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In der Nacht zum Mittwoch, den 09. September, brannte auf Lesbos das Flüchtlingslager Moria nieder. Nahezu 13.000 Flüchtlinge, davon ca. ein Drittel Minderjährige, und ca. die Hälfte Kinder unter zwölf Jahren mussten vor den Flammen flüchten – nunmehr der Natur ausgesetzt und sich völlig selbst überlassen.
In dem Flüchtlingslager, das für weniger als 2.900 Lagerinsassen konzipiert war, waren ca. 13.000 Flüchtlinge eingepfercht. Als die Nachricht von der Corona-Infizierung einiger Insassen die Runde machte und eine Quarantäne von den Behörden angeordnet wurde, brach kurz danach das Feuer aus. Die Behörden beschuldigten Quarantäne-Unwillige aus den Reihen der Flüchtlinge das Feuer gelegt zu haben.
Die Politiker sprechen von einer humanitären Katastrophe, die sie aber in Wirklichkeit selbst herbeigeführt haben.
Tatsache ist: seit Jahren betreibt die EU eine Flüchtlingspolitik der abgeschotteten Grenzen, der Blockade der Balkanroute, des Einsperrens von Flüchtlingen in Lagern, der Rückführung von illegal aufgegriffenen Flüchtlingen, der Abschreckung von Bootsflüchtlingen am Mittelmeer durch die Nichtaufnahme oder verzögerte Aufnahme von aus dem Meer geretteten Flüchtlingen usw.
Diese Politik des Mauerbaus, der Abschottung und Abschiebungen ist nicht beschränkt auf die EU, sie wird von den USA ebenso betrieben – lange bevor Trump seinen „Beautiful wall“ versprach – wie von unzähligen anderen Ländern.
Offiziellen Zahlen zufolge irren 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht umher – verzweifelt auf der Suche nach einer Bleibe und einer Zukunft.
Mittlerweile sind die permanenten Mega-Flüchtlingslager der Rohingya in Bangladesch, der somalischen Flüchtlinge in Kenia (Dada ab), im Sudan, in Libyen, oder die kleineren Lager z.B. an der französischen Küste gegenüber England usw. zur Alltagsrealität geworden – zusätzlich zu den unzähligen Menschen, die wegen des zunehmenden Chaos wie in Venezuela oder der Umweltzerstörung und der Ökokatastrophe die Flucht angetreten haben und zum rasanten Anwachsen der Slums in den Millionenmetropolen Afrikas, Südamerikas und Asiens beitragen.
Flüchtlingslager und Slums in den Metropolen sind zwei Gesichter des Versinkens des Kapitalismus in einer Spirale der Zerstörung, Kriege und Barbarei. Hinzu kommt, dass blanke Terrorherrschaft (z.B. gegen Uiguren, Kurden usw.) und Pogrome in vielen Gebieten das Leben immer mehr Menschen zur Hölle werden lässt.
Nur ein kleiner Teil hat es bis an die Küsten des Mittelmeers oder an die Grenzen der USA geschafft, wo auf sie eine Möglichkeit hoffen, in die Industrieländer unter Einsatz ihres Lebens zu gelangen.
Aber die Herrschenden haben die Grenzen dicht gemacht. Vorbei die Zeit, wo man massenhaft Arbeitskräfte brauchte und deshalb zum Beispiel Sklaven in Afrika raubte und sie auf Plantagen in den USA grenzenlos ausbeuten konnte; vorbei die Zeit, als man wie in den 1950er und 1960er Jahren für billige Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum Prämien zahlte. Heute ächzt die Weltwirtschaft unter der Wirtschaftskrise – und nicht erst seitdem sich mit der Corona-Pandemie nochmal alles dramatisch verschlechtert hat. Heute werden hauptsächlich gut ausgebildete Arbeitskräfte selektiv rekrutiert… Der Rest soll verrecken.
Der Kapitalismus kann diesem Millionenheer Verzweifelter nichts bieten
Weil die Kombination verschiedener Faktoren (Krieg, Umweltzerstörung, Wirtschaftskrise, Repression, Katastrophen aller Art) immer mehr Menschen in die Flucht treibt und sich ein beträchtlicher Teil davon in Richtung Industriezentren auf den Weg machen wird, soll eine möglichst große Abschreckung aufgebaut werden. Über diese gewollte, unter den EU-Staaten abgestimmte Politik berichtete am 10.09. der deutsche Regierungsberater Gerald Knaus vom European Stability Initiative im Deutschlandfunk: „Der griechische Flüchtlingsminister Notis Mitarakis sagt, die Menschen sollen in Moria oder auf Lesbos bleiben. Das Lager ist abgebrannt, die Menschen haben keine Unterkunft, sie sitzen auf der Straße, das ist der totale Kontrollverlust. (...) Und trotzdem fordert die griechische Regierung nicht Unterstützung von außen. Warum? – Die Antwort ist offensichtlich. Diese schlechten Bedingungen sind gewollt. Das ist eine Politik der Abschreckung. Auf der Insel sind die Spannungen enorm. Griechische Nationalisten haben Hilfsorganisationen angegriffen. Es gibt radikale Gruppen, die auch Asylbewerber angreifen. (…) Hier schnell Leute wegzubringen, ist im Interesse der Insel, im Interesse der Migranten. Warum hält man sie dort fest, wo man doch weiß (...) niemand von diesen Menschen wird in die Türkei zurückgeschickt. (...) Es gibt aufgrund der Corona-Beschränkungen praktisch keine Abschiebungen mehr. (...) Das heißt, wir haben hier sehr, sehr viele Schutzbedürftige und sehr, sehr viele irreguläre Migranten (...) die festgehalten werden aus einem einzigen Grund: zur Abschreckung (…)“ Und mit der Schließung der Balkan-Route soll verhindert werden, „dass Leute Griechenland an der Nordgrenze verlassen, was nur dann einen Sinn ergibt, wenn man dann sagt, die Leute in Griechenland sollen dort so schlimme Zustände erleben, dass dann der Zustrom nach Griechenland, also in die EU abbricht“. Eine Folge: unerträgliche Zustände nicht nur in den Flüchtlingslagern, sondern auch für die Bewohner vor Ort, von denen sich dann Teile gewaltsam gegen die Flüchtlinge vorgehen. Die Flüchtlinge sehen sich dann Stacheldraht, bewaffneter Staatsmacht und gewaltbereiten nationalistischen Banden gegenüber!
Die gleiche Politik wird auch vor der Küste Italiens betrieben, wo im Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge solange wie möglich daran gehindert werden sollen, aufs europäische Festland zu gelangen.
Diese Abschreckungstaktik wird übrigens von deutschen und anderen europäischen Regierungsinstitutionen in Afrika und anderen Flüchtlingshochburgen potentiellen Flüchtlingen in den social media vor Augen geführt. Die Botschaft lautet: „Wir werden euch möglichst lange, möglichst brutal, möglichst unmenschlich wie Gefangene festhalten und euch elendig in noch schlimmeren Flüchtlingslagern als in Afrika und Asien verrecken lassen, umgeben von Stacheldrähten und Befestigungsanlagen; bleibt da, wo ihr seid, auch wenn ihr kein Zuhause mehr habt“. Dabei arbeitet man auch mit lokalen Milizen z.B. im Sudan zusammen, die die Flüchtlingsrouten nach Libyen versperren sollen.
Wenn Politiker in dieser Lage von „humanitärer Katastrophe sprechen“, vertuschen sie, dass diese Menschen in Wirklichkeit eine Geißel der Politik dieses Systems sind, das mit allen Mitteln von der herrschenden Klasse verteidigt wird.
Östliches Mittelmeer: Die weltweite Sackgasse des Kapitalismus in einer Region gebündelt
Das östliche Mittelmeer ist gleichzeitig ein Brennglas der zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus. Schon vor einem Jahrhundert bekämpften sich die Türkei und Griechenland in einem Krieg, in dem die ersten organisierten ethnischen Säuberungen durchgeführt wurden; nun stehen sich die beiden imperialistischen Rivalen erneut wegen des Streits um Gas- und Ölvorkommen in der Region gegenüber. Zusätzlich zu der Kriegsgefahr in der Region gefährdet der Kapitalismus die Menschen aber auch durch die Wirtschaftskrise und Explosionen wie die in Beirut, Faktoren, die noch mehr Menschen in die Flucht treiben werden.
Hinter den „schönen“ Worten der Herrschenden… Einsatz aller Mittel zur Verteidigung ihrer Macht
Das Infame an der Haltung der Herrschenden wird nicht dadurch abgeschwächt, wenn man vortäuscht ein wenig „Erbarmen“ mit den „Schwächeren“ unter den Flüchtlingen zu zeigen. Erst nachdem bestimmte Kräfte aus den eigenen Reihen der bürgerlichen Parteien, besorgt über den Ansehensverlust der westlichen Demokratien, Druck ausgeübt und Lokalverwaltungen die Bereitschaft zur Aufnahme eines begrenzten Kontingents gezeigt haben, wollen Frankreich und Deutschland 400 „unbegleitete“ Jugendliche einreisen lassen. Und nach nahezu einer Woche Verschleppungstaktik sollen dann doch z.B. nach Deutschland 1500 Kinder mit ihren Familien hereingelassen werden… Die restlichen 10.000 aus Moria und sollen in Griechenland schmachten. Dabei verstecken sich die Herrschenden hinter ihrer Angst vor den Populisten oder den aufnahme-unwilligen Staatschefs aus Ungarn, Polen, Niederlande, Österreich. Kein Land könne das Schicksal der Flüchtlinge alleine schultern – unter diesem Vorwand pocht man auf ein europäisch einheitliches Vorgehen.
Tatsächlich wollen sie keine neue Flüchtlingswelle wie 2015 anlocken und den Populisten keinen weiteren Zulauf ermöglichen. Die griechische Regierung sperrt die jetzt im Freien überlebenden Flüchtlinge lieber in neu errichteten Lagern ein, anstatt ihnen den Zutritt zum Festland zu gestatten, von wo Lagerinsassen dann weiter flüchten könnten. Die Herrschenden in der EU haben fleißig aus allen Lehrbüchern zur Errichtung von Lagern aus Guantanamo, Sibirien, Speziallagern der DDR oder Xinjiang gelernt. Flucht verhindern um jeden Preis, Abschreckung mit allen Mitteln mit immer größeren Menschenmassen! Ihr Handeln wird nicht geleitet vom Schutz der Elendigen, sondern ihrem Machterhalt. Und diese Herrschaft verteidigen sie mit allen Mitteln.
Sei es, indem sie die furchtbarsten Außengrenzen und Flüchtlingslager anlegen, oder mit „humanitären“ Mitteln und der Heuchelei der Demokratie. Während die Repression in Belarus, die Killerkommandos Putins oder die Gefangenenlager der Uiguren in Xinjiang von den Europäern angeprangert werden, arbeitet man selbst seit Jahren mit diesen Regimen bestens zusammen, auch wenn zeitweise die Kooperation – vor allem Rüstungsverträge - aufgeschoben oder gar aufgehoben werden.
Während in den USA die Demokraten und Republikaner mit Trump an ihrer Spitze die diktatorischen Methoden Chinas verurteilen, das in Hongkong vermummte Greiftrupps gegen Protestierende zum Einsatz bringt, schickt Washington die Nationalgarde und an ihrer Seite vermummte Greiftrupps der amerikanischen Polizei, die ebenso Protestierende in getarnten Autos verschleppen. Ob Lukaschenko in Belarus, Putin in Russland, Erdogan in der Türkei, Duterte auf den Philippinen, Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien, Xi Jinping in China, Trump in den USA usw. - sie alle verteidigen ihr System und ihre Macht gnadenlos und mit Mitteln, die oft genau die gleichen sind.
Humanitäre Lösungen sind nur Augenwischerei - Das Problem an der Wurzel packen!
Deshalb ist es vergeblich auf die Einsicht oder Erbarmen der Herrschenden zu zählen, und es ist bestenfalls eine gefährliche Illusion zu glauben, man könne die Probleme, vor denen uns der Kapitalismus stellt, mit humanitären Rettungsaktionen usw. ausrotten.
Die Forderung „No Borders, No Nation“ greift zwar eine richtige Sorge auf, kann aber nur durch einen revolutionären Kampf verwirklicht werden, indem alle Staaten abgeschafft werden. Deshalb reicht es nicht aus, Empörung über die barbarischen Verhältnisse zu zeigen. Der erste Schritt muss sein zu erkennen, woher das Übel kommt und dies dann beim Namen zu nennen. Erst dann können wir das Problem an der Wurzel packen, und das bedeutet, den Kapitalismus und seine Mechanismen anzugreifen.
Toubkal 15.09.2020