ins Bild setzen. Diese SchülerInnen bewiesen dabei die besten Tugenden, die gerade die junge Generation auszeichnet: radikal in der Kritik, respektlos gegenüber den "heiligen" Institutionen der Herrschenden, unerschrocken in ihrem Vorgehen.
Man mag gegen diese Proteste einwenden, was man will. Man mag darüber höhnen, dass bei vielen Demonstranten die Partystimmung überwog, oder bedauern, dass der Funke nur vereinzelt auf LehrerInnen und Studenten übersprang. Man mag sich auch darüber mokieren, dass dieser Bewegung eine eigene Organisation fehlt, dass die Proteste von offiziösen und halboffiziösen Schülervertretungen sowie von "privaten" Initiativen ("Bildungsblockaden brechen") organisiert wurden. Doch all die Krittelei wird der Bedeutung dieser Proteste nicht gerecht, die mehr als nur eine Randnotiz im Klassenkampf sind.
Diese Proteste reihen sich nahtlos ein in den Kampf der Arbeiterklasse im allgemeinen, aber besonders in der internationalen Bewegung der Schüler und Studenten, die in der Protestbewegung der französischen Schüler und Studenten gegen die CPE im Frühjahr 2006 ihren Ausgang genommen hatte. Frankreich und Chile 2006, Italien, Spanien im Herbst 2008 und nun Deutschland - überall meldet sich die junge Generation der Arbeiterklasse zurück im Kampf gegen die Verschlechterung der Lebens-, Arbeits- und Lernbedingungen, ja stellt sie sich an die vorderste Front des Kampfes der Arbeiterklasse.
Was auffällt, ist, dass in all diesen Bewegungen die Schüler und Schülerinnen eine besonders aktive Rolle gespielt haben. In Deutschland waren die SchülerInnen sogar in die Vorreiterrolle geschlüpft. Sie waren die treibende Kraft hinter den Protesten, und nicht die Studenten, unter denen sich mehrheitlich Passivität breitgemacht hat, nachdem sie sich im Zuge der Proteste gegen die Einführung von Studiengebühren in den vergangenen Jahren, unter der Regie linksbürgerlicher Gruppierungen, in Aktionismus und Boykottaufrufen verzettelt hatten.
Auffallend ist ferner, mit welch grimmiger Entschlossenheit die protestierenden SchülerInnen zum Teil ihre Wut kundtaten. Zwei Episoden während der Proteste belegen dies in beeindruckender Weise. In Berlin drangen Tausend SchülerInnen in die altehrwürdige Humboldt-Universität ein und besetzten das Hauptgebäude für einige Minuten. Dabei hatten einige von ihnen noch soviel Zeit, um Transparente aus den Fenstern des Gebäudes zu hängen, auf denen Slogans wie "Der Kapitalismus ist die Krise" zu lesen waren.
Noch viel Spektakuläreres ereignete sich in Hannover. Dort drangen protestierende SchülerInnen in die sog. Bannmeile des niedersächsischen Landtages ein. Doch nicht nur das. Die SchülerInnen erdreisteten sich sogar, das "heilige Haus der Demokratie" zu belagern, ja zu versuchen, den Landtag zu besetzen. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit der uniformierten Staatsmacht, in deren Verlauf einige der SchülerInnen unliebsame Bekanntschaft mit den repressiven Mitteln dieses Staates machten.
Um die ganze Tragweite dieses Vorfalls zu ermessen, denke man sich anstelle der SchülerInnen streikende VW-ArbeiterInnen in der Rolle der Landtagsbesetzer, und schon wird die ganze Brisanz dieses Vorgangs deutlich. In der Tat hat es in der Geschichte der Bundesrepublik unserer Kenntnis nach bislang noch keinen derartigen Versuch durch die Arbeiterklasse gegeben. Und so war es den Hannoveraner SchülerInnen - als künftige ArbeiterInnen Teil der Arbeiterklasse in Deutschland - vorbehalten, als erste überhaupt das Parlament als das Herrschaftssymbol des westlichen Kapitalismus direkt zu attackieren, ohne einen überflüssigen Gedanken daran zu verschwenden, welch einen unerhörten Tabubruch sie in den Augen der Herrschenden damit begingen. Hut ab!
Tatsächlich unterscheiden sich die aktuellen Schüler- und Studentenbewegungen weltweit von ihren Vorgängern in den 1960er und 1970er Jahren in ihrer um sich greifenden Illusionslosigkeit gegenüber den bürgerlichen Mystifikationen, in ihrer Nüchternheit gegenüber dem System und seinen Perspektiven. Heute geht es nicht mehr um eigene Schülervertretungen, sondern ums Eingemachte, um handfeste, materielle Forderungen, die der Kapitalismus immer weniger zu erfüllen imstande ist. Das fortgeschrittene Stadium der Krise prägt der heutigen Schüler- und Studentenbewegung einen viel radikaleren Stempel auf, als dies in den 1960er und 1970er Jahren der Fall gewesen war.
Die aktuellen Jugendbewegungen unterscheiden sich allerdings auch von der "No-Future"-Generation der 80er Jahre. Allein die Tatsache, dass sich die heutige junge Generation immer häufiger kollektiv zur Wehr setzt, dass sie konkrete Forderungen formuliert, deutet auf alles andere als auf Resignation hin. Denn wer kämpft, hat die Hoffnung auf eine Zukunft noch nicht verloren...
26.11.08
(1) Gemeint ist die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe von dreizehn auf zwölf Jahre ohne entsprechende Ausdünnung des alten Unterrichtsstoffes.