Dieser Bericht zur internationalen Lage versucht, die grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Perspektiven zu umreißen, denen das kapitalistische System im Laufe des kommenden Jahres weltweit entgegensieht. Anstelle einer detaillierten Analyse der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Konjunktur - und sei es nur der wichtigsten kapitalistischen Länder (diese Analysen werden heute regelmäßig in den Publikationen der verschiedenen territorialen Sektionen der IKS veröffentlicht) - werden wir uns auf die Darstellung der großen Linien, der grundsätzlichen Achsen beschränken, die den Kurs der kapitalistischen Wirtschaft im nächsten Jahr bestimmen sowie die politische Orientierung der verschiedenen nationalen Bourgeoisien und das Verhalten der zwei imperialistischen Blöcke gestalten werden. Wir hoffen, auf diese Weise eine kohärente Perspektive auszuarbeiten, die der Intervention der IKS in den bevorstehenden, immer entscheidender werdenden Klassenauseinandersetzungen als Anleitung dienen wird. Eine solche Perspektive wird eines der Elemente sein, die die Garantie dafür sind, dass die IKS zu einem aktiven Faktor in der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins werden kann, ein lebenswichtiges Element des proletarischen Sturmes, der den kapitalistischen Staat in der ganzen Welt entwurzeln und zerstören und den Übergang zum Kommunismus einleiten wird.
Trotz der triumphierenden Proklamationen des "Aufschwungs", mit denen die bürgerlichen Politiker und Staatsmänner während der letzten zwei Jahre versucht haben, eine immer hungrigere und verarmte Welt zu füttern, hat sich die kapitalistische Weltwirtschaftkrise unaufhörlich verschärft. In den Industrienationen des amerikanischen Blocks (OECD) ist das Wachstum sowohl des realen Bruttosozialprodukts als auch der Exporte seit Anfang 1977 zurückgegangen. Aber selbst diese wenig zuversichtlichen Statistiken sind weit davon entfernt, Aufschluss über die katastrophale Lage zu geben, in der sich die ökonomisch schwächsten Länder Europas, wie Großbritannien, Italien, Spanien und Portugal, jetzt befinden. Die Quasi-Stagnation der Bruttosozialprodukte, der Zusammenbruch der Investitionen in neue Branchen und gewaltige Handels- und Zahlungsbilanzdefizite haben zu einer beträchtlichen Abwertung ihrer Währungen, zu einem drastischen Sinken ihrer Devisenreserven und zur Zunahme der Außenverschuldung geführt. Dies führte zu einer Hyperinflation (GB: l6-17%, Italien: 21%, Spanien: 30%, Portugal: über 30%) und massiver Arbeitslosigkeit (GB: 1,5 Mio.; Italien: l,5 Mio.; Spanien: 1 Mio.; Portugal: 0,5 Mio. - alles offizielle Zahlen). Alle vier Länder sind regelrecht bankrott und können sich allein durch Kredite und Anleihen, die letztlich vom guten Willen der USA abhängen, über Wasser halten. Die Bourgeoisien dieser "kranken Männer" Europas reden nicht einmal mehr von "Aufschwung" oder "Wachstum"; ihr neues Losungswort ist "Stabilisierung", eine Beschönigung der drakonischen Maßnahmen, der Deflation und Inflation, zu denen ihre wirtschaftliche Schwäche und das Diktat ihrer Gläubiger sie verurteilen. Außerdem reihen sich jetzt in die Gruppe der "kranken Männer“ Frankreich, Belgien, Dänemark, Schweden und Kanada ein, Länder, deren wirtschaftliche Stärke vor einigen Jahren in bürgerlichen Kreisen außer Frage stand, die aber nun schnell im Sumpf der schwer zu kontrollierenden Handels- und Zahlungsbilanzdefizite, der Abwertungen, der zunehmenden Verschuldung, der Hyperinflation und der in die Höhe schnellenden Arbeitslosenzahlen, von denen ihre schwächeren Nachbarn bereits betroffen sind, versinken. Blickt man auf die Wirtschaftsgiganten des amerikanischen Blocks - die Vereinigten Staaten, Westdeutschland und Japan -, werden sofort ihre extreme Zerbrechlichkeit und damit die düsteren Aussichten selbst für diese anscheinend starken Ökonomien deutlich. Die scheinbare Gesundheit Deutschlands und Japans - mit ihren dicken Handelsüberschüssen und ihren soliden Währungen - beruht fast ausschließlich auf massiven Exportanstrengungen und systematischem Dumping. Die USA indes haben von einer Reihe inflationistischer Maßnahmen profitiert, deren Wirkung jetzt ihr Ende erreicht hat, sowie von der Tatsache, dass ihr Handelsdefizit weitgehend von riesigen, nicht aus kommerziellen Abwicklungen herrührenden Einnahmen (Zinszahlungen, Profite aus Auslandsinvestitionen, Kapitaltransfer, usw.), die dem führenden Land eines imperialistischen Blocks zufließen, ausgeglichen worden ist. Tatsächlich haben die USA, Westdeutschland und Japan trotz ihrer Beteuerungen, keine „Schwarze Peter-Politik" zu verfolgen, genau dies getan. Sie haben den Anschein wirtschaftlicher Gesundheit allein deshalb bewahren können, weil sie die schwerwiegendsten Auswirkungen der Krise auf die schwächeren Nachbarn abgewälzt haben. Angesichts des alarmierenden Rückgangs der Investitionen wie auch der extremen Maßnahmen, die von den Ländern defizitärer Handelsbilanz getroffen werden, um ihre Importe zu beschneiden, werden jedoch die Aussichten für die USA, Westdeutschland und Japan, ihre für 1977 vorgesehenen Wachstumsraten zu erreichen (USA: 5,8%; Westdeutschland: 5%; Japan: 6,7%) und auf diese Weise ihre bereits gefährlich hohe Arbeitslosigkeit (USA: 6,7 Mio.; Westdeutschland: 1,4 Mio.; Japan: 1,4 Mio.) zu senken, immer fraglicher - ganz zu schweigen davon, dass sie ihren schwächeren "Partnern" eine "Ankurbelungsspritze" zukommen lassen könnten. Keiner der drei Großen wird den Druck durch künftige inflationistische Haushalte zu mildern suchen, da ihnen das Gespenst der galoppierenden Inflation im Nacken sitzt, die bereits auf zweistellige Raten zusteuert (USA: 6,4%; Japan: 9,4%).
Im russischen Block (COMECON) müssen jetzt sogar die staatlichen Planungsbüros zugeben, dass Arbeitslosigkeit und Inflation existieren und im Steigen begriffen sind - als völlig offensichtliche Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer permanenten Krise. Die wirtschaftlichen Aktivitäten des russischen Blocks sind während der letzten Jahre mit Anleihen westlicher Banken in Höhe von 35-40 Milliarden Dollar angeheizt worden (ein Aspekt der "Kreditexplosion", mit der der amerikanische Block einen vergeblichen Versuch unternommen hatte, der Sättigung des Weltmarkts entgegenzuwirken). Der russische Block hat sich jetzt in einen gewaltigen Exportwettbewerb gestürzt und auf hektische Suche nach Märkten begeben, von deren Resultat die Rückzahlung seiner riesigen Anleihen anhängt. Aber diese massive Exportoffensive wird nicht nur zu einem Zeitpunkt gestartet, an dem die Länder des amerikanischem Blocks die Importe aufs Äußerste beschneiden wollen und die Länder der Dritten Welt am Rande des Bankrotts sind. Sie wird auch deshalb kein gutes Ende nehmen, weil der Erlangung zusätzlicher Anleihen Grenzen gesetzt sind (sowohl aus politischen als auch aus finanziellen Erwägungen); ohne diese Kredite kann der russische Block aber nicht die neuen Technologien erwerben, die - zusammen mit den geplanten Angriffen auf die Arbeiterklasse - seine Waren konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt machen könnten. Somit befindet sich der russische Block - nachdem es zwischen 1971 und 1976 zu einer Steigerung des Handels und Austausches mit dem amerikanischen Block gekommen war - in einer ökonomischen Sackgasse.
Selbst unter Einbeziehung ihrer Industriemächte wie Südafrika, Brasilien, Mexiko, Argentinien usw. versinkt die Dritte Welt mit jedem Tag immer tiefer in einer wachsenden Barbarei. Die alptraumhafte Welt des Hungers, der Krankheiten, der Arbeitslager und Bettelei, in der der dekadente Kapitalismus einen bedeutenden Teil der Menschheit zu leben verdammt hat, ist bereits in vielen Ländern Wirklichkeit geworden; zwei Drittel der Weltbevölkerung sind von ihr betroffen. Die 1974-76 der Dritten Welt gewährten Darlehen haben so gut wie nichts dazu beigetragen, den sich rapide auf den totalen Zusammenbruch zubewegenden Verfall dieser Wirtschaften auch nur zu verlangsamen (obwohl hiermit ein zeitlich begrenzter Ersatz für den Mangel an effektiver Nachfrage geschaffen wurde, der den Industrieapparat der Welt immer mehr zu Untätigkeit verdammte). Da die Dritte Welt vollkommen bankrott ist, werden alle ihr zusätzlich gewährten Mittel - wesentlich geringeren Umfangs – allein dazu dienen, die Rückzahlung bereits gewährter Darlehen zu ermöglichen und damit den westlichen Großbanken den Konkurs zu ersparen. Die brutale Sparpolitik, die die Regimes der Dritten Welt - ob sie sich nun „sozialistisch“ oder „demokratisch“, „marxistisch-leninistisch“ oder „nationalistisch“ nennen - durchzusetzen im Begriff sind und die eine verzweifelte Anstrengung darstellt, die unbeschreiblich hohen Handelsbilanzdefizite zu verringern (22 Milliarden Dollar im Jahr für die rohstoffarmen Länder allein mit den OECD-Ländern!), die auf der Abhängigkeit dieser Länder von Rohstoffen und von Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse beruhen, wird für Millionen von Menschen das Todesurteil bedeuten.
Wir werden besser verstehen können, warum die Perspektive, der sich das Kapital heute gegenübersieht, in einem unvermeidlichen Rückgang von Produktion und Handel besteht, wenn wir die Natur, Grundlagen und Grenzen des im Winter 1975-76 eingetretenen Produktions- und Handelsaufschwungs betrachten, der auf die außergewöhnlich schwere Baisse von 1975 und die Ankurbelung der Produktion (jedoch nicht des Handels) im Laufe des letzten Winters - nach einem sehr ruhigen Sommer - folgte. Die Rezession von 1975 ist vor allem durch die hastig ausgedachten konjunkturbelebenden Etats und eine erneute massive Kreditexplosion, die Schaffung von fiktivem Kapital, gestoppt worden, womit abermals kurzzeitig der Übersättigung der Märkte entgegengewirkt wurde, der die Todeskrise des Kapitalismus zugrunde liegt. Diesen beiden Faktoren muss sowohl die befristete Finanzspritze, die im Wiederauffüllen der Lager bestand, deren Bestände mit dem Tiefstand der Produktion gefallen waren, als auch die abnehmenden Ersparnisse des Mittelstandes hinzugefügt werden, die zu einem Mini-Boom auf dem Gebiet der langfristigen Konsumgüter führten (Autos usw.), der weniger auf eine etwaige Zuversicht auf den Aufschwung als auf die feste Überzeugung zurückging, dass die Inflation von Dauer sei. Die beiden letzten Faktoren haben die OECD-Länder zu einer Wachstumsrate des realen Bruttosozialprodukte in Höhe von 7 bis 8% im Laufe des Winters 1975-76 verholfen, wohingegen der auf viel schwächeren Füßen stehende Aufschwung dieses Winters lediglich von der Kreditexplosion und den von den Regierungen gewährten Steuererleichterungen getragen wird.
Heute treten die Schranken einer fortgesetzten Kreditexplosion sowohl durch die immer bedrohlichere Zahlungsunfähigkeit der größten Kreditnehmer wie Zaire, Peru, Mexiko und Brasilien, als auch durch die gewaltigen Handelsbilanzdefizite deutlich hervor, die auf der Dritten Welt, dem russischen Block und den schwächeren Ländern des amerikanischen Blocks lasten. Die Kreditquellen versiegen in dem Maße, wie die Fähigkeit der Schuldnerländer ihre äußerste Grenze erreicht. Die neuen Kredite für die Länder der Dritten Welt - zögernd vom Internationalen Währungsfond (IWF) und nicht von den überforderten „Privatbanken" gewährt - dienen der Rückzahlung früherer Kredite und ihrer Zinsen und nicht der Fortsetzung des Warenflusses. Mehr noch, solche Anleihen werden an der Bedingung strikter Kontrollen der Volkswirtschaften der Schuldnerländer und an der Voraussetzung geknüpft, dass Letztere ihre Zahlungsbilanzdefizite durch drastische Verminderung ihrer Importe verringern oder ausgleichen. Zu diesem beträchtlichen Druck, der den Weltmarkt weiter schrumpfen lässt, kommen die finanzpolitischen Beschränkungen für eine neue Runde von Krediten an den russischen Block, ohne die jedoch der Handel zwischen den beiden Blöcken versiegen würde. Die Länder des amerikanischen Blocks, deren Handelsbilanz defizitär ist, sind letzten Endes durch ihre steigende Verschuldung und ihre Zahlungsbilanzdefizite an den Rand des Bankrotts getrieben worden. Da sie die Grenzen ihrer Kreditwürdigkeit erreicht haben und vom Zusammenbruch bedroht sind, müssen sich diese Länder entweder für den Protektionismus und die Autarkie entscheiden oder aber die Kontrolle und Disziplinierung durch den IWF akzeptieren – beides läuft auf eine strenge Beschränkung der Importe und ein weiteres Zusammenschrumpfen des Weltmarkts hinaus.
Der Rückgang des Welthandels kann nicht durch eine starke Steigerung der Nachfrage in den industriellen Zentren des Kapitalismus kompensiert werden. Die Hindernisse, die einer Fortsetzung (ohne überhaupt eine Steigerung in Betracht zu ziehen) der Politik der fiskalen Anreize entgegenstehen, welche praktisch die einzige Grundlage für die Anhebung der Nachfrage in den Industrieländern des amerikanischen Blocks gewesen ist, schließen die Durchführung irgendwelcher ehrgeizigen Konjunkturprogramme sowie die Aufstellung inflationärer Haushalte oder die Praktizierung einer Politik aus, die eine erneute Steigerung der Industrieproduktion anstrebt. In diesen von der Hyperinflation zerrütteten Ländern werden, sofern es die politischen Bedingungen zulassen (siehe den Stand des Klassenkampfs), die Beschneidung der öffentlichen Ausgaben, die Kreditrestriktion, mit anderen Worten: eine deflationistische Politik von Nöten sein. In den "starken Volkswirtschaften" (USA, BRD, Japan) schreckt die Bourgeoisie davor zurück, die Konjunktur anzukurbeln, weil sie fürchtet, damit der Hyperinflation freien Lauf zu lassen, die zurzeit von den Sparmaßnahmen gezügelt wird.
Wenn die fiskalen Anreize der Regierungen nicht länger wie bisher dazu benutzt werden können, um den Rückgang der Produktion zu verhindern, wird der Sturz in die Talsohle aufgrund der beunruhigenden Abnahme der Neuinvestitionen in der Industrie verheerende Folgen haben. Die Weigerung der Bourgeoisie zu investieren geht mit einem außerordentlichen, fortgesetzten Fall der Profitrate einher, seit das Weltkapital um 1967 wieder in eine offene Krise eingetreten ist. Dieses Phänomen kann anhand der Lage des westdeutschen Kapitals (das die ersten Angriffe der offenen Krise bestimmt besser abgewehrt hat) veranschaulicht werden, dessen Durchschnittsprofitrate sich vor 1960-67 auf 6%, von 1967-71 auf 5,3% und von 1972-75 auf 4,1 % belief. Der Fall der Profitrate ist infolge der wachsenden unproduktiven Ausgaben des kapitalistischen Staates in dem Maße beschleunigt worden, wie dieser den Folgen der Sättigung des Weltmarktes entgegenwirkt, und hat die Investitionen (besonders in der Abteilung I, der Produktion der Produktionsmittel) derartig heruntergeschraubt, dass ein Zusammenbruch der Produktion drohend am Horizont erscheint.
Das Versagen der verschiedenen Versuche der Regierungen, einen Anreiz für die Wirtschaft zu schaffen und der Folgen der Krise durch einander abwechselnde "Konjunktur" - und Sparprogramme Herr zu werden; das Fortbestehen der galoppierenden Inflation in Verein mit der Rezession, der Kreditexplosion zusammen mit einem verheerenden Rückgang der Investitionen, der sinkenden Profitraten begleitet von einem nie gekannten Ausmaß "öffentlicher" Ausgaben, der massiven Arbeitslosigkeit zusammen mit riesigen Haushaltsdefiziten - dies alles beweist den völligen Bankrott des Keynesianismus, des Vertrauens auf die fiskale und monetäre Politik, die der Eckpfeiler der bürgerlichen Wirtschaftspolitik seit dem erneuten Auftreten der Krise seit 1967 gewesen war. Die Unmöglichkeit, der Wirtschaft Anreize zu bieten, ohne die Hyperinflation wieder in Gang zu setzen, die Unmöglichkeit, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, ohne ein Schwindel erregenden Fall der Produktion und der Profitrate hervorzurufen, die sich ständig verkürzenden Pendelbewegungen zwischen Rezession und Inflation haben die ökonomischen Theorien (sic!) zerschmettert, auf welche die Bourgeoisie ihre Politik gegründet hatte. Die Unwirksamkeit der Steuer- und Währungspolitik der Regierungen angesichts eines erneuten Rückgangs des Welthandels und der Produktion zwingen der Bourgeoisie eine neue Wirtschaftspolitik auf, um ihrer Todeskrise entgegenzutreten.
Die Bourgeoisie muss dem Zusammenbruch der keynesianistischen Politik zu entgehen versuchen, indem sie auf eine immer totalitäre und direkte Kontrolle der gesamten Wirtschaft durch den Staat zurückgreift. Auch wenn bedeutende Fraktionen der Bourgeoisie noch nicht einsehen wollen, dass der Keynesianismus überholt ist, so steht dennoch für ihre intelligenteren Vertreter außer Zweifel, worin die Alternative besteht. Die führenden Sprecher der bedeutendsten Finanz- und Industriegruppen drücken sich wie folgt aus: "Wenn die Steuer- und Währungspolitik das Gleichgewicht der Wirtschaft wiederherstellen können, wird uns dies genügen. Wenn die Pläne jedoch scheitern, müssen sich Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer auf eine staatliche Intervention von nie gekanntem Ausmaß gefasst machen". (Business Week vom 4.5.1977)
Die Revolutionäre bedürfen einer absoluten Klarheit sowohl darüber, worin das Wesen der Schritte besteht, zu denen die permanente Krise des Kapitalismus alle nationalen Fraktionen der Bourgeoisie zwingt, als auch über die Tendenz zum Staatskapitalismus, einer neuen Phase, in der unserer Klasse Folgendes bevorsteht : "Der Staatskapitalismus ist kein Versuch zur Lösung der grundsätzlichen Widersprüche des Kapitalismus als Ausbeutungssystem der Arbeitskraft, sondern der Ausdruck dieser Widersprüche. Jede kapitalistische Interessengruppe versucht, die Auswirkungen der Krise des Systems auf den Nachbarn abzuwälzen, indem sie sich diesen als Markt und Ausbeutungsfeld aneignet. Der Staatskapitalismus ist aus der für diese Gruppe bestehenden Notwendigkeit entstanden, ihre Konzentration fortzusetzen und sich auswärtige Märkte zu unterwerfen. Die Wirtschaft wird also zur Kriegswirtschaft“ (aus "Die Entwicklung des Kapitalismus und die neue Perspektive", Internationalisme, 1952, wiederveröffentlicht in BULLETIN D`ETUDES ET DE DISCUSSION Nr. 8, von Revolution Internationale, Seite 8-9).
Die auf den Trümmern des Keynesianismus sprießende Kriegswirtschaft stellt keinesfalls einen Ausweg aus der weltweiten Krise dar, sie ist weder eine Wirtschaftspolitik, die die Widersprüche des Kapitalismus auflösen kann, noch kann sie die Grundlage für eine kapitalistische Entwicklung auf höherer Stufe schaffen. Die Kriegswirtschaft kann nur im Zusammenhang mit der Unvermeidlichkeit eines neuen Weltkriegs begriffen werden, falls das Proletariat der Herrschaft der Bourgeoisie kein Ende bereitet; sie ist der notwendige Rahmen für die von der Bourgeoisie getroffenen Vorbereitungen der Feuerbrunst, die ihr von den blindwirkenden Gesetzen des Kapitalismus und der unaufhörlichen Verschärfung der Krise aufgezwungen werden. Die alleinige Funktion der Kriegswirtschaft ist…der Krieg! Ihre Daseinsberechtigung besteht in der systematischen, effektiven Zerstörung der Produktionsmittel und in der Produktion von Zerstörungsmitteln - die wahre Logik der kapitalistischen Barbarei.
Nur die Errichtung der Kriegswirtschaft kann jetzt noch verhindern, dass der kapitalistische Produktionsapparat zum Erliegen kommt. Um jedoch eine ausgewachsene Kriegswirtschaft errichten zu können, muss jede nationale Fraktion des Kapitals:
Die enorme Tragweite und Schwierigkeit eines derartigen Unterfangens ist die Ursache der wachsenden politischen Krise, in der jetzt die Bourgeoisie überall steckt. Die totalitäre Organisierung der Wirtschaft und deren Ausrichtung auf ein einziges Ziel führen häufig zu harten Fraktionskämpfen. Die Einschränkung des gesamten Konsums, die die Kriegswirtschaft erfordert, ruft ständige Unruhe und erbitterte Gegnerschaft innerhalb der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und der Bauernschaft hervor. Es ist jedoch der Angriff auf das Proletariat, der – weil er einen generalisierten Klassenkrieg auszulösen riskiert - nicht nur die allerschwierigste der Aufgaben ist, die die Bourgeoisie zurzeit zu lösen hat, sondern der Dreh- und Angelpunkt für die Durchsetzung der Kriegswirtschaft ist. Die Kriegswirtschaft steht und fällt mit der physischen und der ideologischen Unterwerfung des Proletariats durch den Staat, mit dem Grad der Kontrolle, die der Staat über die Arbeiterklasse ausübt.
Die Kriegswirtschaft wird in der gegenwärtigen Epoche nicht allein auf nationaler Ebene etabliert, sondern ebenfalls auf der Ebene eines imperialistischen Blocks. Die Eingliederung in einen der beiden imperialistischen Blöcke - die beide von einem riesigen Kontinentalstaat dominiert werden, den Vereinigten Staaten und Russland - ist eine Notwendigkeit, der nicht einmal die Bourgeoisien der ehemaligen imperialistischen Großmächte wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Japan entgehen können. Die gewaltigen Anstrengungen, die von den USA und Russland mit dem Ziel unternommen werden, das Kriegspotential ihrer Blöcke zu koordinieren, zu organisieren und zu leiten, verstärken die politische Krise der Bourgeoisien, indem einerseits der auf sie ausgeübte Druck, den Erfordernissen des Ausbaus des imperialistischen Blocks nachzukommen, und andererseits ihr Bedürfnis, die Interessen ihres nationalen Kapitals zu verteidigen, wachsende, unvermeidliche Spannungen hervorrufen.
Wir werden uns jetzt der Reihe nach die spezifischen Probleme, mit denen die Bourgeoisie in den USA, im amerikanischen und im russischen Block konfrontiert ist, sowie die von ihnen ergriffenen Maßnahmen anschauen, mit denen sie ihre Kriegswirtschaft organisieren, die dadurch hervorgerufenen verschiedenen Widerstandsformen überwinden und ihre politische Krise lösen wollen. Anschließend werden wir uns auf die in der ganzen Welt sich verschärfenden interimperialistischen Konflikte konzentrieren, die unaufhörlich, wenn auch nur allmählich die imperialistischen Blöcke in den Weltkrieg führen. Endlich werden wir die für die Intensivierung des proletarischen Kampfes bestehenden Perspektiven aufzeigen - ihre Hindernisse und die Tendenzen zum allgemeinen Klassenkrieg.
Die Vereinigten Staaten und der amerikanische Block
Während der ersten Monate seiner Präsidentschaft hat Jimmy Carter den orthodoxen Keynesianern seiner Administration einen harten Rüffel erteilt, indem er jeden ursprünglich inflationistischen Haushalt zu den Akten legte (durch die Streichung der vorgesehenen Steuernachlässe bei Neuinvestitionen legte Carter einen weniger umfangreichen Haushalt vor als der von seinem Vorgänger Gerald. Ford vorgeschlagene!). Auch wenn Carter und sein Team die Grenzen des Keynesianismus erkannt haben, haben sie noch lange nicht mit dem fiskalen Konservatismus und jener Währungspolitik gebrochen, die viele Republikaner noch als die einzige mögliche Antwort der Regierung auf die Krise und das Gespenst der galoppierenden Inflation betrachten. Die Carter-Administration hat die absolute Unwirksamkeit der Versuche eingesehen, gegen die Krise mit den Mitteln der Steuer- und Währungspolitik „ankurbelnd" oder restriktiv anzugehen, und beginnt, die Vereinigten Staaten in eine neue Phase der Kriegswirtschaft und des staatlichen Totalitarismus zu führen.
Der einzige Titel des amerikanischen Haushalts, der eine außerordentlich hohe Zuwachsrate zu verzeichnen hat, sind die Ausgaben für Forschung und Produktion im Rüstungsbereich. Der voraussichtliche "Sprung nach vorn" - abhängig von den SALT-Verhandlungen - für den MK12-Atomsprengkopf (den "Silo-Buster") und den B1-Bomber stellt nur den Beginn einer erneuten Rüstungsexplosion dar, die zunehmend zum Hauptgegenstand der wirtschaftlichen Aktivitäten wird. Dazu kommt, dass die jüngsten Initiativen der Carter-Administration in Richtung auf eine stärkere Unterordnung der Waffenexporte unter die strategischen Interessen Amerikas und auf eine Einschränkung der Verbreitung von nuklearer Technologie - die für die Bombenherstellung nutzbares Plutonium produziert - nicht auf eine Begrenzung der Rüstung hinauslaufen, sondern eher Teil einer globaler Politik zur Konsolidierung des amerikanischen Blocks unter Vorherrschaft der Vereinigten Staaten sind, die die Rüstung und deren Entwicklung allein der Kontrolle, dem Willen und den Zielen des amerikanischen Imperialismus unterzuordnen sucht.
Die entschlossene Ausrichtung der Carter-Administration auf die Kriegswirtschaft und ihre zunehmende Tendenz zum Staatskapitalismus kommen auf dem Gebiet ihrer Energiepolitik, ihrer Vorschläge zur Ausweitung der Warenvorräte und ihrer Schritte in Richtung auf eine Kartellisierung des Welthandels deutlich zum Ausdruck. Die Erfordernisse der Kriegswirtschaft haben die Regierung dazu bewegt, durch die Schaffung von staatlichen Behörden eine nationale Energiepolitik einzuführen und die Errichtung einer Superbehörde, der ein nationaler Energie-Zar vorsteht, vorzuschlagen. Der amerikanische Staat beabsichtigt, die Energiepreise, die verwendeten Energiearten und die den jeweiligen Regionen und den verschiedenen Produktions- und Konsumzweigen zugewiesenen Energiemengen zu diktieren. Das Beharren der Energiepolitiker auf Einsparung ist die Speerspitze der auf die Reduzierung des Konsums aller Klassen und Schichten (wenn auch vor allem der Arbeiterklasse) gerichteten Bestrebungen, jener brutalen Austerität, die die Grundlage der Kriegswirtschaft ist. Die Entwicklung neuer Energiequellen, die sowohl die "Unabhängigkeit" Amerikas auf dem Gebiet der Energie im Kriegsfall sichern als auch die völlige Abhängigkeit der anderen, dem Block angehörigen Länder herbeiführen sollen, werden durch die Verstaatlichung der Energieindustrie durchgesetzt. Die vollständige Verstaatlichung der Energie findet auf zweierlei Weise statt: Erstens besitzt der amerikanische Staat selbst den größten Teil der verbliebenen Energiequellen des Landes: "Die wertvollsten Öl- und Gasvorkommen befinden sich mittlerweile in den Offshore-Lagern innerhalb der Bundesgewässer. Die Kohleförderung verlagert sich in den Westen, wo die Regierung die meisten Montankonzessionen kontrolliert. Selbst das Uran der Nation befindet sich weitgehend in öffentlicher Hand." (Business Week vom April 1977)
Zweitens erfordert die Entwicklung der nuklearen Technologie und der Infrastruktur der Kohleverarbeitung eine staatliche Planung und staatliches Kapital, was selbst von den führenden Vertretern der amerikanischen Monopole anerkannt wird: „Die Entwicklung und der Einsatz derartiger Technologien im notwendigerweise großen Stil erfordert prinzipielle wirtschaftliche Korrekturen - z.B. höhere Heizölpreise und massive Kapitalrestrukturierungen. Allein die Regierung scheint in der Lage zu sein, solch ein riesiges Werk erfolgreich zu leiten." (Business Week a.a.O.)
Carters Mannschaft erwägt ebenfalls eine massive Ausdehnung der Warenlager der amerikanischen Regierung, indem den strategisch-militärischen Reserven, 93 verschiedene Waren im Werte von 76 Milliarden Dollar, "wirtschaftliche" Vorräte hinzugefügt werden. Die strategische Reserve dient zur Sicherung der Versorgung im Kriegsfall. Die Bildung von wichtigen Rohstoffreserven wird dem amerikanischen Staat ermöglichen, die Verbraucherpreise zu kontrollieren und auf ausländische Hersteller Druck auszuüben, um die Preise zu drücken, da er jederzeit die von ihm gelagerten Waren auf den Markt werfen kann.
Schließlich steht der amerikanische Staat an der Spitze der Bestrebungen zur Kartellisierung des Weltmarkts. Im Gegensatz zu den internationalen Kartellen, die den Weltmarkt in der Epoche des Monopolkapitalismus beherrschten und die von "privaten" Trusts gebildet wurden, ist ein neuer, der Epoche des Staatskapitalismus und der Kriegswirtschaft angepasster Kartelltyp im Entstehen begriffen. Die Kartelle, die nun gebildet werden, um die Preise wichtiger Rohstoffe zu regulieren und festzulegen sowie wichtige Märkte unter die verschiedenen nationalen Kapitale aufzuteilen, werden unmittelbar von den jeweiligen Staatsapparaten ausgehandelt und betrieben.
Zwei Kartelltypen werden von der Carter-Regierung gefördert. Der erste besteht in den Waren-Kartellen, die gleichzeitig Import- und Exportländer umfassen und die ein akzeptables Preisgefüge für Waren festsetzen sowie die Preisschwankungen mit Hilfe von sich entweder in den Händen der nationalen Regierung oder des Kartells befindlichen Pufferreserven ausgleichen sollen. Die Vereinigten Staaten sind jetzt im Begriff, solche Kartelle für Zucker und Weizen zu organisieren, die die Vorläufer von Kartellen für andere Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte sein könnten. Derartige vom Staat gebildete Kartelle würden versuchen, die Rohstoffpreise zu stabilisieren; ein grundlegendes Element, um eine umfassende Wirtschaftsplanung aufzustellen, dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken sowie eine Strategie der "billigen Lebensmittel" zu ermöglichen, die den Preis der Ware Arbeitskraft senken und damit den allgemeinen Abbau der Löhne der Arbeiterklasse erleichtern würde - alles unabdingbare Bestandteile der Kriegswirtschaft.
Der zweite Kartelltyp ist eine direkte Antwort auf die Verengung des Weltmarktes und beinhaltet eine staatliche Planung nicht der Expansion, sondern der Schrumpfung des Welthandels. Dies führt zu Abkommen zwischen Export- und Importländern, zur Festsetzung von Quoten oder Marktanteilen bestimmter, von zahlreichen konkurrierenden Kapitalen hergestellter Waren. Die Vereinigten Staaten haben vor kurzem mit Japan Verträge über Spezialstähle und Fernseher abgeschlossen, die sie beschönigend als "Markt-Bereinigungs-Abkommen" bezeichneten (diese werden zu einer Senkung des japanischen Exports in die USA um 40% führen). Sie sind jetzt außerdem dabei, über die Aufteilung des Weltmarkts für Textilien, Bekleidung, Schuhe und Rohstahl zu verhandeln. Diese Kartelle stellen Washingtons Alternative zur Orgie des Protektionismus und der Autarkie auf der Ebene jedes nationalen Kapitals innerhalb des amerikanischen Blocks dar - eine organisierte und koordinierte Verengung der Märkte, deren Ziel es ist, den Zusammenhalt des Blocks unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise zu erhalten.
Als untrennbaren Bestandteil ihrer Maßnahmen zur Konsolidierung der Kriegswirtschaft fuchtelte die Carter-Regierung mit einer neuen Kriegsideologie herum – mit dem Kreuzzug für die „Menschenrechte“. In der Epoche der imperialistischen Weltkriege, in der der Sieg in erster Linie von der Produktion abhängt und jeder Arbeiter ein „Soldat“ ist, benötigt der Kapitalismus eine Ideologie, die zur Bindung der gesamten Produktion an den Staat und zur Einflößung einer Produktions- und Opferbereitschaft geeignet ist. Außerdem reicht in einer Ära, in der die Kriege nicht zwischen Nationen, sondern zwischen Blöcken ausgetragen werden, der nationale Chauvinismus als alleinige Ideologie nicht mehr aus. Da die Bourgeoisie ein neues weltweites Blutbad vorbereitet, ersetzt der Kampf für die Menschenrechte den Antikommunismus im ideologischen Arsenal des ''demokratischen" Imperialismus des amerikanischen Blocks, weil dieser seine Bevölkerung für den Krieg mit den "totalitären Diktaturen" des russischen Blocks zu mobilisieren beginnt (dies umso mehr, weil Länder wie China, die dem amerikanischen Block angehören, „kommunistische“ Regimes haben und außerdem die Beteiligung „kommunistischer“ Parteien an den Regierungen mehrerer westeuropäischer Länder zu erwarten ist). Hinter den moralistischen Appellen Jimmy Carters zugunsten einer universellen Anerkennung der Menschenrechte werden bereits die amerikanischen Schwerter geschärft.
Die Organisierung einer voll entwickelten Kriegswirtschaft in den USA geht jedoch nicht ohne den wütenden Widerstand vieler mächtiger bürgerlicher Interessensgruppen vonstatten. So widersetzen sich insbesondere der Farmer-Block und das „Agrar-Business“ des Mittleren Westens einer Politik, die sie als die Strategie der „billigen Lebensmittel“ ansehen; die Stahl-, Textil-, Schuh- und viele andere Industrien sind militante Protektionisten, die die Bemühungen der Regierung um den Zusammenhalt und die Stabilität des imperialistischen Westblocks für einen Verrat an der amerikanischen Industrie halten; die Öl- und Gaslobby des Südwestens steht Carters Energiepolitik feindlich gegenüber. All diese Gruppen organisieren sich zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen, indem sie dem die ganze Wirtschaft umschließenden Würgegriff des staatlichen Leviathans Widerstand entgegensetzen. Sie versuchen außerdem sowohl die Legionen kleiner und mittlerer Kapitalisten (für die der Staatskapitalismus einem Todesurteil gleichkommt) als auch die enttäuschten Mittelschichten zum Widerstand gegen die Verstaatlichungswelle zu mobilisieren. Trotzdem werden es die globalen Interessen des nationalen Kapitals sein - die unbedingt den Staatskapitalismus erfordern –, die in jedem inneren Konflikt innerhalb der Bourgeoisie am längeren Hebel sitzen; und jene Fraktionen der Bourgeoisie, die am besten diese Interessen vertreten, werden letzten Endes die Orientierung des kapitalistischen Staates diktieren und seine Politik bestimmen.
Aufgrund der sich ständig vergrößernden Kluft zwischen dem relativ zunehmenden wirtschaftlichen Gewicht der Vereinigten Staaten und der abnehmenden wirtschaftlichen Macht Europas und Japans sind die USA in der Lage, die wirtschaftlichen Prioritäten und die Orientierung der anderen Länder ihres Blocks festzulegen und zu diktieren. Durch die Intensivierung der Krise in Amerika selbst werden die Vereinigten Staaten außerdem immer stärker dazu gezwungen, die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf Europa und Japan abzuwälzen (soweit dies den globalen Zusammenhalt des Blocks nicht in Frage stellt). Die USA betreiben jetzt eine Politik, Europa auf Ration zu setzen. Die Mittel, derer sich das amerikanische Kapital bedient, um den bankrotten Ländern Europas die Austerität aufzuzwingen, beruhen auf seiner Macht, Darlehen zu gewähren oder abzulehnen, ohne die Europa dem wirtschaftlichen Ruin ausgeliefert wäre. Infolgedessen kann es die "kranken Männer" des Kontinents zwingen, ihre Wirtschaft der Kontrolle ihrer amerikanischen Gläubiger regelrecht zu unterwerfen. Anders als in den 20er Jahren, als die bitter benötigten amerikanischen Darlehen weitgehend von den "privaten" Banken gewährt wurden, fließt heute der Großteil der Kredite - unter den vorherrschenden Bedingungen des Staatskapitalismus - durch die Kanäle staatlicher oder halbstaatlicher Institutionen wie die Staatskasse, das „Federal Reserve System" oder den von Washington kontrollierten IWF. Die Pläne des amerikanischen Kapitals, einerseits den Konsum Europas drastisch zu senken und andererseits Europa stärker den Imperativen einer sich über den ganzen amerikanischen imperialistischen Block erstreckenden Kriegswirtschaft zu unterwerfen, wurden in den jüngsten IWF-Verhandlungen über Darlehen an Großbritannien, Italien und Portugal deutlich. Als Vorbedingung für ein Darlehen in Höhe von 3,9 Milliarden Dollar verlangte der IWF, dass Großbritannien rigoros die öffentlichen Ausgaben reduziert und den Zuwachs der Geldmenge strengen Beschränkungen unterwirft, mit anderen Worten: rigide deflationistische Maßnahmen ergreift. Gleichzeitig verlangte der IWF, dass Großbritannien sich bereit erklärt, die Wareneinfuhren keiner umfassenden oder permanenten Kontrolle zu unterwerfen und keine Deviseneinschränkungen einzuführen. Mit diesen Garantien wird die Anwendung protektionistischer oder zur Autarkie führender Maßnahmen ausgeschlossen, die den Block spalten oder amerikanische Interessen gefährden könnten. Im Falle Italiens bestanden die Bedingungen des IWF für ein Darlehen in Höhe von 530 Milo. Dollar darin, dass mit dem Abbau des Index-Systems begonnen wird, das zur automatischen Angleichung der Löhne bei Preiserhöhungen führt, die öffentlichen Ausgaben auf nationaler und lokaler Ebene begrenzt und kontrollieren werden und dem IWF ein Vetorecht über die Erhöhung der Geldmenge zugestanden wird. Portugals Antrag auf Gewährung eines Darlehens in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar wurde vom IWF mit der Forderung nach einer Abwertung des Escudo um 25% beantwortet, um die Reallöhne drastisch zu kürzen und die Importe (die zu 20% aus Lebensmitteln bestehen) zu reduzieren; im vorliegenden Fall hat Portugal schließlich um 15% abgewertet, und die amerikanischen Geldschränke haben sich zu öffnen begonnen.
Als integralen Bestandteil ihrer Politik der Sicherung der Stabilität des amerikanischen Blocks in seiner Gesamtheit zielen die Vereinigten Staaten darauf ab, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gleichmäßiger auf den ganzen Block zu verteilen (die USA ausgenommen), indem sie der BRD und Japan eine Politik der wirtschaftlichen Hilfe und Unterstützung für jener Länder Europas aufzwingen, die dem Zusammenbruch nahe sind. Daher bestehen sie darauf, dass Westdeutschland und Japan ihre Wirtschaft ankurbeln (um den schwächeren Ländern zu Absatzmärkten zu verhelfen) und ihre Exporte erheblich reduzieren. Letztgenannte Forderung ist teilweise durch die Aufwertungen der D-Mark und des Yen erfüllt worden. Der Wertzuwachs der westdeutschen und japanischen Währung wird den USA auch die Eindämmung der Exportoffensive erleichtern und die Konkurrenzfähigkeit der zwei schärfsten Handelsrivalen der Vereinigten Staaten vermindern. Diese Politik hat ihre ersten Früchte zu tragen begonnen, als die Fukuda-Regierung in Japan von Januar bis April 1977 den Yen gegenüber dem Dollar um 7% ansteigen ließ.
Während eine der Grundlagen für den Würgegriff der USA ihre überwältigende finanzielle Macht ist, mit dem sie die gesamten Volkswirtschaften ihres Blocks umklammert, besteht eine andere in ihrer vollständigen Kontrolle der Energiequellen. Es ist die „Pax Americana“ Washingtons über den Nahen Osten, die Japans und Europas Versorgung mit jenem Öl garantiert, von dem das Funktionieren ihres Produktionsapparates heute abhängt. Dass die USA energischen Widerstand gegen die Entwicklung und Verbreitung der als "Schnelle Brüter" bezeichneten Kernkraftwerke leisten, die ihr eigenes, als Brennstoff geeignetes Plutonium erzeugen, beruht zum Teil auf der Tatsache, dass diese Technologie potentiell die Volkswirtschaften der Europäer und Japaner auf dem Energiesektor von den USA unabhängig machen könnte. Wenn die USA jedoch selbst auf eine Entwicklung der Schnellen Brüter verzichten, so leisten sie damit keinerlei Opfer, da ihre Versorgung mit Uran weiterhin die Benutzung von Kernenergie mit ihrem Ziel, die Energieunabhängigkeit, vereinbar macht. Dagegen verurteilt die Nutzung der Kernenergie, die von Uran als Brennstoff abhängt, Europa und Japan zur ständigen absoluten Abhängigkeit von den USA auf dem Energiesektor.
Während die Vereinigten Staaten Europa kurzhalten und den Ländern ihres Blocks eine Sparpolitik diktieren, gibt es ein Gebiet, auf dem sie eine massive Steigerung der Produktion und Ausgaben verlangen: die Rüstung. Die sich zuspitzenden interimperialistischen Konflikte und die Erfordernisse der Kriegswirtschaft haben die Vereinigten Staaten bereits dazu veranlasst, auf eine Erhöhung der Militärausgaben ihrer NATO-Alliierten zu bestehen. Die europäische und japanische Wirtschaft wird künftig immer stärker auf die Produktion von Kanonen - und nicht Butter - ausgelegt werden.
Die Notwendigkeit, eine drakonische Sparpolitik durchzusetzen, um die Tendenz zum Staatskapitalismus zu beschleunigen, das Proletariat zu attackieren (unter den Umständen eines zunehmenden Klassenkampfes) und ihre Politik an das amerikanische Diktat anzupassen, hat die Bourgeoisie Europas und Japans in die Fänge einer zerstörerischen politischen Krise geführt. Das Wesen der Aufgaben, die die Bourgeoisien zu erfüllen versuchen müssen, gebietet einen Kurs, der schrittweise oder abrupt (abhängig von der Schnelligkeit des wirtschaftlichen Zusammenbruchs bzw. der Verschärfung des Klassenkampfs ab) die Linke an die Macht bringt. Unter den jetzigen Umständen entsprechen Regierungen, die von sozialistischen Parteien beherrscht und von Gewerkschaften gestützt werden, oder Volksfronten, die die stalinistischen Parteien miteinschließen, am besten den Bedürfnissen der Bourgeoisie.
Weil sie nicht untrennbar ans "Privatkapital", an partikularistische Interessen innerhalb des Nationalkapitals oder an rückständige Fraktionen (was die Rechte charakterisiert) gebunden ist, kann die Linke am besten die totalitäre und zentralisierte Kontrolle des Staates über die gesamte Wirtschaft und die drastische Beschneidung des Konsums der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums durchsetzen, die Eckpfeiler der Kriegswirtschaft sind. Aufgrund ihrer aus Arbeitern bestehenden Wählerschaft, ihrer Massenbasis und ihrer "sozialistischen" Ideologie hat allein die Linke – gegenüber einem kämpferischen Proletariat, das das politische Leben zu bestimmen beginnt - eine Chance, den Klassenkampf zum Entgleisen zu bringen und sowohl die brutale Reduzierung des Lebensniveaus des Proletariats als auch seine ideologische Unterwerfung unter dem Staat zu verwirklichen - alles Maßnahmen, von denen der todbringende Erfolg der Kriegswirtschaft abhängt. Aufgrund ihres Atlantizismus, ihres „Internationalismus", ist die Linke (zumindest die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften) am ehesten in der Lage, den Ausbau der Kriegswirtschaft auf der Ebene des gesamten amerikanischen Blocks fortzuführen.
Diese Konvergenz zwischen einer Linksregierung und den Interessen des amerikanischen Imperialismus wird zum Beispiel in den Bestrebungen des amerikanischen Imperialismus deutlich, den schwächeren oder stärkeren Ökonomien seines Blocks eine von Fall zu Fall unterschiedliche Wirtschaftspolitik aufzuzwingen. Gegenüber den schwächeren Volkswirtschaften (Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Portugal) bestehen die Vereinigten Staaten auf Sparpolitik und Deflation, was dazu führt, dass sich der Widerstand rund um die rechten Parteien kristallisiert, die mit dem "Privatkapital“ und den anachronistischen, rückständigen Teilen der Bourgeoisie verknüpft sind, welche gewaltige Regierungssubventionen, großzügig gewährte Kredite und die Ankurbelung des Binnenmarkts benötigen, um sich über Wasser zu halten. Im Gegensatz hierzu sind die linken Parteien und die Parteien der "linken Mitte" bereit, den "Empfehlungen" des IWF zu folgen und das amerikanische Diktat durchzusetzen. Selbst die linke Verstaatlichungspolitik, die fester Bestandteil einer Kriegswirtschaft ist (wie die Verstaatlichung des Schiffbaus und der Luftfahrtindustrie in Großbritannien oder die Verstaatlichung der Dassault-Werke und der Elektronikmonopole, die in Frankreich vom "Programme Commun“ vorgeschlagen wurden), schadet den amerikanischen Interessen nicht und kann in der Tat die amerikanische Kontrolle auf direkter zwischenstaatlicher Ebene gar erleichtern. Von Westdeutschland und Japan verlangen die USA Konjunkturankurbelung, Aufwertung der Währung und Exportbeschränkungen - alles Maßnahmen, die eine beträchtliche Opposition seitens der um die rechten Parteien gescharten Fraktionen der Bourgeoisie hervorrufen, die kaum bereit sind, irgendwelche zur Minderung der nationalen Konkurrenzfähigkeit führenden Schritte zu unternehmen und die Interessen des nationalen Kapitals den Interessen des Blocks anzupassen. Dagegen ist die gemäßigte Linke (die SPD in Westdeutschland, die Demokratischen Sozialisten und der EDA-Flügel der Sozialistischen Parteien in Japan) weitgehend zur Koordinierung der Interessen des nationalen Kapitals mit den Forderungen Amerikas bereit.
In Großbritannien zieht das amerikanische Kapital die Labour Party den Tories und in Westdeutschland die Sozialdemokraten den Christdemokraten deutlich vor. In Portugal sind Soares und die Sozialisten den amerikanischen Interessen besser angepasst als Sa Carneiro oder Jaime Neves. In Spanien wünscht Washington eine von Suarez geführte Regierung, an der sich Felipe Gonzalez und die PSOE (Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens) direkt oder indirekt beteiligen, wohingegen eine von Fraga Iribarne und der Allianza Popular (Volksallianz) geführte Regierung untragbar wäre. In Frankreich ziehen die Amerikaner eine auf Mitterrand und die Sozialistische Partei gegründete Regierung einer von Chirac geführten vor. Selbst in Italien ist eine Andreotti-Berlinguer-Kombination den amerikanischen Bedürfnissen genehmer als eine Regierung, die von Fanfani und dem rechten Flügel der Christdemokraten angeführt würde.
Dazu kommt, dass die Rechte immer weniger in der Lage ist, die notwendigen wirtschaftlichen Maßnahmen zu treffen, die die sich verschärfende Wirtschaftskrise erfordert, und außerdem nicht geeignet ist, der proletarischen Bedrohung entgegenzutreten. Sie steht den amerikanischen Interessen im wachsenden Maß feindselig gegenüber, während die Linke das einzige Vehikel ist, mit dem die Bourgeoisie ernsthaft den Aufbau einer Kriegswirtschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen versuchen kann. Dennoch scheinen die jüngsten Wahlergebnisse in zahlreichen Ländern des amerikanischen Blocks diesem unausweichlichen Linksrutsch zu widersprechen. In einer Reihe von Ländern wurde in den Wahlen ein sehr klarer Rechtstrend ersichtlich: Siege der Rechten bei allgemeinen Wahlen in Australien, Neuseeland und Schweden im Jahre 1976, eindrucksvolle Erfolge der CDU/CSU in den Bundestagswahlen in Deutschland im gleichen Jahr, ein beachtlicher Rechtsrutsch in Portugal in der Periode zwischen den Wahlen im April 1975 zur Konstituierenden Versammlung und den Parlamentswahlen ein Jahr später, Erdrutschsiege der Tories sowohl in den parlamentarischen Nachwahlen als auch in den Kommunalwahlen in diesem Jahr, der Triumph der Christlich-Sozialen in den Parlamentswahlen in Belgien im vergangenen Jahr (1977).
Dieser Wählertrend nach rechts wird von einer Welle der Erbitterung und Unzufriedenheit seitens der kleinen und mittelgroßen Kapitalisten, der Kleinbourgeoisie und des Mittelstandes befeuert, die alle einschneidende Einschnitte in ihrem Lebensstandard während der letzten Jahre hinnehmen mussten. Weil der kapitalistische Staat gezögert hat, das Proletariat frontal anzugreifen - aus Angst, dadurch einen für ihn zu früh kommenden generalisierten Klassenkrieg oder selbst nur eine Massenstreikwelle auszulösen, auf die er noch nicht vorbereitet ist -, sind die Mittelklassen, weitaus fragmentierter und keine direkte Bedrohung für die bürgerliche Ordnung, zum Adressaten der ersten Serie von Sparmaßnahmen geworden. Infolgedessen sind die Mittelschichten mit ihren Frustrationen zeitweilig in einigen Ländern zum Dreh- und Angelpunkt der Politik geworden, und dies hat die Wiedergeburt der Rechten in den Wahlen bewirkt. Um jedoch den unmittelbar bevorstehenden Wirtschaftskrach zu verhindern und eine richtige Kriegswirtschaft aufzubauen, muss die Bourgeoisie - trotz ihres Zögerns - sehr schnell ihre Angriffe direkt auf das Proletariat konzentrieren und versuchen, den dadurch ausgelösten Klassenkampf aus der Spur zu bringen. Und sobald die Arbeiterklasse zum Dreh- und Angelpunkt der Politik wird, wird der Trend in den Wahlen bald den grundsätzlichen Kurs der Bourgeoisie widerspiegeln - eine Linkswende.
Doch selbst der kurzfristige Rechtsrutsch hat den resoluten Wechsel der Bourgeoisie nach links weder korrigiert noch verlangsamt, wie ihre Regierungsbildungen es veranschaulichen (was erneut die rein dekorative Natur des Parlaments und den nur mystifizierenden Charakter der Wahlen in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz aufzeigt). Wenn die Bourgeoisie nach einer Gelegenheit gesucht hätte, um eine Regierungswechsel nach rechts zu bewerkstelligen (wie die Linksextremen behaupten), so hätte der jüngste Wahltrend ihr eine solche Gelegenheit verschafft. Stattdessen hat die Bourgeoisie die Wahlergebnisse weitgehend missachtet, indem sie Regierungsmannschaften aufgestellt oder an der Macht gelassen hat, die Ausdruck ihres gegenwärtigen Bedürfnisses sind, sich auf Linksparteien oder Gewerkschaften zu stützen. So hält die Bourgeoisie in Großbritannien, wo Parlamentswahlen höchstwahrscheinlich die Rückkehr einer Tory-Regierung bedeuten würden, die Labour-Regierung an der Macht, bis der Wahltrend sich wieder nach links bewegt. Um in der Zwischenzeit vorzeitige Wahlen zu verhindern, wird die Labour-Regierung von den Stimmen der Liberalen Partei gestützt. In Portugal besteht die Bourgeoisie trotz der Mehrheitsverschiebung nach rechts auf eine rein sozialistische Regierung. In Belgien, wo die Wahlergebnisse eine von Christlich-Sozialen und Liberalen gebildete Regierung der "Rechten Mitte" erlaubten, ist die Bourgeoisie stattdessen fest dazu entschlossen, eine Regierung der "Linken Mitte", d.h. eine von den Christlich-Sozialen und den Sozialisten gebildete Regierung mit mächtiger Gewerkschaftsunterstützung zu konstituieren.
Angesichts der deutlichen Perspektive einer Linkswende der Bourgeoisie müssen wir nun den Charakter der heutigen stalinistischen Parteien untersuchen. Die Regierungsbeteiligung der Stalinisten wird in einigen der schwächeren europäischen Ländern (Italien, Frankreich, Spanien) immer notwendiger werden, da die Stalinisten bestens dafür gerüstet sind, der Arbeiterklasse die wesentlichen Sparmaßnahmen aufzuzwingen und den Klassenkampf aus der Bahn zu werfen. Die Regierungsbeteiligungen der Stalinisten stoßen jedoch auf wütende, häufig gewaltsame Opposition von Seiten mächtiger Fraktionen der nationalen Bourgeoisie sowie auf den Widerstand und das Misstrauen der USA. Wir müssen uns über den wahren Charakter des Stalinismus klar sein, über seine besonderen Merkmale als bürgerliche Partei, um zu verstehen, worin die Ursachen dieser Gegnerschaft und dieses Misstrauens bestehen und in welchem Maße sie den Machtantritt der Stalinisten verhindern können.
Erstens sind stalinistische Parteien keine anti-nationalen Parteien oder Agenten Moskaus. Alle bürgerlichen Parteien (linke wie rechte) sind, unabhängig von ihrer Orientierung in der internationalen Arena, nationalistisch: "In der Epoche des Imperialismus kann die Verteidigung der nationalen Interessen nur innerhalb des breiten Rahmens eines imperialistischen Blocke stattfinden. Nicht als fünfte Kolonne oder ausländischer Agent, sondern in Vertretung seiner eigenen unmittelbaren oder auch langfristigen wohl verstandenen Interessen entscheidet sich eine nationale Bourgeoisie für einen der existierenden Blöcke. Um diese Wahl für den einen oder den anderen Block findet in der Bourgeoisie ein interner Kampf statt. Aber diese Auseinandersetzungen finden auf der Basis eines gemeinsamen Einverständnisses und eines einzigen Zieles statt: dem nationalen Interesse, dem Interesse der nationalen Bourgeoisie zu dienen.“ (Internationalisme, Nr. 30, 1948)
Der Nationalismus ist - und war es immer - die Basis der stalinistischen Parteien. Und wenn sie sich in den 40er Jahren, als die Teilung Europas in zwei imperialistische Blöcke vollzogen wurde, für Russland entschieden, waren sie nicht in größerem Maße eine 5. Kolonne Moskaus, als die Sozialdemokratie oder die Christdemokratie eine 5. Kolonne Washingtons waren. Das einzige, was diese bürgerlichen Parteien trennte, war die Frage, in welchem Block die vitalen Interessen des nationalen Kapitals am besten vertreten werden.
In der heutigen Konjunktur wäre der Blockwechsel eines der westeuropäischen Länder oder Japans schwerlich möglich, mit Ausnahme eines Krieges oder im äußersten Fall durch eine grundsätzliche und folgenschwere Änderung des Gleichgewichts zwischen den beiden imperialistischen Lagern der Welt. Keine Fraktion der Bourgeoisie, die reale Aussichten hat, an die Macht zu kommen, kann ein Überwechseln in den russischen Block anstreben. In diesem Sinne ist der "Eurokommunismus" das Eingeständnis der Stalinisten, dass die Interessen ihres nationalen Kapitals einen Blockwechsel ausschließen. Der Nationalismus der stalinistischen Parteien in diesen Ländern nimmt heute die Form einer Unterstützung protektionistischer Lösungen angesichts der Vertiefung der Wirtschaftskrise und eines Engagements für die lediglich embryonale Tendenz zur Autarkie an. Wenn auch diese Orientierung der Stalinisten nicht die Einbindung ihrer Länder in den amerikanischen Block in Frage stellt, so widerspricht sie dennoch den Plänen des amerikanischen Kapitals, die verschiedenen Länder immer fester in die gigantische Kriegswirtschaft unter der absoluten Kontrolle Washingtons zu integrieren. Darin besteht eine Grundlage für das fortdauernde Misstrauen Amerikas gegenüber den stalinistischen Parteien und ihre Präferenz für die sozialistischen Parteien, für die die lebenswichtigen Interessen des nationalen Kapitals die engste Anpassung der nationalen Politik an die Bedürfnisse des gesamten Blockes erfordern.
Aber nicht seine Unterstützung einer autarkischen Politik - die er jedenfalls mit den Rechtsextremen teilt - ist das ausgeprägteste Merkmal des Stalinismus, und sie erklärt auch nicht seinen starken Gegensatz zu den anderen Fraktionen des nationalen Kapitals. Die stalinistischen Parteien sind, so demokratisch oder pluralistisch sie sich derzeit in ihrer Ausdrucksweise auch geben, die Exponenten der vollständigsten und extremsten Form des Staatskapitalismus, der totalitären und direkten Staatskontrolle aller Aspekte der Produktion und Distribution, eines Ein-Parteien-Staats und einer vollständigen Militarisierung der Gesellschaft. Anders als die anderen bürgerlichen Parteien (einschließlich der Sozialisten) sind die Stalinisten in keiner Weise mit irgendeiner Art "privatem" Kapital verbunden. Während andere Fraktionen der Bourgeoisie eine mehr oder weniger enge Verbindung von staatlichem und "privatem " Kapital vertreten, werden die Stalinisten, einmal an die Macht gekommen, die Eliminierung des "privaten" Kapitals und mit ihm aller anderen bürgerlichen Parteien betreiben. Das ist der Grund der permanenten Angst und Feindschaft der anderen bürgerlichen Fraktionen gegenüber den Stalinisten. Dies erklärt auch viele Vorbehalte des amerikanischen Imperialismus, der seine Kontrolle über seine "Verbündeten" nicht auf der Basis direkter zwischenstaatlicher Beziehungen, sondern durch die Verknüpfungen mit dem "privaten" Kapital ausübt - Verbindungen, die die Stalinisten zerschlagen würden.
Aus diesen Gründen sind die USA und die anderen bürgerlichen Parteien in Europa und Japan fest entschlossen, bei den Stalinisten die Zügel kurz zu halten, auch wenn die Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Lage diese zu irgendeiner Art direkter Regierungsbeteiligung bringt, um die zerbröckelnde bürgerliche Ordnung zu stabilisieren. Da sich jedoch einerseits die wirtschaftliche und politische Situation verschärft und andererseits die Notwendigkeit einer immer weitergehenden Kriegswirtschaft deutlich wird, werden sich die lebenswichtigen Interessen des nationalen Kapitals immer mehr dem Programm der Stalinisten annähern. (Fortsetzung folgt in Internationale Revue Nr. 2)
IKS, Juni 1977
Was ist die Internationale Revue der IKS?
Die IKS veröffentlicht seit April 1975 eine dreimonatige Zeitschrift. Diese Zeitschrift erscheint gleichzeitig auf Französisch, Englisch und Spanisch. Sie erscheint seit April 1976 auf Holländisch, seit Anfang 1977 auf Italienisch und ab Anfang 1978 auf Deutsch.
Die Internationale Revue beinhaltet Artikel der IKS zur theoretischen Vertiefung der Positionen und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Weiterhin werden mit diesem Organ Diskussionen mit anderen revolutionären Organisationen geführt und Beiträge oder Berichte zum Leben der Organisation sowie Stellungnahmen der IKS zu aktuellen Problemen veröffentlicht. Die Internationale Revue ist das internationale Organ einer internationalen Organisation. Broschüren zu einzelnen Positionen werden ebenfalls auf internationaler Ebene herausgegeben. (Auf Deutsch wurden bereits Broschüren über die Gewerkschaftsfrage und die nationale Frage veröffentlicht. In den "Grundprinzipien" stehen die Grundsatzpositionen der IKS). In den einzelnen territorialen Sektionen werden des Weiteren aktualisierte regelmäßige Zeitschriften bzw. Zeitungen der IKS herausgebracht.
Ein solches Organ auf internationaler Ebene ist nicht aus Eitelkeit entstanden, sondern hat seine Grundlage in dem Klassencharakter unserer Organisation. Das Proletariat ist keine Ansammlung einzelner nationaler Klassengebilde, sondern die Weltarbeiterklasse, die auch nur als internationale Klasse das Kapital besiegen kann. Um dies zu erreichen, muss jede proletarische Organisation zur Internationalität streben, um dadurch zur größtmöglichen Homogenität des Arbeiterbewusstseins zu gelangen.
Warum eine Internationale Revue auf Deutsch?
In der BRD, Skandinavien, Österreich und der Schweiz sowie im restlichen Teil des Planeten vertieft sich immer mehr die Todeskrise des Kapitalismus. Diese Krise öffnet eine neue revolutionäre Periode, ein Wiedererwachen des Proletariats auf Weltebene. Trotz der Aussagen der Linken aller Art ist die BRD keine Ausnahme in dieser Krise. Die Arbeitslosigkeit, die steigenden Preise, die immer schlimmeren Lebens- und Arbeitsbedingungen, die zunehmenden Schwierigkeiten gegenüber der Krise (s. die Konjunkturprogramme), die politische Krise in den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie sind deutliche Beweise dafür, dass auch die stärksten kapitalistischen Länder die Krise nicht vermeiden können. Diese Krise offenbarte schon 1969 und 1973, dass die deutsche Arbeiterklasse nicht verschwunden ist und in den nächsten Jahren immer stärker auf der historischen Bühne auftreten wird. Die Perspektive ist in der BRD, Österreich, der Schweiz und Skandinavien die gleiche wie in den anderen Ländern der Welt: eine immer tiefere Krise und eine Welle von revolutionären Kämpfen des Proletariats.
Als Ausdruck und Produkt des Wiedererwachens des Proletariats auf Weltebene gibt es immer mehr revolutionäre Elemente, die mit der bürgerlichen Ideologie gebrochen haben. Die revolutionären Organisationen müssen diesen Elementen einen organisatorischen Rahmen anbieten können, durch welchen die revolutionären Ideen in die Klasse vermittelt werden können. Dieser Prozess findet in allen Ländern statt; die Internationale Revue der IKS in deutscher Sprache verfolgt das gleiche Ziel: die Verbreitung der revolutionären Ideen in der Arbeiterklasse.
Warum ein theoretisches Organ?
Die Notwendigkeit der Vertiefung der marxistischen Theorie als ein Instrument für den Kampf gegen die alte kapitalistische Ordnung wird oft missverstanden.
Einerseits lehnen viele die Notwendigkeit der Theorie ab, die sie mit dem Akademismus verwechseln, und halten sowohl Programm wie theoretische Vertiefung der proletarischen Grundsätze für unnötig. In diesem Zusammenhang sei auf die gesamten K-Gruppen verwiesen, die die Theorie nicht ausdrücklich ablehnen, sie aber von ihrer Praxis vollkommen trennen und nur als eine Rechtfertigung für ihr eigenes Handeln betrachten. Für sie besteht die einzige revolutionäre Handlungsmöglichkeit in der unmittelbaren Aktion („man muss in der Bewegung sein“ – gleichgültig, ob diese sogenannte Bewegung etwas mit proletarischen Ansätzen zu tun hat oder ob es eine revolutionäre Perspektive gibt). Hierzu zählen wir auch die Ouvrièristen (Arbeitertümler). Sie bestimmen den Charakter einer Bewegung nicht auf der Grundlage historisch entstandener Grundsatzpositionen, sondern nach der soziologischen Herkunft ihrer Protagonisten. Auf der Basis des „Die-Arbeiter-haben-immer-recht“-Standpunktes erübrigt sich für sie faktisch jede Notwendigkeit einer theoretischen Arbeit.
Andererseits gibt es diejenigen, die die Theorie als einen Selbstzweck und als ein Forschungsinstrument betrachten: all die Akademiker und Intellektuellen mit „linken“ Ansprüchen. Ihre einzige Praxis besteht in der Veröffentlichung ihrer Theorie in zahlreichen Zeitschriften. Sie wollen die Welt nicht verändern, sondern nur interpretieren. Sie sind nicht zu verwechseln mit solchen revolutionären Elementen, die in Reaktion auf die theoretische Armut der K-Gruppen einen Ausweg in der Theorie suchen, dabei jedoch die dialektische Beziehung zwischen Theorie und Praxis und meist auch den Klassenkampf selbst außer Acht lassen.
Die Ablehnung der Theorie sowie ihr Gegenteil (bzw. ihre Ergänzung), die Vergötterung der Theorie, sind gleichzeitige eine Ablehnung des Marxismus. In der Tat hat der Marxismus als theoretischer Ausdruck der Arbeiterklasse zum ersten Mal auf dialektische Weise den Bezug zwischen Theorie und Praxis als untrennbare Seiten des gleichen Prozesses hergestellt; beide sind notwendige Instrumente für die Weiterentwicklung der Menschheit und Voraussetzung für den Sieg des Proletariats auf Weltebene. Die Theorie ist kein Selbstzweck, sondern sie dient dazu, auf möglichst hohem Niveau die Welt zu analysieren und die Lehren aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse zu ziehen. Die Aktion der Revolutionäre ist historisch und nicht unmittelbar: Sie müssen in voller Kenntnis der Bedingungen, unter denen die Umwälzung zum Kommunismus stattfinden wird, die endgültigen Ziele des Proletariats aufzeigen, d.h. die kapitalistischen Produktionsbedingungen, die Fallen der Bourgeoisie gegen das Proletariat, die Notwendigkeiten für das Proletariat. Nur wenn das Proletariat den höchsten Grad an Homogenität und Bewusstsein erreicht hat, kann es die Welt verändern.
Es ist die Rolle der Revolutionäre, eine kohärente Auffassung der Welt in einem kohärenten Programm auszudrücken, das aus den Erfahrungen des Proletariats entstanden ist und mit der ständigen Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Proletariats und mit der Realität, mit der lebendigen Praxis der Klasse bereichert wird. Nur durch diese Theorie kann die Praxis der Revolutionäre eine Perspektive für das Proletariat anbieten. Nur durch die Praxis der Klasse kann wiederum diese Theorie zu einem noch besseren Instrument im Klassenkampf werden.
Über den Inhalt dieser Internationalen Revue
Vier Texte der IKS sind in dieser Nummer veröffentlicht, von denen zwei von internationalen Kongressen der IKS stammen. Das Manifest der IKS ist der Ausdruck der Wiedergeburt des Proletariats in dieser neuen revolutionären Periode und seiner Organisation der Revolutionäre. Es wurde für den ersten Kongress der IKS im Januar 1976 geschrieben, so wie auch die Plattform und die Statuten der Organisation. Es soll die historischen Ziele des Proletariats aufzeigen und auch bekräftigen, dass die Arbeiterklasse nicht besiegt ist, sondern die Mystifikationen des Kapitals (vor allem seines linken Flügels) erkennen muss und wird, um ihren Kampf durchzuführen. Entgegen den demoralisierenden Analysen der Linken müssen die Revolutionäre erneut daran erinnern, dass ihre Klasse eine historische Mission zu erfüllen hat: den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Dieses Manifest ist in diesem Sinne ein Appell an alle bestehenden revolutionären Kräfte der Welt. Die Revolutionäre haben eine große Verspätung gegenüber der Entwicklung der Krise und der historischen Aufgabe des Proletariats. Es ist absolut wesentlich für den Erfolg der Revolution, dass sie sich früh genug zusammenfinden und vereinigen, um ihre Rolle als Faktor im revolutionären Klassenkampf erfüllen zu können.
Diese Umgruppierung der Revolutionäre auf Weltebene ist eine der Hauptaufgaben, die sich die IKS gegeben hat. Als die programmatisch und organisatorisch am weitesten entwickelte Organisation heutzutage muss sie diese lebenswichtige Aufgabe erfüllen. Sie ist der Pol der Umgruppierung, der den anderen entstehenden oder bestehenden Organisationen ein klares kohärentes Programm und einen international entwickelten organisatorischen Rahmen anzubieten hat.
Dieses Manifest wird auf Jahre seine Gültigkeit behalten, und deshalb können wir es jetzt in dieser Nummer veröffentlichen.
An zweiter Stelle veröffentlichen wir den ersten Teil aus einem Text der Internationalen Revue, Nr. 2 (engl., franz., span. Ausgabe). Dieser Text versucht einerseits die Ereignisse der Deutschen Revolution wiederzugeben, die meistens total unbekannt geblieben sind (abgesehen von akademischen Kreisen) und von der offiziellen, stalinistischen Geschichtsschreibung verdreht und geleugnet worden sind. Die Deutsche Revolution bildet mit der Russischen Revolution die wichtigsten Erfahrungen des Proletariats in diesem Jahrhundert, von denen die nächste revolutionäre Welle viel zu lernen hat. Diese Lehren haben die revolutionären Organisationen bereits in den 20er Jahren gerade in Deutschland (KAPD) zum großen Teil gezogen. Die heutigen Revolutionäre müssen diese Ereignisse weiter untersuchen, um einen Beitrag zum Verständnis der Geschichte zu bringen und vor allem der Klasse Fehler aufzuzeigen, die nicht mehr passieren dürfen. Gerade in Deutschland muss die Arbeiterklasse ihre vergangenen Erfahrungen wieder in Erinnerung rufen. Dieser Text soll ein Beitrag dazu sein.
Der Text "Staat und Terrorismus: ein Feind der Arbeiterklasse" ist ursprünglich als Flugblatt bzw. lose Beilage zu unseren Broschüren im Dezember letzten Jahres erschienen. Wir haben damit versucht, in all den Wirren der Terroristenhatz die revolutionäre Perspektive des Proletariats zu behaupten. In dieser Internationalen Revue veröffentlichen wir den Text als Ausdruck unserer Intervention in der BRD, aber gleichzeitig als einen Beitrag in der Diskussion, die sich um das Verständnis der jetzigen Entwicklung des Staates bemüht. In diesem Sinne ist der Artikel auch weiterhin aktuell.
Als ein Resultat des 2. Kongresses der IKS (Juni 1977) veröffentlichen wir schließlich den Bericht über die internationale Situation. Dieser Bericht soll einen analytischen Rahmen geben, um die Lage des Kapitals und der Krise sowie die Entwicklung der Klassenkämpfe zu würdigen. Dank dieser Aufgabe kann die IKS eine Grundlage für ihre Analyse des Klassenkampfes schaffen, um eine entsprechende Intervention entwickeln zu können.
In diesem Sinne ist die Internationale Revue ein Kampfmittel und keine bloße Sammlung von Texten. Die Internationale Revue muss zu einem Anstoß revolutionärer Handlung und revolutionären Bewusstseins werden.
Die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)
Mit der Gründung der KPD vom 30. Dezember 1918 -1. Januar 1919 dokumentierte die revolutionäre Opposition gegen die Sozialdemokratie, dass sie ihre organisatorische Autonomie gefunden hatte. Die KPD wurde gegründet, als das bewaffnete Proletariat auf der Straße kämpfte und in einigen Industriezentren kurzzeitig die Macht in den Händen hielt. Bald offenbarte diese Partei jedoch den heterogenen Charakter ihrer Zusammensetzung und ihr Unvermögen, ein globales und vollständiges Verständnis der Aufgaben zu entwickeln, für deren Wahrnehmung sie gegründet worden war.
Welche Kräfte einigten sich, um die Partei zu formen? Und wie sahen die Probleme aus, vor die diese Kräfte bald gestellt wurden?
Wir werden hauptsächlich die Momente behandeln, die uns geeignet erscheinen, die Fehler aufzuzeigen, die wichtige und weitreichende Folgen hatten.
Der Verlauf der Ereignisse nach dem 4. August 1914 war gekennzeichnet von Schwierigkeiten und Konfusionen. Die Geschichte des Spartakusbundes steht dafür beispielhaft. Seine Rolle als Bremser in der theoretischen Klärung und bei der Entwicklung der kommunistischen Bewegung ist über jeden Zweifel erhaben.
In seiner Zeit waren alle wichtigen Beschlüsse des Spartakusbundes von den Positionen Rosa Luxemburgs geprägt (die Gruppe nannte sich ab 1916 so; zwischen 1915 und 1916 hieß sie noch „Internationale“, nach der im April 1915 erschienenen Zeitschrift).
Auf der Zimmerwalder Konferenz (5.-8. September 1915) wurden die Deutschen von der Gruppe „Internationale“, dem Berliner Julian Borchardt (Vertreter einer mit „Lichtstrahlen“ verbundenen kleinen Gruppe) und dem zentristischen Flügel um Kautsky vertreten. Allein Borchardt verteidigte die internationalistischen Positionen Lenins, während die anderen Deutschen die folgende Resolution unterstützten: „Diese Konferenz darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, eine Spaltung und die Gründung einer neuen Internationalen zu wollen.“[1] [1]
In Kienthal (24.-30. April 1916) wurde die deutsche Opposition von der Gruppe „Internationale“ (Berta Thalheimer und Ernst Meyer), der „Opposition in der Organisation“ (Zentristen um Hoffmann) und den Bremer Linksradikalen mit Paul Fröhlich vertreten. Die Bedenken der Spartakisten (Internationale) waren nicht ganz überwunden. Sie waren den zentristischen Positionen immer noch näher als denen der Linken (Lenin/Fröhlich). Meyer äußerte: „Wir wollen die ideologische Basis der neuen Internationale gründen. Aber in der Frage der organisatorischen Form wollen wir uns nicht festlegen, da noch alles in Bewegung ist.“
Rosa Luxemburg war nämlich der klassischen Auffassung, die Partei sei am Ende einer Revolution notwendiger als in ihrer ersten vorbereitenden Phase: „In einem Wort und historisch ist der Moment, in dem wir führen müssen, nicht am Anfang der Revolution, sondern am Ende.“
Das wichtigste Ereignis auf internationaler Ebene war sicherlich die Entstehung der Bremer Linksradikalen.[2] [2] Schon früh veröffentlichte die sozialdemokratische Zeitung Bremens - die „Bremer Bürgerzeitung“ - wöchentlich Artikel von Pannekoek und Radek. Unter dem Einfluss der Holländischen Linken bildete sich bald in Bremen die Gruppe um Knief, Fröhlich und anderen. Ende 1915 gingen aus der Vereinigung der Bremer Gruppe mit den Berliner Kommunisten der Zeitschrift „Lichtstrahlen“ die Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD) hervor. Die Bremer Linke trennte sich im Dezember 1915 auch formell von der Sozialdemokratie. Sie hatte jedoch bereits im Juni begonnen, die „Arbeiterpolitik“ zu publizieren, das damals wichtigste legale Organ der Linken.[3] [3] In dieser Zeitung erschienen Artikel von Pannekoek, Radek, Sinowjew, Bucharin, Kamenew, Trotzki und Lenin.
„Arbeiterpolitik“ zeigte von vornherein ein größeres Bewusstsein für den Bruch mit dem Reformismus. In der ersten Nummer konnte man lesen, dass der 4. August 1914 „das natürliche Ende einer politischen Bewegung darstellt, deren Niedergang vor einiger Zeit begonnen hatte.“ Aus „Arbeiterpolitik“ entwickelten sich die Tendenzen, die maßgeblich darauf drängten, die Frage der Partei erneut in der Arbeiterbewegung zu stellen. Da die Spartakisten jedoch weiterhin am Verbleib in der Sozialdemokratie festhielten, wurde die Diskussion zwischen ihnen und der Bremer Gruppe wesentlich erschwert. Auf der nationalen Konferenz der Gruppe Internationale am 1. Januar 1916 kritisierte Knief den Mangel an klaren Perspektiven und jeglicher Entschlossenheit zum Bruch mit der SPD und dementsprechend auch den Mangel einer Perspektive der Bildung einer auf radikal neuen Grundlagen basierenden revolutionären Partei.
Die spartakistische Gruppe Internationale blieb weiterhin in der „Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft“ im Reichstag und gab folgende Erklärung ab: „Kampf um die Partei und nicht gegen die Partei [...] Kampf für die Demokratie innerhalb der Partei, für die Rechte der Masse der Parteigenossen gegen die Führer, die ihre Pflichten vergessen [...] Unsere Parole ist weder Spaltung noch Einheit, weder neue noch alte Partei, sondern die Eroberung der Partei von der Basis dank der Empörung der Massen [...] der endgültige Kampf um die Partei hat begonnen.“ (Spartakusbriefe, 30. März 1916). Zur gleichen Zeit konnte man in „Arbeiterpolitik“ lesen: „Wir behaupten, dass die Spaltung sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene nicht nur unvermeidlich ist, sondern sogar eine Voraussetzung für den wirklichen Wiederaufbau der Internationale, des Aufflammens der proletarischen Bewegung der Arbeiter ist. Wir behaupten, es ist unzulässig und gefährlich, uns daran zu hindern, unsere tiefe Überzeugung vor den Arbeitermassen auszudrücken.“ (Arbeiterpolitik Nr. 4). Und Lenin schrieb in Über die Junius-Broschüre (Juli 1916): „Der größte Mangel des gesamten revolutionären Marxismus in Deutschland ist das Fehlen einer festgefügten illegalen Organisation. [...] Eine solche Organisation müsste sowohl dem Opportunismus als auch dem Kautskyanertum gegenüber eine eindeutige Stellung einnehmen. [...] Nur die Gruppe der ‚Internationalen Sozialisten Deutschlands‘ (ISD) bleibt - klar und deutlich für alle - auf ihrem Posten.“ (Lenin: Über die Junius-Broschüre, in: Lenin Werke, Bd. 22, S. 312 ff).
Der Eintritt der Spartakisten in die USPD (gegründet vom 6.-8. April 1917) - eine zentristische Partei, die sich nicht grundsätzlich von der Sozialdemokratie unterschied, aber mit der zunehmenden Radikalisierung der Massen verknüpft war (Haase, Ledebour, Kautsky, Hilferding und Bernstein gehörten ihr an) - erschwerte zusätzlich die Beziehungen zwischen den Bremer Kommunisten und den Spartakisten. Und im März 1917 konnte man in „Arbeiterpolitik“ lesen: „Die Linksradikalen stehen vor einer wichtigen Entscheidung. Die größte Verantwortung liegt in den Händen der Gruppe Internationale, die, trotz der von uns geübten Kritik, immer noch die aktivste und größte Gruppe bleibt und den Kern der zukünftigen linksradikalen Partei bildet. Ohne sie, müssen wir ehrlich zugeben, werden wir und die ISD in absehbarer Zeit keine handlungsfähige Partei aufbauen können. Es hängt von der Gruppe Internationale ab, ob der Kampf der Linksradikalen geeint unter einer Flagge geführt werden soll oder ob die Oppositionen, die in der Vergangenheit in der Arbeiterbewegung aufgetreten sind und deren Konkurrenz ein Faktor der Aufklärung sind, ihre Zeit und Energie verschwenden, um allein in die Konfusion zu führen.“
Über den Beitritt der Spartakisten zur USPD konnte man im gleichen Blatt lesen: „Die Internationale Gruppe ist tot [...] Eine Gruppe von Genossen hat ein Aktionskomitee für den Aufbau einer neuen Partei gebildet.“
In der Tat fand im August 1917 in Berlin eine Versammlung mit Delegierten von Gruppen aus Frankfurt, Bremen, Berlin und anderen Städten statt, um die Basis für eine neue Partei zu legen. An diesem Treffen nahm auch Otto Rühle mit der Gruppe aus Dresden teil.
In der Spartakusgruppe selbst tauchten Elemente auf, die den Linksradikalen in etlichen Positionen sehr nahe standen. Sie akzeptierten die organisatorischen Kompromisse der Zentrale um Rosa Luxemburg nicht. Dies waren zunächst die Gruppen in Duisburg, Frankfurt und Dresden mit ihrer Opposition gegen die Teilnahme an der Arbeitsgemeinschaft. Die Zeitung der Duisburger Gruppe „Kampf“ beteiligte sich an einer lebhaften Debatte gegen diese Teilnahme. Anschließend wandten sich andere Gruppen, wie z.B. die recht wichtige Gruppe um Heckert in Chemnitz, gegen den Anschluss an die USPD. Sie waren mit Radek einer Meinung, der in „Arbeiterpolitik“ schrieb: „Die Auffassung, zusammen mit den Zentristen eine Partei aufzubauen, ist eine gefährliche Utopie. Die Linksradikalen müssen, wenn sie ihre historische Aufgabe verrichten wollen, ihre eigene Partei aufbauen, ungeachtet der Schwierigkeiten, die ein Bruch hervorbringt.“
Liebknecht selbst, der enger mit der Unruhe innerhalb der Klasse verknüpft war, brachte seinen eigenen Standpunkt in einem im Juni 1916 geschriebenen Text zum Ausdruck, worin er auf der Suche nach einem Verständnis des Pulsschlages der Revolution zwischen drei Gesellschaftsschichten der Sozialdemokratie unterscheidet: Die erste bestand aus den bezahlten Parteifunktionären, die soziale Basis der Mehrheitspolitik der SPD. Die zweite bestand aus „den bessersituierten gelernten Arbeitern, Handwerkern, usw. Ihnen ist die Rechnung bei dem Risiko einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den herrschenden Klassen nicht klar. [...] Sie wollen protestieren und ‚kämpfen' und können sich nicht entschließen, den Rubikon zu überschreiten. Sie sind die Basis der Arbeitsgemeinschaft.“
Und die dritte schließlich setzt sich zusammen aus „[der] besitzlosen Masse der ungelernten Arbeiter, dem Proletariat im eigentlichen, engen Sinn. [...] Sie haben an diesen Staaten nichts zu verlieren als ihre Ketten und durch ihre Niederwerfung und Sprengung alles zu gewinnen. [...] Diese Massen, das Proletariat, vertreten wir.“ (Karl Liebknecht, in: Gesammelte Reden und Schriften Bd. 9, S. 299)
All dies beweist zweierlei:
1) dass ein wichtiger Teil der Spartakus-Gruppe die gleiche Richtung wie die Linksradikalen vertrat und dabei mit dem in der Minderheit befindlichen Zentrum - vertreten durch Luxemburg, Jogiches und Levi – in Konflikt geriet;
2) den föderalistischen, nicht zentralisierten Charakter der Spartakus-Gruppe.
Die Russische Revolution
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Spartakisten und der USPD-Mehrheit über die Russische Revolution brachte „Arbeiterpolitik“ dazu, die Diskussion mit den Spartakisten erneut aufzunehmen.[4] [4] Die Bremer Kommunisten haben die Solidarität mit der Russischen Revolution nie von der Notwendigkeit der Gründung einer kommunistischen Partei in Deutschland getrennt. Warum, fragten sie, hatte die Revolution in Russland triumphiert?
„Einzig und allein weil in Russland eine selbstständige Partei von Linksradikalen besteht, die von Anfang an die Fahne des Sozialismus hochgehalten hat und sie durch den Wandel der sozialen Revolution hindurch verfochten hat.“
„Während in Gotha noch gute Gründe für die Haltung der Internationale-Gruppe gefunden werden konnten, ist von Tag zu Tag aller Schein der Rechtfertigung für das Zusammengehen mit den Unabhängigen verblasst.“
„Heute fordert die internationale Situation mit einer noch dringlicheren Notwendigkeit die Gründung einer radikalen linken Partei.“
„Unsererseits sind wir mit allen Kräften dabei, die Voraussetzungen für eine linksradikale Partei in Deutschland zu schaffen. Angesichts der Schwächen der Unabhängigen in den letzten neun Monaten, angesichts der verheerenden Folgen des Kompromisses von Gotha[5] [5] der die zukünftige Entwicklung einer radikalen Partei nur bremsen kann, rufen wir unsere Freunde von der Gruppe Internationale auf, unmissverständlich und offen mit den pseudo-sozialistischen Unabhängigen zu brechen und eine selbstständige radikale Partei aufzubauen.“ („Arbeiterpolitik“, 15. Dezember 1917, unsere Hervorhebung)
Ungeachtet dessen musste noch ein Jahr verstreichen, bevor die Partei in Deutschland gegründet wurde. Ein Jahr, in dem die sozialen Spannungen stetig zunahmen, von den Berliner Streiks im April 1917 bis zur Meuterei der Marine und der Streikwelle des Januar 1918 (Berlin, Ruhrgebiet, Kiel, Hamburg, Dresden), die während des ganzen Sommers und Herbstes anhielt.
Untersuchen wir nun einige andere kleine Gruppen, die kennzeichnend für die deutsche Situation waren: Wie schon erwähnt, schloss die ISD auch die Berliner Gruppe um die Zeitung „Lichtstrahlen“ ein. Der wichtigste Wortführer dieser Gruppe war Borchardt. Seine in der Zeitung entwickelten Ideen waren stark antisozialdemokratisch, stellten jedoch durch seine halbanarchistischen Orientierung einen Bruch mit den Bremern dar. „Arbeiterpolitik“ merkt dazu an: „An Stelle der Partei kommt er mit der Vorstellung einer propagandistischen Sekte anarchistischer Art“. Später bezeichneten ihn die Linkskommunisten als einen Renegaten.
In Berlin wurde Werner Möller, der schon an „Lichtstrahlen“ mitwirkte, zum eifrigsten Mitarbeiter der „Arbeiterpolitik“ und schließlich ihr Vertreter. Er wurde im Januar 1919 kaltblütig von Noskes Männern ermordet.
In Berlin war die linke Strömung mit den Spartakisten Schröder und Friedrich Wendel u.a. (später KAPD) sehr stark.
Die Hamburger Gruppe nahm einen besonderen Platz innerhalb der revolutionären Opposition gegen die Sozialdemokratie ein. Sie trat den ISD erst im November 1918 bei, als diese am 23. Dezember 1918 auf Vorschlag von Knief ihren Namen in IKD (Internationale Kommunisten Deutschlands) umänderten. Ihre bekanntesten Vertreter waren Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim. Von den Bremer Kommunisten unterschieden sie sich durch ihre syndikalistische und anarchistisch ausgerichtete Politik gegen die Führer. „Arbeiterpolitik“ hingegen blieb bei ihrem korrekten Standpunkt, als sie schrieb: „Die Sache der Linksradikalen, die Frage der zukünftigen kommunistischen Partei Deutschlands, in der sich früher oder später all diejenigen zusammenfinden werden, die den alten Idealen treu geblieben sind, beruht nicht auf großen Namen. Im Gegenteil, wenn wir den Sozialismus erreichen wollen, ist und muss das wirklich neue Element sein, dass die anonyme Masse ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt, dass jeder Genosse seinen eigenen Beitrag liefert, ungeachtet der 'großen Namen', die an seiner Seite sind.“
Die unverhohlen syndikalistische Orientierung der Politik der Hamburger Gruppe leitete sich zum Teil aus den Erfahrungen und dem Engagement Wolffheims bei den International Workers of the World in Amerika ab.
Der beste Ausdruck dieser Periode der Klassenbewegung war zweifellos in der Bremer Gruppe zu finden. Dies zu erkennen heißt gleichzeitig, die Fehler und Bedenken der Spartakusgruppe (einschließlich ihrer besten Theoretikerin Rosa Luxemburg) in der Organisationsfrage, der Auffassung über den revolutionären Prozess und der Rolle der Partei zu enthüllen. Wenn wir auf Rosa Luxemburgs Fehler hinweisen, bedeutet dies jedoch in keiner Weise eine Ablehnung ihres heroischen Kampfes; es erlaubt uns lediglich zu begreifen, dass neben den weitreichenden Einsichten, die sie in ihrem theoretischen Kampf gegen Bernstein und Kautsky entwickelte, sie auch Positionen vertrat, die wir nicht akzeptieren können.
Wir haben keine Götter zu verehren! Im Gegenteil, wir müssen die Notwendigkeit begreifen, die Irrtümer der Vergangenheit zu verstehen, um sie heute vermeiden zu können. Wir müssen wissen, wie wir die nützlichen, aber unvollständigen Lehren (in diesem Fall über die Funktion und die organisatorischen Aufgaben der Revolutionäre) aus der historischen Bewegung des Proletariats ziehen können.
Um unsere eigenen Aufgaben zu erfüllen, müssen wir auch die unauflösliche Verknüpfung verstehen, die zwischen den Aktivitäten kleiner Gruppen in Zeiten, wenn die Konterrevolution die Oberhand gewonnen hat (und das Beispiel der Arbeit von Bilan und Internationalisme ist ein beredtes Zeugnis dafür), und der Handlung einer politischen Gruppe existiert, wenn die unüberwindbaren Widersprüche des Kapitalismus die Klasse zum revolutionären Kampf drängen. Dann geht es nicht länger darum, Positionen zu verteidigen, sondern (auf der Grundlage einer ständigen Weiterentwicklung dieser Positionen, auf der Grundlage des Klassenprogramms) fähig zu sein, die Spontaneität der Klasse zu festigen, ein Ausdruck des Klassenbewusstseins zu sein und mitzuhelfen, die Kräfte auf die entscheidende Offensive vorzubereiten, mit anderen Worten: die Partei, ein wesentliches Moment im Triumph des Proletariats, zu bilden.
Doch Parteien fallen genauso wenig wie Revolutionen voll entwickelt vom Himmel. Wie meinen wir das? Organisatorische Willkür ist nicht einfach nur ein alter Zopf; sehr häufig diente sie der Konterrevolution. Eine „Partei“ zu proklamieren, die eigene Organisation als eine Partei in einer Periode der Konterrevolution aufzubauen ist eine Absurdität, ein sehr schwerer Fehler, der von dem Unvermögen zeugt, den Kern des Problems zu begreifen, wenn es keine revolutionäre Perspektive gibt. Jedoch genauso folgenschwer ist es, wenn man diese Frage vernachlässigt und hinausschiebt, bis es zu spät ist. Es ist der zweite Irrtum, der uns hier interessiert.
Diejenigen, die meinen, alle Probleme mit der Spontaneität lösen zu können, setzen die unbewusste Spontaneität an die Stelle eines Übergangs von der Spontaneität zum Bewusstsein. Sie wollen oder können es nicht begreifen, dass diese Bewusstseinserlangung durch die Klasse in ihrem Kampf auch dazu führen muss, die Notwendigkeit eines geeigneten Instrumentes anzuerkennen, mit dem der Angriff gegen den Staat, dem Bollwerk des Kapitals, überhaupt erst durchgeführt werden kann.
Wenn die Spontaneität ein Momentum ist, das wir befürworten, so tötet der Spontaneismus – die Theoretisierung der Spontaneität – die Spontaneität und drückt sich selbst in einer Reihe von abgestandenen Formeln aus: in dem fieberhaften Versuch, “da zu sein, wo die Massen stehen“, in der Unfähigkeit zu beurteilen, wann man im Momenten des Rückfalls und Rückflusses „gegen die Strömung“ sein muss, um später, in entscheidenden Momenten, „mit der Strömung zu schwimmen“. Die Unstimmigkeiten von Rosa Luxemburgs in der Organisationsfrage spiegeln sich auch in ihrer Auffassung über die Machteroberung wider – und wir möchten hinzufügen, dass dies angesichts der engen Verbindung zwischen diesen beiden Fragen unvermeidlich war: „So soll die Machteroberung nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen.“ (Rosa Luxemburg, Gründungsparteitag der KPD - Unser Programm und die politische Situation, in: Gesammelte Werke Bd. 4, S. 511)
Aber leider blieb es nicht dabei. Im November 1918 gab Paul Fröhlich (Vertreter der Bremer Gruppe) in Hamburg den folgenden Aufruf aus: „Es ist der Anfang der Deutschen Revolution, der Weltrevolution: Es lebe die deutsche Republik der Arbeiter! Es lebe der Weltbolschewismus!“ Doch statt zu fragen, warum solch ein massiver Aufstand des Proletariats in die Niederlage führte, sagte Rosa Luxemburg einen Monat später: „Am 9. November haben Arbeiter und Soldaten das alte Regime in Deutschland zertrümmert. [...] Am 9. November erhob sich das deutsche Proletariat, um das schmachvolle Joch abzuwerfen. Die Hohenzollern wurden gejagt, Arbeiter- und Soldatenräte gewählt." (Rosa Luxemburg, Was will der Spartakusbund?, in: Gesammelte Werke Bd. 4, S. 442)
Sie interpretierte die Machtübergabe von der Bande um Wilhelm dem Zweiten an jene von Ebert, Scheidemann, Haase als eine Revolution und nicht als einen gegen die Revolution gerichteten Austausch der alten Garde.[6] [6]
Die Unfähigkeit, die historische Rolle der Sozialdemokratie zu begreifen, sollte Luxemburg das Leben kosten sowie das Liebknechts und tausender Proletarier. Die KAPD und die italienische Linke wussten die Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen. (Eine der grundsätzlichen Differenzen zwischen der Komintern und der KAPD war ihre Ablehnung jeglichen Kontaktes mit der USPD). Bordiga schrieb am 6. Februar 1921 in „II Comunista" einen Artikel mit dem Titel „Die historische Funktion der Sozialdemokratie“, aus dem wir einige Auszüge zitieren wollen:
„Die Sozialdemokratie hat eine historische Funktion in dem Sinne, dass es wahrscheinlich in den westlichen Ländern eine Periode geben wird, in der die sozialdemokratischen Parteien in der Regierung sitzen werden - allein oder in Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien. Da aber, wo das Proletariat nicht die Möglichkeit hat, dies zu verhindern, bedeutet diese zwischenzeitliche Periode keine positive oder notwendige Vorbereitung für die Entwicklung revolutionärer Formen und Institutionen; anstatt eine letzte nützliche Vorbereitung darauf darzustellen, wird es ein letzter Versuch der Bourgeoisie sein, um die Angriffe des Proletariats zu vermindern, abzulenken, um es schließlich unter den Schlägen der Weißen Reaktion abzuschlachten, falls es noch kräftig genug ist, gegen die rechtmäßige, menschliche, anständige Regierung der Sozialdemokratie aufzustehen. Für uns kann es keinen anderen revolutionären Machtwechsel geben, als den aus den Händen der herrschenden Bourgeoisie in die des Proletariats, sowie man sich keine andere Form der proletarischen Macht vorstellen kann als die der Rätediktatur."
Die halbherzigen Schritte der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)
Wir haben diesen Text mit dem Gründungsparteitag der KPD (30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919) begonnen und haben dann einen Abstecher zu ihren Ursprüngen gemacht. Wir wollen nun beim anfänglichen Ausgangspunkt fortfahren.
Auf diesem Gründungsparteitag kristallisierten sich zwei diametral entgegengesetzte Positionen heraus. Auf der einen Seite gab es die Minderheit um Jogiches, Luxemburg und Paul Levi, die die wichtigsten Persönlichkeiten der neuen Partei um sich scharte und ungeachtet ihrer Minderheitsposition die Führung innehatte. (Ihre spöttische Haltung und ihre halbe Weigerung, den überwiegenden Positionen der Linken eine Ausdrucksmöglichkeit zuzugestehen - allein Fröhlich wurde von der „Zentrale“ akzeptiert - führte einige Monate später zu der Posse des Heidelberger Kongresses). Auf der anderen Seite gab es die große Mehrheit der Partei: die Leidenschaft und das revolutionäre Potential, das von den IKD und einem großen Teil der Spartakisten ausgedrückt wurde. Die Positionen der Linke, mit Liebknecht vorneweg, wurden mit überwältigender Mehrheit angenommen: gegen die Teilnahme an Wahlen, für den Austritt aus den Gewerkschaften, für den Aufstand.
Doch die Mehrheit hatte keine klare Vorstellung von den unmittelbaren Aufgaben, und die militärische Frage verlangte nach der zentralisierten und führenden Rolle der Partei. Eine Art Föderalismus und regionalistische Unabhängigkeit beherrschte die Situation. In Berlin wusste nahezu niemand, was im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland oder im Süden passiert, und umgekehrt. Selbst die „Rote Fahne“ erkannte am 8. Juni 1919: „Das Nichtbestehen eines Zentrums mit der Aufgabe, die Arbeiterklasse zu organisieren, kann nicht weiter andauern [...] Es ist äußerst wichtig, dass die revolutionären Arbeiter leitende Organe errichten, die imstande sind, die kämpferische Energien der Massen zu leiten und zu nutzen.“ Und dieser Vorschlag bezieht sich allein auf die Situation in Berlin.
Die Desorganisation wuchs noch weiter an und erreichte ihren Höhepunkt nach dem Tod Luxemburgs und Liebknechts. Die Partei war gerade in dem Augenblick ohne Kopf, als sie in die Illegalität gezwungen und dem konterrevolutionären Terror ausgesetzt war. Die Räterepubliken, die fast überall in Deutschland entstanden (Bremen, München usw.), wurden nacheinander besiegt, die proletarischen Kämpfer vernichtet. Die revolutionäre Welle, das ungeheure Potenzial, das die Klasse besaß, erlebten einen Rückschlag. Wir möchten an dieser Stelle den Brief Lenins an die Bayrische Räterepublik vom April 1919 vollständig zitieren. Überflüssig zu sagen, dass die meisten konkreten Maßnahmen, die Lenin darin empfiehlt, nie ergriffen worden waren: „Wir danken für die Begrüßung und begrüßen unsrerseits von ganzem Herzen die Räterepublik in Bayern. Wir bitten, Sie mögen uns häufiger und konkreter mitteilen, welche Maßnahmen Sie zwecks Bekämpfung der bürgerlichen Henker, der Scheidemänner und Compagnie durchgeführt haben, ob Sie in Stadtbezirken Arbeiterräte und Hausangestelltenräte geschaffen haben, ob Sie die Bourgeoisie entwaffnet haben und die Arbeiter bewaffnet, ob Sie Kleiderlager und andere Warenlager beschlagnahmt. Ob Sie speziell die Fabriken und die Reichtümer der kapitalistischen Landwirtschaftsunternehmungen in der Umgebung expropriiert, ob Sie die Hypotheken- und Pachtabgaben für die Kleinbauern abgeschafft haben, ob Sie die Löhne der Landarbeiter und der ungelernten Arbeiter verdoppelt und verdreifacht haben, ob Sie alles Papier und Druckereien für die Herausgabe populärer Flugblätter und Zeitungen für die Massen konfisziert haben, ob Sie den sechsstündigen Arbeitstag mit zwei- oder dreistündiger Beschäftigung auf Staatsverwaltungsgebiet eingeführt haben, ob Sie die Bourgeoisie gezwungen haben, weniger Raum zu bewohnen zwecks sofortiger Einführung der Arbeiter in reichen Wohnungen, ob Sie alle Banken in Ihre Hände genommen haben, ob Sie Geiseln aus der Bourgeoisie genommen haben, ob Sie höhere Lebensmittelrationen für die Arbeiter als für die Bourgeoisie eingeführt haben! Ob Sie alle Arbeiter für die Verteidigung der Räteregierung bis zum letzten Mann und die Ideenpropaganda in den umliegenden Dörfern mobilisiert haben? Durch restlose Durchführung solcher und ähnlicher Maßnahmen in großem Maßstabe mit Selbstständigkeit der Arbeiterräte und Abgesandten der Kleinbauerräte muss Ihre Lage gefestigt sein. Es ist notwendig, der Bourgeoisie eine außerordentliche Steuer aufzuerlegen, um den Arbeitern, Landarbeitern, Kleinbauern sofort, um jeden Preis, eine tatsächliche Besserung ihrer Lage zu gewähren. Beste Grüße und Wünsche wirklicher Erfolge!“ (Lenin, in Neubauer, Helmut, Dorst, Tankred (Hg.): Die Münchner Räterepublik. Zeugnisse und Kommentar, Frankfurt am Main 1968, S. 109).
Der Mangel an theoretischer Vorbereitung und das Unvermögen, dieser Situation gewachsen zu sein, führten schließlich beim ersten Anzeichen des Rückflusses zur Spaltung der deutschen Bewegung. Auf der einen Seite gab es jene, die begannen, sich am Bolschewismus, am siegreichen Russland zu orientieren, um ihre Propaganda, ihre strategischen und taktischen Mittel aufzugreifen, in dem absurden Versuch, sie auf Deutschland anzuwenden. Der Fall Radek ist dafür bezeichnend: Der ehemalige Wortführer der Bremer Kommunisten, des kompromisslosesten Flügels der Bewegung, wurde nach dem Rückschlag der Kämpfe im Sommer 1919 zusammen mit Paul Levi zu einem der Architekten des Heidelberger Parteitages (Oktober 1919), auf dem sämtliche Errungenschaften des Gründungsparteitages der Partei verworfen und durch den „taktischen“ Gebrauch von Wahlen, der Arbeit in den ultra-reformistischen Gewerkschaften und schließlich der „Offenen Briefe“ sowie der Einheitsfront ersetzt wurden.
Daher ist der Ruf nach Zentralisierung durch diese Tendenz von sehr zweifelhaftem Wert, da sie einen entgegengesetzten Kurs zur Weiterentwicklung der spontanen Bewegung einschlug. Andererseits sollte der revolutionäre Flügel, der sich weigerte, solch eine willkürliche Auswahl zu treffen, und dessen Methoden und Voraussagen weitaus fruchtbarer waren, auf eine Mauer wachsender Schwierigkeiten stoßen, sobald er sich als organisierte Tendenz gebildet hatte.
Ist die Weltrevolution wegen der Schwäche der Russischen Revolution gescheitert? Oder ist die Russische Revolution wegen der Schwäche der Weltrevolution gescheitert?
Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach und fordert ein Verständnis der gesellschaftlichen Dynamik dieser Jahre. Die Russische Revolution war ein großartiges Beispiel für das westliche Proletariat. Die Dritte Internationale, im März 1919[7] [7] gegründet, ist ein Exempel für den revolutionären Willen der Bolschewiki und stellt einen wirklichen Versuch ihrerseits dar, die Unterstützung der europäischen Kommunisten zu erlangen. Doch die inneren Schwierigkeiten der Russischen Revolution, die gegen Ende des Bürgerkrieges sprunghaft anstiegen und allein im russischen Rahmen keine Lösung finden konnten, die Niederlage der ersten Phase der Deutschen Revolution (Januar – März 1919) und der Ungarischen Räterepublik haben die russischen Kommunisten davon überzeugt, dass es in Europa keine kurzfristige revolutionäre Perspektive mehr gab. Ihnen zufolge ging es nun nur noch darum, die Mehrheit der Arbeiter für die nächste Periode zurückzugewinnen, die sozialdemokratischen Massen von der Richtigkeit der kommunistischen Positionen zu überzeugen usw. Es gab die Tendenz, die USPD zu schonen, sie als rechten Flügel der Arbeiterbewegung und nicht als Fraktion der Bourgeoisie zu betrachten; es kam zu einer dauerhaften Preisgabe des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, des Versuchs, sich auf am weitesten fortgeschrittenen Schichten der Klasse zu beziehen, indem darauf bestanden wird, die Sozialdemokratie auf der Grundlage des Kampfgeistes dieser Arbeiter anzugreifen und zu entlarven.
Wir können also feststellen, dass nachdem schon das Zaudern der westlichen Kommunisten in der ersten Phase (1918-19) tödlich gewesen war, nun auch noch die Kommunistische Internationale selbst zu einem Hindernis für das Aufblühen – wie spät auch immer – einer authentischen Avantgarde in Europa wurde, als die Situation noch revolutionär war (und wir sprechen nur von den Jahren 1920-21, nach denen man noch von zwei weiteren Jahren der proletarischen Reaktion gegen die Angriffe der Bourgeoisie sprechen konnte, wie Hamburg 1923, und erst dann von der endgültigen Niederlage Arbeiterklasse). Der Übergang von der einen Situation zur anderen entwickelte sich schrittweise. Wir können dennoch auf zwei entscheidende Momente des Niedergangs hinweisen: die Auflösung des Amsterdamer Büros der Komintern und Lenins Text „Der Linksradikalismus, Kinderkrankheit im Kommunismus“.
Zurück zur KPD und ihrer Unbeständigkeit. Am 17. August 1919 wurde eine nationale Konferenz in Frankfurt abgehalten. Levis Angriffe auf die Linke waren dabei ein Misserfolg. Aber im Oktober desselben Jahres in Heidelberg hatte er mehr Erfolg. Auf einem Geheimkongress, an dem die Bezirkssektionen nur spärlich repräsentiert waren und der gegen den Willen Vieler abgehalten wurde, wurde die Spaltung praktisch beschlossen, indem programmatische, im Januar verabschiedete Positionen geändert wurden. Der Punkt 5 des neuen Parteiprogramms lautete: „Die Revolution, die kein einmaliger Schlag, sondern das lange, zähe Ringen einer seit Jahrtausenden unterdrückten und daher ihrer Aufgabe und ihrer Kraft nicht von vornherein voll bewussten Klasse ist, ist dem Auf- und Abstieg, der Flut und der Ebbe ausgesetzt.“ (unsere Hervorhebung)
Und Levi unterstützte kurz danach die Auffassung, dass eine neue revolutionäre Welle noch 1926 (!!) kommen könne. Der Entschluss, die „Linksextremisten“, die „Abenteurer“ auszuschließen, wurde jedoch bis zum Dritten Parteitag der KPD 1920 nie gefasst. Nach Heidelberg versuchte die Linke, sich in der KPD-O (das „O“ stand für Opposition) zu organisieren, was darauf hinauslief, dass es in den ersten Monaten des Jahres 1920 eigentlich zwei KPDs gab: die KPD-S und die KPD-O. Dies alles spielte sich in einer total verworrenen Situation ab. Die Nachrichten, die nach Moskau durchzudrangen, waren sporadisch und fragmentarisch. Im „Gruß an die italienischen, französischen und deutschen Kommunisten“, datiert vom 10. Oktober 1919, schrieb Lenin: „Von den deutschen Kommunisten, haben wir nur erfahren, dass es in einer Reihe von Städten eine kommunistische Presse gibt. (...) Ebenso liegt es in der Natur der Dinge, dass in einer Bewegung, die so rasch wächst, die so erbittert verfolgt wird, ziemlich heftige Meinungsverschiedenheiten auftreten. (…) Die Meinungsverschiedenheiten bei den deutschen Kommunisten laufen, soweit ich das beurteilen kann, auf die 'Ausnutzung der legalen Möglichkeiten' (…) hinaus, auf die Ausnutzung des bürgerlichen Parlaments und der reaktionären Gewerkschaften, des Gesetzes über die (von den Scheidemännern und Kautskyanern verstümmelten) Räte, auf die Frage, ob man sich an derartigen Einrichtungen beteiligen oder sie boykottieren soll.“ (Lenin, Gruß an die italienischen, französischen und deutschen Kommunisten, in: Lenin Werke Bd. 30, S. 36ff).
In den genannten Punkten bezog Lenin Stellung für die Politik Levis.
Doch das zentrale Problem, das sich einige Monate später manifestieren sollte, bestand darin, entweder den illegalen revolutionären Kampf und die militärische Vorbereitung oder legale Aktivitäten in den Gewerkschaften und im Parlament aufnehmen. Dies war die Grundlage der Konfrontation zwischen den beiden „Linien“ der KPD. Das Zentrum der Opposition blieb eine Zeit lang in Hamburg, Schnell gerieten aber Wolffheim und Laufenberg in Misskredit. Sie waren es, die die Theorie des „Nationalbolschewismus“ entwickelten, der zufolge die Verteidigung Deutschlands gegen die westlichen Mächte eine revolutionäre Aufgabe sei, selbst um den Preis eines Bündnisses mit der deutschen Bourgeoisie.[8] [8] Bremen, das bereits als Informationszentrum fungierte, wurde von da an zum Bezugspunkt des Linkskommunismus. Bis Anfang 1920 kämpfte das Bremer “Informationszentrum“ an zwei Fronten: gegen die Parteizentrale und gegen Hamburg. Bremen versuchte nicht zu spalten, sondern die Ergebnisse des Heidelberger Parteitages für die Diskussion emporzuhalten. Die “Zentrale“, unterstützt von Levi, lehnte jedoch jede Diskussion mit dem Hinweis auf den Kampf der Hamburger gegen den Nationalbolschewismus ab. Der Putschversuch von Kapp im März 1920, der diesen Divergenzen einen „praktischen“ Inhalt gab, machte allen Diskussionen ein Ende.
Untersuchen wir jetzt die proletarische Antwort auf diesen Putschversuch und das Verhalten der verschiedenen Organisationen:
Im Ruhrgebiet hatte die Reichswehr ihre Position gegenüber Kapp nicht sofort geklärt, und angesichts der Tatsache, dass alle, vom ADGB über die Sozialdemokratie und die Zentristen bis zur KPD(S), zum Generalstreik aufriefen (wobei die KP-Zentrale in den ersten Tagen noch zögerte), barg die Situation revolutionäres Potenzial in sich, wenn die Führung der Gewerkschaften und der parlamentarischen Parteien gebrochen worden wäre. In der Tat hatten zahlreiche Regionen wie das Ruhrgebiet und Mitteldeutschland die großen proletarischen Niederlagen der vergangenen Jahre in Berlin, Bremen, München und Hamburg, nicht durchleben müssen.
Im Ruhrgebiet gab es beträchtliche Spannungen zwischen der Reichswehr und den Arbeitern. Die durch den Kapp-Putsch entstandene Situation führte sofort zur Bewaffnung der streikenden Arbeiter. (Die Tatsache, dass viele kämpferische Arbeiter sich dem Einfluss des ADGB entzogen, um der FAUD-S beizutreten, war gleichermaßen wichtig). Auf Grund des demokratischen und verfassungstreuen Charakters des Generalstreiks konnten die Unabhängigen und die zahllosen Sozialdemokraten in den ersten Tagen nun versuchen, die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu bremsen, jedoch ohne Erfolg in den ersten Höhepunkten des Kampfes. Die Situation entwickelte sich wie folgt: In jeder Stadt bildeten sich auf lokaler Ebene unabhängig von den Gewerkschaften proletarische Einheiten, die die Waffen gegen die Soldaten der Reichswehr erhoben. Die aufständischen Städte vereinigten sich und marschierten zu den sich noch in den Händen der Armee befindlichen Städte, um die dortigen Arbeiter zu unterstützen.
Während ein Teil der Roten Ruhr-Armee (wie sie genannt wurde) die Reichswehr aus dem Ruhrgebiet vertrieb, indem sie eine Front parallel zur Lippe bildete, eroberten andere Arbeitereinheiten nacheinander Remscheid, Essen. Düsseldorf, Mühlheim, Duisburg, Hamborn und Dinslaken und drängten binnen kurzer Zeit, vom 18. bis zum 2l. März, die Reichswehr entlang des Rheins bis nach Wesel zurück.
Am 20. März, nach dem Scheitern des Putsches, erklärte der ADGB, dass der Generalstreik nun abgelaufen sei, und am 22. März schlossen sich die SPD und die USPD dem an.
Am 24. März kamen Vertreter der sozialdemokratischen Regierung und von SPD, USPD und eines Teils der KPD zu einem Übereinkommen: Ausrufung einer Waffenruhe, Entwaffnung der Arbeiter und Freiheit für jene Arbeiter, die „illegale Handlungen“ begangen hatten. Ein großer Teil der Roten Ruhr-Armee erkannte diese Übereinkunft nicht an und kämpfte weiter.
Am 30. März stellte die sozialdemokratische Regierung und die Reichswehr ein Ultimatum an die Arbeiter: Entweder sie erkennen unverzüglich die Übereinkunft an oder die Reichswehr (deren Stärke sich dank der Ankunft von Freikorps-Truppen aus Bayern, Berlin, Norddeutschland und aus dem Baltikum vervierfacht hatte) werde eine neue Offensive beginnen.
Die Koordination zwischen den verschiedenen Arbeitertruppen war wegen des Verrats durch die Unabhängigen, das Zentrum der KPD, die Syndikalisten und aufgrund der Rivalität zwischen den drei militärischen Zentren der Roten Ruhr-Armee auf ein Minimum gesunken. Die Reichswehr und die zahlreichen Freikorps eröffneten eine breite Offensive an allen Fronten. Am 4. April fielen Duisburg und Mühlheim, gefolgt von Dortmund am 5. April und Gelsenkirchen am 6. April.
Nun begann ein brutaler Weißer Terror, ihm fielen nicht nur die bewaffneten Arbeiter zum Opfer, sondern auch ihre Angehörigen, die massakriert wurden, wie auch die jungen Arbeiter, die geholfen hatten, die verwundeten Kämpfer von der Front zu bergen.
Die Rote Ruhr-Armee bestand aus 80.000 bis 120.000 Arbeiter. Sie war in der Lage, eine Artillerie und eine kleine Luftwaffe aufzustellen. Der Verlauf der Kämpfe führte zur Entstehung dreier militärischer Zentren:
Keine nationale Zentrale übernahm die Führung der Kämpfe, die lokale proletarische Bewegung konnte ihren Willen zur Zentralisierung nur auf lokalem Niveau umsetzen. Selbst in Mitteldeutschland bewaffneten sich die Arbeiter, und eine Reihe von Städten rund um Halle inszenierten unter der Führung des Kommunisten Max Hölz Aufstände. Aber die Bewegung war nicht imstande weiterzugehen, da die KPD-S, die sehr stark in Chemnitz war, wo sie die größte Partei war, sich damit zufrieden gab, die Arbeiter im Einverständnis mit den Sozialdemokraten und den Unabhängigen zu bewaffnen und…. die Rückkehr Eberts in die Regierung abzuwarten.
Brandler, der Führer des Arbeiterrates von Chemnitz, verstand seine Rolle als lokaler kommunistischer Führer darin, den Ausbruch von Gefechten zwischen den Kommunisten um Max Hölz, die sich mit den von der Reichswehr in Chemnitz zurückgelassenen Waffen bewaffnen wollten, und den Sozialdemokraten zu verhindern, die fortwährend bereit waren, einen Angriff gegen die Revolutionäre zu richten - sie unternahmen verschiedene Versuche, die „Heimwehr“ (von der lokalen Bourgeoisie bewaffnete Weiße Truppen) gegen sie anzusetzen.
Der Zentrismus der KPD(S) zeigte sich ganz klar in der Tatsache, dass, während die Arbeiter noch im Kampf standen, die Levi-Zentrale am 26. März 1920 die Losung der “loyalen Opposition“ für den Fall einer “Arbeiterregierung“, bestehend aus Sozialdemokraten und den Unabhängigen, ausgab. Die Rote Fahne, Zentralorgan der KPD(S), schrieb in ihrer 32. Nummer 1920: „Unter loyaler Opposition verstehen wir folgendes: keine Vorbereitung auf die bewaffnete Machtübernahme, natürliche Freiheit für die Agitation der Partei, für ihre Zwecke und ihre Losungen.“
Die KPD gab also ihre revolutionären Ziele auf, was die Notwendigkeit einer revolutionären kommunistischen Partei im deutschen Proletariat dringender denn je machte.
Es war also ein natürliches historisches Ergebnis, dass die Linkskommunisten angesichts des Verrats der offiziellen Sektion der Dritten Internationale im darauffolgenden Monat (April 1920) die KAPD (Kommunistische Arbeiter Partei Deutschlands) gründeten.
Im Laufe dieser Monate fand noch ein anderes wichtiges Ereignis statt: der Austritt der Bremer Linken aus der KPD-O und ihre Rückkehr zur KPD-S, wo sie mit Fröhlich und Karl Becker (auf dessen Rolle in den darauffolgenden Jahren und insbesondere im Frühjahr 1921wir später noch zurückkommen werden) eine Rolle spielen sollte. Wir verfügen nicht über ausreichendes Material, um zu verstehen und ein Urteil darüber zu fällen, wie ernst dieser Schlag gegen den Linkskommunismus und wie groß der Erfolg der Levi-Führung dabei war. Zweifellos wurde die Bremer Gruppe bei ihrer Entscheidung von ihrem Gefühl der Loyalität gegenüber der Kommunistischen Internationale (die die KPD-S trotz starker Vorbehalte unterstützte) und ihrer klaren Opposition gegen die Hamburger Gruppe von Laufenberg und Wolffheim beeinflusst.
Wir haben bis jetzt nicht von den Gewerkschaften, den Räten und den Arbeiter-Unionen gesprochen, die die zentralen Punkte der Debatten und Differenzen in der deutschen Arbeiterbewegung darstellten. Die Komplexität dieser Frage zwang uns, zuerst andere Probleme zu behandeln, ehe wir in der Lage waren, uns der „Gewerkschaftsfrage“ so klar wie möglich anzunähern. Dies soll in unserem nächsten Text versucht werden.
S.
[1] [9] Sämtliche Zitate, an deren Ende keine Quellenangabe steht, sind aus unserem ursprünglichen Artikel übersetzt worden, da die Originaltexte nur noch schwer zu finden sind.
[2] [10] Die Historiker und die Geschichtsschreibung haben den Begriff „Linksradikale“ verwendet, um Gruppen wie die Bremer oder Hamburger, später die KPD und die Arbeiter-Unionen zu beschreiben. Der Begriff „Ultralinke“ wurde gebraucht, um in den darauffolgenden Jahren die Linksopposition innerhalb der KPD (Friesland, Fischer, Maslow) zu beschreiben.
[3] [11] Selbst unter den Werftarbeitern in Bremen gab es Abonnementen der Zeitschrift Arbeiterpolitik.
[4] [12] Es bestanden viele Differenzen zwischen den Bremer Kommunisten und den Spartakisten in der Interpretation der Ereignisse in Russland. Wir wollen an dieser Stelle lediglich die Frage der Anwendung des „revolutionären Terrors“ erwähnen. Im Namen der Bremer Gruppe kritisierte Knief Luxemburgs Position, sich der Anwendung des Klassenterrors im revolutionären Kampf verweigern.
[5] [13] In Gotha traten die Spartakisten in die USPD ein.
[6] [14] Auf dem Vierten Kongress der Komintern (November 1922) verteidigte Radek diese Position, indem er sagte, dass man der Sozialdemokratie dafür danken solle, weil sie „uns den Gefallen getan hat, den Kaiser zu stürzen.“
[7] [15] Auf dem Ersten Kongress der Komintern hatte der Vertreter der KPD den Auftrag, gegen die Gründung der Internationale zu stimmen. Unter dem Druck und der Überzeugung der anderen Delegierten enthielt sich Eberlein der Stimme.
[8] [16] Die nationalbolschewistische Position wurde, ohne viel Aufhebens zu machen, von der KPD 1923 wiederaufgenommen. Brandler und Thalheimer äußerten sich dazu: „In dem Maße, indem sie einen defensiven Kampf gegen den Imperialismus führt, spielt die deutsche Bourgeoisie in der jetzt entstandenen Situation eine objektiv revolutionäre Rolle. Aber als reaktionäre Klasse kann sie nicht auf die einzigen Methoden zurückgreifen, die das Problem lösen könnten. (…) Unter diesen Umständen ist die Voraussetzung für den Sieg des Proletariats der Kampf gegen die französische Bourgeoisie und die Fähigkeit, die deutsche Bourgeoisie in diesem Kampf zu unterstützen, indem das Proletariat die von der Bourgeoisie sabotierte Organisation und Führung des Verteidigungskampfes übernimmt.“
Weiter konnte man im Juni 1923 im Inprekorr (Internationale Pressekorrespondenz, Zeitung der Komintern) lesen: „Der National-Bolschewismus von 1920 konnte nur ein Bündnis zum Schutz der Generäle sein, die den unmittelbar nach ihrem Triumph die Kommunistische Partei zerschlagen würde. Heute bedeutet dies die Tatsache, dass alle davon überzeugt sind, dass die einzige Lösung bei den Kommunisten liegt. Heute sind wir die einzig mögliche Lösung. Das strikte Beharren auf das nationale Element ist wie in den Kolonien ein revolutionärer Akt.“ (Hervorhebung von der IKS)
Das Gespenst der kommunistischen Revolution geht aufs Neue in der Welt um. Jahrzehntelang glaubten die herrschenden Klassen die Geister, die das Proletariat im letzten Jahrhundert und zu Beginn des jetzigen in Bewegung gesetzt hatte, für immer ausgetrieben zu haben. Tatsächlich hat die Arbeiterklasse niemals eine schrecklichere und längere Niederlage erlebt. Die Konterrevolution, die nach den Kämpfen von 1848 über die Arbeiterklasse hereingebrochen war, die Konterrevolution, die dem heroischen Versuch der Pariser Kommune folgte, wie auch die Demoralisierung und der Rückzug, die den Schlussakkord nach dem Scheitern der Russischen Revolution von 1905 setzten - sie alle sind nichts gegenüber der erdrückenden Last, die während eines halben Jahrhunderts auf allen Ausdrücken des Klassenkampfes lastete. Diese Konterrevolution entsprach in ihrem Ausmaß dem Schrecken, den die Bourgeoisie angesichts der großen revolutionären Welle verspürte, die dem I. Weltkrieg folgte und der es bisher als einzige gelang, das kapitalistische System bis in seine Grundfeste zu erschüttern. Niemals, nachdem es solche Höhen erreicht hatte, hatte das Proletariat eine derartige Katastrophe, eine solche Schmach erlitten. Und niemals zuvor hatte die Bourgeoisie ihm gegenüber solch eine Arroganz an den Tag gelegt, die soweit ging, die schwersten Niederlagen der Klasse als „Siege“ zu verklären, die Idee der Revolution dagegen als Anachronismus, als überholten Mythos vergangener Epochen hinzustellen.
Doch heute lodert die revolutionäre Flamme wieder in der ganzen Welt auf. Oft noch konfus, zögernd, aber mit plötzlichen Vorstößen, die manchmal selbst die Revolutionäre in Erstaunen versetzen, hat sich der proletarische Riese erhoben, um aufs Neue das alte kapitalistische Gemäuer zu erschüttern. Von Paris bis Cordoba, von Turin bis Danzig, von Lissabon bis Schanghai, von Kairo bis Barcelona sind die Kämpfe der Arbeiter wieder zum Albtraum der Kapitalisten geworden.[1] [18] Zur gleichen Zeit und zusammen mit dem allgemeinen Wiederaufleben der Klasse sind wieder Gruppen und revolutionäre Strömungen aufgetaucht, die die gewaltige Aufgabe der theoretischen und praktischen Rekonstruktion eines der wichtigsten Werkzeuge des Proletariats, seiner Klassenpartei, in Angriff genommen haben.
Es ist daher Zeit für die Revolutionäre, ihrer Klasse die Perspektiven des bereits begonnenen Kampfes aufzuzeigen und die Lehren der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, damit sie den Grundstein für ihre Zukunft legen kann, und auch die Aufgaben zu bestimmen, die die Revolutionäre selbst als Ergebnis und aktiver Faktor des Kampfes des Proletariats zu bewältigen haben werden. Eben dies sind die Ziele des vorliegenden Manifestes.
Die Arbeiterklasse: Subjekt der Revolution
Das Proletariat ist die einzige revolutionäre Klasse unserer Epoche. Nur das Proletariat kann durch die Übernahme der politischen Macht auf Weltebene und die radikale Umwälzung der Bedingungen und Ziele der Produktion die Menschheit aus der Barbarei führen, in der sie haust.
Die Auffassung, der zufolge die Arbeiterklasse jene Klasse ist, die den Kommunismus aufbaut, und der zufolge ihre Stellung im Kapitalismus sie als einzige Klasse dazu qualifiziert, diesen zu stürzen, wurde bereits vor mehr als einem Jahrhundert entwickelt. Schon im ersten klaren programmatischen Ausdruck der Arbeiterbewegung, dem Kommunistischen Manifest von 1848, tauchte sie auf. Anschließend wurde sie von der 1. Internationale klar zum Ausdruck gebracht, die schrieb: „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein“. Seitdem haben Generationen von Proletariern sie in ihren zahllosen Kämpfen gegen das Kapital auf ihre Fahnen geschrieben.
Doch das furchtbare Schweigen, in das die Klasse ein halbes Jahrhundert lang gehüllt war, ermöglichte das Aufblühen aller Arten von Theorien über die „endgültige Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus“, über das Proletariat als „Klasse für das Kapital“, über die „universelle Klasse“ oder über die Randschichten, die die neuen Protagonisten der Revolution seien. Diese und andere, als neue Theorien präsentierten alten Kamellen erweiterten das Arsenal der Lügen der Bourgeoisie, die die Demoralisierung und ideologische Unterwerfung der Arbeiter unter das Kapital aufrechterhalten sollen.
Die IKS unterstreicht daher vor allem mit Nachdruck, dass heute nur die Arbeiterklasse und keine andere Klasse die revolutionäre Klasse ist.
Doch die Tatsache, dass diese Klasse, im Gegensatz zu den revolutionären Klassen der Vergangenheit, in der Gesellschaft, die sie umwälzen soll, über keine ökonomische Macht als Sprungbrett zur politischen Machteroberung verfügt, zwingt sie dazu, die politische Macht zu erobern, bevor sie diese Umwälzung in Angriff nehmen kann. So wird die proletarische Revolution anders als die der Bourgeoisie, die von einem Erfolg zum anderen eilte, notwendigerweise die Krönung einer Reihe von partiellen, aber tragischen Niederlagen der Klasse darstellen. Und je mächtiger die Kämpfe der Klasse, desto furchtbarer werden die Niederlagen sein.
Die große revolutionäre Welle, die den I. Weltkrieg beendete und ein Jahrzehnt lang andauerte, ist eine schlagende Bestätigung, dass die Arbeiterklasse das einzige Subjekt für die kommunistische Revolution ist und dass Niederlagen ein Merkmal ihres Kampfes bis zum endgültigen Sieg sind. Die gewaltige revolutionäre Bewegung, die den bürgerlichen Staat in Russland stürzte und die anderen europäischen Staaten erzittern ließ, verursachte sogar in China ein gedämpftes Echo. Sie zeigte an, dass das Proletariat bereit war, einem System den Gnadenstoß zu versetzen, das in die Phase seines Todeskampfes eingetreten ist. Das Proletariat war bereit, das Urteil zu vollstrecken, das von der Geschichte über den Kapitalismus gefällt worden war. Da jedoch die Arbeiterklasse ihren anfänglichen Erfolg von 1917 nicht auf die ganze Welt ausdehnen konnte, wurde sie schließlich besiegt und vernichtet. Danach wurde die Aussage, dass die Arbeiterklasse die einzige revolutionäre Klasse ist, auf negative Art und Weise bestätigt. Weil die Arbeiterklasse mit ihrer Revolution scheiterte und weil keine andere Gesellschaftsklasse die Revolution an ihrer Stelle machen kann, sinkt die Gesellschaft unaufhaltsam in eine immer größere Barbarei.
Die Dekadenz des Kapitalismus
Die Dekadenz des Kapitalismus hat mit dem I. Weltkrieg begonnen, und die Gesellschaft kann ihr solange nicht entkommen, wie die proletarische Revolution ausbleibt. Dabei erweist sich die kapitalistische Dekadenz schon jetzt als die grauenhafteste Epoche in der Geschichte der Menschheit.
Auch in der Vergangenheit hatte die Menschheit Dekadenzperioden mit all dem damit verbundenen Elend und dem unbeschreiblichen Leid erlebt. Doch sie waren nichts im Vergleich zu dem, was der Menschheit seit den vergangenen 60 Jahren widerfährt. Die Dekadenz früherer Gesellschaften war von Hungersnöten und Mangel begleitet, jedoch in einem völlig anderen Kontext als heute, wo so viel menschliches Elend neben solch einer Vergeudung von Reichtum existiert. Heute, wo der Mensch phantastische Technologien meistert, die es ihm ermöglichen könnten, die Natur zu bändigen, bleibt er weiter ihren Launen ausgesetzt. Unter den heutigen Bedingungen sind „natürliche“, klimatische oder landwirtschaftliche Katastrophen noch tragischer als in der Vergangenheit. Schlimmer noch: die kapitalistische Gesellschaft ist die erste Gesellschaft in der Geschichte, deren unmittelbares Überleben von einer massiven, zyklischen Zerstörung eines immer größeren Teils ihrer selbst abhängt. Gewiss waren auch andere Dekadenzperioden voller Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse. Doch die Dekadenzperiode, in der wir leben, ist in einem unablässigen und teuflischen Kreislauf von Krise, Weltkrieg, Wiederaufbau und Krise gefangen, der die Menschheit zu einem furchtbaren Tribut an Tod und Schrecken zwingt. Heute tragen Technologien von ungeahnter wissenschaftlichen Raffinesse dazu bei, um das Vernichtungs- und Tötungspotenzial der kapitalistischen Staaten zu vergrößern. Die Zahl der Opfer imperialistischer Kriege muss auf zig Millionen beziffert werden. Hinzu kommen die systematischen und geplanten Massenmorde, mit denen uns der Faschismus und Stalinismus bedroht.
Es scheint in gewisser Weise, als müsse die Menschheit für das Reich der Freiheit, zu dem ihr die Beherrschung der modernen Technologie Zugang verschaffen soll, einen Preis entrichten, einen Preis, der sich nach den fürchterlichen Gräueltaten bemisst, die von derselben technologischen Vorherrschaft verursacht werden.
Inmitten dieser Welt der Zerstörungen und Verwerfungen hat sich wie ein Krebsgeschwür jenes Organ entwickelt, das die Stabilität und die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft garantieren soll: der Staat. Der Staat greift bis in die innersten Räderwerke der Gesellschaft ein, insbesondere in die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft. Wie Moloch, ein Gott der Antike, hat die monströse, kalte und anonyme Staatsmaschinerie die Substanz der Zivilgesellschaft und des Menschen verzehrt. Weit davon entfernt, irgendeinen „Fortschritt“ zu verkörpern, benutzt der Staatskapitalismus, gleich, welches ideologische und rechtliche System er annimmt, die barbarischsten Herrschaftsinstrumente. Der Staatskapitalismus, der den ganzen Planeten beherrscht, ist einer der brutalsten Ausdrücke des Verwesungsprozesses der kapitalistischen Gesellschaft.
Aber das wirksamste Instrument, das der dekadente Kapitalismus entwickelt hat, um sein Überleben zu sichern, war die systematische Einverleibung all der Kampf- und Organisationsformen gewesen, die die Arbeiterklasse von der Vergangenheit geerbt hatte, die jedoch durch die Veränderung der historischen Perspektive für ihre Zwecke unbrauchbar und gefährlich geworden sind. Alle Taktiken gewerkschaftlicher und parlamentarischer Art sowie die Einheitsfrontpolitik, die für die Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert durchaus nützlich gewesen waren, sind zu Mitteln der Lähmung ihrer Kämpfe verkommen und bilden die Hauptwaffe der Konterrevolution. Gerade weil alle Niederlagen der Arbeiterklasse als „Siege“ dargestellt wurden, musste die Arbeiterklasse die schlimmste Konterrevolution erleiden, die sie je erlebt hat. Die wichtigste Waffe sowohl für die Mobilisierung als auch für die Demoralisierung des Proletariats war zweifellos der arglistige Mythos, dass die Revolution in Russland einen „sozialistischen Staat“ hervorgebracht habe, der nun zur Bastion des Proletariats geworden sei (wo er doch nichts anderes als der Vertreter des verstaatlichten Kapitals Russland ist). Die Oktoberrevolution von 1917 weckte weltweit gewaltige Hoffnungen in der Arbeiterklasse. Später wurden die Arbeiter aufgefordert, ihre Kämpfe bedingungslos der Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes“ unterzuordnen. Damals begann auch die bürgerliche Ideologie, jenen, die den arbeiterfeindlichen Charakter des „sozialistischen Vaterlandes“ zu durchblicken begannen, die Idee einzuimpfen, dass alle Revolutionen wie die Russische Revolution enden, nämlich mit der Entstehung einer neuen ausbeutenden, unterdrückenden Klasse.
Durch die Niederlagen in den 1920er Jahren und noch mehr durch die Spaltungen in ihren Reihen demoralisiert, konnte die Arbeiterklasse die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre nicht nutzen, um eine neue Offensive gegen das Kapital zu eröffnen. Sie wurde in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite gab es die, welche, durch die Oktoberrevolution verblendet, nicht zwischen der Degeneration und dem Verrat der Parteien einerseits und den ursprünglichen Ereignissen andererseits unterscheiden konnten. Auf der anderen Seite standen jene, die jede Hoffnung auf die Revolution aufgegeben hatten. Unfähig, ihre eigenen Angriffe zu starten, wurde die Arbeiterklasse durch weitere Pyrrhussiege geschwächt und an Händen und Füßen gefesselt in den 2. Weltkrieg geführt. Anders als der I. Weltkrieg lieferte der II. Weltkrieg dem Proletariat nicht die Mittel, sich erneut auf revolutionäre Weise zu erheben. Stattdessen wurde sie hinter den großen „Siegen“ der Résistance, des Antifaschismus oder der nationalen „Befreiungsbewegungen“ in den Kolonien mobilisiert.
Die Hauptschritte, die sowohl die Niederlage und die Mobilisierung des Proletariats durch das Kapital als auch die Integration aller Parteien der Dritten Internationalen in die bürgerliche Gesellschaft markierten, hinterließen tiefe Wunden in der Arbeiterbewegung.
1920-21: Kampf der Kommunistischen Internationale gegen ihren linken Flügel anlässlich der Parlamentarismus- und Gewerkschaftsfrage;
1922-23: Annahme der Taktiken der „Einheitsfront“ und der Beteiligung an sog. „Arbeiterregierungen“ durch die Kommunistische Internationale, was in Sachsen und Thüringen zu Koalitionsregierungen von Kommunisten und Sozialdemokraten, den Henkern des Proletariats in Deutschland, führte, obwohl das Proletariat zu dem Zeitpunkt noch auf den Straßen kämpfte;
1924-26: Aufkommen der Theorie vom „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ - die Aufgabe des Internationalismus führte das Ende der Kommunistischen Internationale und den Übergang ihrer Parteien in das bürgerliche Lager herbei;
1927: politische und militärische Unterstützung Tschiang Kai-Tscheks durch die Komintern, was zum Massaker am chinesischen Proletariat und an den Kommunisten in China durch dessen Truppen führte;
1933: Triumph Hitlers;
1934: Eintritt Russlands in den Völkerbund, was seine Anerkennung durch die dort organisierten Räuber als einen der Ihren bedeutete. Dieser „große Sieg“ war in Wirklichkeit Symbol einer großen Niederlage des Proletariats;
1936: Bildung von „Volksfronten“ und Praktizierung der Politik der „nationalen Verteidigung“, die die „kommunistischen“ Parteien mit Zustimmung Stalins dazu veranlasste, für die Kriegskredite zu stimmen;
1936-39: der antifaschistische Schwindel - in Spanien wurden die Arbeiter im Namen der Demokratie und der Republik niedergemetzelt.
1939- 45: II. Weltkrieg und Mobilisierung des Proletariats für die Résistance. In diesem Krieg erstickte die Bourgeoisie - aus früheren Erfahrungen klug geworden - durch die militärische Besetzung der besiegten Länder jede Regung des Proletariats schon im Keim. Unfähig, durch ihre eigene Bewegung das Ende des Krieges zu erzwingen, wie dies 1917-18 der Fall gewesen war, ging die Klasse noch gebrochener aus diesem Krieg hervor, als sie in ihn hineingegangen war;
1945-65: Wiederaufbau und nationale „Befreiung“ - das Proletariat wurde aufgefordert, eine vom Krieg zerstörte, in Trümmern liegende Welt wiederaufzubauen. Dafür erhielt es einige Krümel von der Bourgeoisie, die diese aufgrund der Entwicklung der Produktion verteilen konnte. In den rückständigen Ländern wurde das Proletariat von der nationalen Bourgeoisie für den Kampf um die „Unabhängigkeit“ und für den „Antiimperialismus“ rekrutiert.
Die linkskommunistischen Fraktionen
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung der Klasse und des völligen Triumphes der Konterrevolution nahmen die linken Fraktionen - die sich von den degenerierenden kommunistischen Parteien abgewendet hatten - die schwierige Aufgabe in Angriff, die revolutionären Prinzipien zu verteidigen. Sie mussten sich den vereinten Kräften aller Fraktionen der Bourgeoisie entgegenstemmen und den tausend Fallen ausweichen, die diese ihnen stellten. Sie mussten sich dem ungeheuren Gewicht der herrschenden Ideologie in ihrer eigenen Klasse entgegenstellen, der Isolierung wie auch der physischen Verfolgung, der Demoralisierung, der Erschöpfung, des Verlustes und der Zerstreuung ihrer Mitglieder trotzen.
Mit ihrem Versuch, eine Brücke zwischen den alten, mittlerweile zur Bourgeoisie übergelaufenen Parteien des Proletariats und jenen Parteien, die das Proletariat in dem Moment seines nächsten revolutionären Aufschwungs bilden würde, zu bilden, vollbrachten die linkskommunistischen Fraktionen eine Herkulesarbeit. Sie versuchten, einerseits die proletarischen Prinzipien am Leben zu erhalten, die die Internationale und ihre Parteien an den höchsten Bieter verschleudert hatten, und andererseits auf der Grundlage dieser Prinzipien eine Bilanz aus den vergangenen Niederlagen zu erstellen. Dies taten sie, um die neuen Lehren zu verstehen, die die Klasse selbst im Verlauf ihrer künftigen Kämpfe erstellen wird. Jahrelang hielten die verschiedenen Fraktionen, insbesondere die Deutsch-Holländische Linke und vor allem die Italienische Linke, einen bemerkenswerten Umfang an Aktivitäten sowohl im Bereich der theoretischen Vertiefung als auch bei der Anprangerung des Verrats jener Parteien aufrecht, die sich weiterhin als Arbeiterparteien ausgaben.
Doch die Konterrevolution war zu stark und dauerte zu lange, als dass diese linkskommunistischen Fraktionen hätten überleben können. Vom II. Weltkrieg stark geschwächt und durch die Tatsache angeschlagen, dass dieser Krieg kein Wiederaufflammen des Klassenkampfes auslöste, verschwanden allmählich die letzten Fraktionen, die bis dahin noch überlebt hatten, oder traten in einen Prozess der Degeneration, der Verknöcherung oder der Regression ein. Damit riss zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrhundert das Band der organischen Kontinuität, das die verschiedenen politischen Organisationen des Proletariats - wie den Bund der Kommunisten, die I., II. und III. Internationale sowie die aus Letzterer hervorgegangenen Fraktionen - miteinander verbunden hatte.
Die Bourgeoisie hatte zeitweilig ihr Ziel erreicht: jeglichen politischen Ausdruck der Klasse zum Schweigen zu bringen, die Revolution als einen verstaubten Anachronismus darzustellen, als ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Epoche, eine exotische Spezialität, die den rückständigen Ländern vorbehalten sei, und die wahre Bedeutung der Revolution in den Augen der Arbeiter völlig zu verfälschen.
Die Krise des Kapitalismus
Doch seit einem Jahrzehnt haben sich die Aussichten gründlich geändert. Der wirtschaftliche „Wohlstand“, der den Wiederaufbau der Nachkriegszeit begleitet hat, fand mit dem Abschluss des Wiederaufbaus ein Ende. Nicht nur die Bewunderer des Kapitalismus, sondern auch jene, die sich als seine Gegner ausgaben, haben diesen Wohlstand als ewig präsentiert. Seit Mitte der 60er Jahre, nach zwei Jahrzehnten euphorischen Wachstums, sieht sich das kapitalistische System jedoch aufs Neue mit einem Albtraum konfrontiert, den es in die Vorkriegswelt eines Grosz-Gemäldes verbannt zu haben glaubte: die Krise. Seither hat sich die Krise unerbittlich vertieft. Dies ist eine glänzende Bestätigung der marxistischen Theorie. Ebenjener Theorie, deren „Überlebtheit“, „Gegenstandslosigkeit“ und „Bankrott“ von den mit der Bourgeoisie verbandelten Lügnern aller Art, den nach „Neuheiten“ lechzenden, pseudorevolutionären Professoren, Nobelpreis-Gewinnern und Akademikern genauso wie von den „Skeptikern“ und Mäklern aller Art unaufhörlich verkündet wird.
Die Wiederkehr des Proletariats
Mit der Vertiefung des wirtschaftlichen Chaos wird die Gesellschaft aufs Neue mit der unvermeidlichen Alternative konfrontiert, die jede akute Krise des dekadenten Kapitalismus mit sich bringt: Weltkrieg oder proletarische Revolution.[2] [19] Doch unterscheidet sich die heutige Perspektive vollkommen von jener, die die große Wirtschaftskatastrophe der 30er Jahre offenbart hatte. Damals hatte das geschlagene Proletariat nicht die Kraft, den Bankrott des Systems auszunutzen, um zum Angriff überzugehen. Im Gegenteil: die Auswirkungen jener Krise sollten die Niederlage des Proletariats noch verstärken.
Heute ist die Lage des Proletariats jedoch eine andere als in den 30er Jahren. Einerseits haben sich die Mystifikationen, die in der Vergangenheit das Bewusstsein der Arbeiter erdrückten, wie alle anderen Pfeiler der bürgerlichen Ideologie mittlerweile allmählich verschlissen. Der Nationalismus, die demokratischen Illusionen, der Antifaschismus - sie alle, die in den vergangenen halben Jahrhundert intensiv genutzt wurden, haben nicht mehr den gleichen Einfluss, den sie einst hatten. Andererseits haben die neuen Arbeitergenerationen nicht derartige Niederlagen erlitten wie ihre Väter. Die Proletarier, die heute mit der Krise konfrontiert sind, mögen zwar nicht die Erfahrung besitzen, die Generationen von Arbeitern vor ihnen gehabt haben, doch sind sie gleichzeitig auch nicht von derselben Demoralisierung belastet.
Der beeindruckende Widerstand, den die Arbeiterklasse gegenüber den ersten Anzeichen der Krise 1968/69 an den Tag gelegt hat, bedeutet, dass die Bourgeoisie heute nicht mehr in der Lage ist, die einzige Lösung durchzusetzen, die sie gegen die Krise anzubieten hat: einen erneuten weltweiten Holocaust. Denn zuvor muss sie die Arbeiterklasse besiegen. Daher ist die heutige Perspektive nicht der imperialistische Krieg, sondern ein allgemeiner Klassenkrieg. Auch wenn die Bourgeoisie weiterhin alle Vorbereitungen für den Weltkrieg trifft, so ist es doch der Klassenkampf, der sie vorrangig beansprucht. Die erstaunlichen Absatzsteigerungen im Rüstungssektor (dem einzigen Sektor, der nicht unter der Krise leidet) kaschieren im Augenblick die von allen Staaten durchgeführte, allgemeine und nicht weniger systematische Aufrüstung des Repressionsapparates zum Zwecke des Kampfes gegen die „Subversion“. Aber das Kapital bereitet sich nicht so sehr mit Hilfe der Repression auf den Klassenkrieg vor, sondern stützt sich vornehmlich auf einer ganzen Reihe anderer Erfindungen, um das Proletariat einzudämmen und seinen Kampf in die Sackgasse zu lenken. Daher kann die Bourgeoisie der ungebrochenen Kampfbereitschaft der Arbeiter immer weniger nur die nackte Repression entgegensetzen, droht diese doch eher die Kämpfe zu vereinen, statt sie zu ersticken.
Die Waffen der Bourgeoisie
Bevor die Bourgeoisie in der Lage ist, zur offenen Repression zu greifen, wird sie wie in der Vergangenheit zunächst versuchen, die Arbeiter zu demoralisieren, indem sie ihre Kämpfe vom Weg abbringt und in die Sackgasse führt. Zu diesem Zweck wird sie hauptsächlich drei wesentliche Mystifikationen wiederbeleben, die alle dazu dienen, die Klasse an das nationale Kapital und den Staat zu binden: den Antifaschismus, die Selbstverwaltung und die nationale Unabhängigkeit.
Heute, wo unter völlig anders gearteten Bedingungen keine konkrete faschistische Gefahr à la Mussolini oder Hitler droht, ist es nicht die unmittelbare Aufgabe des Antifaschismus, für einen imperialistischen Krieg zu mobilisieren. Daher umfasst die antifaschistische Mystifikation ein breiteres Spektrum als in der Vergangenheit. Im Osten wie im Westen attackieren die „linken“, „progressiven“, „demokratischen“ oder „liberalen“ Fraktionen des Kapitals die Arbeiterklasse unter dem Deckmantel der Verteidigung der „demokratischen Errungenschaften“, der „Freiheit“, etc. gegen die Bedrohung durch die „Reaktion“, den „Totalitarismus“, die „Repression“, den „Faschismus" oder gar den „Stalinismus“. In dem Maße jedoch, wie die Arbeiter für die Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu kämpfen anfangen, bekommen sie zu hören, dass sie die schlimmsten Agenten der Reaktion und der Konterrevolution seien.[3] [20]
Der Mythos der Selbstverwaltung ist ebenfalls ein erstklassiges Mittel, mit dem die Linke des Kapitalismus gegen die Arbeiter aufwarten wird. Die Selbstverwaltung wird mit der Flut von Pleiten, die die Krise mit sich bringt, an Boden gewinnen und auch eine nachvollziehbare Reaktion auf den bürokratischen Würgegriff des Staates über die gesamte Gesellschaft sein. Die Arbeiter müssen dem Sirenengesang widerstehen, den alle Kapitalisten im Namen der „Demokratisierung der Wirtschaft“, der „Enteignung der Unternehmer“ oder gar der Etablierung „kommunistischer“, „menschlicherer Verhältnisse“ singen. In der Tat sind dies Versuche, die Arbeiter zur Mitarbeit bei ihrer eigenen Ausbeutung zu bewegen und ihre Vereinigung zu verhindern, indem die Arbeiter entsprechend der Betriebe, in denen sie arbeiten, oder der Stadtteile, in denen sie leben, gespalten werden (siehe Fußnote 3 der Plattform).
Schließlich wird auch die nationale Unabhängigkeit - als moderne Version der „nationalen Verteidigung“ mit dunklen Erinnerungen verknüpft – von der Bourgeoisie ausgiebig genutzt werden, insbesondere in den unterentwickelten Ländern, wo sie am absurdesten ist. Im Namen der „nationalen Unabhängigkeit“ werden die Arbeiter zu einem Schulterschluss mit den anderen Klassen im Kampf gegen diesen oder jenen Imperialismus aufgerufen. Die Verantwortung für die Krise und für die Verschärfung der Ausbeutung soll so auf die „hegemonialen Bestrebungen“ dieses oder jenes Landes, auf die Multis oder auf andere „staatenlose“ Kapitalien abgewälzt werden.[4] [21]
Unter Aufbietung all dieser Mystifikationen wird das Kapital überall die Arbeiter dazu aufrufen, auf ihre Forderungen zu verzichten und Opfer für die Überwindung der Krise zu bringen. Wie in der Vergangenheit werden sich auch jetzt die Linken und die „Arbeiterparteien“ bei dieser schmutzigen Arbeit auszeichnen. Dabei werden sie auf die „kritische“ Unterstützung durch linksextremistische Gruppen aller Art rechnen können, die die gleichen Verschleierungen und Lügen in einer radikaleren Sprache verpacken und auch radikalere Methoden bevorzugen. Bereits vor 57 Jahren warnte das Manifest der Kommunistischen Internationale die Arbeiterklasse vor diesen Gefahren: "Die Opportunisten, die vor dem Krieg die Arbeiter unter dem Vorwand des allmählichen Übergangs zum Sozialismus dazu aufriefen, ihre Forderungen zu mäßigen, und während des Krieges im Namen der heiligen Nation und der Vaterlandsverteidigung die Erniedrigung und die Unterordnung der Klasse des Proletariats forderten, verlangen nun vom Proletariat erneut Opfer- und Hingabebereitschaft, um die schrecklichen Folgen des Krieges zu überwinden. Wenn solche Predigten innerhalb der Arbeiterklasse Gehör fänden, würde das Kapital seine Sanierung und Weiterentwicklung auf den Leichen weiterer Arbeitergenerationen in neuen, noch konzentrierteren, scheußlicheren Formen fortführen, mit der unvermeidlichen Aussicht auf einen neuen Weltkrieg."
Die Geschichte bewies mit der beispiellosen Tragödie des II. Weltkriegs, wie hellsichtig die Warnung der Revolutionäre von 1919 vor den Lügen der Bourgeoisie war. Jetzt wo die Bourgeoisie ihr furchteinflößendes Arsenal wieder aufpoliert, das ihr in der Vergangenheit erlaubt hat, das Proletariat unter Kontrolle zu halten und zu besiegen, bekennt sich die Internationale Kommunistische Strömung mit ganzem Herzen zu den Worten der Kommunistischen Internationalen und richtet diese aufs Neue an ihre Klasse. „Proletarier, erinnert euch an den imperialistischen Krieg!“, sagte die Internationale. Arbeiter von heute, erinnert euch des verflossenen halben Jahrhunderts Barbarei und stellt euch vor, was die Menschheit erwartet, wenn Ihr auch diesmal nicht entschlossen genug die Sonntagsreden der Bourgeoisie und ihrer Lakaien zurückweist!
Die Entwicklung des Klassenkampfes und des Bewusstseins des Proletariats
Obgleich die Kapitalistenklasse ihre Waffen systematisch verbessert, stößt sie nicht auf ein hilfloses Proletariat, auch wenn sie es gerne hätte. Ungeachtet einiger ihm zum Nachteil gereichender Aspekte sind die Bedingungen, unter denen das Proletariat seinen Kampf wieder aufgenommen hat, im Wesentlichen zu seinem Vorteil. So entsteht zum ersten Mal in der Geschichte die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse nicht am Ende eines Krieges, sondern aus der Wirtschaftskrise des gesamten Systems. Sicher ist es für das Proletariat im Krieg einfacher, die Notwendigkeit des politischen Kampfes zu verstehen und die Unterstützung eines Großteils jener Schichten für sich zu gewinnen, die weder zum Proletariat noch zur Bourgeoisie gehören. Doch fördert der Krieg die Entwicklung des Klassenbewusstseins nur unter den Arbeitern jener Länder, die Schlachtfeld eines solchen Krieges sind, und insbesondere unter den Arbeitern der Verliererländer. Dagegen verschont die heutige Krise kein Land der Welt. Und je mehr die Bourgeoisie versucht, die Krise zu bremsen, desto mehr verschärft sie diese. Aus diesem Grund hat der Klassenkampf bislang noch nie solche Ausmaße angenommen wie heute. Zwar entwickelt er sich langsam und unstet, aber seine Ausdehnung hat schon jetzt all jene Untergangsphilosophen verblüfft, die sich pausenlos über den angeblich „utopischen“ Charakter einer revolutionären Bewegung des Proletariats auf Weltebene ergehen.
Da das Proletariat heute vor enormen Aufgaben steht, die nur es selbst verwirklichen kann, und da der unstete Charakter seiner Bewegung aus dem Verlust seiner Kampftraditionen und aller seiner Klassenorganisationen herrührt, muss das Proletariat die langsame Entwicklung der Krise (eine Krise, die den Rhythmus seiner Klassenreaktion beeinflusst) ausnutzen, um sowohl seine Kampftraditionen als auch seine Klassenorganisationen systematisch weiterzuentwickeln.
Durch seinen täglichen Kampf wird das Proletariat allmählich das Bewusstsein über den politischen Charakter seines Kampfes wiedererlangen, und durch die Ausweitung und Häufung seiner Teilkämpfe schmiedet es seine Waffen für den Generalangriff gegen die herrschende Klasse. Angesichts dieser Kämpfe wird die Verzweiflung des Kapitals wachsen, und es wird die sehr reale Tatsache benutzen, dass es nichts zugestehen kann, um die Arbeiter zur „Mäßigung“ und zum „Verzicht“ aufzufordern. Die Arbeiter müssen dagegen begreifen, dass, auch wenn die Kämpfe ergebnislos und damit in streng wirtschaftlicher Hinsicht Niederlagen sind, sie die Voraussetzung für den endgültigen Sieg bilden, da jeder von ihnen einen Schritt vorwärts in der Erkenntnis des Proletariats über den totalen Bankrott des Systems und damit über die Notwendigkeit seiner Zerstörung darstellt. Anders als die Prediger des „Realismus“ und der „Besonnenheit“ werden die Arbeiter erkennen, dass der wirkliche Erfolg eines Kampfes nicht in seinem unmittelbaren Ergebnis beruht (das, selbst wenn es positiv ist, stets durch die Vertiefung der Krise bedroht ist), sondern dass vielmehr der wahre Sieg der Kampf selbst und die Organisation, die Solidarität und das Bewusstsein ist, die dieser Kampf entwickelt.
Anders als die Kämpfe, die zur Zeit der großen Krise zwischen den beiden Weltkriegen stattfanden und deren Niederlagen nur zu weiterer Demoralisierung und Ermüdung der Klasse führten, stellen die heutigen Kämpfe Meilensteine auf dem Weg zum Endsieg dar. Die vorübergehende Entmutigung nach einer Teilniederlage wird sich in einen Ausbruch von Wut, Entschlossenheit und Bewusstsein verwandeln, die die kommenden Kämpfe befruchten werden.
Die sich verschärfende Krise wird den Arbeitern die wenigen, kümmerlichen Zugeständnisse entreißen, die in der Wiederaufbauperiode den Arbeitern für eine immer systematischere und wissenschaftlichere Ausbeutung zugestanden werden konnten. Mit der weiteren Ausbreitung der Krise werden immer mehr Arbeiter durch Arbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne in die Verarmung gestoßen. Doch mit den Leiden, die die Krise verursacht, enthüllt sie gleichzeitig den barbarischen Charakter der Produktionsverhältnisse, die die Gesellschaft in Fesseln halten. Im Gegensatz zu den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen, die in der Krise nichts anderes als ein großes Unglück sehen und in Wehklagen ausbrechen, müssen die Proletarier die Krise mit Begeisterung begrüßen und in ihr den belebenden Wind wahrnehmen, der die Fesseln, mit denen sie an der alten Welt gebunden sind, wegfegt und damit die Voraussetzung ihrer Befreiung schafft.
Die Organisation der Revolutionäre
Doch wie intensiv auch immer die Kämpfe sein mögen, die von der Klasse ausgetragen werden, ihre Emanzipation wird nur erreicht werden können, wenn die Arbeiterklasse in der Lage ist, eines ihrer kostbarsten Güter zu pflegen, dessen Abwesenheit in der Vergangenheit ihr so teuer zu stehen gekommen ist: die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse.
Das Proletariat ist aufgrund seiner Stellung im Produktionssystem die revolutionäre Klasse. Grundvoraussetzung seines Handelns ist die Dekadenz und die akute Krise dieses Systems. Jedoch lehrt die historische Erfahrung, dass dies für sich genommen nicht ausreicht. Wenn es dem Proletariat nicht gleichzeitig gelingt, ein entsprechendes Bewusstsein zu erlangen und jenes Instrument (seine kommunistische Avantgarde) zu schaffen, das gleichzeitig Produkt und aktiver Faktor in diesem Kampf ist, wird es nicht imstande sein, sich vom Kapitalismus zu befreien. Diese Avantgarde ist jedoch nicht das mechanische Produkt des Klassenkampfes. Auch wenn die gegenwärtigen und zukünftigen Auseinandersetzungen den notwendigen Nährboden für die Entwicklung dieser Avantgarde bieten, so kann sie sich nur bilden und ihre Aufgaben erfüllen, wenn die Revolutionäre sich vollständig ihrer Verantwortung bewusst und vom Willen durchdrungen sind, diesen Aufgaben gerecht zu werden. So können insbesondere die unerlässlichen Aufgaben der theoretischen Reflexion, der systematischen Anprangerung der bürgerlichen Lügen und der aktiven Intervention in den Kämpfen ihrer Klasse nur dann von den heutigen Revolutionären erfolgreich erfüllt werden, wenn sie die politischen Bande, die sie sowohl historisch als auch geographisch miteinander verbinden, wieder etablieren. Das ist die Grundvoraussetzung für ihr Handeln. Mit anderen Worten: um die Aufgabe zu erfüllen, für die die Klasse sie in die Welt gesetzt hat, müssen sich die Revolutionäre die Errungenschaften der Klassenkämpfe und der kommunistischen Strömungen der Vergangenheit aneignen sowie ihre Kräfte auf der Ebene ihrer Klasse, d.h. auf Weltebene, bündeln.
Jedoch werden ihre Bemühungen in diese beiden Richtungen noch stark durch den totalen Bruch der organischen Kontinuität mit den kommunistischen Fraktionen der Vergangenheit behindert. Die Wiederherstellung dieser politisch unentbehrlichen Kontinuität mit diesen Fraktionen, die die grundsätzlichen Lehren aus den vergangenen Erfahrungen der Klasse gesammelt und erklärt hatten, hat sich - behindert durch die revolutionären Strömungen, die die Klasse in die Welt gesetzt hat - verzögert. Diese Strömungen haben vor allem Schwierigkeiten, zwei Dinge zu verstehen: ihre besondere Funktion innerhalb der Klasse und vor allem die Organisationsfrage, da sie in diesem Bereich praktisch über keine eigenen Erfahrungen verfügen. (Von Anbeginn war das Kleinbürgertum eine Fessel der Arbeiterbewegung.) Insbesondere hat der Unrat aus der Studentenbewegung, jener typischer Ausdruck der Krise des intellektuellen Kleinbürgertums, der sich just in dem Moment auf seinem Höhepunkt befand, als die Arbeiterklasse den Weg zum Kampf wiederentdeckte, das Bewusstsein revolutionärer Organisationen behindert. So ist es der Kultivierung des „Neuen“, des „Anders-Seins“, der Phrasendrescherei, des Individuums, der „De-Entfremdung“ und des Spektakels, die dieser Spielart des Kleinbürgertums eigentümlich sind, oft gelungen, viele Gruppen in exotische Sekten umzuwandeln, deren Aktivitäten rund um kleinliche Fragen und persönlichen Ambitionen kreisen.
Aus positiven Faktoren, die diese Gruppen einst waren, sind Hindernisse für den Bewusstwerdungsprozess des Proletariats geworden. Falls sie sich auch weiterhin aufgrund von erfundenen oder nebensächlichen Divergenzen der Aufgabe der Umgruppierung der revolutionären Kräfte widersetzen, werden sie von den Bewegungen der Arbeiterklasse gnadenlos weggefegt werden.
Mit ihren immer noch bescheidenen Mitteln hat sich die Internationale Kommunistische Strömung der langwierigen und schweren Aufgabe der weltweiten Umgruppierung der Revolutionäre rund um ein klares und kohärentes Programm verpflichtet. Sie lehnt den Monolithismus der Sekten ab und ruft die Kommunisten aller Länder auf, sich der ungeheuren Verantwortung bewusst zu werden, die auf ihnen lastet, die falschen Streitereien aufzugeben und die künstlichen Spaltungen zu überwinden, die die alte Gesellschaft ihnen aufgehalst hat. Die IKS ruft sie auf, sich für diese Aufgabe zusammen zu schließen, um noch vor Beginn der entscheidenden Klassenkämpfe eine internationale, vereinte Organisation der Avantgarde zu bilden.
Als bewussteste Fraktion der Klasse müssen die Kommunisten ihr den Weg nach vorn zeigen, indem sie sich die Losung: „Revolutionäre aller Länder, vereinigt euch!“ zu eigen machen.
Arbeiter der ganzen Welt!
Die Kämpfe, die Ihr austragt, sind die bedeutendsten in der Geschichte der Menschheit. Ohne Euren Klassenkampf wäre die Menschheit dazu verurteilt, einen III. Weltkrieg zu erleiden, dessen Folgen man nur ahnen kann. Solch ein Krieg bedeutet, dass die Menschheit um Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurückgeworfen wird, ein Verfall, der jede Hoffnung auf den Sozialismus zunichtemacht oder gar schlicht und einfach die Menschheit vernichtet. Noch nie ist eine Klasse Träger einer solchen Verantwortung und Hoffnung gewesen. Die furchtbaren Opfer, die Ihr bereits in Euren vergangenen Kämpfen erbracht habt, und jene vielleicht noch furchtbareren Opfer, die eine zum Äußersten getriebene Bourgeoisie Euch künftig noch abverlangen wird, werden nicht vergeblich gewesen sein.
Euer Triumph wird für die Menschheit die endgültige Befreiung von den Ketten bedeuten, die sie den blinden Gesetzen der Natur und der Ökonomie unterworfen haben. Er wird das Ende der Vorgeschichte der Menschheit und den Beginn ihrer wirklichen Geschichte markieren sowie die Herrschaft der Freiheit auf den Ruinen der Herrschaft der Notwendigkeit errichten.
Arbeiter, macht für die titanischen Schlachten, die auf Euch warten und die den endgültigen Angriff gegen die kapitalistische Welt vorbereiten, für die Abschaffung der Ausbeutung, für den Kommunismus den alten Schlachtruf Eurer Klasse wieder zur Eurem Schlachtruf:
PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH!
Internationale Kommunistische Strömung, 1975
[1] [22] Dieser Abschnitt bezieht sich auf das Wiedererwachen des Weltproletariats Ende der 1960er Jahre nach einem halben Jahrhundert der Konterrevolution. Die dort erwähnten Arbeiterkämpfe erscheinen im Vergleich mit dem gegenwärtigen Niveau des Klassenkampfes wie von einer anderen Welt. Der Zusammenbruch der so genannten realsozialistischen Länder Ende der 1980er Jahre hat einen weitreichenden Rückfluss des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse bewirkt. Das Gewicht dieses Rückflusses wird auch heute noch angesichts der Schwierigkeiten des Proletariats deutlich, seinen Klassenkampf zu entwickeln und zu einer revolutionären Perspektive zurückzufinden, eine Perspektive, die durch die Heftigkeit der bürgerlichen Kampagne rund um den „Tod des Kommunismus“ vernebelt wurde. Doch diese Schwächung des Weltproletariats hat keinesfalls den historischen Kurs auf eine Zuspitzung der Klassenkämpfe in Frage gestellt, der durch die erste Welle von Kämpfen Ende der 1960er Jahre eröffnet worden war. Trotz eines nur allmählichen Wiedererstarkens des Klassenkampfes wird unsere Zukunft weiterhin von der Arbeiterklasse verkörpert. Gerade weil der Klassenkampf ein ständiger Albtraum für die Herrschenden ist, entfesseln sie ideologische Kampagnen und hinterlistige Manöver, um die Arbeiterklasse daran zu hindern, kraftvoll in Erscheinung zu treten.
[2] [23] Mit dem Verschwinden der beiden imperialistischen Blöcke, die durch das Abkommen von Jalta entstanden waren, ist das Gespenst eines dritten Weltkriegs im Augenblick gebannt. Auch wenn der Militarismus und der Krieg immer noch den niedergehenden Kapitalismus bestimmen, hat es die imperialistische Politik aller Staaten, ob groß oder klein, mit einer historischen Weltlage zu tun, die von Chaos und dem „Jeder für sich“ beherrscht ist. Da die Arbeiterklasse der großen Industriezentren nicht für einen dritten Weltkrieg mobilisiert werden kann, lautet die historische Alternative nunmehr: die proletarische Revolution oder der Sturz der Menschheit in die Barbarei und in das allgemeine Chaos.
[3] [24] Auch wenn in einigen zentralen Ländern Europas wie Frankreich, Österreich oder Belgien die rechtsextremen Fraktionen Auftrieb erhalten, kann man dieses Phänomen keineswegs mit der Lage in den 1920er und 1930er Jahren vergleichen, als die Bedingungen für eine Machtübernahme durch die Faschisten und die Nazis gegeben waren. Das Wiedererstarken der rechtsextremen Parteien ist vor allem ein Ausdruck des Zerfalls des Systems, des „Jeder für sich“, von dem zunehmend der gesamte politische Apparat der Bourgeoisie ergriffen wird. Dieser Aufstieg ist nicht das Ergebnis einer historischen Niederlage des Proletariats wie in den Jahren nach der Niederschlagung der revolutionären Welle von 1917-23. Darüber hinaus kann man die gegenwärtigen antifaschistischen Kampagnen nicht mit den Kampagnen und der massiven Mobilisierung des Proletariats für die Demokratie vergleichen, welche in den 1930er Jahren die Mobilisierung der Arbeiterklasse für den 2. Weltkrieg ermöglicht hatten.
[4] [25] Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er Jahre und der ihm folgenden Auflösung des westlichen Blocks sind die Befreiungskämpfe kein brauchbarer Mythos mehr, mittels dessen die linken und linksextremistischen Fraktionen des Kapitals bis dahin versucht hatten, Teile der Arbeiterklasse für das eine oder andere imperialistische Lager zu mobilisieren. Doch während der Mythos der „nationalen Befreiung” in den großen Zentren des Kapitalismus mit dem Zusammenbruch des russischen imperialistischen Blocks geplatzt ist, behält er in einigen peripheren Gebieten der Welt weiterhin seine Anziehungskraft bei und erweist sich immer noch als nützlich, um die Arbeiter dieser Länder in Massaker zu treiben (wie z.B. im Kaukasus oder in den von Israel besetzten Gebieten).
Trotz der Verschärfung der politischen und ökonomischen Krise in der BRD und der Welt, trotz der Hilflosigkeit der bürgerlichen Krisenmanager und trotz des von den Arbeitern erzwungenen größeren Verbalradikalismus der Gewerkschaften haben sich alle staatstragenden Kapitalfraktionen zusammengetan, um im Namen der Terroristenbekämpfung die Verstärkung des Staates gegen mögliche zukünftige Angriffe der Arbeiterklasse zu betreiben. Der offenbar totale Sieg des Staates in dieser Kampagne weckt die Erinnerungen an die schwärzesten Zeiten der Konterrevolution. Dass dies gerade in der BRD geschieht, ist kein Zufall. Gerade in diesem Land war die Niederlage der Arbeiterklasse nach der ersten revolutionären Erhebung 1918-23 am schwersten, und die darauffolgenden 50 Jahre totaler Konterrevolution werfen noch ihren langen Schatten. Besonders in diesem Land ist das Band zur revolutionären Tradition und der dazu gehörenden Erfahrung jäh zerschnitten worden, und auch das Aufflammen der Kämpfe seit 1968 sowie die darauffolgenden Massenstreiks 1969 und 1973 waren nicht in der Lage, an die Vergangenheit wieder anzuknüpfen.
Die Folgen der zu beobachtenden Aufrüstung des Staates und der breiten Kampagnen zur nationalen Vereinigung sind zunächst Resignation und Konfusion. Die Stimme der Arbeiter ist in diesem Geschrei nicht wahrzunehmen. Dies führt denn auch im In- und Ausland dazu, die „deutschen Faschisten“ wieder marschieren zu hören. Doch jeglicher Ruf nach antifaschistischem Kampf kann die schon begonnen Konfusion nur auf die Spitze treiben. Dieser reduziert nämlich den bestehenden Konflikt auf die Knebelung bürgerlicher Rechte, während es doch nur um das praktische Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoise und Proletariat geht, d.h. ob zum Beispiel Arbeiterversammlungen nur verboten oder tatsächlich unmöglich sind.
Dass der anscheinend so totale Sieg des Staates, den sich die Regierung auch erhoffte, gar nicht so total war, wird zum einen durch die Schwierigkeiten der Bourgeoisie im eigenen Lager und zum anderen durch die Tatsache belegt, dass seit dem Abbruch der lauten Kampagne Arbeitslosigkeit und Löhne wieder Thema Nr. 1 sind. Es gibt deshalb nicht nur eine Hoffnung, sondern auch gleichzeitig die Pflicht der Revolutionäre, in diesem Irrgarten der Polizisten, Hausdurchsuchungen und Bombenattentate wieder die Ziele der internationalen Arbeiterbewegung herauszustellen. Es ist jetzt die Aufgabe der Kommunisten, eine Orientierung und die einzige Perspektive gegenüber allen Angriffen der Bourgeoisie zu verteidigen: den proletarischen Klassenkampf!
Die Kapitalisten vergießen Krokodilstränen über die Opfer der Baader-Meinhof-Gruppe. Aber bei aller hysterischen Mobilmachung verschweigt man geflissentlich die brutale Zerschlagung eines Streiks der Zuckerarbeiter in Ecuador. Hier fielen 120 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, der „bürgerlichen Gerechtigkeit“ zum Opfer. Die Polizeieinsätze im Druckerstreik sind nicht der Exotik Südamerikas geschuldet, sondern beweisen die „naturwüchsige“ Brutalität des im Zerfall befindlichen kapitalistischen Systems. Alle Gewalt geht vom Kapital aus! Der Gipfel dieser einfachen Wahrheit offenbart sich allein schon in den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts.
Der Grund dieser Gewalttätigkeit liegt in der Unterordnung des Menschen unter die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise, die längst ihre historische Rolle erfüllt hat und nun langsam in der kapitalistischen Barbarei versinkt. Auf dieser Stufe der Entwicklung sind beinahe alle sozialen Beziehungen vom Diktat der kapitalistischen Gewalt durchdrungen. Auf diesem Hintergrund sind die eigentlichen Banditen und Banden diejenigen, die ein Interesse an der Erhaltung dieses Systems haben – die Schmidts, die Regierungen der bürgerlichen Klasse.
Sie wollen die Verstärkung des Staates gegen den drohenden Angriff des Proletariats! Im konkreten Fall der Schleyer-Entführung und der zeitlich parallelen Ereignisse hat der Staat seine Waffen mehr ausprobiert als wirklich benutzt. Insbesondere das jetzt in Polizeikreisen beliebte „Spiel“ des Züge-Stoppens ist beispielhaft. Aber selbst wenn im direkten Bezug zur Tat gehandelt wurde, zeigte sich die Rücksichtslosigkeit, mit der der bürgerliche Staat bereit ist, die herrschenden Interessen zu verteidigen. In Mogadischu wurde nicht auf Menschenleben geachtet – weder auf das der Geiseln noch auf das der Entführer -, sondern eine gezielte Bürgerkriegsübung durchgeführt.
Bei all dem jedoch von faschistischer Eskalation staatlicher Gewalt zu sprechen ist eine Verdrehung der Tatsachen. Gewalt ist eine Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Systems. Und wenn die SPD heute solche Maßnahmen ergreift, ist dies kein Ausdruck ihrer Rechtsentwicklung, sondern erinnert nur an die Tradition der „Altgenossen“ Noske und Ebert!
Auf der „anderen Seite“ stehen die Linken mit erhobenem Zeigefinger. Sie sehen den „Rechtsstaat“ in Gefahr oder rufen zum Kampf gegen „Faschisierung von Staat und Gesellschaft“ auf. In der gesamten radikal-demokratischen Bewegung ist deutlich die Tendenz zur Einheitsfront zu verspüren. In Bonn demonstrierten drei K-Gruppen gegen Verbotsanträge; in verschiedenen Städten werden Aktionseinheiten gegen staatliche Repression gegründet.
Im ersten Moment ist man versucht, überall mitzumachen, um „das letzte bisschen Freiheit zu retten“. Aber jene, die da für „Freiheit“ und „Demokratie“ fechten, haben inzwischen tausendmal beweisen können, welcher Klasse sie angehören. Sie schicken das afrikanische Proletariat in imperialistische Konflikte, als Kanonenfutter im Dienste nationaler Interessen. Sie vertreten die nationalistischen Unabhängigkeitsansprüche Bonns gegenüber den USA und der UdSSR bzw. die Kapitalinteressen Italiens und Frankreichs gegenüber der BRD und ihren Hegemonialansprüchen. Sie unterstützen – wenn auch „kritisch“ – die brutale Betriebspolizei: die Gewerkschaft. Einheitsfronten, ob in Form des antifaschistischen Kampfes, der Volksfronten oder der nationalen Fronten, sind nur der Versuch einer bürgerlichen Fraktion, ihr Programm durchzusetzen und Mystifikationen zu verbreiten. Das Proletariat hat von diesen Kräften nichts zu erwarten.
Das Proletariat darf weder dieser noch irgendeiner anderen Strömung der Bourgeoisie die Knüppel in die Hand geben, mit denen es dann selber geschlagen wird!
Für die Arbeiterklasse gibt es in der Phase des Niedergangs des Kapitalismus keine Frage nach Ge- oder Verboten. Das Proletariat muss nicht gegen, sondern trotz der Verbote kämpfen. Es gibt für die Arbeiter nur die Möglichkeit, die Organisationskraft und das Klassenbewusstsein gegen alle Angriffe des Kapitals und seines Staates auszubilden. Genauso wie die Bourgeoisie ständig ihre eigenen Gesetze (wie z.B. das Streikrecht) bricht, dürfen die Arbeiter die Verbote nicht beachten!
In einigen Kreisen wird, in der Meinung, damit nun besonders revolutionär zu sein, die staatliche Propaganda einfach in ihr Gegenteil verkehrt: Aus Verbrechern werden Märtyrer. Die Terroristen werden zu Erlösern der Menschheit gemacht.
Gerade in Zeiten, in denen der Klassenkampf stagniert, bricht sich die kleinbürgerliche Verzweiflung in selbstvernichtenden Praktiken Bahn. Tatsache ist, dass die Terroristen vom Staat nichts zu erwarten und dem Kapital – anders als die staatskapitalistisch ausgerichtete Linke – nichts Programmatisches anzubieten haben. Sie sind somit vollkommen perspektivlos. Ihr „Kampf“ ist deshalb auch von Nihilismus und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. Genauso wie Baader ein Opfer der Repression ist, ist er Opfer seiner eigenen Nichtigkeit – der Nichtigkeit jeder anderen Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche als der proletarischen revolutionären Bewegung.
Der terroristische „Kampf“ ist deshalb erfüllt vom Hass gegen die Arbeiterklasse (der Anschlag auf die Drucker im Springerhochhaus belegt das). Die Arbeiter haben von diesen Desperados nichts zu erwarten. Sie tragen höchsten ihre Konfusion über den bewaffneten Kampf in das revolutionäre Lager.
Sie sind deshalb wie alle bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte zu bekämpfen!
Zwischen all diesen Fronten haben die Revolutionäre nichts zu wählen als die Seite des autonomen Kampfes der Arbeiterklasse. Seit 1968, d.h. seit dem Anfang der offenen Krise ist das kein leeres Wort mehr. Die Krise verschärft sich immer mehr und mit ihr der Druck auf die Arbeiter. Die bürgerliche Lösung dieser Krise ist der Weltkrieg – die massenhafte Vernichtung von Menschen und Produktionsmitteln und der Eintritt in eine noch längere Konterrevolution. Das Proletariat ist aber noch nicht zerschlagen, es kann seine Ziele noch offen verteidigen. In den überall auf der Welt aufflammenden Kämpfen hat es gezeigt, dass es gegen die bürgerliche eine proletarische Lösung aller Krisen gibt: die sozialistische Weltrevolution.
Die Streiks und Aufstände, die stattgefunden haben und stattfinden werden, werden auch vor der BRD nicht Halt machen. Nicht nur die Massenstreiks 1969 und 1973 sowie der Druckerstreik im letzten Sommer, sondern auch die zunehmende Unzufriedenheit und die sich verbreitenden Warnstreiks der letzten Wochen zeigen, dass die Arbeiterklasse auch in der BRD wieder begonnen hat, ihre Kampfformen und ihr Bewusstsein zu entwickeln.
Bei allen Verzögerungen und Schwächen, die der Klassenkampf jedoch immer haben wird, müssen die Revolutionäre stets die historischen Ziele der proletarischen Bewegung klar aufzeigen und gegen alle bürgerlichen Einflüsse in der Arbeiterklasse bekämpfen. Die individuelle Gewalt versucht nur das Proletariat zu ersetzen, aus der proletarischen Revolution einen kleinbürgerlichen Putsch zu machen. Nicht weil ein Kampf mit Waffen und Gewalt verbunden ist, ist er proletarisch. Für das Proletariat gibt es weder das Prinzip der Gewalt noch das der Gewaltlosigkeit. Weil der Klassenkampf ein Kampf zweier unversöhnlicher Klassen ist, werden Waffen und Gewalt notwendig sein. Aber der Sieg der Arbeiterklasse ist keine Frage von Bomben. Die Arbeiter haben nur zwei Waffen: ihre Organisationsfähigkeit und ihr Bewusstsein.
Der Terrorismus wird mit dem nächsten Aufflammen des proletarischen Kampfes verschwinden. Er spielt keine bleibende Rolle in der Auseinandersetzung der Klassen. Aber die Staaten werden weiterhin mit ihrem ganzen Apparat gegen die Arbeiterklasse vorgehen (Polizei, Justiz, Armee, alle Parteien von rechts bis links). Sie haben sich unter dem Eindruck der Bedrohung über alle Unterschiede hinweggesetzt und zu einer unheiligen Allianz der Bourgeoisie zusammengeschlossen. Die Antwort des proletarischen Internationalismus darauf kann nur die Zerstörung aller Staaten und Nationen und des ganzen kapitalistischen Systems sein!
Internationale Kommunistische Strömung
Dezember 1977
Seit Beginn des Jahres 1978 hört man in jeder Nachrichtensendung, liest man in jeder Zeitung von Streiks, “harten“ Verhandlungen und ständig neuen Tarifrunden, die für “gescheitert“ erklärt werden. Gewerkschaften und Kapitalistenverbände führen dieses Jahr wieder ihr Schauspiel der Tarifrunde auf. Mit radikalen Phrasen und viel Radau sollen auch diesmal wieder alle Ansätze einer autonomen Klassenbewegung sabotiert werden. Offenbar ist es der Bourgeoisie und ihren Gewerkschaften diesmal nicht so leichtgefallen. Sie konnten Streiks nicht verhindern, sondern nur ins Abseits führen, was sie auch taten.
Dennoch kommt diesen ersten Anfängen einer Klassenbewegung in Deutschland eine Bedeutung zu. Schon die ersten Abschlüsse (nämlich in den deutschen Seehäfen) waren von Streiks begleitet. Und dies obwohl noch im letzten Jahr die Friedhofsruhe der Repression über die BRD ausgebreitet worden war. Die Arbeiterklasse hat also den Beweis angetreten, dass sie noch nicht besiegt ist. Sie hat im Gegenteil gerade erst begonnen, den Kampf aufzunehmen.
Nach einer Stagnationsperiode des Klassenkampfes – die die “extreme Linke“ dazu nutzte, ihre demoralisierenden Themen und Parolen in der Arbeiterklasse zu verbreiten - hat die immer weiter fortschreitende Krise jetzt die Arbeiter zur Reaktion gezwungen.
Die Krise des Weltkapitals hat jetzt begonnen, auch in den industriellen Metropolen das Herz der Arbeiterklasse anzugreifen!
Von den Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Krise, die bisher in erster Linie gegen die Mittelschichten gerichtet waren, kann das Kapital das Proletariat nicht mehr ausschließen. Lohnraub in ganz offener und unverhüllter Weise, Arbeitslosigkeit, die auch zunehmend den produktiven Sektor erfasst (weil einfach keine Absatzmärkte vorhanden sind), Abbau staatlicher Leistungen, der langsam aber sicher nicht mehr nur die Rentner betrifft - all dies lässt inzwischen keine Illusion mehr über die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage zu. Die wirklich äußerst niedrigen Angebote der Kapitalisten sind offenbar nicht nur eine Provokation, sondern “gesamtgesellschaftlich“ – will heißen: für das nationale Kapital –unabdingbar. In der Stahlindustrie ging es dieses Jahr tatsächlich um die internationale Konkurrenzfähigkeit. Im Druckgewerbe ging es um die Akkumulationsbedingungen, d.h. die Ausweitung des Kapitals überhaupt, während es in den Häfen um die Konkurrenz und die Versorgung der BRD mit ausländischen Gütern ging.
Der Hafenarbeiterstreik
Etliche Warnstreiks, die die Tarifrunden in anderen Branchen begleiteten, deuteten schon eine allgemein aufgeheizte Stimmung unter den Arbeitern an. Der ungekannt breite Streik der Hafenarbeiter war dennoch eine Überraschung. Zum ersten Mal nach einem Vierteljahrhundert wurde in den deutschen Seehäfen wieder gestreikt.
Ähnlich wie die Arbeiter hatten auch die Gewerkschaften im Hafen nicht gleich die Erfahrung und die Kraft, ihre Funktion zu erfüllen. Sie hatten vom ersten Tag an Schwierigkeiten ihre Streikbrecheraufgaben zu erfüllen. Ihr Vorgehen ist dennoch charakteristisch:
- Gestreikt wurde erst nach einer Urabstimmung, um zu verhindern, dass noch unentschlossene Arbeiter durch die Aktion der anderen mitgerissen werden konnten. Das Ergebnis war mit 97% unerwartet hoch.
- Die Streikposten waren so organisiert, dass, hätten die Arbeiter diese Aufgabe nicht selbst in die Hand genommen, jeder Streikbrecher hätte passieren können.
- Für “besonders wichtige Waren“, d.h. für Waren, deren Blockade eine schnelle Wirkung auf die Wirtschaft und somit einen schnellen Erfolg des Streiks zur Folge gehabt hätte, sind von der ÖTV streng überwachte Notdienste eingerichtet worden;
- Während des besagten Streiks ist keine einzige Streikversammlung durchgeführt worden.
- Der Streik wurde ohne irgendeine Rücksprache mit den Hafenarbeitern nach der Aushandlung des 6,4%-Kompromisses, durch die Schließung des Streiklokals abgebrochen.
Trotz der massiven Streikbrecheraktionen der Gewerkschaften haben sich die Arbeiter das Heft nicht ganz aus der Hand nehmen lassen. Noch während des Streiks musste die Forderung (eine Sechs vor dem Komma) wenigstens offiziell, und nach Abbruch des Streiks tatsächlich, um ein Prozent erhöht werden. Auch der Coup mit den Streikposten ist der Gewerkschaft nicht vollends gelungen; immerhin konnten die Hafenarbeiter schließlich den Hafen “ganz dicht machen“.
Es war der erste Versuch der Arbeiter der Seehäfen seit Beginn der neuen Periode des wiedererstarkenden Klassenkampfes 1968, ihrer Kraft und ihren Interessen Ausdruck zu verleihen.
Der Druckerstreik
Die Geschichte des Druckerstreiks, der in den letzten Wochen zu einer heftigen Konfrontation zwischen den Druckern und den Printkapitalisten geführt hat, beginnt schon mit den Streikaktionen im Sommer1976. Seit zwei Jahren ist nun die Gewerkschaft dabei, die Arbeiter der Druckindustrie auf die reformistischen und spalterischen Forderungen für eine "humane" Losung der Rationalisierungspläne im Druckgewerbe einzuschwören.
Im Zuge der allgemeinen Streikbereitschaft kam es auch in dieser Branche zu einer Zuspitzung des "Verhandlungsklimas". Die "große Tarifkommission" der DruPa (IG Druck und Papier) sah sich angesichts der Stimmung in ihrer "Basis" gezwungen, das vorläufige Verhandlungs- bzw. Vergewaltigungsergebnis abzulehnen. Mit allen Schlichen und Tricks versucht nun die Bourgeoisie samt ihrer Gewerkschaften, den Arbeitern einzureden, dass dieser ja ganz und gar nichts mit der übrigen Lohnbewegung zu tun habe. Wie nicht anders zu erwarten, versuchte die IG Druck auch nicht, den Anschluss an die anderen Streiks anzustreben oder gar proletarische Lehren aus dem Kampf der Drucker von 1976 zu vermitteln, sondern spezialisierte sich auf Forderungen dahingehend, wie die Verlagshäuser der Zeitungen strukturiert sein sollten.
Trotzdem kam es nicht viel später, d.h. nach der ganzen Prozedur des tarifautonomen Rituals mit Scheitern der Verhandlungen, Schlichtung und nochmals Schlichtung, Wartefristen, Entscheidungsterminen, Urabstimmung und Hin und Her, dann auch wirklich zum Streik an vier mehr oder weniger gut ausgesuchten Schwerpunkten. Die Gewerkschaft kennt bereits die "kampfstarken" Betriebe, die brav und lieb jede Notzeitung passieren lassen und sich nicht, wie 1976 in Berlin, Schlachten mit der Polizei liefern.
Die Metallindustrie
Es gibt viele Sorten von Metall, und dank der IG Metall (IGM) gibt es jetzt beinahe auch so viele Tarifbezirke und Sonderverhandlungen. In der Metallindustrie arbeiten traditionellerweise die wohl kämpferischsten Arbeiter; entsprechend geübt ist die Gewerkschaft, die diese Arbeiter zu kontrollieren hat. Seit einigen Monaten wird schon um neue Tarifverträge gerungen. Mit Warnstreiks von15 Minuten bis zu einer Stunde versucht die IGM, stets friedenspflichtbewusst, den Arbeitern die Streiklust vergällen.
In der Stahlindustrie, die tatsächlich vollkommen in den roten Zahlen steht und in der die Arbeitslosigkeit wirklich “hoffnungslos" ist, wurde das erste Lohnraubergebnis abgeschlossen. Wenn die Metaller die gewerkschaftlichen Pfade nicht verlassen, werden weitere folgen.
Mit radikalen, aber hohlen Phrasen versucht die Gewerkschaft, die Arbeiter den Kapitalisten ans Messer zu liefern. Sogar ein Führungswechsel ist schon vorprogrammiert, wenn die Menge den “Mann von der Basis“ erfordert.
Mit der Routine und der Behutsamkeit einer erfahrenen Sekundantin der Bourgeoisie steuert die IGM einen Abschluss mit einer "Fünf vor dem Komma" an – das bedeutet real 0,2% mehr als das Angebot der Kapitalisten mit 4,8% (Vgl. das Schlichtungsangebot). Die Gewerkschaft spekuliert darauf, durch die Isolierung der Streiks – diese hätten schon vor Wochen anfangen können – von den anderen Branchen und durch die Zersplitterung in "Schwerpunktstreiks" die Energie der Arbeiter lahmzulegen. Im Übrigen verfügt die IGM über ein reichhaltiges Repertoire an Tricks. Sie ist schließlich eine der Lehrerinnen der OTV, die den Hafenarbeiterstreik "erfolgreich" zu Ende führte.
Die Waffen der Gewerkschaften gegen den Streik der Arbeiter
Gewerkschaften welcher Art auch immer – ob DGB, RGO oder CNT –, haben für die Arbeiterklasse ausgedient. Seit der Reformismus zu einer Spielart der Konterrevolution geworden ist, können die Gewerkschaften für die Arbeiter keine andere Funktion als die einer Versicherung vor Lohneinbußen durch Streik haben. Dies ist aber gleichzeitig eine ihrer schärfsten Waffen. Wenn die Arbeiter nicht folgsam sind, wird der Geldhahn zugedreht. Dies geschieht aber nicht etwa, weil an der Spitze dieser Gewerkschaften eine ach so böse Führung steht, sondern weil die ganze Organisation die Aufgabe hat, die Arbeiter von den Karren der Bourgeoisie zu spannen, um diesen aus dem Krisenschlamm zu ziehen.
Das ganze Gerede von "der Verantwortung für die nationale Wirtschaft", "Blick für die Gemeinschaft", "die Konkurrenzfähigkeit nicht beeinträchtigen" und, wie jetzt besonders im Druckerstreik, vom "technischen Fortschritt" usw. soll der Arbeiterklasse einreden, sie habe von einer gesunden Wirtschaft etwas zu erwarten bzw. die Wirtschaft sei überhaupt noch zu retten. Die Todeskrise des Kapitals, deren einzige "Lösung" für das Kapital ein erneuter Weltkrieg ist, hat aber bereits wieder ihren Lauf begonnen. Nur indem das Kapital den Mehrwert durch Lohnraub erzwingt, kann es sich die Mittel für eine weitere Akkumulation holen. Denn eine Ausweitung der Produktion ist nicht mehr möglich, da es auch keine Absatzmärkte mehr gibt.
Die Gewerkschaften sind jetzt allerdings die einzige Fraktion des Kapitals, die fähig ist, die Arbeiter im Sinne des nationalen Kapitals ideologisch zu beeinflussen und gleichzeitig die notwendigen staatskapitalistischen Maßnahmen "glaubhaft" zu vertreten. Sie wird dabei tatkräftig vom linken Flügel des Kapitals unterstützt. Die SPD z.B. weiß ganz gut, dass die IG Druck und Papier besser einen Streik kaputt machen kann als die Verleger mit ihren Aussperrungen. Sie hat sich deshalb auf ihrem nordrhein-westfälischen Parteitag mit der DruPa und gegen die Aussperrung solidarisiert. Nicht zu vergessen die Linksextremisten, die uns weismachen wollen, dass die Kapitalisten an der Krise verdienen und die Arbeiter in den gewerkschaftlichen Kampf dagegen führen wollen Sie wollen, indem sie ständig allein auf die Kapitalisten zeigen, der Arbeiterklasse die Augen vor dem Charakter der Gewerkschaften verschließen.
Deshalb setzen diese und die Gewerkschaften, wo sie nur können, alles daran, die autonomen Kämpfe der Klasse zu sabotieren:
- jede Eigenaktivität der Arbeiter zu verhindern und die Streikenden nach Hause zu schicken;
- jede Generalisierung einer Streikbewegung auf nationaler oder gar internationaler Eben zu verhindern;
- politische Tendenzen der Arbeiterkämpfe, die sich nicht, wie etwa die Mitbestimmung, für die Kapitalisten bezahlt macht, zu vernichten.
Die Streiks der letzten beiden Monate haben den wahren Charakter des DGB wieder aufgezeigt. Ein Streik war so und so nicht mehr zu verhindern, also nur noch zu sabotieren, zu kontrollieren und am Ende ganz kaputt zu machen.
Soweit die Linke nicht ohnehin – in kritischer Unterstützung dieser Streikbrecherorgane –Werbung bei den Arbeitern für "ihre" Gewerkschaft macht, wird uns von dieser Seite nur die Lösung eines "Führungswechsels" eröffnet. Es ist aber die Organisation, die ihre Führung macht! Kein “Mann von der Basis" wird an der Aufgabe dieser Organisation etwas ändern – genauso wenig wie ein Kommunist aus der Bürgerkriegsarmee Bundesgrenzschutz eine Arbeitermiliz machen könnte!
Die Grundlage jeder gewerkschaftlichen Organisation, ob unionistisch oder syndikalistisch, ist der Reformismus und die Einschätzung, dass die Arbeiter ihren Kampf sowieso nicht selbst organisieren können. Die Reformen, d.h. Modifikationen ein und desselben Systems, sind in keinster Weise eine Lösung für das Proletariat. Entweder sind es ökonomische “Errungenschaften“, die in kürzester Zeit durch das Fortschreiten der Krise aufgefressen werden (wenngleich sie trotzdem lebensnotwendig sind für die Arbeiterklasse), oder es handelt sich um politische Reformen, die in Wirklichkeit nur ein Teil des kapitalistischen Programms gegen die Krise sind. Forderungen, wie die nach Mitbestimmung und Investitionslenkung oder – noch radikaler –Verstaatlichungen, sind allein im Stande, einige unprofitable Schnörkel des Systems zu beseitigen, ohne jedoch einen Fortschritt für das Proletariat zu bedeuten.
Eine Forderung wie z.B. die nach einer 35-Stundenwoche, die bemerkenswerter Weise erst 70 Jahre nach der ersten Durchsetzung des 8-Stundentages aufgestellt wird, impliziert, anders als vor 70 Jahren, Lohnkürzungen. Sie ist also nichts anderes als eine von den Gewerkschaften durchgesetzte Kurzarbeit. Vom Standpunkt des nationalen Kapitals im allgemeinen ist es in jedem Falle günstiger, dass die “vorhandene Arbeit“ auf alle Arbeiter aufgeteilt wird – die dann um so intensiver ausgebeutet werden können – als die Zahlung von Arbeitslosengeld an ungenutzte Kräfte. Jedoch nicht einmal für das Kapital ist die Kurzarbeit eine Dauerlösung. Binnen weniger Jahre würde die Arbeitslosigkeit wieder zum Vorschein kommen.
Auch die Praxis anderer Gewerkschaften, von denen man meinen könnte, dass sie nicht so “verbürokratisiert“ sind, wie z.B. die anarcho-syndikalistische CNT, zeigt uns, dass der Klassencharakter einer Organisation keine Frage von Führung ist. Diese ehemals sehr wichtige Arbeiterorganisation war trotz ihrer ausgesprochen antistaatlichen Grundhaltung schon 1936 im spanischen Bürgerkrieg bereit, an der Regierung der Republikaner teilzunehmen und so den bürgerlichen Staat zu unterstützen. Doch damit nicht genug – sie waren schließlich eine derjenigen Kräfte, die maßgeblich daran beteiligt waren, dass spanische Proletariat in den antifaschistischen Bürgerkrieg zu schicken und dadurch die begonnene soziale Revolution endgültig unter dem Gewicht der interklassistischen Bürgerkriegsarmee zu ersticken. Auch heute, nach dem Einsetzen des Demokratisierungsprozesses in Spanien, hat die CNT schon wieder ihre Loyalität gegenüber dem “demokratischen Spanien“ in alle Welt herausgeschrien. Die Arbeiterklasse kann sicher sein, dass diese Gewerkschaft im Zweifelsfalle damit ernst macht.
Grundlage der Politik der Linken in und um Gewerkschaften ist der Kampf für einen "gerechten" Lohn. Sie macht den Lohnkampf zu einer Frage der richtigen Forderung. Je hoher die Forderung, desto hoher das Ergebnis (8% ist revolutionärer als 7%). Oder die Prozentforderungen sollen in Festgeldforderungen umgewandelt werden. Und jüngst ist dem KBW das Licht aufgegangen, dass "ohne den Kampf gegen das Akkordsystem (…) der Lohnkampf nur schwer vorankommen (kann)". Wohin, bitte schön, soll denn der Lohnkampf kommen? Das einzig revolutionäre Ziel des Kampfes kann nur die Abschaffung der Lohnarbeit überhaupt sein. Die Forderungen der Arbeiter können noch so hoch, die Formulierungen noch so geschickt sein, und der Erfolg noch so "zufriedenstellend", der Lohnkampf des Proletariats kann nie mehr sein als der Existenzkampf der Arbeiter und die Schule des Klassenkampfes.
Aber mit solchen pseudo-proletarischen Phrasen wollen Linksextremisten den Kampf gegen die "Gewerkschaftsführung" aufnehmen. Die eine Illusion wird durch eine andere abgelöst. In den verschiedensten Variationen tauchte diese Taktik in den jüngsten Betriebsratswahlen auf. Die KPD/ML hat dabei mit ihrer RGO-Politik den "radikalsten" Eindruck gemacht. Sie lehnt den ganzen DGB-Apparat ab. Auch die Betriebsräte gelten ihr als Instrumente des bürgerlichen Staates gegen die selbst handelnde Arbeiterklasse. Deshalb sollen jetzt die Arbeiter ihre “wahren Interessenvertreter" in den Betriebsrat wählen, um sich von ihnen das Handeln abnehmen zu lassen. Mit Hilfe dieser "revolutionären Betriebsräte", die mit ihrem ganzen taktischen Geschick gegenüber dem Betriebsverfassungsgesetz die Arbeiter an die Bourgeoisie binden, will die KPD/ML "rote Gewerkschaften" aufbauen. Sie werden die Aufgaben des DGB dort übernahmen, wo dieser bereits ausgedient hat. Aber bis dahin fühlen sich diese "Genossen" im DGB noch ganz wohl: „Wir fühlen uns als Gewerkschafter. Wir wollen eine bestimmte revolutionäre Arbeit innerhalb der Gewerkschaften betreiben". (Frithjof Rausch, RGO-Liste bei BASF in der FAZ vom 9.3.78).
Sie alle – ob RGO-ler oder DGB-ler – werden ihre Aufgaben übernehmen, jeden autonomen Kampf der Arbeiterklasse zu verhindern zu versuchen. Mit der Radikalisierung des Klassenkampfes werden auch die Gewerkschaften zu einer radikaleren Phraseologie greifen. Dies ändert aber nichts an ihrem durch und durch bürgerlichen Charakter.
Eine neue Phase der Entwicklung der Krise und des Klassenkampfes hat begonnen
Die anarchische Ordnung der kapitalistischen Wirtschaft hat auch das Recht des Stärkeren mit sich gebracht. Dementsprechend schiebt die Weltbourgeoisie die Folgen der Krise von den stärksten imperialistischen Mächten auf die Länder der Peripherie. Ebenso wird innerhalb eines Landes zuerst die Bevölkerungsgruppe angegriffen, die sich am wenigsten wehren kann – das Kleinbürgertum. Die gesellschaftlichen Gruppen, die nicht direkt in der Produktion stehen bzw. keine Kampfstärke wie das Proletariat entwickeln können, sind in den letzten Jahren seit Einsetzen der Krisenentwicklung nach der Wiederaufbauperiode von den Folgen der Krise, d.h. dem Abbau staatlicher Leistungen, der Arbeitslosigkeit, der Inflation usw. am meisten getroffen worden. Jetzt schlägt die Folge der Krisenabwälzung, wie Inflationsexport und Ausweisung von Gastarbeitern auf die Länder in den industriellen Metropolen zurück; die Arbeiterklasse wird auf der ganzen Breite angegriffen.
Nicht lange nachdem diese Entwicklung deutlich wurde, hat die Arbeiterklasse begonnen zu reagieren. Dabei stehen die deutschen Arbeiter nicht allein. Wir erinnern an den Streik der Hafenarbeiter in den USA, den Poststreik in Frankreich, den Feuerwehrstreik in England, Streiks in Italien und an vielen Orten mehr. Auch in der UdSSR können wir nach den drastischen Preiserhöhungen Streiks und Unruhen nicht mehr ausschließen. Der Höhepunkt dieser Bewegung ist z. Zt. der Streik der amerikanischen Bergarbeiter, die ohne Rücksicht auf den Laden der Kapitalisten und zum Schrecken der gesamten herrschenden Klasse ihre proletarischen Interessen durchzusetzen versuchen. Von ihrer Kampfbereitschaft und ihrer Organisationskraft, die inzwischen über die UMW (die Gewerkschaft) hinausgeht, kann und wird die Arbeiterklasse in der ganzen Welt eine Menge lernen. Die Erfahrungen der Bergarbeiter mit dem amerikanischen Staat haben – Demokratie hin, Demokratie her – langsam auch die letzten Illusionen in dieses Machtorgan der bürgerlichen Klasse zerstört. Bei dem Vorgehen der Polizei gegen Arbeiterdemonstrationen wird schnell die Erinnerung an das blutige Auseinandertreiben einer Demonstration der Bergarbeiter im Jahre 1921 wach.
Das ganze Gerede von der "Wirtschaft in Gefahr" interessiert die Kumpel nicht mehr. Sie lassen sich auch durch die Befehle der bürgerlichen Gerichte nicht wieder an die Arbeit schicken, um in 80 Tagen all das wieder "in Ordnung" zu bringen, womit sie nach drei Monaten Streik jetzt die nationale Bourgeoisie bedrohen.
Eine ähnliche Tendenz, wenn auch in erheblich geringerem Maß, ist charakteristisch für die gesamte neu aufgeflammte Klassenbewegung. Überall versucht die Bourgeoisie vergeblich den Arbeitern Verantwortung für die kapitalistische Wirtschaft einzureden. Die Arbeiter sollen den Karren der Kapitalisten aus dem barbarischen Sumpf der kapitalistischen Dekadenz ziehen. Der Bundeskanzler macht sich Sorgen um die Durchsetzung seines Konjunkturprogramms. Die Arbeiter haben ihm einiges durcheinandergebracht. Jetzt sollen sie verantwortlich gemacht werden für die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt. All das hat das Proletariat nicht viel gestört. Nicht einmal die Hatz der Schleyer-Entführung, die der Staat jetzt so gern noch einmal aufwärmen möchte, hat wesentliche ideologische Spuren im Proletariat hinterlassen. Allein die Gewerkschaften – und schließlich die Polizei und die Armee – können jetzt die Arbeiter in den gewünschten Bahnen halten. Im Kampf gegen dieses Instrument der Herrschenden muss die Arbeiterklasse ihre Kampfkraft entwickeln. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften muss die Arbeiterklasse den autonomen Klassenkampf entwickeln.
Die Gewerkschaften haben ihre fortschrittliche Funktion für die Arbeiterklasse verloren. Sie begrenzen die Ziele auf ein bürgerliches Programm der Krisenbekämpfung und sind deshalb konterrevolutionär. An ihrer Stelle und gegen sie bildet das Proletariat in jedem Streik durch Vollversammlungen, Umzüge von Fabrik zu Fabrik, Demonstrationen und Besetzungen, neu seine eigene Organisation. Im ständigen Kampf lernt die Klasse ihre Organisationsfähigkeit – bis zur Bildung der Räte – auszubilden und ihr Bewusstsein – mit Hilfe der Organisation der Revolutionäre – zu erweitern. Die Arbeiter lernen, ihre Kämpfe zu generalisieren und zu vereinheitlichen. Die Arbeiterklasse muss sich für jeden Schlag neu zusammenfinden. Sie muss versuchen, ihrem Kampf die größtmögliche Verbreitung zu geben. Solidarität darf nicht länger die Sache von "Vertreter"-Organisationen sein, sondern muss den weltweiten Zusammenschluss der Klasse gegen die Diktatur des Kapitals bedeuten.
Aus der Geschichte der letzten revolutionären Welle von 1917–23 muss das Proletariat lernen, dass es seinen Kampf auf keinen Fall einer Gewerkschaft überlassen darf. Es muss seine historische Aufgabe von Anfang bis Ende selbst und mit all seinen Kräften durchführen.
IKS, März 1979
Der Text, den wir über den 17. Juni 1953 veröffentlichen, soll keine Gedächtnisfeier sein. Seit langem versucht die Bourgeoisie, die Gespenster zu beschwören, die sie während ihres Niedergangs quälen. Diese Gespenster sind die der proletarischen Revolution, der revolutionären Bewegungen, die sie niedergeschlagen hat, und deren schicksalhafte Rückkehr (wenn nicht in der unmittelbaren Gegenwart, doch zumindest in den „friedlichen“ Gedanken der herrschenden Klasse) sie befürchtet. Sie versucht dann ihre abergläubische Furcht vor den „Schicksalsdaten“ zu überwinden, indem sie das Ereignis auf ihre Art feiert und es ein zweites Mal begräbt. Das erste Mal setzt sie all ihre militärischen und ideologischen Kräfte gegen die Arbeiterklasse ein, die die Grundlage ihrer Klassenherrschaft bedroht; das zweite Mal verfälscht sie den Klasseninhalt des Kampfes und macht aus ihm einen gewöhnlichen Kampf für das „Vaterland“, die „Demokratie“, die „Freiheit“.
Das hat die Bourgeoisie im Osten wie im Westen noch einmal praktiziert; die einen machten aus dem Kampf der ostdeutschen Arbeiter einen Kampf gegen die „stalinistischen Exzesse“, die anderen einen Kampf für die „parlamentarische und pluralistische Demokratie“. Jede Fraktion der Weltbourgeoisie versucht noch einmal, das Proletariat von Ost-Berlin und Sachsen zu ermorden mit der Verfälschung, der Beschimpfung, der Transformation seines Kampfes mit dessen Verleugnung.
Die Revolutionäre machen aus dem Kampf des Proletariats kein Studien- oder Kultobjekt. Für sie ist dieser Kampf der Vergangenheit immer noch aktuell. Deshalb ist es keine Gedenkfeier ihrerseits, sondern einen Waffe für den zukünftigen Kampf, eine Anregung zur revolutionären Aktion. Die Ereignisse von 1953 sind unsere, weil sie ein Moment des historischen Kampfes des Proletariats für seine Emanzipation sind. Sie sind ein sicherer Beweis der kapitalistischen Natur der Ostländer, die die Trotzkisten als „sozialistisch“ bezeichnen. Sie sind der Beweis, dass die unerbittlichste Diktatur des Kapitals durch seinen totalitären Staat dem Klassenkampf kein Ende bereitet. Dieser wird bestehen, solange es eine Teilung der Gesellschaft in Klassen gibt und also die Ausbeutung. Das Proletariat hat gegen die Intensivierungsmaßnahmen der Ausbeutung reagiert und der stalinistischen und trotzkistischen Lüge des „Sozialistischen und Arbeiterstaates“ eine scharfe Antwort gegeben. Die Arbeiter in Ostdeutschland haben vor den Arbeitern in Ungarn 1956 und in Polen 1970 festgestellt, dass die Kugeln der Polizei und der Armee gleicher Natur waren wie die der Jahre 1918-20 von Berlin bis Budapest. Mit dem Aufstand der ostdeutschen Arbeiter hat der Mythos der „sozialistischen Staaten“ im Bewusstsein des Weltproletariats begonnen zusammenzubrechen.
Aber vor allem haben die ostdeutschen Arbeiter – trotz ihrer Niederlage – gezeigt, dass sie die einzige Kraft sind, die zur Zerstörung der kapitalistischen Ausbeutung fähig sind. Trotz ihrer Illusionen in den „demokratischen“ Westen – Gegenstück zur Mystifikation der eisernen Diktatur des kapitalistischen Staates im Osten – haben sie die Möglichkeit einer zukünftigen proletarischen Revolution im russischen Block bewiesen: durch die Entstehung von Streik- und Fabrikkomitees über das ganze Land innerhalb einiger Tage. Nur das Gewicht der siegreichen Konterrevolution konnte die Intervention der russischen Armee und die Isolierung des ostdeutschen Proletariats vom Westteil Deutschlands und der anderen europäischen Länder ermöglichen.
Heute ist die Periode der Konterrevolution, die den proletarischen Kampf isoliert, geschwächt und gedreht hat, zu Ende. Mai 68 hat gezeigt, dass das Proletariat in Europa nicht „integriert“ ist; die Arbeiterrevolten in Polen im Dezember 1970 und Januar 1971 haben gezeigt, dass der Klassenkampf weiterging und dass die Ereignisse von 1953 nicht zufällig oder das Produkt der „Stalinisierung“ dieser Länder waren. Die allgemeine Krise des Kapitalismus gibt den Arbeitern aller Länder im Westen wie im Osten einen Anstoß in ihrem Widerstand gegen die Ausbeutung.
Trotz aller Stimmen, die in Polen (KOR, Verteidigungskomitee der gefangenen Arbeiter), in der CSSR (Charta 77) den Arbeitern weis machen wollen, dass sie für die „freie Nation“ kämpfen sollten oder sich im „Volk“ verschmelzen, können sich die Arbeiter im Ostblock nur in den internationalen Kampf des Proletariats integrieren. Gestern isoliert, werden die Arbeiter aller Länder im revolutionären Kampf vereinigt und trotz aller „eisernen Vorhänge“ morgen zum Angriff übergehen.
Der Arbeiteraufstand von 1953
Am Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Regierungen aller Länder den Arbeitern Frieden und dauerhaftes Gedeihen verspochen. Heute, dreißig Jahre danach, befinden wir uns schon wieder inmitten einer internationalen Wirtschaftskrise, welche im Osten wie im Westen den Lebensstandard der Arbeiter massiv angreift. Angesichts eines wachsenden Mangels an Märkten, einer schwebenden Inflation, Massenarbeitslosigkeit und eines drohenden Bankrotts des Systems, ist der Kapitalismus gezwungen, sich auf einen weiteren Weltkrieg – das dritte globale Massaker gegenüber dem Proletariat in diesem Jahrhundert – vorzubereiten.
In der BRD schlägt die Bourgeoisie, vor allem aber ihre extremen Fraktionen (wie etwa die Maoisten, Trotzkisten und die Neo-Faschisten) ein vereinigtes, unabhängiges, demokratisches und sogar „sozialistisches“ Deutschland als Lösung für den „deutschen“ Teil der Weltkrise vor. Wir können die Bedeutung dieser „nationalen Unabhängigkeit“ und Einheit verstehen, wenn wir uns daran erinnern, dass die Bonner Regierung den 17. Juni und die Niederlage der ostdeutschen Arbeiter immer noch zum Feiertag der deutschen Einheit macht. Hier sehen wir wieder, dass die Einheit des Bürgertums auf den Knochen der Arbeiterklasse errichtet ist. In Wirklichkeit gibt es keine kapitalistische Lösung der Krise im dekadenten Kapitalismus, welcher in einen Teufelskreis der Krise – Krieg – Wiederaufbau – neue Krise usw. marschiert und damit fortsetzen muss, bis er die Menschheit endlich zerstört hat. Gerade weil der einzige Ausweg aus dieser Barbarei die proletarische Weltrevolution ist, ist es eine lebenswichtige Aufgabe der Revolutionäre, die vergangenen Erfahrungen und Kämpfe unserer Klasse zu untersuchen, so dass aus den Niederlagen von gestern und heute der Sieg von morgen wird.
Die sogenannt „sozialistischen Länder“ Osteuropas waren als Ergebnis der imperialistischen Aufteilung der Erdkugel durch den Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Parole des heiligen Kreuzzuges gegen den Faschismus war nichts als eine Lüge, die von der westlichen und russischen Bourgeoisie benutzt wurde, um ihre Arbeiter für den Kampf um mehr Profite, Märkte und Rohstoffquellen zu mobilisieren. Die Demokratieliebe der Alliierten hatte z.B. Stalin nicht daran gehindert, ein Geschäft mit Hitler Anfangs des Krieges zu machen, wodurch Russland große Gebiete in Osteuropa erobern konnte.[1]
Als es immer klarer wurde, dass die Alliierten den Krieg gewinnen, wuchs der Interessenskonflikt offenbar innerhalb des „demokratischen Lagers“ selbst, vor allem zwischen Russland auf der einen und den USA auf der anderen Seite. Die Russen hatten nur ein Minimum an Versorgungsgütern vom Westen erhalten, und Großbritannien wollte sogar die „zweite Front“ gegen Deutschland nicht in Frankreich sondern auf dem Balkan eröffnen, um die Besetzung Osteuropas durch die Russen zu verhindern.
Was dieses Bündnis von Gangstern zusammenhielt, war die Angst, dass der Krieg, wie der Erste Weltkrieg, besonders in den niedergeschlagenen Ländern durch den Ausbruch von Klassenkämpfen frühzeitig beendet werden könnte. Die brutale Bombardierung der Alliierten gegen deutsche Städte war auf das Zermalmen der Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse gerichtet. In den meisten Städten waren die Arbeiterbezirke ausgelöscht, während aber nur 10% der industriellen Anlagen zerstört wurden[2]. Der wachsende Widerstand der Arbeiter, der bis zu Aufstandsaktionen in Konzentrationslagern und in Betrieben führte, und die Unzufriedenheit der Soldaten (wie etwa die Desertionen an der Ostfront, denen mit Massenhinrichtungen begegnet wurde) wurde eiligst von den Besatzungsmächten gebrochen. Diesem Muster wurde überall gefolgt. Im Osten hat die russische Armee beiseite gestanden, während die Deutschen den 63 Tage dauernden Warschauer Aufstand niederschlugen (240`000 Tote). Und es war die russische Armee, die für die Wiederherstellung von Ordnung und sozialen Frieden in Bulgarien und anderswo auf dem Balkan sorgte. Im Westen waren die KPs in die Nachkriegsregierungen von Frankreich und Italien eingetreten, um dort aufflammende Streikbewegungen und Unruhe zu bekämpfen. An der Macht unterstützte die italienische KP die gleichen demokratischen Alliierten, die die italienischen Arbeiter, die kurz vor Kriegsende Fabriken besetzt hatten, unbarmherzig bombardierten.
Die „Sowjets“ fingen dann an, eine organisierte Ausplünderung der besetzten Gebiete Osteuropas auszuüben. In der „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) Ostdeutschlands betrug die Demontage von industriellen Anlagen, die in die Sowjetunion transportiert wurden, 40% der industriellen Leistungsfähigkeit der SBZ. Die „Sowjetischen Aktiengesellschaften“ (SAG) wurden 1946 gegründet. Zweihundert Betriebe in den Schlüsselindustrien, einschließlich beispielsweise die Leuna-Werke, wurden von den Russen übernommen. Nach Kriegsende hatten die Arbeiter in manchen Gebieten selbst Betriebe wieder repariert und in Gang gesetzt – solche Betriebe wurden besonders gern übernommen. 1950 hatten die SAGs folgendes Gewicht in der ostdeutschen Wirtschaft: „…knapp 23% der Chemie, ein Drittel der metallurgischen Erzeugnisse und rund ein Viertel der Produkte des Maschinenbaus“ (Staritz, Sozialismus in einem halben Land, S. 103). Die Profite wurden zu gutem Teil auf Reparationskonten der Russen überwiesen. Die DDR war bis 1953-54 zu Reparationszahlungen an Russland verpflichtet, bis zu dem Zeitpunkt als es klar wurde, dass die Reparationen der russischen Wirtschaft selber schadeten[3]. Und so war das ostdeutsche Proletariat gezwungen, für den Wieder- und Weiteraufbau der sowjetischen Kriegswirtschaft mit zu zahlen. Stalin hatte aber nie erklärt, warum das „sozialistische Mutterland“ die Arbeiterklasse und den „Arbeiterstaat“ in Deutschland für die Verbrechen ihrer Ausbeuter zahlen ließ.
Die Konsolidierung der Wirtschaftsmacht des russischen Imperialismus in Ostdeutschland und Osteuropa wurde von der Machteroberung pro-russischer Fraktionen in diesen Ländern begleitet. In der SBZ kamen die Stalinisten der KPD mit den sozialdemokratischen Mördern der Deutschen Revolution zusammen, um die Sozialistische Einheitspartei (SED) zu bilden. Ihre unmittelbaren Nachkriegsziele waren schon kurz vor dem Krieg von der KPD deutlich zum Ausdruck gebracht worden: „Die neue demokratische Republik wird (…) (dem) Faschismus seine materielle Basis durch die Enteignung des faschistischen Trustkapitals entziehen und sich (…) in der Armee, der Polizei und im Beamtenapparat zuverlässige Verteidiger der demokratischen Freiheiten und der demokratischen Volksrechte schaffen.“ (Staritz, S. 49)
Verstärkung und „Demokratisierung“ der Armee, der Polizei, des Beamtenapparates… solche Lehren hatten diese gutbürgerlichen „Marxisten“ von Marx, von Lenin und aus der Pariser Kommune gezogen!
Und dann, drei Jahre nach Kriegsende, wurde angekündigt, dass nun der Aufbau des Sozialismus begonnen habe. Ein wundervoller Sozialismus, der auf den Leichen eines vollständig niedergeschlagenen Proletariats aufgebaut wurde. Es ist interessant zu notieren, dass zwischen 1945-48 nicht einmal die SED heuchelte, dass die staatskapitalistischen Maßnahmen, die durchgesetzt wurden, irgendetwas mit Sozialismus zu tun hätten. Und heute wollen Linkstümler aller Arten, die die Lüge Verstaatlichung = Sozialismus verkaufen, gern den hohen Grad der Verstaatlichung in den osteuropäischen Ländern schon vor dem Krieg und vor allem unter den „reaktionärsten“ Regierungen wie in Polen und Jugoslawien „übersehen“[4]. Diese Zentralisierung der Wirtschaft unter der Leitung des Staates wurde während der deutschen Besetzung fortgesetzt. In der Tat – die berühmte Deklarierung „Der Aufbau des Sozialismus“ und die nach 1948 erfolgte ökonomische, politische und militärische Umorganisierung in Osteuropa waren das direkte Resultat einer Festigung des globalen Konflikts zwischen dem amerikanischen und dem russischen Block.
„Der Zweijahresplan sah (gemessen an 1947) bis 1950 die Erhöhung der Produktion um 35% vor, rechnete mit einer Steigerung der Arbeitsproduktivität um 30%, einem Anwachsen der Gesamtlohnsumme um 15% und einer Senkung der Selbstkosten der Volkseigenen Betriebe um sieben Prozent. Die SED zielte mithin darauf, die Arbeitsproduktivität doppelt so rasch zu erhöhen wie die Löhne. Mittel zu diesem Zweck sahen die Planer vor allem in der Verbesserung der Arbeits-Organisation, dem Übergang zu Leistungslöhnen, der Einführung einer „richtigen Normung“ und im Kampf gegen die Arbeitsbummelei“[5].
Kurzfristige Lohnerhöhungen nach 1948 waren, sofern sie stattfanden, durch Akkordleistungen und „Produktivitätserrungenschaften“ – also durch eine Steigerung der Ausbeutungsrate – erreicht worden. Diese Periode war von der Hennecke-Bewegung (das DDR-Gegenstück zum russischen Stachanowismus) und von einer eisernen, von der Gewerkschaft auferlegten Parteidisziplin charakterisiert. Aber trotzdem waren diese Lohnerhöhungen immer unerträglicher für die Wirtschaft und mussten daher gestoppt werden. Der wirtschaftlich schwächere Ostblock sah sich ständig weniger in der Lage, mit den von den Amerikanern geleiteten Konkurrenten Schritt zu halten. Um überhaupt zu überleben, war es notwendig, Superprofite aus den Proletariern zu pressen und diesen Mehrwert in die Schwerindustrie (also in die zur Kriegsführung notwendigen Industrien) zu investieren, zum Nachteil der Entwicklung der Infrastruktur, der Konsumgüterindustrie und verschiedener anderer. Diese Lage, die die unmittelbare und zentralisierte Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat forderte, hatte die Bourgeoisie dazu gezwungen, einen frontalen Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu unternehmen.
Die Antwort des Proletariats darauf war eine Welle von Klassenkämpfen, welche zwischen 1953-56 Osteuropa erschütterten. Die Bewegung fing im frühen Juni 1953 mit den Arbeiterdemonstrationen in Pilsen (CSSR) an, denen unmittelbar danach der Aufstand in der DDR und die Revolte in den riesigen Vorkuta-Zwangsarbeitslagern in der UdSSR folgten. Und sie erreichte 1956 mit den Ereignissen in Polen und dann in Ungarn, wo Arbeiterräte gebildet wurden, ihren Höhepunkt.
Es wurde geschätzt, dass in Osteuropa der reale Lohn 1950 etwa die Hälfte des Standards von 1936 betrug. Im Juli 1952 kündigte die SED die Eröffnung einer neuen Periode des „beschleunigten Aufbaus des Sozialismus“ an, womit gemeint war: eine weitere Erhöhung der Investitionen in der Schwerindustrie, weitere Produktivitätssteigerungen, eine weitere Erhöhung der Produktionsnormen. Der Nachkriegswiederaufbau sollte beschleunigt werden. Im Frühling 1953, in einer Zeit als die Gewerkschaften in Westberlin Probleme hatten, die Kampfbereitschaft der Bauarbeiter zu kontrollieren, eröffnete die Ostberliner Regierung eine Kampagne, um die Produktionsnormen, unter anderem der Bauarbeiter, zu erhöhen. Am 28. Mai hatten 60% der Arbeiterschaft auf den riesigen Baustellen der Stalinallee ihre Normen „freiwillig erhöht“ (dies ist die Sprache des realen Sozialismus). Die Auswirkungen der über das Land verbreiteten Produktionskampagne auf die Arbeiterklasse waren bereits zu erkennen. Im Mai wurde in Magdeburg und in Karl-Marx-Stadt gestreikt. Als Antwort darauf hatte die Regierung eine allgemeine Normerhöhung um 10% für den 5. Juni angekündigt.
Eine durch die Stimmung unter den Arbeitern verunsicherte Anti-Ulbricht-Gruppierung innerhalb der SED-Führung setzte nun vermutlich mit Unterstützung des Kremls ein Reformpaket durch, das offenbar dem Zweck dienen sollte, die Unterstützung der Mittelschichten für die Regierung zu gewinnen. Zunächst wollte diese Gruppierung die Sache mit den Normen langsamer angehen[6].
Aber jetzt war es sowieso zu spät, den proletarischen Ausbruch mit irgendwelchen Manövern zu verhindern. Am 16. Juni waren die Bauarbeiter auf die Straße gegangen und bildeten einen militanten Zug, um die anderen Arbeiter mitzuziehen. Die Demonstration führte zuletzt zu den Regierungsgebäuden. Der für den folgenden Tag ausgerufene Generalstreik legte Ostberlin lahm und wurde in allen wichtigen Städten befolgt. Der Kampf war durch von Regierung und Gewerkschaft unabhängige Streikkomitees organisiert, welche von den Arbeitern in offenen Versammlungen gewählt wurden und unter ihrer Kontrolle blieben. Die Auflösung der Parteizelle im Betrieb war oftmals die erste Forderung der Arbeiter. In Halle, Merseburg und Bitterfeld, dem industriellen Herz Ostdeutschlands, wurden Streikkomitees für die gesamte Stadt gebildet, und die Streikkomitees dieser drei Städte versuchten ihren Kampf gemeinsam zu koordinieren und zu führen. Diese Komitees übernahmen die Aufgabe, den Kampf zu zentralisieren und die Versorgung der Städte vorübergehend zu verwalten. „In Bitterfeld forderte das zentrale Streikkomitee die Feuerwehr auf, die Mauern von offiziellen Parolen zu säubern. Die Polizei nimmt weiterhin Verhaftungen vor; das Komitee bildet Kampfabteilungen und lässt systematisch die Stadtviertel besetzten. Aus dem Bitterfelder Gefängnis werden die politischen Häftlinge im Namen des Streikkomitees entlassen. Dagegen wird im Namen derselben Autorität der frühere Bürgermeister festgenommen.“ (Benno Sarel, Arbeiter gegen den Kommunismus, S. 146).
Über das ganze Land hinweg waren die Parteizentralen besetzt oder niedergebrannt. Die Gefängnisse wurden geöffnet und die Gefangenen auf freien Fuß gesetzt. Der repressive Apparat des Staates war paralysiert. Nur die russischen Panzer konnten der Regierung helfen. In Ostberlin wurde der Widerstand des mit Flaschen und Stangen ausgerüsteten Proletariats durch 25.000 Mann russische Truppen und 300 Panzer niedergeschlagen. In Leipzig, Magdeburg und Dresden wurde die Ordnung innerhalb einiger Stunden wiederhergestellt. In anderen Gebieten dauerte es länger. In Ostberlin fanden drei Wochen später immer noch Streiks statt.
Wegen der Geschwindigkeit, mit der die Arbeiter auf die Straße gegangen waren, den Kampf verbreitet und sich direkt politisiert hatten, vor allem aber weil die Notwendigkeit, den Staat offen zu konfrontieren verstanden wurde, war es dem Proletariat gelungen, die repressiven Einrichtungen der ostdeutschen Bourgeoise zu paralysieren. Jedoch ebenso wie die rasche Verbreitung des Streiks über das ganze Land die effektive Benutzung der Polizei gegen die Arbeiter verhindert hatte, hätte es eine internationale Ausdehnung des Kampfes gebraucht, um der Gefahr der „Roten Armee“ zu begegnen. In diesem Sinn können wir sagen, dass in der Tiefe einer weltweiten Konterrevolution infolge der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 der Aufstand der ostdeutschen Arbeiter wegen ihrer Isolation gegenüber ihren Klassenbrüdern im Ausland, im Osten wie im Westen, niedergeschlagen wurde. Tatsächlich hat das Gewicht einer langen Konterrevolution eine politische Schranke vor die Erweiterung des Kampfes errichtet – gegen die Möglichkeit, die Bewegung von einer Revolte in eine Revolution zu wenden – die furchtbarer war als die Bajonette des russischen Imperialismus. Der Faden, der die Klasse mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit ihren bisherigen Erfahrungen und Kämpfen verbindet, war längst durch Noske, Hitler, Stalin, den blutigen Helden der Konterrevolution, durch Konzentrationslager und Flächenbombardierung, durch Demoralisierung und Zerstörung ihrer politischen Fraktionen (z.B. der Mord an Liebknecht und Luxemburg, der Sieg der Konterrevolution in Russland, die Zersplitterung der KAPD) zerschnitten worden. Nachdem sie so lange unter dem Faschismus und dem Stalinismus gelitten hatten, stellten sich die Arbeiter vor, dass vielleicht die parlamentarische Demokratie sie vor der schlimmsten Ausbeutung etwas schützen würde. Und so forderten sie „freie Wahlen“. Sie schickten Delegierte nach Westberlin, um die Hilfe und Solidarität des dortigen Staates und der Gewerkschaften zu erbitten: Sie erhielten nichts. Die Westberliner Polizei, französischen und britische Truppen waren entlang der Stadtgrenzen mit Ostberlin aufgestellt, um Solidaritätsbewegungen zwischen den östlichen und westlichen Arbeitern zu verhindern. Die westlichen Gewerkschaften lehnten den Vorschlag, einen Solidaritätsstreik auszulösen, ab und warnten die östlichen Arbeiter vor Illegalität und Abenteuern. Die Arbeiter forderten die russische Armee auf, neutral zu bleiben (sich nicht „in die inneren Angelegenheiten der Deutschen einzumischen“, laut den Streikkomitees vor allem in Bitterfeld). Die Arbeiter wollten Ulbricht und seine Freunde aus der Welt schaffen. Sie sahen nicht, dass ein Ulbricht durch Andere ersetzt werden kann, dass wir nicht diese oder jene Regierung stürzen müssen, sondern das kapitalistische Weltsystem zerstören müssen, das wie ein Stein an unserem Hals hängt. Sie kamen aber nicht so weit, den Kampf durch Arbeiterräte politisch zu zentralisieren, um den bürgerlichen Staat zu vernichten.
Die DKP und die westdeutschen Maoisten meinten, dass der 17. Juni ein von Bonn und Washington organisierter „faschistischer“ Aufstand gewesen sei. Dadurch beweisen sie wieder einmal ihren anti-proletarischen Charakter. Die Arbeiterklasse wird solche Strömungen (oder andere – wie die des „Genossen“ Bahro, der den östlichen Staatskapitalismus und seinen beliebten „Arbeiterstaat“ so gerne demokratisieren möchte, um soziale Ruhe und Ordnung zu sichern) auf die Müllkippe der Geschichte werfen. Die Logik solcher Strömungen zeigt z.B. ein Flugblatt, das der KBW zum 25. Jahrestag der DDR-Ereignisse herausbrachte. Diese selbsternannten Wachhunde der stalinistischen Reinheit argumentieren: Die „Tatsache“, dass die westdeutsche Regierung den Aufstand „unterstützt“ habe, beweise, dass es sich damals um nichts anderes gehandelt habe als um einen faschistischen Putschversuch. Tatsächlich unterstützte die Bourgeoisie im Westen diesen Aufstand auf die gleiche Weise wie die Gewerkschaften Streikbewegungen unterstützen: um sie in die Sackgasse zu führen. „Stimmen tut lediglich, dass die Leute, die dort am 17. Juni ihr Unwesen getrieben haben, in der Tat machtlos waren, gerade weil es keine „mutigen Arbeiter“ waren, sondern Provokateure, Imperialistenknechte ohne Rückendeckung von der Arbeiterklasse, die natürlich wie Hasen anfangen zu laufen, wenn die Rote Armee, damals eine Armee der Arbeiterklasse, gegen diesen konterrevolutionären Putschversuch auftritt.“ (Flugblatt des KBW, 15. Juni 1978)
Ja, so einfach kann das alles erklärt werden. Trotzdem ist es für diese Papageien der Konterrevolution notwendig, über die Fehler Onkel Walters (Ulbricht) und die Konfusionen der Arbeiterklasse etwas zu murmeln. Wie war es denn passiert, dass drei Jahre nach diesem ersten „Faschistenabenteuer“ Massen von ungarischen Arbeitern Stalins Panzer mit Molotov-Cocktails bekämpften? Warum greifen die Arbeiter ihre „eigene“ Armee so oft und so wütend an? Und wieso haben diese „mutigen Arbeiter“ keinen Finger gerührt, um „ihren Staat“ und „ihre Revolution“ vor der in maoistischen Kreisen berühmten blutlosen „Konterrevolution“ durch Chruschtschow zu retten?
Es gehört zu den Bedingungen des Klassenkampfes im dekadenten Kapitalismus, dass die Arbeiter in Ostdeutschland 1953 und in Ungarn 1956 in ihren Zusammenstößen mit dem System unmittelbar mit der Macht und der Feindseligkeit der Weltbourgeoisie konfrontiert wurden. Die betrügerischen, von westlichen Propagandisten gestellten Ziele der Demokratie und der Einheit Deutschlands begleiteten die Aktionen der Roten Armee bei der Niederschlagung des Proletariats. In der Manipulation von Lügen erwies sich die Bourgeoisie der „alten“ Kapitale erneut als wahrer Meister. Ihre Strategie war:
die Arbeiterkämpfe sobald wie möglich zu beenden, und vor allem zu verhindern, dass die Bewegung sich über die Grenzen hinaus nach Westen ausdehnt;
durch die Umleitung der Bewegung auf ein bürgerliches Terrain (ein Kampf für „Demokratie“, „Freiheit“ usw.), hoffte der Westen, seinen politischen Einfluss auf den russischen Block zu vergrößern.
Jedoch war die Ideologie der westlichen Bourgeoisie in erster Linie gegen ihr „eigenes“ Proletariat gerichtet. Die ganzen Reden über den niedrigen Lebensstandard und den Freiheitsmangel „des Volkes“ im Osten werden vor allem jetzt mehr und mehr Teil des Versuches, die Demokratie zu benutzen, um den Widerstand der Arbeiter gegen die Austerität und die totale Kriegswirtschaft zu brechen. Die ideologische Intervention des westlichen Blocks war 1953 besonders wichtig; dadurch dass sie beigetragen hat, die Arbeiter politisch zu entwaffnen, half sie sogar dem Stalinismus, an der Macht zu bleiben.
1956 in Ungarn und Polen war es vor allem der Nationalismus, als wirksamste Waffe, der den Arbeiterwiderstand bremste und auflöste. Nur Monate nach der Niedermetzlung der Arbeiter in Poznan (Posen) war die KP in Polen in der Lage, der Bevölkerung Warschaus Waffen zu geben, um das Vaterland gegen die Russen zu verteidigen. Im Gegensatz dazu fühlte sich die Regierung in Ostberlin durch den deutschen Nationalismus zum Teil sogar bedroht, weil dieser Nationalismus die Gefahr des Westens – die Angst, von Bonn aufgefressen zu werden – verkörperte. Genauso war eine Zusammenschluss aller Klassen, um das nationale Kapital gegen die Russen zu verteidigen, von vorneherein ausgeschlossen. Die Existenz der DDR selbst hängt von der Macht Russlands ab. Unfähig, selbst Mystifikationen zu verbreiten, lässt sich die SED von ausländischen Panzern und Demokratie-Gelaber retten.
Die Arbeiterklasse gibt den Klassenkampf nie auf, sie war nie und konnte niemals eine Klasse-fürs-Kapital sein. Gegenüber den Lügen der Bourgeoisie und ihren linken Fraktionen – welche unaufhörlich der Arbeiterklasse Militarismus, Aristokratismus, Rassismus usw. vorwirft; gegenüber einer Vorstellung, die die Klasse nur unmutig, resigniert und niedergeschlagen sieht, verteidigen die Revolutionäre das Verständnis, dass das Herz der Klassengesellschaft heute der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital ist, welche einander in von den materiellen Bedingungen ihrer Existenz bestimmter Lage in permanenter Feindseligkeit gegenüberstehen. Da das Proletariat keine ökonomische Macht innerhalb dieser Gesellschaft besitzt, kann die Zerstörung des Kapitalismus nur eine politische Handlung sein, eine Übung des revolutionären Bewusstseins und des Willens der Arbeitenden. Es war ein bestimmter Erfahrungs- und Bewusstseinsmangel seitens der Klasse und ihrer revolutionären Minderheiten, an dem die Oktoberrevolution 1917 scheiterte. In der gleichen Weise waren alle Versuche der 1940er und 50er Jahre, dem Kapitalismus zu widerstehen, durch die tiefe Konfusion und Demoralisierung infolge der Niederlage der Oktoberrevolution zum Scheitern verurteilt.
Den Gipfel des Idealismus erreichen die Rätekommunisten, zum Beispiel Daad en Gedachte in Holland, mit ihrer Behauptung, dass die Ereignisse vom Juni 1953 wieder einmal die grenzenlose Macht der Massenspontaneität des Proletariats – welche sie der Notwendigkeit einer Klassenpartei entgegenstellen – bewiesen habe. Aber genauso fremd zum Marxismus ist der typische Begriff der Bordigisten, welche jede Niederlage durch das Fehlen der revolutionären Partei erklären will. Durch seine Natur als eine ausgebeutete und zugleich revolutionäre Klasse, tritt das Proletariat ohne Vorbereitung in den Kampf ein. Aber um sich zu verteidigen und um das Kapital konfrontieren zu können, müssen die Arbeiter ihre Kämpfe im vollen Bewusstsein organisieren und führen. Die Klasse schmiedet ihre Waffen, ihre Organe, in den Flammen des Klassenkampfes selbst. Durch diese Organe stellt sie ihren unmittelbaren Kampf auf den Boden ihrer Klasseninteressen, des Kampfes um den Kommunismus. In revolutionären Konfrontationen organisiert sich die Masse der Arbeiter in Räten, welche die Offensiven und die vorübergehenden Rückzüge veranlassen und koordinieren, und den Tag des Aufstandes vorbereiten. Dadurch überschreitet die Klasse ihre eigene Spontaneität und wird eine einzige untrennbare revolutionäre Kraft.
In der Tat stellen die Rätekommunisten und die Bordigisten die Frage auf die falsche Weise. Es sind nicht die Räte oder die Partei „an sich“, sondern die bewusste Selbstorganisation der Klasse, die für den Sieg der Revolution unerlässlich ist. Die Gründung der Partei und der Räte sind zwei getrennte und grundsätzliche Momente dieses Prozesses der Selbstorganisation der Klasse. Kein einziger Kampf der Arbeiter, noch weniger in der Tiefe einer konterrevolutionären Periode, erreicht den Sieg, nur weil jemand die Weltpartei gründet. Die Weltpartei ist nicht allein eine Sammlung von Prinzipien; noch weniger ist sie der als eine Realität wahrgenommene Traum irgendeiner kranken Sekte. Die Weltpartei von Morgen bedeutet die militante und disziplinierte Selbstorganisation der kämpferischsten und bewusstesten Elemente der Klasse, welche einen dynamischen Beitrag leisten zu den Kämpfen des Proletariats, ihren Bestrebungen, sich zu organisieren, und ihrer Aufgabe, sich als Klasse zu begreifen. Als Produkt des Klassenkampfes bildet sich die Partei nicht spontan durch denselben, sondern wird durch lange Jahre organisierter theoretischer und praktischer Arbeit erreicht. Und wir sind in dieser Arbeit der Vorbereitung jetzt engagiert.
Während das Fehlen von revolutionären Minderheiten in den Kämpfen von 1953-56 ein Symptom der Schwäche der Klasse während dieser Periode war, zeigt uns das Auftauchen und die Konsolidierung solcher Minderheiten seit 1968, dass eine neue revolutionäre Periode eröffnet ist. Die Streiks in Ostberlin und in Karl-Marx-Stadt sowie die Unruhen in Wittenberg und Erfurt, die in der letzten Zeit stattfanden, kündigen an, dass auch die DDR in eine neue Ära von Klassenkämpfen und sozialen Krisen geraten ist. In Osteuropa wurden die ersten mutigen Versuche der Arbeiter, der Krise zu widerstehen (in Polen, Rumänien usw.) niedergeschlagen, ohne dass sie einen hohen Grad an Politisierung erreicht haben. Heute verstärkt sich ideologisch und militärisch eine Weltbourgeoisie, die sich jetzt der Notwendigkeit bewusst wird, ihre internen Konflikte dem allgemeinen Ziel der Niederschlagung des Proletariats zu unterwerfen. Weil es für die Imperialisten notwendig wird, zum Krieg hinzuarbeiten, bereiten sie sich vor allem auf den Bürgerkrieg vor, weil nur geschlagene Arbeiter gute Soldaten sind.
Diese neue Offensive der Bourgeoisie, die uns kaputt hauen und in den Krieg zu schicken versuchen, muss von der Arbeiterklasse in Ost und West beantwortet werden. 25 Jahre nach dem Aufstand der Arbeiter in Ostdeutschland setzen wir der lügnerischen Einheitsrede der Bourgeoisie die Einheit und Solidarität der Arbeiter und Revolutionäre aller Länder entgegen.
Krespel, 1978
[1] Man könnte ein ganzes Buch mit schönen Zitaten von Stalinisten über den Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts 1939 schreiben. Der Funktionär Ulbricht schreibt im Februar 1940: „Wer gegen die Freundschaft zwischen dem deutschen und dem Sowjetvolk intrigiert, ist ein Feind des deutschen Volkes und wird als Helfershelfer des englischen Imperialismus gebrandmarkt.“
Und die Erklärung der KPD vom August 1939: „Das ganze deutsche Volk muss Garant für die Erhaltung des Nichtangriffspakts (…) sein“, der dem deutschen „Volk“ sogar die Gelegenheit gebe, „Hitler zur Aufgabe der imperialistischen Kriegspolitik zu zwingen“.
[2] Die Alliierten wollten die industriellen Anlagen deshalb nicht zerstören, weil sie sie nach dem Krieg mit nach Hause nehmen wollten.
[3] Dadurch, dass Russland die DDR so weitgehend ausgeraubt hatte, musste es auch auf die notwendigen Güter verzichten, die ihnen die Ostdeutschen mit ihrer sehr ausgebildeten Arbeiterklasse sehr gut und billig geliefert hätten. Ein weiterer Grund, die Reparationen zu streichen, war die Gefahr der sozialen Instabilität, die nach 1953 ziemlich deutlich geworden war.
[4] Die Situation der Tschechoslowakei zeigt uns die Wahrheit dieser staatskapitalistischen Entwicklung, die auch ohne Stalinisten und „Arbeiterparteien“ in Gang gesetzt worden war. Laut Benes, dem damaligen konservativen tschechoslowakischen Staatspräsidenten: „Die Deutschen übernahmen einfach die Kontrolle über die hauptsächlichen Industrien und alle Banken. Wenn sie sie nicht direkt nationalisierten, warfen sie sie in die Hände großer deutscher Konzerne… Auf dieser Weise bereiteten sie automatisch die Wirtschaft und das Finanzkapital unseres Landes auf die Nationalisierung vor. Das Eigentum und die Banken in die Hände tschechischer Individuen zurückzugeben oder sie ohne finanzielle Garantien zu konsolidieren, war einfach unmöglich. Der Staat hatte einzugreifen.“ (Bureaucracy and Revolution).
[5] Staritz, S. 107. Der Autor vergisst hier, dass ein Anwachsen der Gesamtlohnsumme um 15% nicht eine Lohnerhöhung um 15% bedeutet, sondern in erster Linie eine Zunahme der Zahl der Beschäftigten.
[6] Es geht um die Gruppe um Franz Dehlem. Bei jeder politischen Krise im Ostblock schieben sich Fraktionen der Bourgeoisie vor, die irgendetwas demokratisieren oder verändern wollen, um eine Konfrontation mit dem Proletariat zu vermeiden. 1956 waren es Gomulka in Polen und Nagy in Ungarn. 1968 war es Dubcek in der CSSR. Heute ist es mit der Opposition in Polen, den Bürgerrechtlern in Russland, der Charta 77 in der CSSR und Bahro, Havemann, Biermann und Freunden in der DDR genauso.
Krieg oder Revolution
In der Nummer 1 der Internationalen
Krieg oder Revolution
In der Nummer 1 der Internationalen Revue auf Deutsch haben wir in dem Beitrag zur Streikwelle in der BRD[1] schon festgestellt, dass die Krise jetzt begonnen hat, das Zentrum der proletarischen Klasse, sein Herzstück, anzugreifen. Dies ist nur Ausdruck einer sich immer weiter verschärfenden Krise des Weltkapitals, das seinerseits bemüht ist, den drohenden Zusammenbruch des Systems abzuwenden.
Das Kapital ist ständig gezwungen, die Angriffe auf die Arbeiterklasse zu verschärfen. In Belgien soll mit einem "Antikrisengesetz" die marode Industrie wieder in Schwung gebracht werden - auf Kosten der Arbeiter[2]. Die Massaker, die die Bourgeoisie im letzten Jahr im Oktober in Ecuador und im Dezember in Kanpur (Indien) anrichtete, um massive Streiks der Industriearbeiter zu beenden, waren die (vorerst) letzte Konsequenz dieses blutigen Spiels. Das vorläufige Ende dieser Barbarei, der einzige Ausweg für die Bourgeoisie kann nur der Krieg, d.h. die brutale Niederschlagung der Arbeiterklasse und die allgemeine Zerstörung von Produktionsmitteln sein. Die Vorboten dieser inneren Logik des Kapitals sind die kriegerischen Auseinandersetzungen in Indochina, Zaire und im Nahen Osten.
In diesen imperialistischen Konflikten geht es keineswegs um nationale Befreiungen, die im dekadenten Kapitalismus ohnehin unmöglich geworden sind. Hier wie dort stoßen knallharte Blockinteressen aufeinander. Und das ganze Theater - angefangen von der "Verständigung zwischen Nord und Süd" über die „Respektierung der nationalen Unabhängigkeit" und den "Grundsatz der "Nichteinmischung" bis hin zur militärischen "Unterstützung" derselben - kann uns nicht darüber hinwegtäuschen.
Je lauter das Geschrei um "Friedensbemühungen" wird, desto mehr verschärfen sich die Fronten zwischen den· Blöcken. Der Vertrag zwischen China und Japan, die Reisen des obersten Vertreters des chinesischen Kapitals durch Länder der "zweiten und dritten Welt", aber auch die Verhandlungen von Camp David sind keine Meilensteine auf dem Weg zum Frieden. Sie sind Versuche des westlichen Blocks, seine Fronten zu schließen und die nationalen Kapitale auf das Blockinteresse festzuschreiben. Durch die Krise des Weltkapitals werden die schwächeren Länder, die bislang eine anscheinend neutrale und schwankende Stellung zwischen den Blöcken einnahmen, gezwungen, sich in einen Block einzugliedern (selbst das autarke Albanien macht jetzt Annäherungsversuche an den russischen Block, vgl. die Konferenz der "Blockfreien"). Historisch gesehen, gibt es keinen Gegensatz zwischen Krieg und Frieden. Das eine hebt das Andere nicht gesellschaftlich auf. Im dekadenten Kapitalismus schließen sich beide ständig ein und bedingen sich gegenseitig.[3]
So sind die Grundsätze und Proklamationen von "Menschenrechten" und "Friedensabsichten“ nie mehr wert gewesen als das Papier, auf dem sie geschrieben stehen. Auch in der "friedliebenden" BRD wird, im Gegensatz zum ganzen Gerede vom "defensiven Charakter unserer Bundeswehr", die Möglichkeit zur direkten, militärischen Intervention für die imperialistischen Interessen der Bundesrepublik geschaffen[4].
Gegenüber all diesen Machenschaften der herrschenden Klasse, die nicht etwa aus einem moralischen Verfall des Bürgertums herrühren, sondern einzig und allein den vorgezeichneten Weg des Kapitalismus in die Barbarei begleiten, kann nur die Arbeiterklasse der Menschheit die einzige Alternative - die proletarische Weltrevolution - aufstellen. Die Frage der Zeit ist: "Sozialismus oder Barbarei - Revolution oder Krieg".
Die unbedingte Voraussetzung für die endgültige Durchsetzung der Politik der Bourgeoisie ist die vollkommene Militarisierung der Arbeit sowie eine Austeritätspolitik, die die Ausrichtung der gesamten Gesellschaft auf den Krieg zulässt. Dies ist aber nur möglich, wenn die Arbeiterklasse physisch wie ideologisch niedergeschlagen ist, also die offiziellen Kriegsziele als "ihre" eigenen Ziele anerkennt.
Die Arbeiterklasse ist nicht niedergeschlagen
Trotz aller Bemühungen des Kapitals und seines Staates ist die Klasse weder in der BRD noch international dazu bereit. Deshalb versucht das Kapital mit all seinen Organen und Instrumenten, jede Bemühung der Klasse, sich autonom in ihrem Kampf zu entwickeln zu behindern und schließlich ganz zu zerschlagen. Die ersten zaghaften Versuche der deutschen Arbeiterklasse seit einigen Jahren, aktiv in den Klassenkampf einzutreten, schienen fürs erste erfolgreich in die Sackgasse geführt worden zu sein. In Frankreich ist es in diesem Jahr zu einem erheblichen Streikkampf gekommen, der ebenfalls alle Gewerkschaften auf den Plan gerufen hat. In der DDR und anderen Ländern des russischen Blocks setzen sich sogenannte kritische Kräfte an die Spitze einer Bewegung, die spontan aus dem Unmut der Bevölkerung über die dort nicht weniger starke Krise entstanden sind. Überall da, wo, wie schwach auch immer, eine Klassenbewegung entsteht, hat sich die Bourgeoisie noch ein Türchen offen gelassen, das die Kämpfe auf das Terrain der herrschenden Klasse führt.
Dennoch sind im internationalen Klassenkampf Fortschritte der Arbeiterklasse zu erkennen, die die Vereinigung der Klasse zu einer einzigen internationalen Kraft, die dieses System endgültig aus der Welt schaffen wird, ankündigen. Wenn auch noch unter gewerkschaftlieher Kontrolle, so steht die englische Arbeiterklasse fest hinter den kämpfenden Ford-Arbeitern. Gleichzeitig befindet sich die Klasse in verschiedenen anderen Ländern, wie im Iran und in Nicaragua, im Kampf. Anstatt die Bewegung im Iran unter Kontrolle zu bekommen, sieht sich die Bourgeoisie täglich einer Ausbreitung der Streikaktionen gegenüber. Aber selbst wenn schließlich die "Demokraten" eine Beruhigung des Klassenkampfes erreichen können, wird die Krise des Kapitals die Arbeiter zu neuen Angriffen gegen den Klassenfeind treiben. International kann jetzt eine Politisierung des Arbeiterkampfes beobachtet werden, die das Proletariat auch im Westen zwingt, den Staat direkt zu konfrontieren. Trotz zeitweiliger Rückschläge und Rückflussphasen des Klassenkampfes zielt der historische Kurs immer noch auf die Revolution.
Die Aufgaben der Revolutionäre
Anders als 1914-18 wird der nächste Weltkrieg nicht die Revolution auslösen, aber anders als 1939 ist die Klasse noch nicht niedergeschlagen. Sie bildet seit 1968 unaufhörlich neue, revolutionäre Elemente heraus und schafft sich damit die zukünftige Avantgarde des Proletariats. In diesem sich ständig wiederholenden Prozess ist es die Aufgabe der Revolutionäre, scharf zwischen proletarischen Gruppen - so konfus sie auch immer sein mögen - und bürgerlichen Strömungen zu unterscheiden. Das Verständnis der Ereignisse um 1968 und ihrer Folgen ist Ausdruck der Klarheit der Plattform der Revolutionäre[5].
In der Tat ist 1968 erst der Wiederbeginn der Bildung eines revolutionären Lagers, das mehr tun kann, als - wie während der Konterrevolution - bloß die Klassenpositionen in eine neue Revolution hinüberzuretten. Die Bildung einer Avantgarde des Proletariats ist aber nicht das Werk voluntaristischer Parteischöpfer! Sie ist ein langwieriger Prozess der Umgruppierung vieler revolutionärer Elemente auf einer klaren Klassenbasis - im Grunde ein Prozess der Klasse selbst. Gleichzeitig erfordert die Umgruppierung die Formulierung eines klaren Programms der Klasse und einer klaren Plattform. Die revolutionären Elemente sind Produkt und Faktor ihres wie des allgemeinen Klassenbewusstseins.
Ihnen kommt im revolutionären Prozess die größte Aufgabe zu. Von ihrer Intervention, von ihrem Verständnis der Geschichte und damit der Lehren aller bisherigen Klassenkämpfe, von ihrem Bemühen, den Klärungsprozess voranzutreiben, hängt wesentlich die Bildung der Arbeiterklasse als bewusstem Körper ab. Im Artikel "Klassenbewusstsein und die Rolle der Revolutionäre" setzen wir uns mit dieser Frage auseinander.
Zu den Aufgaben der Revolutionäre gehört, wie gesagt, die gründliche Aufarbeitung der historischen Erfahrungen des Proletariats. Sie ist Teil des revolutionären Klärungsprozesses. Wenn wir also einen Artikel über die Russische Revolution in dieser Nummer der Internationalen Revue abdrucken, tun wir das nicht vom Standpunkt des alles sehenden Besserwissers, sondern in Auseinandersetzung mit verheerenden Konfusionen innerhalb des revolutionären Lagers. Der Artikel wurde als Antwort auf eine im rätekommunistischen Milieu durchaus verbreitete Auffassung geschrieben, dass 1917 in Russland das Datum einer bürgerlichen Revolution sei. Ebenso soll der Beitrag über die Ereignisse 1953 in der DDR nicht einfach die Seiten der Geschichtsbücher des Proletariats füllen, sondern dem Zweck dienen, den Faden der Kämpfe der Klasse wieder aufzunehmen, der durch die Konterrevolution zerrissen wurde. In diesen Erfahrungen der Arbeiterklasse liegen die Klassenpositionen, die wir heute vertreten, begründet.
[1]Siehe "Tarifverhandlungen: Die Gewerkschaften gegen den Klassenkampf" in Internationale Revue Nr. 1, deutsche Ausgabe.
[2]Die Produktivität in der Stahlindustrie müsste um etwa 100% gesteigert werden, um international wieder konkurrenzfähig zu werden.
[3]Im "Bericht über die internationalen Lage", dessen erster Teil in der ersten Nummer der Internationalen Revue erschienen ist, gehen wir auf das Problem der Konfrontation zwischen den Blöcken sowie auf den veränderten Charakter der innerimperialistischen Konflikte - im Vergleich zur Wiederaufbauperiode - und die Ausweglosigkeit der kapitalistischen Krise in Ost und West ein. Der Zaire-Konflikt, der ja nur ein grausamer Höhepunkt in dieser barbarischen Entwicklung ist, illustriert sie auf erschreckende Weise.
[4]Vgl. Der Spiegel Nr. 26, 1978
[5]Siehe dazu den Artikel über die Studentenbewegung in diesem Heft.
Klassenbewusstsein und die Rolle der Revolutionäre
"Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung" (Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“; MEW Band 1, S.391)
Diese Auflösung kann jedoch auf keinen Fall ein blinder und streng vorherbestimmter Akt sein – irgendwie das direkte Ergebnis, das schematische Resultat einer bestimmten Anzahl von wirtschaftlichen Ursachen. Im Gegenteil, sie verlangt von ihrem Subjekt ein voll entwickeltes Bewusstsein des zu verwirklichenden Ziels. Wenn man aber eine bürgerliche Betrachtungsweise der Geschichte vertritt, geht dieses Bewusstsein, definiert als ein Empfinden der eigenen Existenz, nicht über eine subjektive und intellektuelle Kategorie, einer Summe von Ideen hinaus, die bei der Interpretation der Realität Anwendung findet.
Denn für jede bürgerliche Wissenschaft ist das Denken, das Bewusstsein getrennt von der allgemeinen Bewegung der Materie, ist es vor allem eine Angelegenheit von isolierten Individuen oder Gruppen von Individuen mit einem vagen gemeinsamen Interesse. Da ihre Argumentation unfähig ist, sich von den groben Verzerrungen der herrschenden Ideologie zu befreien, kann sich die bürgerliche Wissenschaft den Bewusstseinsbildungsprozess deshalb nur als einen rein geistigen Mechanismus vorstellen, der ein Individuum oder gar eine ganze Gruppe mittels einer Kette von Reiz-Reaktion-Nachdenken-Aktion dazu bringt, zu einem Bewusstsein von dem, was er oder sie ist, zu gelangen. Durch die Übertragung dieser Bewegung von einem Individuum auf die Dynamik einer ganzen Gesellschaftsklasse führt diese Betrachtungsweise dazu, Gesellschaftsklassen in individuellen und mythischen Begriffen darzustellen und zu fixieren. Die Arbeiterklasse erscheint somit als erstarrt, als eine ökonomische Kategorie vergegenständlicht. Sie wird auf eine Art dichte Masse reduziert, die wie ein homogenes Wesen ein „Bewusstsein erlangen“ soll, dessen, was sie ist und was sie zu vollbringen hat. Und aus dieser gelehrten zweidimensionalen Betrachtungsweise der Gesellschaft wird die Schlussfolgerung gezogen, dass die Arbeiterklasse nun ganz einfach eine „Klasse für das Kapital“ sei, dass es ausreicht, in der Eigenschaft als wimmelnde Masse zu warten, bis das Bewusstsein sich gleichzeitig und gleichartig im Gehirn eines jeden Arbeiters einfindet, oder dass sie nicht anderes ist als ein menschlicher Körper, mit der Partei als dem Kopf und den Arbeiterräten als den Füßen usw.
Diese vollständig irrige Vorstellung von der historischen Entwicklung einer gesellschaftlichen Klasse, schon von Marx in den Thesen über Feuerbach kritisiert, erklärt sich aus der Tatsache, dass die Bourgeoisie unfähig ist, ihre eigene Existenz in Frage zu stellen, dass sie nur in Begriffen wie Schichten, Kategorien und willkürlichen Unterscheidungen denken kann. Für die Bourgeoisie existiert nur die vollendete und fertige Wirklichkeit einer Welt, die von der Praxis getrennt ist, eine unveränderliche und tote Materie, ein Denken, das die Wirklichkeit wie ein Schleier umspannt, unfähig, sich selbst oder die Realität umzuwandeln. Form und Inhalt, wahrgenommenes Objekt und denkendes Subjekt, Geist und Materie, Theorie und Praxis kleben aufeinander und sind als Paare untrennbar verbunden, aber sie sind ebenso verschieden und werden als eine eigenständige Existenz aufgefasst. Die Welt der Konzepte bildet und verbreitet sich; im Gegensatz dazu begnügt sich die Welt der Objekte, die im Hintergrund des Bewusstseins platziert ist, damit, "da zu sein". Was ihre Einheit betrifft, die gemäß dem bürgerlichen Geist nichts anderes als jene von zwei parallelen Linien sein kann, die sich irgendwo im Unendlichen treffen, so ist diese auf nichts anderem als einem intellektuellen Zauberkunststück reduziert.
Tatsächlich besteht der Fehler jeglichen Vulgärmaterialismus, selbst wenn er die Bestimmung der Stoffe anerkennt, darin, dass er das Objekt nur unter der äußeren und vom Subjekt unabhängigen Form betrachtet und nicht als menschliche Praxis. Das Klassenbewusstsein braucht angeblich nur in einem theoretischen Programm zusammengefasst und von einer Minderheit vertreten zu werden, während die Arbeiterklasse in der materiellen Welt agiert, unfähig, ohne die Hilfe einer vermittelnden und unverzichtbaren Instanz, die Partei, die für die Vermittlung zwischen der Erfahrung und dem Klassenbewusstsein sorgt, zu einem Bewusstsein zu gelangen. Oder aber das proletarische Bewusstsein ist nichts anderes als eine Art instinktive, unmittelbare Antwort auf äußere Reize, und die Revolutionäre - aus Angst, diesen natürlichen Stoffwechsel zu stören und zu verletzen - können nur den Kopf in den Sand stecken und warten, bis die Dinge ihren Lauf genommen haben.
Die Revolutionäre ihrerseits geben sich mit dieser grob vereinfachenden Betrachtungsweise nicht zufrieden, da sie sich bewusst sind, dass ihr Bild von der Realität kein Zufallsprodukt und auch nicht das Produkt eines individuellen Willens ist; da ihre Hauptrolle, die sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit spielen, sich nicht auf intellektuelle oder empirische Schilderungen der objektiven und subjektiven Bedingungen der kommunistischen Revolution beschränkt. Und was in ihren Überlegungen als zu abstrakt und zu theoretisch erscheinen mag, ist lediglich als ein notwendiger Schritt, ein Moment in der Praxis ihrer organisierten Intervention. Denn sich eine Bewegung theoretisch vorzustellen, sich das geistiges „Abbild“ einer Entwicklung auszudenken wäre vergleichbar damit, einen Fluss hinunterfahren zu wollen, ohne sich jemals vom Ufer zu lösen. Deshalb begnügen sich die Revolutionäre, da sie keine separaten Interessen gegenüber jenen des Proletariats haben, nicht mit Vorstellungen oder abstrakten Schemen, mit journalistischen oder Alltagsschilderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Als aktiver Teil eines Ganzen, als Produkte und Faktoren einer historischen Entwicklung stellen ihre historischen Überlegungen letzten Endes eine politische Meinungsbildung über die Realität dar, den Wunsch nach radikaler Umwälzung der Gesellschaft. Heute, in der Ära der sozialen Revolution, des Comebacks des Proletariats auf der Bühne der Geschichte, ist die Intervention der Revolutionäre wichtiger denn je - nach einem halben Jahrhundert der Konterrevolution und der Konfusionen, die schwer auf dem Klassenkampf gelastet haben und die durch die grobe Verfälschung der revolutionären Theorie einige Gruppen in die Degeneration führten. Für die heutigen revolutionären Minderheiten ist eine theoretische Klärung Vorbedingung für ihre Aktivitäten innerhalb der Klasse.
Aus diesem Grund dürfen Überlegungen über das Klassenbewusstsein und die Rolle der Revolutionäre sowie der Partei auf keinen Fall von einer rein theoretischen Seite aus erörtert werden. Wenn die ersten Elemente der hier vorgebrachten Analyse sich noch darauf beschränken, die großen Umrisse zu zeichnen, werden andere Faktoren, die aus der unmittelbaren Erfahrung des Klassenkampfes selbst gewonnen werden, zahlreiche Punkte bejahen, abändern und erklären. Letzten Endes kann nur die Aktivität der Klasse die revolutionäre Theorie bestätigen oder entkräften. Wie Marx in den Thesen über Feuerbach schrieb: „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ (These Nr. 8)
Die Bedingungen der kommunistischen Revolution
1. Seitdem die kapitalistische Produktionsweise ihre Nützlichkeit aufgebraucht hat, kann sie nur durch die Aktion einer Klasse, die ein generalisiertes Bewusstsein hat und auf Weltebene vereint ist, überwunden werden: das Proletariat. Und diese Bedingung hat solch eine zentrale Bedeutung, dass sie die einzige ist, die den besonderen Charakter der kommunistischen Revolution und den Übergang von einer Produktionsweise, die auf dem Wertgesetz fußt, zu einer höheren Existenzweise verständlich machen kann. Es besteht in der Tat eine große Kluft zwischen dem, was die Menschheit bis heute auf der Ebene ihrer historischen Entwicklung erfahren hat, und dem qualitativen Sprung, auf den sie sich vorbereitet; ein Sprung, um diesem Kreislauf ein Ende zu bereiten und die Menschheit von jeglicher Ausbeutung zu befreien. Und dieser enorme Unterschied ist umso schwerer zu begreifen, da die Aufeinanderfolge der verschiedenen Produktionsweisen in der Geschichte wie eine notwendige, vorbestimmte und mehr oder weniger unbewusste Entwicklung erfolgt ist. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt war die treibende Kraft stets eine revolutionäre Klasse gewesen, die bereits innerhalb des alten, überholten Produktionssystems wirtschaftliche Macht besaß. Dieser qualitative Unterschied spiegelt sich auf dem Niveau des historischen Bewusstseins wider, das für die Zerstörung der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Umwandlung in den Kommunismus notwendig ist. Weit davon entfernt, auf ein geistig einfaches, ideologisches oder individuelles Phänomen reduziert werden zu können, muss dieses Bewusstsein im Kontext einer gesellschaftlichen Klasse betrachtet werden.
2. Das Konzept der Gesellschaftsklasse umfasst nicht einfach eine ökonomische Klassifikation, eine Kategorie oder eine Summe isolierter Individuen. Es beruht hauptsächlich auf einer geschichtlichen Entwicklung, die gemeinsame politische Interessen schmiedet. Das Proletariat existiert als Klasse eigentlich nur aufgrund der geschichtlichen Entwicklung, in der es der Kapitalistenklasse als Todfeind gegenübersteht, und diese Entwicklung hat nur eine reelle Grundlage im Bewusstwerdungsprozess, der sie begleitet. Die kommunistische Revolution unterscheidet sich daher grundlegend von allen vorherigen Revolutionen insofern, als zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die revolutionäre Klasse, d.h. der Träger der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, keine wirtschaftliche Macht innerhalb der alten Gesellschaft besitzt. Das Proletariat ist die erste und letzte revolutionäre Klasse in der Geschichte, die auch eine ausgebeutete Klasse ist. Dies bedeutet, dass es aufgrund der sozioökonomischen Stellung, die es in der kapitalistischen Gesellschaft einnimmt, sich der historischen Ziele voll bewusst sein muss. Es ist in der Tat die einzige Klasse, der es objektiv und subjektiv möglich ist, zu einem Bewusstsein über die gesamte Gesellschaft zu gelangen. Das Proletariat hat keine wirtschaftlichen Wurzeln im kapitalistischen Boden; es besitzt keine Möglichkeit, eine Ideologie auf der Grundlage solcher Wurzeln zu entwickeln, da es nicht den Keim einer neuen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in sich trägt.
Da Ideologien einen politisch-juristischen Überbau und eine wirtschaftliche Basis voraussetzen, die durch die Produktivkräfte bestimmt sind, welche den Menschen weiterhin beherrschen, stellt der Bewusstwerdungsprozess der Arbeiterklasse eine notwendige Vorbedingung der Machtübernahme und der totalen Umwälzung der kapitalistischen Basis dar.
3. Das Proletariat ist die einzige Klasse in der Geschichte, für die die historische Notwendigkeit der Zerstörung des Ausbeutungssystems mit seinen Interessen als revolutionäre Klasse vollständig übereinstimmt; Interessen, die mit den Interessen der ganzen Menschheit verbunden sind. Keine andere Klasse oder Schicht in dieser Gesellschaft kann diese historische Zukunft bewerkstelligen. Deshalb können diese Klassen kein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Umwälzung der gesamten Gesellschaft erlangen, selbst wenn sie eine vage Ahnung von der sie umgebenden Barbarei haben mögen (eine Ahnung, die jedoch immer auf irgendeine Weise durch die herrschende Klasse und durch die Blindheit der bürgerlichen Ideologie deformiert wird).
Von einem kapitalistischen und deshalb ideologischen Standpunkt aus ist die Konstatierung des historischen und Übergangscharakters der Gesellschaft natürlich unmöglich. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind in den Augen der Bourgeoisie auf ewig festgelegt und befinden sich außerhalb des Reiches des menschlichen Willens. Obwohl die Bourgeoisie ihre Mystifikationen mehr oder weniger clever benutzt, wird sie alles daran setzen, den Klassenkampf aus dem Bewusstsein zu verbannen. In diesem Kontext wird heute mit den Hauptmystifikationen der Bourgeoisie versucht, das Proletariat Glauben zu machen, dass ein neues Management, das dem System angemessener ist, den Zusammenbruch des Kapitalismus auf unbestimmte Zeit hinausschieben könnte.
4. Weit davon entfernt, mit der Ideologie übereinzustimmen, ist das Klassenbewusstsein vor allem ihre grundsätzliche Negation, ihre grundlegende Antithese. Heute kommt es vor allem darauf an, die Menschheit aus der Lethargie, in die sie gefallen ist, herauszuführen, die Welt ihrer Handlungen und ihrer selbst wieder bewusst werden zu lassen, wozu eine Ideologie unfähig ist. Da die Ideologie, das Produkt ökonomischer Faktoren und einer entfremdeten gesellschaftlichen Wirklichkeit, den Gegenständen eine eigenständige Existenz und dem Bewusstsein eine Fähigkeit zur Abstraktion beimisst, die von allen materiellen Gesetzmäßigkeiten getrennt ist, ist es ihr unmöglich, eine kritische oder praktische Umwälzung der Gesellschaft durchzuführen. Weit davon entfernt, der Handlung einfach vorauszugehen und die Handlung auf ein konkretes Ziel zu lenken, ist das revolutionäre Klassenbewusstsein vor allem der Prozess einer sich transformierenden Gesellschaft; ein lebender Prozess, der als ein Produkt der Entwicklung und Zuspitzung der Widersprüche der dekadenten kapitalistischen Produktionsweise eine Gesellschaftsklasse dazu zwingt, das Wesen ihrer Existenz durch eine praktische und theoretische (und somit bewusste) Negation ihrer Lebensbedingungen zu realisieren. Die Geschichte dieses Prozesses schließt die Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse und der revolutionären Minderheiten ein, die als integraler Bestandteil dieses Kampfes aufgetaucht sind.
Die Charakteristiken der Bewusstwerdung
1. Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Ideologie und Klassenbewusstsein beruhen auf dem Ursprung der Ideologie selbst und ihren materiellen Wurzeln. Wurzeln, die bis in die Geschichte der Arbeitsteilung, der Trennung des Produzenten von seinem Produkt, der Verselbstständigung der Produktionsverhältnisse und der Beherrschung des Menschen durch die materielle Form seiner eigenen Arbeit zurückgehen. Die dem Kapitalismus innewohnenden Gesetze, die durch die Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige Arbeit, der Vorherrschaft des Tauschwertes über den Gebrauchswert und des Wertfetischismus gekennzeichnet sind, bewirken die Umwandlung der gesellschaftlichen Beziehungen in Beziehungen zwischen Dingen und ermöglichen so das Auftreten von Rechtsbeziehungen, deren Ausgangsbasis das isolierte Individuum ist.
Es sind eben diese Gesetze, die dem Menschen aufgrund der Entwicklung der Spezialisierung unmöglich machen, die Dinge in ihrer Gesamtheit zu begreifen und die ihn in einer Reihe von separaten Kategorien einsperren, die alle voneinander isoliert und unabhängig sind (die Nation, die Fabrik, der Stadtteil usw.). Der Blick aufs Ganze wird so zu nichts anderem als eine einfache Addition von bestimmten Wissensbereichen; ein Wissen, das wiederum exklusiv von Spezialisten gehortet wird.
Das Klassenbewusstsein dagegen bedeutet eine Vision des Ganzen und ein Bewusstsein der Klasse als Ganzes. Das Klassenbewusstsein ist ein ganz und gar kollektiver Prozess. Sein Ausgangspunkt ist eine im Kampf vereinte Klasse, die dazu berufen ist, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zu zerstören; es beinhaltet die ausschlaggebende Dominanz des Ganzen über die Teile. Aber dieses Ganze kann nur hergestellt werden, wenn das Subjekt, das dieses herstellt, selbst ein Ganzes ist, und dieser Blick aufs Ganze ist nur durch eine Klasse möglich. Deshalb muss die Arbeiterklasse, um eine vereinte und bewusste Klasse zu werden, alle Barrieren, alle Trennungen, alle möglichen Grenzen zerschlagen und die Macht ihrer Arbeiterräte über diese nationalen Grenzen hinaus etablieren.
Eine andere Konsequenz aus der Verdinglichung des gesellschaftlichen Bewusstseins ist die Trennung zwischen den Teilen und dem Ganzen, dem Etappenziel und dem Endziel, dem wirtschaftlichen und dem politischen Kampf. In der Periode der Dekadenz des Kapitalismus, in der jede Reform unmöglich geworden ist, in der die Revolution auf der Tagesordnung steht, neigen die wirtschaftlichen Kämpfe dazu, sich in politische Kämpfe zu verwandeln und das System direkt anzugreifen. Die Arbeiterklasse ist dazu berufen, die Gesellschaft bewusst umzuwälzen. Daher beinhaltet für sie der Blick auf die Gesamtheit ein Verständnis der dialektischen Widersprüche zwischen unmittelbaren Interessen und dem Endziel, zwischen einem isolierten Teil und der Gesamtheit. Aus diesem isolierten Momentum, mit anderen Worten: aus Situationen, in der die Klasse atomisiert, verwirrt und ein integraler Bestandteil des Kapitalismus ist, muss das Proletariat dazu übergehen, sich auf Weltebene zu vereinen und sich selbst von einer ökonomischen Kategorie in eine revolutionäre Klasse umzuwandeln. Nur die Arbeiterklasse ist fähig, sich zu einer bewussten Klasse zu vereinen, da die Natur der assoziierten Arbeit ihr diese globale Sicht verleiht.
2. Das Wesen dieses Bewusstwerdungsprozesses, das es vor allem zu einem Klassenbewusstsein macht, ermöglicht uns, den grundlegenden Widerspruch, der gegenwärtig zwischen Ideologie und Bewusstsein besteht, zu begreifen. Und es hat nichts mit linguistischem Purismus zu tun, wenn wir behaupten, dass es keine proletarische Ideologie oder revolutionäre Wissenschaft gibt; eine revolutionäre Minderheit kann niemals der Träger oder die Verkörperung dieses Klassenbewusstseins sein. Indem ein ganzes historisches Phänomen, das gleichzeitig praktisch und theoretisch ist, auf den simplen Ausdruck eines Gedankens gebracht wird, der sich in einem Parteiprogramm kristallisiert, betrachten die Leninisten und Bordigisten verschiedener Schattierungen das Wesen des Klassenbewusstseins mit derselben mangelhaften Beweisführung, die es den Mystikern ermöglicht zu behaupten, die Hostie verkörpere den Körper Christus.
Tatsächlich verdanken die Ideologie und der Mystizismus ihre Existenz der Tatsache, dass die Trennung zwischen der Handarbeit und der Kopfarbeit die Entwicklung einer Denkweise ermöglicht hat, die von der Distanz, die sie zwischen ihrer eigenen Realität und den materiellen Bedingungen ihrer Existenz zu errichten versucht, und von ihrem Ansinnen gekennzeichnet ist, als unabhängiger und autonomer Gedanke zu erscheinen, als der einmalige Verursacher, der die Materie bewegt.
Indem sie die Realität als eine Reihe von Vermittlungen begreift, als notwendige Etappen zwischen dem Menschen und der Materie, weigert sich die bürgerliche Ideologie, ihren wahren Ursprung anzuerkennen. Indem sie der Realität eine unabhängige Existenz beimisst, stellt sie dem metaphysischen Materialismus[1] [26] einen Idealismus der Tat gegenüber, der den theoretischen Scharfsinn als die einzig wahre Ursache der Tat anerkennt und die Praxis auf ihre niedrigste „natürliche“ Form verbannt.
Das Klassenbewusstsein selbst stimmt insoweit voll mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit überein, wie sein Daseinsgrund ein Produkt der historischen Entwicklung des Widerspruchs zwischen den Produktionskräften und den Produktionsverhältnissen ist. Diese Notwendigkeit einer radikalen Veränderung der Produktionsverhältnisse verlangt eine echte globale Vision der Gesamtheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das Klassenbewusstsein erkennt seinen Ursprung und sein Objekt: das Proletariat, das lebendige Kernstück der Produktion, eine Gesellschaftsklasse, die dauerhaft im Werden begriffen ist.
Der Prozess der Bewusstwerdung des Proletariats, der auf der dialektischen Einheit von Sein und Bewusstsein beruht, verwirft jede Form von Zwischenphasen oder Vermittlungen zwischen Existenz und Bewusstsein. Proletarisches Klassenbewusstsein wird ein Bewusstsein seiner selbst und stellt dadurch die Einheit zwischen dem Menschen und der Realität wieder her.
3. Der Proletarier ist dazu gezwungen, seine Arbeitskraft im Vergleich zu seiner gesamten Persönlichkeit als ein bloßes Objekt zu verkaufen, und es ist diese Objektivität, dieser Bruch, der zwischen der Arbeitskraft - ein Objekt, das zum Ausgebeutet-Werden verdammt ist - und dem Subjekt - das sie verkauft - geschaffen wird, der die Bewusstwerdung möglich werden lässt. Aufgrund ihres Kampfes gegen die kapitalistische Ausbeutung kann die Arbeiterklasse sich gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Erkenntnis wahrnehmen. Diese Wahrnehmung und das Bewusstsein seiner eigenen Bedingungen der extremen Armut und Unmenschlichkeit ist gleichzeitig eine Bloßstellung und Zerstörung der ganzen Gesellschaft.
Somit drückt die Arbeiterklasse, indem sie die gesamte kapitalistische Gesellschaft zerstört, nur das Wesen ihrer eigenen Existenz aus, da sie die Negation der Gesellschaft ist (die einzig bestehende gesellschaftliche Beziehung zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat ist der Klassenkampf). Die Selbstverwirklichung der Arbeiterklasse als eine Klasse für sich wird durch die Zerstörung des Systems erreicht; das Bewusstsein ist Faktor und Produkt dieses Prozesses. Die Selbsterkenntnis bedeutet für die Arbeiterklasse, das Wesen der Gesellschaft zu erkennen; sie gelangt nicht einfach zu einem Bewusstsein über ein Objekt, sondern zu einem direkten Bewusstsein des Objekts selbst. In diesem Sinne ist dies schon Praxis und bewirkt eine Veränderung des Objekts. Indem der objektive Charakter der Arbeit als Ware anerkannt wird, erlaubt dieser Prozess, den Warenfetischismus zu entlarven und den unmenschlichen Charakter des Kapital-Arbeit-Verhältnisses zu enthüllen.
Die Illusionen, die Mystifikationen und die dem Denken durch die Ideologie auferlegten Hindernisse sind also nichts anderes als der geistige Ausdruck dieser Wirklichkeit, die selbst durch eine ökonomische Struktur verdinglicht ist, welche auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht. Ihre Negation kann nicht durch eine einfache Willensbekundung verwirklicht werden, sondern nur durch ihre Überwindung in der Praxis. Deshalb ist das Klassenbewusstsein nicht eine einfache theoretische Infragestellung des Kapitalismus, sondern geht vor allem aus einer Kritik und einer materiellen Zerstörung des ganzen Systems hervor. Indem das Klassenbewusstsein das historische Wesen der ökonomischen Gesetze anerkennt, enthüllt es den historischen und vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, beschreibt die objektiven Grenzen dieser Produktionsweise und analysiert die historischen Epochen der Gesellschaft. Diese Enthüllung ist ein Prozess, der Theorie und Praxis insofern miteinander verbindet, als jede Illusion, die zusammenbricht, jede Mystifikation, die entschleiert wird, der realen Bereitschaft entspricht, die Lohnsklaverei zu zerstören.
4. Doch auch wenn dieses historische Bewusstsein aus der Notwendigkeit erwächst, dass die Arbeiterklasse ein umfassendes Verständnis der Realität von einem Klassenstandpunkt aus entwickeln muss, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie dieses Verständnis sofort erlangt. Ganz im Gegenteil, der Klassencharakter dieses Prozesses entspricht exakt der heterogenen und schmerzvollen Entwicklung der Praxis und Theorie der Arbeiterklasse, die von Anfang an mit dem starken Druck der Bourgeoisie konfrontiert war.
Selbst wenn sie in Zeiten des Kampfes vereinigt ist, kann die Arbeiterklasse nicht wie ein einheitliches Wesen handeln, das schematisch auf ein Ziel ausgerichtet ist. Der dialektische Widerspruch zwischen ihrer Position als revolutionäre Klasse und ihrer Lage als ausgebeutete Klasse, ihre totale Mittellosigkeit innerhalb der Gesellschaft bestimmt sie dazu, zum ersten Opfer der bürgerlichen Ideologie zu werden. Unfähig, sein Bewusstsein gemäß den gesetzten Richtlinien einer Ideologie oder einer Reihe von praktischen Rezepten zu entwickeln, kann das Proletariat nur durch einen realen Prozess zu einem Bewusstsein gelangen, der mit den materiellen Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz verknüpft ist. Diese objektiven Bedingung und die allgegenwärtige Unterdrückung durch die herrschende Ideologie engen das Proletariat als integralen Bestandteil der Tendenz, sich als revolutionäre Klasse zu konstituieren, auf geheime revolutionäre Minderheiten ein, die den Theoretisierungsprozess seiner historischen Errungenschaften und die Ausbreitung Letzterer innerhalb des Klassenkampfes beschleunigen sollen. Das Klassenbewusstsein ist somit kein „Spiegel“ der Realität, eine schematische Widerspiegelung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse (unter diesen Umständen hätte sie keine aktive Rolle zu spielen) und ist auch kein spontanes Produkt auf dem Boden der kapitalistischen Ausbeutung.
In Wirklichkeit erwächst das Bewusstsein aus der Übereinstimmung mehrerer Faktoren; die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind – obgleich unabdingbar – für sich genommen keineswegs ausreichend. Der wirtschaftliche Kampf der Arbeiterklasse reicht nicht aus, um eine ganze theoretische und praktische Bewegung hervorzubringen; er besitzt in der Tat nicht die einzigartigen, magischen und schöpferischen Kräfte, die ihm so manche Spontaneisten zuschreiben.
Der Klassenkampf ist keine von der Welt getrennte Einheit in sich und kein Zündfunken, der die Dinge ins Rollen bringt. Er ist die Welt, er ist von ihr geschaffen worden und hat sie selbst wiederum geschaffen. Aus diesem Grund kann nur die Verbindung einer Anzahl von Elementen – das Produkt der Entwicklung des Klassenkampfs selbst - letzten Endes das sozialistische Bewusstsein auf sein höchstes historisches Niveau führen. Diese Elemente sind hauptsächlich folgende:
- der wirtschaftliche Druck, dem das Proletariat unterworfen ist und seine Lage als ausgebeutete Klasse,
- die objektiven Bedingungen der Periode und das Niveau, das von den Widersprüchen des Systems (Dekadenz des Kapitalismus, Vertiefung der Krise) erreicht ist,
- das Niveau des Klassenkampfes als Antwort auf diese Lage und die mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz des Proletariats, sich als autonome Klasse zu organisieren,
- der immer entscheidendere Einfluss der revolutionären Gruppen im Klassenkampf und die Fähigkeit des Proletariats, sich seine revolutionäre Theorie wieder anzueignen.
Keines dieser Elemente kann, für sich selbst betrachtet, von den anderen getrennt und als die Hauptursache der Bewegung angesehen werden. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sich der wirtschaftliche Druck oder die revolutionäre Theorie als aktive Faktoren in der Entwicklung des proletarischen Bewusstseins aufzwingen, aber sie bilden nicht die Hauptursache des Prozesses. Nach einer grundlegenden und alleinigen Ursache für eine ganze Bewegung zu suchen führt zu einer Erstarrung dieses Prozesses und zu völlig fruchtlosen Debatten über Fragen wie: Was war zuerst da - das Huhn oder das Ei?
Die Rolle der Revolutionäre und der Partei
Proletarisches Bewusstsein als einen historischen Prozess zu definieren, der für eine Gesellschaftsklasse charakteristisch und auf der historischen Bühne durch die Bejahung des Bewusstseins gekennzeichnet ist, geht nicht über eine einfache Tatsachenaussage hinaus. Wenn man an diesem Punkt aufhörte, hätte man nichts anderes als eine theoretische Abhandlung über die Charakteristiken der Bewusstwerdung, ohne die objektiven Gründe zu begreifen, die uns zur Formulierung dieser Definitionen veranlasst haben. In der Tat, indem die Revolutionäre gerade über den rein theoretischen Aspekt ihrer Tätigkeit hinausgehen, werden sie sich ihrer historischen Rolle als aktiver Teil eines Ganzen bewusst. Man kann eine Wand nicht umwerfen, indem man dagegen bläst, man kann ein ganzes Ausbeutungssystem nicht mit frommen Worten und philosophischen Überlegungen zerstören. Indem sie ihre Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse vollständig übernehmen, können die Revolutionäre den Prozess der Bewusstwerdung der Arbeiterklasse und ihre Bildung als autonome Klasse beschleunigen. Diese Verantwortung erfordert eine klare Vorstellung über ihre Funktion, die Identifikation mit der historischen Aufgabe, für die sie entstanden sind.
1. Das Wesen und die Funktion der revolutionären Gruppen und der Partei können in Wirklichkeit nur durch die zutiefst widersprüchliche Natur des Bewusstwerdungsprozesses der Arbeiterklasse erklärt werden. Es ist ein Widerspruch, der der Bewegung des Klassenkampfes zugrundeliegt und sie begleitet und der auch ein Merkmal der Übergangsperiode bis zum endgültigen Verschwinden aller Klassen sein wird. Ein Widerspruch zwischen der Stellung der Arbeiterklasse als ausgebeutete Klasse und ihrer historischen Aufgaben, die zur Abschaffung jeglicher Ausbeutung führen werden. Ein Widerspruch zwischen der Unfähigkeit der Arbeiterklasse, eine proletarische „Ideologie“ auf der Grundlage irgendeiner wirtschaftlichen Macht zu kreieren, und der dringenden Notwendigkeit, ihre Erkenntnisse theoretisch zu verarbeiten und sich der historischen Ziele voll bewusst zu sein. Somit ist das Proletariat gezwungen, einerseits die fundamentale Losung der kommunistischen Revolution im alltäglichen Kampf umsetzen: „die Befreiung der Arbeiterklasse wird das Werk der Arbeiter selbst sein“, andererseits die unerlässlichen theoretischen Waffen zu schmieden, die für die bewusste Emanzipierung notwendig sind, auch wenn es ihm unmöglich ist, mit dem Einfluss der herrschenden Ideologie vollständig zu brechen.
Die revolutionären Minderheiten erscheinen somit als Produkt dieser widersprüchlichen Notwendigkeit. Sie entstehen als integraler Bestandteil des Proletariats und sind dennoch nicht notwendigerweise Mitglieder der Arbeiterklasse im soziologischen Sinne. Da die wirtschaftlich herrschende Klasse die materiellen und ökonomischen Mittel der Produktion kontrolliert, kann das Proletariat keine Kultur oder Ideologie zu entwickeln, die ihr „soziologisch immanent“ ist, denn dies würde ein ökonomisches Interesse und somit ein Interesse an einer Verewigung seiner Stellung als ausgebeutete Klasse beinhalten. Aus diesem Grund werden die Revolutionäre als Mitglieder des Proletariats (entsprechend der politischen Kriterien) definiert; ihre Aufgabe ist die theoretische Aufarbeitung der historischen Lehren der Klasse, um sicherzustellen, dass diese Lehren weitestgehend verstanden werden.
2. Da die Arbeiterklasse vor der Notwendigkeit steht, die alte Gesellschaft zu stürzen, erfordert diese Umwälzung, die gleichzeitig praktisch und theoretisch ist, eine klare „Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung“ (Marx, Manifest). Solange der Klassenantagonismus und die kapitalistische Ausbeutung fortbestehen, wird diese Vision der Endziele der proletarischen Bewegung mit dem Zwangseinfluss der bürgerlichen Ideologie konfrontiert werden. Und aus diesem Grund wird die Mehrheit der Arbeiterklasse diese Vision nicht teilen. Die Ausbreitung und das Wachstum der revolutionären Theorie und des Bewusstseins der Endziele der proletarischen Revolution innerhalb der ganzen Klasse sind keine „natürlichen“ Phänomene oder von linearer mathematischer Progression. Es ist vor allem das Produkt organisierter Bemühungen der Klasse. Dieser bewusste Versuch des Proletariats, sich mit einer revolutionären Theorie zu wappnen und die Lehren aus den vergangenen Kämpfe zu ziehen, nimmt materiell Gestalt an mit dem Erscheinen revolutionärer Minderheiten und ihrer Konstituierung als Partei in Zeiten des revolutionären Aufschwungs.
Dieses konstante Bestreben des Proletariats, eine revolutionäre Partei zu konstituieren, ist keinesfalls mit der voluntaristischen Handlung von Individuen oder Gruppen vergleichbar, die glauben, dass der Aufbau einer revolutionären Partei ein Ersatz für die Handlung der Klasse als Ganzes sei. Das Emporkommen revolutionärer Theorie als der Theorie revolutionärer Gruppen ist nicht die Frucht eines individuellen Willens oder die Erkenntnis „dieses oder jenes Weltverbesserers“ (Marx, Kommunistisches Manifest). Sie konkretisiert vielmehr die Entwicklung eines reellen Klassenkampfes und entsteht als Antwort auf ein vitales Bedürfnis im Proletariat.
3. Das Proletariat wird somit nicht auf einer abstrakten Ebene als Klasse betrachtet, sondern auf der Ebene seiner konkreten Handlungen, seiner pausenlosen Kämpfe, um die objektiven Bedingungen der Periode zu konfrontieren. Aus dieser historischen Praxis ist keineswegs eine Reihe von dogmatischen Prinzipien hervorgegangen, die wie theoretische „Rezepte“ auf den Klassenkampf angewendet werden, sondern der theoretische Ausdruck dieser Erfahrung. Die revolutionäre Theorie stellt keine Summe von endgültigen und unveränderlichen Prinzipien dar, sondern die Widerspiegelung der konkreten Aktivitäten des Proletariats, die auf theoretischer Ebene durch die revolutionären Gruppen klar gemacht und verallgemeinert und von der Klasse wieder angeeignet wird. Somit entspricht jedes Problem, das durch den Kampf und die Selbstorganisation der Klasse gelöst wird, einem neuen theoretischen Beitrag, der selbst wiederum durch die Intervention der Revolutionäre in zukünftigen Kämpfen in praktische Wirklichkeit umgewandelt wird. Somit schöpft die Theorie, Produkt der sozialen Existenz der Kämpfe, ihre Energie aus der Praxis und beeinflusst ihrerseits die politische Klarheit der zukünftigen Kämpfe.
Sich aus den konkreten Kämpfen der Klasse entwickelnd, bleibt die revolutionäre Theorie, ursprünglich der Ausdruck revolutionärer Gruppen, nicht ihr ausschließliches Eigentum, einem versteckten Schatz gleich. Ganz im Gegenteil: die eigentliche Rolle der Revolutionäre und der Partei verdeutlicht das grundsätzliche Bestreben der Arbeiterklasse, sich die historischen Lehren wieder anzueignen und so weit wie möglich zu verbreiten. Ihre Funktion besteht darin, diese Theorie innerhalb der Klasse zu verbreiten, wohl wissend, dass es sich nicht darum handelt, eine Theorie in die Praxis zu „injizieren“ oder die Theorie als eine Art chemische Reaktion zu betrachten, die einen ganzen historischen Prozess aktiviert.
Theorie und Praxis vervollständigen sich und durchdringen einander; das eine auf Kosten des anderen zu bevorzugen, darauf zu bestehen, dass die Theorie der alles bestimmende Faktor sei, oder die aktive Seite der Theorie zu ignorieren, birgt das Risiko, dass wir auf den gefährlichen Weg des Voluntarismus oder des Akademismus abgleiten.
4. Es ist nicht die Existenz revolutionärer Gruppen, die die Arbeiterklasse zu einer revolutionären Klasse macht. Selbst wenn die Bourgeoisie alle Revolutionäre unterdrücken würde, würde dies nur ihr eigenes Todesurteil hinauszuzögern, ohne den Klassenkampf aufzuhalten und die Arbeiterklasse daran zu hindern, neue revolutionäre Gruppen zu bilden. Die Zerstörung der ersten Blüten eines Baumes kann keinesfalls den ganzen Prozess seiner Reproduktion stoppen.
Aus diesem Grund sind die Interessen der Revolutionäre, auch wenn sie sich nicht von jenen der Klasse abgrenzen, nicht synonym mit Letzteren. Sie sind nur ein Teil der Klasse, und zwar der entschlossenste. Die Revolutionäre sind nicht der Generalstab einer unbewussten und gehorsamen Armee und auch nicht die Steuerleute der Revolution, deren Funktion darin besteht, die großen allgemeinen Achsen der Kämpfe vorzugeben und die endgültigen Ziele der Bewegung anzuzeigen. Ihre Funktion ist es nicht, sich darauf vorzubereiten, das „Management“ der Arbeiterkämpfe zu übernehmen oder die richtigen Losungen zu erstellen, die organisch die Bedingungen und Möglichkeiten für die technische Organisation des Proletariats hervorrufen, wie Lukacs sagt. Ihre Rolle besteht nicht darin, die Arbeiterklasse zu organisieren, die autonome Organisation der Klasse mittels praktischer „Rezepte“ für diese oder jene Einheitsorganisation zu leiten, sondern darin, stets die allgemeine politische Richtung der Bewegung hervorzuheben.
5. Die Revolutionäre und die Partei können die Klasse nicht zu ersetzen. Dies bedeutet, dass ihre Funktion, obwohl unverzichtbar, keinen Selbstzweck, kein abgeschlossenes und vollkommenes Werk darstellt, das die Aktivität des Proletariats ersetzen oder der spontanen Massenbewegung die ihr innewohnende Wahrheit eintrichtern kann, um die Arbeiterklasse von der Ebene der bloßen wirtschaftlichen Notwendigkeiten auf die Ebene der bewussten und revolutionären Aktion zu „heben“. Deshalb ist die Partei, die ein aktives und konstituierendes Element des Proletariats ist, das voll am Bewusstwerdungsprozess des Proletariats teilnimmt, keinesfalls der Vermittler zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erfahrung und Bewusstsein. Beide, die Partei wie auch die Klasse, sind die materielle Einheit zwischen Theorie und Praxis. Diese Einheit – den beiden identisch – benötigt keinen Vermittler (man kann in der Tat nur einen Vermittler zwischen zwei vormals getrennte Einheiten stellen). Diese Einheit ist ein lebendiger Prozess, der sowohl die Partei als auch die Klasse in ihrer Gesamtheit und ihre Einheitsorganisation, die Räte, bestimmt. Aus der Partei den Vermittler zwischen Theorie und Praxis zu machen läuft darauf hinaus, die Theorie als etwas außerhalb der Arbeiterklasse Existierendes, als etwas ausschließlich der Partei Zugehöriges zu begreifen. Somit wird die Partei als einzige Kraft dazu befähigt, die Bedeutung hinter den Ereignissen zu erkennen, was darauf hinaus läuft, dass das Proletariat jeder bewussten und politischen Möglichkeit der Machteroberung beraubt wird. Denn wenn man dieser Argumentation folgt, würden die Arbeiterräte zu leeren Hülsen werden, zu administrativen, staatlichen Organen, denen allein die Partei einen revolutionären Inhalt geben kann. In diesem Fall wäre es sehr logisch die faktische Führung der Diktatur über die Gesellschaft in die Hände der Partei zu legen und die Partei an die Staatsspitze und die Diktatur des Proletariats zu stellen.
Die Partei ist kein leitender oder ausführender Organismus, ein Organ, von der Arbeiterklasse geschaffen, um die Macht zu erobern. Die Idee, dass die Führung der Diktatur der Arbeiterklasse die Aufgabe einer einzigen revolutionären Partei sei, die als Massenpartei während der postrevolutionären Periode gebildet würde, beweist einen großen Mangel an Verständnis der wirklichen politischen Ziele der Partei. Die Partei zielt nicht darauf ab, sich übermäßig zu vergrößern und so viele Mitglieder wie möglich einzuverleiben. Ihre Funktion ist nicht die einer einzigen totalitären Staatspartei. Im Gegenteil wird sie immer der Ausdruck eines Teils der Klasse bleiben, und ihre Existenzberechtigung wird in dem Maße verschwinden, wie das sozialistische Bewusstsein in der gesamten Klasse zunimmt.
Die Tatsache, dass die Partei nicht an die Stelle der Klasse treten kann, bedeutet keineswegs, dass ihre Existenz eine Notlösung darstellt, ein notwendiges Übel, das in Schach gehalten oder so weit wie möglich vermieden werden muss. Die Revolutionäre und die Partei sind notwendige Produkte, unverzichtbare Elemente im Prozess der Bewusstwerdung des Proletariats. Ihre Funktion unter dem Vorwand der substitutionistischen Irrtümer der Vergangenheit zu leugnen hieße, einen sterilen Purismus an den Tag zu legen, dem Proletariat eine seiner lebenswichtigsten Waffe wegzunehmen. Weit davon entfernt, eine Art Notbehelf zu sein, bildet die historische Aufgabe der Revolutionäre und der Partei einen Teil der allgemeinen Tendenz des Proletariats, sich selbst als eine bewusste revolutionäre Klasse zu konstituieren. Als die kämpferischsten und entschlossensten Elemente der Arbeiterklasse entfalten sie in den Kämpfen der Arbeiterklasse eine organisierte Intervention mit der Perspektive, die Endziele der Bewegung hervorzuheben. Ihre aktive Teilnahme an den Kämpfen übt auf die allgemeine Organisation der Klassenbewegung einen entscheidenden Einfluss aus. Ein Einfluss, der sich in der Tat in der allgemeinen politischen Stoßrichtung des Kampfes und der Beschleunigung der Bildung der Arbeiterklasse als autonome Klasse mit dem Ziel der Machtübernahme und der Zerstörung der Lohnsklaverei niederschlägt.
Schlussfolgerungen
Die Kluft zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktionskräften hat in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein solch großes Ausmaß erreicht, dass heute der offen verlogene Charakter der Ideologien, die diesen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechen, offengelegt wird, sie ungeeignet macht und die Bourgeoisie dazu zwingt, eine ganze Reihe von Mystifikationen zu entwickeln, die darin bestehen, die Kämpfe der Arbeiterklasse von ihren wahren Zielen abzulenken.
Die grundsätzlichen Unterschiede gegenüber der aufsteigenden Phase des Kapitalismus beeinflussen insofern die Einheit zwischen Theorie und Praxis, als die Entwicklung der objektiven Bedingungen der kommunistischen Revolution diese Einheit bekräftigt haben. In der Dekadenzperiode wird die kommunistische Revolution zu einer objektiven Möglichkeit, und die Praxis der Klassenkämpfe radikalisiert sich in diesem Sinn. Somit tendiert die Theorie immer mehr dazu, das primäre Objekt ihrer Analyse, das Klassenbewusstsein, als eine reelle Einheit von Theorie und Praxis zu erfassen und sich selbst somit als simplen Ausdruck einer bewussten Einheit zu bekräftigen.
Die Stärkung der Einheit zwischen dem gesellschaftlichen Sein des Proletariats und seiner Theorie drückt sich in der Geschichte der Arbeiterklasse in der Dekadenzperiode aus, in dem Auftreten von revolutionären Klassenorganisationen, die nicht mehr das Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen der Proletariats innerhalb des kapitalistischen Systems verfolgen, sondern die Notwendigkeit der gewaltsamen Zerstörung der kapitalistischen Produktionsweise und der politischen Machtergreifung durch die autonomen Klassenorgane in den Vordergrund stellen.
In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, als die permanenten Organisationen des Proletariats in Form der Klassenparteien oder der Gewerkschaften den Kampf für wahre und anhaltende Reformen bedeuteten, konnte das Entstehen von revolutionären Minderheiten nur in einem beschränkten Maße geschehen. Heute sind alle permanenten Formen der Klassenorganisation unvermeidlich dazu verdammt, zu verschwinden oder in die Konterrevolution integriert zu werden. Was revolutionäre Minderheiten betrifft, beschränken diese sich nicht einfach darauf, die Lehren proletarischer Erfahrung theoretisch aufzuarbeiten; ihre Praxis innerhalb des Klassenkampfes kann ein realer Beitrag zur Klärung der historischen Perspektive der Klasse sein. Die Theorie tendiert nicht mehr einfach dazu, sich in der Praxis zu verwirklichen, sondern die Wirklichkeit selbst beginnt sich zu verändern und das Denken einzuverleiben. Das heißt, dass das Proletariat dazu neigt, sich die Theorie wieder anzueignen, indem es sich durch seine Kämpfe der Klassengrenzen als Errungenschaften der Vergangenheit bewusst wird.
So ist das revolutionäre Programm nicht einfach eine Summe von mehr oder weniger flexiblen Positionen, die sich den Schwankungen der Aktualität anpassen. Es geht vielmehr aus der historischen Verbindung hervor, die die verschiedenen Momente des Auftretens des Proletariats als eine Klasse vereint, die für ihre historische Mission, die Zerstörung des Kapitalismus, denkt und handelt.
Die Intervention der Revolutionäre stellt nichts anderes als den Versuch des Proletariats dar, zu einem Verständnis seiner wirklichen Interessen zu gelangen, indem es über die simple, empirische Feststellung besonderer Phänomene hinausgeht. Es ist der Versuch, das Verhältnis zwischen diesen Phänomenen zu finden, indem das Proletariat die allgemeinen Prinzipien benutzt, die es aus seinen historischen Erfahrungen zieht.
Weil die unablässige Verteidigung der Klassengrenzen und die immer umfassendere Klärung der historischen Ziele der Arbeiterklasse letztendlich die Notwendigkeit für das Proletariat konkretisiert, sich seiner Praxis voll bewusst zu sein, ist die Existenz revolutionärer Organisationen ein direktes Produkt dieser Notwendigkeit. Weil diese Bewusstwerdung die Machtergreifung des Proletariats durch die Arbeiterräte sowohl voraussetzt als auch vervollständigt, ist sie der Vorbote einer Produktionsweise, in der die Menschen endlich die Produktivkräfte beherrschen, und diese mit vollem Bewusstsein entwickeln, um dem Reich der Notwendigkeit ein Ende zu setzen, damit das Reich der Freiheit beginnt.
J. L. Juli 1977
(aus der Internationalen Revue Nr. 7 engl., franz., span.)
[1] [27] Mehr dazu in: World Revolution, Nr. 3: Modernism, From leftism to the void.
Nach mehreren Monaten der Aufstände, Streiks und der vergeblichen Versuche der Schah-Regierung, die Unzufriedenheit des Volkes durch eine blutige und massive Repression zum Schweigen zu bringen, übernimmt eine neue, bisher aus der offiziellen politischen Spiel ausgeschlossene, manchmal sogar unterdrückte und exilierte Mannschaft die Geschäfte des iranischen Kapitals.
Der Umfang der Unruhen, die die iranische Gesellschaft erlebte und die den spektakulären und brutalen Wechsel der führenden Mannschaft verursachte, die wichtige Stellung, die dieses Land in den strategischen Bedürfnissen des stärksten imperialistischen Blocks einnimmt – ein Faktor größter Sorge für den Block -, die große internationale Reichweite der Ereignisse im Iran, mehr in dem Sinn, wofür sie stehen, als für ihre unmittelbaren Folgen, und schließlich – und am wichtigsten – der Part, der vom Proletariat in diesen Ereignissen gespielt wird – all dies macht es notwendig, eine gewisse Zahl von Lehren aus diesen Ereignissen für den Kampf des Weltproletariats zu ziehen.
1. Im Gegensatz zu gewissen Behauptungen - von der liberalen Presse bis hin zu den Bordigisten - hat es im Iran keine "Revolution" gegeben, weder eine "demokratische" noch eine "islamische". Genauso wenig wie die englische Queen oder Kaiser Bokassa der Erste war der iranische Schah Vertreter irgendeines "Feudalismus", der von den „progressiven“ Kräften des Ayatollah Khomeini überwältigt worden sei. Hauptursache des Bruchs zwischen der Monarchie und der schiitischen Elite war – Ironie der Geschichte - die Landreform, die von der Monarchie unternommen wurde und den Grundbesitzinteressen der Kirche schadete. In der Tat repräsentieren die neuen Machthaber Irans weder politisch noch ökonomisch irgendeine Art von „progressiver“ oder „radikalbürgerlicher“ Kraft. Welche bürgerliche Revolution der Vergangenheit wurde im Namen der "religiösen Tradition" gemacht oder bedeutete nichts anderes als einen Kleiderwechsel für das Regime? Welchen "revolutionären" Charakter hat die "Verstaatlichung" der Ölindustrie – eine Industrie, die in Wirklichkeit eh schon verstaatlicht ist?
Was die angebliche iranische "Revolution" veranschaulicht, ist die Tatsachen, dass im dekadenten Kapitalismus weltweit die Zeit der bürgerlichen und demokratischen Revolutionen, in welcher Form auch immer, seit langem vorüber ist. Es gibt kein Land (und keine "Ära") mehr, so unterentwickelt es auch immer sein mag, in denen die der Gesellschaft gestellten Aufgaben die gleichen wären wie jene, die 1789 erfüllt wurden.
2. Die Ereignisse im Iran bestätigen nicht nur, dass nirgendwo auf der Erde - und noch weniger in den unterentwickelten Ländern – revolutionäre, demokratische Bourgeoisien existieren, sondern sie illustrieren gleichermaßen, dass in diesen Ländern die Armee die einzige Kraft der Gesellschaft ist, die ein Minimum an Einheit zu Gunsten des nationalen Kapitals garantieren kann. Kaum hat das Khomeini-Bāzargān-Regime die Macht übernommen, ist es schon gezwungen, an diese Kraft zu appellieren, die noch vor einigen Wochen die größte Stütze des Schah-Regimes gewesen war. Und die Hinrichtung einiger Generäle, die die Wut der Massen beruhigen sollte, wird nichts an der Realität ändern, dass die Armee intakt bleibt – sowohl die Armee als Institution als auch die militärische Hierarchie. Wie in allen Ländern, in denen der kapitalistische Staat seine Macht nicht auf eine starke und historisch entwickelte ökonomische Grundlage abstützen kann, und in denen die herrschende Klasse nicht über juristischen Institutionen und einen politischen Apparat verfügt, die flexibel genug wären, die Konflikte, die sie zerreißen und alle Gesellschaftsschichten ins Chaos werfen, innerhalb der Grenzen der „Legalität“ und „Demokratie“ einzudämmen, unterstreichen die Entwicklungen im Iran eine fundamentale Lehre bezüglich der Armee. Da sie die hierarchische, zentralisierte Gewalt der auf Ausbeutung und Unterdrückung basierenden Gesellschaftsverhältnisse repräsentiert und die allumfassende Tendenz im dekadenten Kapitalismus zur Militarisierung der Gesellschaft ausdrückt, bildet die Armee praktisch ständig die einzige Garantie für das Überleben und die Stabilität des bürgerlichen Regimes, ob es sich „völkisch“, „islamisch“ oder „revolutionär“ nennt.
3. Die Ereignisse im Iran machen deutlich, dass heute in den unterentwickelten Ländern wie überall auf dieser Welt einzig die proletarische Revolution auf der Tagesordnung steht. Entgegen der Legende, die von jenen so gern fortgeschrieben wird, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben, haben die Ereignisse im Iran nicht nur klar bewiesen, daß in den rückständigen Länder ein Proletariat existiert, sondern auch, daß es – wie das Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern - in der Lage ist, sich kämpfend und auf seinem eigenen Terrain zu mobilisieren. Im Kielwasser der Arbeiterkämpfe in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, in Tunesien, in Ägypten usw. zum Ausbruch gekommen, waren die Streiks der iranischen Arbeiter das wichtigste politische Element, das zum Sturz des Schah-Regimes führte. Als trotz der Massenmobilisierungen die Kräfte der „Volks“-Bewegung– die fast alle unterdrückten Schichten im Iran um sich scharte – zu schwinden begannen, verlieh der Eintritt des Proletariats, insbesondere der Ölarbeiter, in den Kampf nicht nur der Agitation neuen Schwung, sondern stellte das nationalen Kapital dieses Landes wegen des fehlenden Ersatzes für das alte Regierungsteam vor ein fast unlösbares Problem. Während die Repression ausreichte, Kleinhändler, Studenten oder halbproletarische Arbeitslose zum Rückzug zu veranlassen, erwies sie sich als wirkungslose Waffe der Bourgeoisie, als diese sich mit der durch die Arbeiterstreiks ausgelösten wirtschaftlichen Lähmung konfrontiert sah. So zeigte das Proletariat selbst in einem Land, wo es zahlenmäßig schwach ist, welche große Macht es aufgrund seiner Stellung im Herzen der kapitalistischen Produktion auf die Gesellschaft ausübt.
4. Die fundamentale Stärke des Proletariats bestätigend, demonstrieren die Ereignisse im Iran auch, daß das Proletariat die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die fähig ist, sich der einen Lösung zu widersetzen, die der Kapitalismus für seine Krise hat, die Lösung des imperialistischen Krieges. Gerade weil der Iran eine wichtige Position in der militärischen Aufstellung des westlichen Blocks innehält, ist er zum Gegenstand großer Aufmerksamkeit vonseiten des Blocks geworden. Die Probleme, die die Klassenbewegung nicht nur für das nationale Kapital, sondern auch für die Kriegsvorbereitungen des imperialistischen Blocks schafft, machen deutlich, warum die Aktion des Proletariats heute wie in der Vergangenheit das einzige und entscheidende Hindernis bildet, das der Bourgeoisie im Weg steht, um ihrem Kurs zum imperialistischen Krieg zu folgen.
5. Seine Rolle in den iranischen Ereignissen stellt das Proletariat vor ein grundsätzliches Problem, das es zur Durchführung der kommunistischen Revolution wird lösen müssen: das Problem seiner Beziehungen zu allen anderen nichtausbeutenden Schichten der Gesellschaft, vor allem zu jenen ohne Arbeit. Diese Ereignisse beweisen, dass:
- diese Schichten trotz ihrer Anzahl keine wirkliche Kraft in der Gesellschaft darstellen;
- sie viel mehr als das Proletariat für die verschiedenen Formen von Mystifikationen und kapitalistischer Kontrolle, einschließlich der überholtesten wie die Religion, anfällig sind;
- aber in dem Maße, wie die Krise auch die Arbeiterklasse trifft, wie sie diese Schichten angreift, Letztere zu einer zusätzlichen Kraft im Kampf gegen den Kapitalismus werden können, vorausgesetzt, das Proletariat kann sich an die Spitze des Kampfes stellen und tut es auch.
Gegenüber allen Versuchen der Bourgeoisie, ihre Unzufriedenheit in hoffnungslosen Sackgassen zu kanalisieren, muss es das Ziel des Proletariats im Umgang mit diesen Schichten sein, ihnen aufzuzeigen, dass keine der vom Kapitalismus vorgeschlagenen "Lösungen", ihr Elend zu beenden, ihnen irgendwelche Erleichterung bringen wird. Nur im Kielwasser der revolutionären Klasse können sie ihre Sehnsüchte befriedigen, nicht als eine besondere - historisch zum Untergang verurteilte - Schicht, sondern als Mitglieder der Gesellschaft. Solch eine politische Perspektive setzt die organisatorische und politische Autonomie des Proletariats voraus, d.h. insbesondere die Ablehnung jeglicher „Bündnisse“ mit diesen Schichten. Das Proletariat kann diese Schichten nicht hinter sich ziehen, indem es sich hinter ihre spezifischen Forderungen stellt. Im Gegenteil, die Geschichte hat gezeigt, daß diese Schichten dazu neigen, der dynamischsten Kraft der Gesellschaft zu folgen. Daher wird allein die entschlossene Behauptung seines revolutionären Projekts dem Proletariat es erlauben, sein Ziel zu erreichen, nämlich diese Schichten hinter seinen Kampf zu ziehen, indem zunächst diese Sektoren von anderen Schichten, die dem Kapital nahe stehen, abgespalten werden.
6. Es gibt im Iran keine bürgerliche Revolution, aber auch keine proletarische. Trotz ihrer unbestreitbaren Kampfbereitschaft hat die Arbeiterklasse ihre wirkliche Autonomie nicht durchgesetzt. Weder hat sie gegen die Bourgeoisie um die Macht gekämpft, noch hat sie ihre eigenen Einheitsorganisation, die Arbeiterräte, errichtet. Darin besteht eine andere Lehre aus den Ereignissen im Iran. Trotz der numerischen, organisatorischen und politischen Schwächen des Proletariats, die es heute der Bourgeoisie erlauben, allumfassende Kontrolle auszuüben, haben die Kämpfe der Arbeiterklasse dennoch einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der weltpolitischen Situation gehabt. Die Ereignisse im Iran waren in diesem Sinne eine Vorwegnahme der Zukunft. Nach einer Periode der Verdunkelung im Anschluß an die Welle von Klassenkämpfen, die zwischen 1968 und 1973 stattgefunden hatten, neigt heute der Arbeiterkampf immer mehr dazu, sich selbst zur Geltung zu bringen und zu verallgemeinern. Das Proletariat besetzt zusehends die erste Reihe auf der politischen Bühne in der Gesellschaft, zum Nachteil aller inneren Widersprüche, die die kapitalistische Klasse aufreiben (ihre wirtschaftlichen und politischen Krisen, die militärische Aufrüstung der Blöcke). Doch das Proletariat im Iran kann, wie jedes Proletariat in einem unterentwickelten Land, das Problem nur stellen, wird es aber nie lösen können. Nur die Tat des gesamten Weltproletariats und an erster Stelle das der mächtigsten Länder wird das Problem lösen, indem es den Angriff gegen den Kapitalismus verallgemeinert und das gesamte System zerstört.
INTERNATIONALE KOMMUNISTISCHE STRÖMUNG
17. Februar 1979
Gegen die Arbeitslosigkeit ist der Kampf gegen die Gewerkschaft!
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist der Kampf gegen die Gewerkschaft!
Noch vor einigen Monaten redete der DGB von einem Arbeitskampf, der in die Sozialgeschichte eingehen werde: der Kampf um die 35 Stunden-Woche - die"endlich gefundene Lösung" des Problems der Arbeitslosigkeit. Inzwischen haben die Stahlarbeiter die Arbeit längst wiederaufgenommen. Ihre Arbeitsplätze aber sind so gefährdet wie zuvor und ihr Lebensstandard wird abermals durch den Lohnabschluss der IG Metall gesenkt. Des DGB's loyalste Verteidiger - wie etwa die trotzkistische GIM - reden von einer "schweren Niederlage" für die Gewerkschaften. Aber es sind die Arbeiter selber, die eine Niederlage erlitten haben - geschlagen durch die vereinigten Kräfte von Staat, Bossen und Gewerkschaften.
Der Streik derStahlarbeiter ist vorbei
Und dies trotz der Kampfbereitschaft der Arbeiter, ihrer Entschlossenheit, die Arbeitslosigkeit und die Auswirkungen der weltweiten Krise zu bekämpfen. Es hieß, dies sei der "erste offizielle Streik in der Stahlindustrie seit einem halben Jahrhundert". Soll das heißen, dass die Gewerkschaften der Metallarbeiter - um bei diesem Beispiel zu bleiben - niemals gekämpft haben? Zum Beispiel:
- gegen die Inflation und die Arbeitslosigkeit, die unseren Lebensstandard seit Ende der sechziger Jahre ständig mehr angreifen?
- gegen die in den Betrieben nach dem Krieg erzwungene mörderische Ausbeutung, die grausamere Arbeitsbedingungen als im "Dritten Reich" bedeuteten?
- gegen die Auswirkungen der galoppierenden Inflation, die die Arbeiter 1923 der Hungersnot auslieferten?
- oder gegen die Arbeitslosenwelle nach 1929, in der Millionen auf die Straße geworfen wurden?
Jawohl, genau das heißt es! Mehr noch: gerade sie standen an der Spitze der Kampagne, die Arbeiterklasse für die Armut zu gewinnen. Die Gewerkschaften und Bosse, die miteinander die Niederlage der Stahlarbeiter so"erbittert" und "unausweichlich" ausgehandelt haben, reden aber nicht von den Stahlarbeiterstreiks von 1969 und 1973, die, unabhängig von den Gewerkschaften, durch die von Vollversammlungen gewählten Streikkomitees geführt wurden. Und sie sprechen auch nicht über die Massaker, die Gewerkschaften und Sozialdemokratie vor 50 Jahren in eben jenem Ruhrpott, wo sie heute feierlich ihre"kämpferischen" Lügen verbreiten, unter den Arbeitern angerichtet haben.
Der Streikaufruf der Gewerkschaften - von ihren Knechten der extremen Linken unterstützt - kam zum richtigen Zeitpunkt für das nationale Kapital. Die BRD - dominierende Macht der europäischen Wirtschaft - kann dem ökonomischen Zusammenbruch nicht widerstehen. Die Tage, in denen Bonn durch den Rausschmiss der Gastarbeiter, den Export der Krise in die schwächeren Länder und den Angriff gegen die Mittelschichten eine Scheinstabilität aufrechterhalten konnte, sind vorbei. Der Bankrott der Länder der Peripherie, die Zahlungsunfähigkeit des Comecons, die Notwendigkeit, die "kranken Männer" der atlantischen Allianz zu unterstützen und den Krieg vorzubereiten, zwingen Bonn (und Tokio) dazu, die Stabilisierung des westlichen Blocks zu finanzieren.
Gleichzeitig üben die USA einen immer größeren Druck auf die BRD aus, damit diese ihre Wirtschaft wiederankurbelt, um den Fall des Dollars aufzuhalten, ihre militärischen Ausgaben zu vergrößern und die durch die USA aufgezwungenen Einschränkungen der Exporte und in der Energiepolitik zu akzeptieren. Um ihre dominierende Stellung gegenüber einer immer schärferen Konkurrenz auf dem wackelnden Weltmarkt zu verteidigen, ist die deutsche Bourgeoisie immer mehr dazu gezwungen, die deutsche Arbeiterklasse anzugreifen. Es ist notwendig geworden, die brutalen Rationalisierungsprogramme der Schmidt-Regierung zu beschleunigen und die Löhne drastisch zu reduzieren.
Nach der Textil- und Druckindustrie wird jetzt die Stahlindustrie von Massenentlassungen bedroht (laut der IGM sind in den nächsten Jahren 100.000 Stellen davon betroffen). Die wachsende Unzufriedenheit, die schon in den letzten Jahren zu zahlreichen kurzen Streiks und Demonstrationen geführt hatte[1],musste von den Gewerkschaften aufgefangen werden, bevor spontane, von den Gewerkschaften nicht kontrollierte Kämpfe ausbrechen. Ende November rief die IGM zu einem Streik auf, der möglichst Weihnachten beendet werden sollte. Dieser Streik sollte die Arbeiter durch die Drohung der Arbeitslosigkeit beängstigen; sie sollten den Fall ihres Lebensstandards akzeptieren. Darüber hinaus sollten die Arbeiter demoralisiert werden ("der Kampf lohnt sich nicht") und exemplarisch die anderen Sektoren für die nachfolgenden Tarifverhandlungen von vornherein vom Kampf abhalten. Außerdem sollte das berühmte Rezept der 35 Stunden-Woche ("der Kampf um die Verteilung der Arbeitsplätze unter den Arbeitern", wie die Trotzkisten es nennen) erprobt werden. Nach dem beliebten Motto "Teile und herrsche" wurde der Streik bei den Stahlarbeitern auf die Gebiete Niederrhein und Ruhrgebiet begrenzt, dann auf Bremen ausgeweitet. Schließlich wurden die Fabriken aufgeteilt: die streikenden, die ausgesperrten und die arbeitenden (37.000 Arbeiter von 200.000 habengestreikt, 40 Betriebe von 50 weiter produziert; drei Tage nach Streikbeginn wurden die streikenden Arbeiter und 30.000 zusätzliche in sieben Betrieben ausgesperrt.) Damit die Industrie möglichst wenig Schaden durch den Streik erleidet, wurden die streikenden Fabriken von den Gewerkschaften sorgfältig ausgesucht: Von den Öfen, die qualitativ hochwertigen Stahl produzieren, nahm nur eine sehr kleine Fabrik in Dillenburg am Streik teil; die Blechproduktion für die Autoindustrie wurde trotz der Entschlossenheit der streikwilligen Arbeiter weitergeführt (Krupp/Bochum und Klöckner/Bremen); mit der Zustimmung der Gewerkschaft wurden Überstunden in zahlreichen Stahlwerken geleistet, um den Schlüsselindustrien zu helfen. Die Situation des Stahlgiganten Hoesch ist bedeutend: von den drei Hoesch-Öfen in Dortmund wurde einer bestreikt, einer ausgesperrt und der dritte produzierte weiter.
Nachdem es den Gewerkschaften gelungen war, die Stahlarbeiter vonm Rest der Arbeiterklasse in der BRD und diese Arbeiter selbst voneinander zu isolieren (streikende, ausgesperrte und produzierende), musste jede autonome Organisierung des Kampfes verhindert werden: Die Streikposten wurden - meistens ohne Erfolg - auf Gewerkschafter und Vertrauensleute begrenzt, nachher durch "Beobachter" ersetzt. Damit die Arbeiter jedoch ihre Unzufriedenheit "austoben" konnten, wurden Demonstrationen organisiert, die zu bloßen Spaziergängen durch die Städte verkamen. Jedoch gelang es den Gewerkschaften nicht, aus diesen Demonstrationen unkämpferische, demoralisierende Straßenaufzüge zu machen: Tausende Arbeiter anderer Industrien legten die Arbeit nieder, um ihre Solidarität mit den Stahlarbeitern zu demonstrieren; in Essen, Duisburg, Mülheim usw. streikten spontan die Nahverkehrsarbeiter. Die Müllabfuhrarbeiter schlossen sich - mit Solidaritätstransparenten auf ihren Lastwagen - den Demonstrationen an; in Dortmund hatte die Gewerkschaft Mühe, als sie die Arbeiter, die zu Hoesch gehen wollten, um die Arbeiter zur Teilnahme an ihrer Demonstration aufzurufen, überreden wollte, lediglich zum Rathaus zu marschieren.
Nach den Aussperrungen der Bosse wurde das Bedürfnis, die Bewegung zu erweitern, stärker. Die Gewerkschaft musste in mehreren Fabriken eingreifen, um die Arbeiter von Streiks und Fabrikbesetzungen abzuhalten. Einige spontane Streiks fanden statt. In Mannesmann/Mülheim z.B., wo 6.000 Arbeiter ausgesperrt wurden, streikten die restlichen 3.000, die im rentablen Sektor hätten weiterarbeiten sollen.
Der Erfolg der Gewerkschaften bestand auf der anderen Seite in der Mobilisierung zur passiven Teilnahme am Streik unter der Parole der 35 Stunden-Woche. Laut den Zahlen des DGB über die Arbeitslosigkeit in derStahlindustrie müssten die Arbeiter 20 Stunden pro Woche weniger arbeiten, um die Entlassungen dadurch zu stoppen und die Arbeitslosen wiedereinzustellen. Aber mit der Entwicklung der Krise müsste die Arbeitszeit noch weiter gekürzt werden. Vielleicht dann die Fünftundenwoche bei vollem Lohnausgleich, um "die Arbeitslosigkeit zu stoppen"? Trotz aller Parolen über die 35 Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich stellt der DGB in den Vordergrund, dass mehr Lohn, mehr Urlaub usw. doch nicht so wichtig seien wie die "Erhaltung der Arbeitsplätze". Was die Gewerkschaften wirklich in den Vordergrund stellen, lässt die Türen offen für eine Kürzung der Reallöhne gegen ein paar Stunden Urlaub in einigen Abteilungen. Die Ziele der Kampagne für die 35 Stunden-Woche waren:
1) die Entlassungswelle in der Stahlindustrie zu bremsen, damit die notwendige Rationalisierung ohne soziale Reaktionen ermöglicht wird;
2) die Ausbeutungsrate in der Stahlindustrie zu steigern (z.B. die Diskussion über ein mörderisches System von fünf Schichten);
3) die Idee in der Klasse zu verbreiten, dass man die Not teilen muss, anstatt sie zu bekämpfen.
Aber gerade die SPD und die Gewerkschaften, diese 'Vorkämpfer der Arbeiterklasse", haben vor kurzem die Gesetze über die Arbeitslosigkeit erlassen, die die Arbeitslosen militarisieren und terrorisieren sollen. Jetzt müssen wir unseren Wohnort in Hamburg oder Bremen verlassen, um Arbeit in Stuttgart oder München anzunehmen. Jetzt müssen Arbeitslose die Straßen kehren, falls sie nicht schnell genug eine andere Arbeit finden.
Wir müssen verstehen, wie die Gewerkschaften militanten und kampfbereiten Arbeitern eine solche Niederlage (die Demonstrationen wurden abgebrochen, die Verhandlungen fortgesetzt, und nach kurzer Zeit wurden die Arbeiter mit einer miserablen 3,2 %igen Jahreslohnerhöhung zur Arbeit zurückgeschickt) aufzwingen konnten, da uns das Verständnis der Ursachen der Niederlage Waffen für die zukünftigen Kämpfe gibt.
In dieser Frage spielen die Vertrauensleute eine wichtige Rolle, um zu verstehen, warum die Streiks sich nicht auf andere Fabriken und Gebiete ausgedehnt haben und warum die Streikenden in gewissem Maße gegenüber der Gewerkschaft passiv geblieben sind und ihren Kampf nicht in die eigenen Hände genommen haben.
Die Vertrauensleute haben die spontanen Diskussionen unter den Arbeitern über die Arbeitslosigkeit auf die technische Ebene des Managements (wie man z.B. in der Abteilung X oder Y eine oder zwei Stellen retten bzw. schaffen könnte) umgeleitet: Die Frage der Arbeitslosigkeit wird auf das Problem, wie man mit Hilfe der Gewerkschaften und der 35 Stunden-Woche die Einstellungspolitik besser führen könnte, - die nur durch den wachsenden Kampf gelöst werden kann - reduziert.
Die Mobilisierung der Arbeiter durch die Vertrauensleute, zur Sitzung der Großen Tarifkommission zu gehen, war ein typischer Versuch, den Arbeitern klar zu machen, dass die Gewerkschaften ihre Interessen besser vertreten würden, wenn sie am Leben "ihrer" Gewerkschaft aktiver teilnehmen würden.Natürlich wollten die Arbeiter, die nach Mülheim gefahren sind, ihre Wut gegen die Organisierung und die Durchführung des Streiks Ausdruck verleihen.
Dadurch erreichte die Gewerkschaft, was sie wollte: dass die unzufriedenenArbeiter sich letztendlich doch noch an die Gewerkschaft wenden und von ihr eine bessere Führung der Verhandlungen erwarten, anstatt selbst und autonom die Führung des Kampfes und der Verhandlungen zu übernehmen, selbst die Unterstützung der anderen Arbeiter zu gewinnen, um den Kampf auszubreiten.
Diese Notwendigkeit der aktiven Solidarität der nicht-streikenden Arbeiter mit den streikenden wurde von den Vertrauensleuten durch lächerliche, unwirksame Aktionen abgelenkt (Geschenkpäckchen oder pompöse"Solidaritätserklärungen"). Diese rein symbolische Form der"Solidarität" ist die einzige, die die Gewerkschaften billigen und propagieren, da sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was die Arbeiter wollten: Sie verhindert eine aktive Solidarität durch den Kampf.
Die Vertrauensleute waren überall aktiv. Bei Hoesch in Dortmund beschlossen sie, dass nur Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder die Streikposten stellen. Dies wurde damit gerechtfertigt, dass der Öffentlichkeit gezeigt werden müsse, dass die Arbeiter bei Hoesch keine Linksradikalen sind.In den Fabriken, in denen die Arbeiter am kämpferischsten waren und am längsten gestreikt hatten, haben sie sich unter dem Druck der Arbeiter für eine "Nein"-Stimme ausgesprochen. Dies war aber keineswegs eine radikale Verteidigung der Interessen der Arbeiter (wie sie es hochgespielt haben), sondern ein Versuch, das Vertrauen der Arbeiter in die Gewerkschaften zu bewahren. Denn letzten Endes ist es wohl das Wichtigste, dass die Arbeiter überhaupt wählen. Weniger interessant ist es, ob sie nun für oder gegen ein bestimmtes Angebot stimmen. Eine Nicht-Teilnahme an einer solchen Abstimmung, ob es sich dabei um einen bewussten Boykott oder einfach um fehlende Begeisterung für das Stimmzettel-Theater handelt, wäre für die Gewerkschaften insofern gefährlich, als sie ihren Einfluss zu verlieren drohen und damit auch ihre Fähigkeit, die Interessen des nationalen Kapitals durch die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens zu verteidigen. Gerade um dieser Gefahr zu begegnen, haben die Vertrauensleute zu Maßnahmen gegen die Streikführer aufgerufen, die zu schnell "kapituliert" haben. Es ist eben nicht so wichtig, wer die schmutzigen Geschäfte mit den Bossen aushandelt, viel wichtiger ist, dass die Arbeiter auf ihre Vertrauensleute hören und weiter an die "innergewerkschaftliche Demokratie" und an den angeblich proletarischen Charakter der Gewerkschaften glauben.
Die Funktion der Gewerkschaften heute ist es, die Friedhofsruhe der kapitalistischen Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen. Da Reformen unmöglich sind, da die Arbeiter mehr und mehr durch die Inflation, die Arbeitslosigkeit und die steigende Arbeitshetze - alles Auswirkungen der permanenten internationalen Krise des Systems - angegriffen werden, kann die Regelung des Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital (darin besteht die Funktion der Gewerkschaften) nichts anderes heißen, als die Sicherung der steigenden Ausbeutung der Arbeiterklasse.
Während des Stahlarbeiterstreiks haben die Linken die Gewerkschaften in ihrer Kampagne um die 35 Stunden-Woche völlig unterstützt und dabei die Illusion verbreitet, die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können, ohne ihre Wurzeln anzugreifen. Sogar die KPD/ML, die letztes Jahr über eine Opposition außerhalb des DGB getönt hatte, zeigt sich wieder einmal durch ihre Unterstützung der Kampagne für die 35 Stunden-Woche, der Vertrauensleute und der "innergewerkschaftlichen Demokratie" als guter Helfershelfer des DGB.
Kaum ist der Streik zerschlagen, setzen sich die Linken mit den Vertrauensleuten aktiv und lautstark für die Absetzung der Gewerkschaftsführer ein: Sie verbreiten das Märchen, dass durch die Ersetzung der "Verräterführer" und eine wirkliche gewerkschaftliche Demokratisierung diese"Arbeiterorganisationen" den Lebensstandard und die Interessen der Arbeiter tatsächlich verteidigen können.
Um das Problem der Arbeitslosigkeit und seine einzige Lösung - die Zerschlagung des kapitalistischen Systems - zu begreifen, muss man auf das letzte Jahrhundert zurückblicken, als der Kapitalismus noch ein expansives, fortschrittliches System war. Arbeitslosigkeit gab es damals auch, dennoch existierte sie in einem wesentlich kleineren Maßstab. Sie kam mit den zyklischen Wirtschaftskrisen und verschwand wieder mit dem Ende der Krise. Die Booms des letzten Jahrhunderts schufen sogar eine relative und absolute Vergrößerung des Proletariats als Teil der Gesellschaft. Das System hatte sich nach jeder Rezession weiterentwickelt. Heute ist die Arbeitslosigkeit ein permanentes und wachsendes weltweites Problem, das weder durch die 35 Stunden-Woche noch durch die Militarisierung der Gesellschaft - wie in den dreißiger Jahren - überwunden werden kann. Die Arbeitslosigkeit ist die größte Bedrohung der Interessen der Arbeiterklasse, aber gerade deswegen bedroht sie gleichzeitig auch die Bourgeoisie, denn sie veranlasst eine Radikalisierung des Proletariats, das durch seinen Kampf lernt, dass nur die proletarische Revolution die Arbeitslosigkeit erledigen kann. Die Geschichte zeigt, dass die Arbeitslosen - trotz aller Versuche seitens der Bourgeoisie, sie zu isolieren - oft die militantesten Teile der Klasse waren: z.B. während der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg oder in den dreißiger Jahren. Die Arbeitslosen, als Teil einer revolutionären Klasse, sind fähig, sich im Kampf zu organisieren. Die autonomen Arbeitslosenkomitees, die heute in vielen Ländern auftauchen, beweisen, dass das Proletariat noch nicht zerschlagen ist. Die Arbeiter können und müssen die Arbeitslosigkeit bekämpfen, sonst werden sie wohl als Soldaten, als Kanonenfutter in einem dritten Weltkrieg - die einzige kurzfristige "Lösung" der Bourgeoisie für dieses Problem - eine Beschäftigung finden.
Heute versucht die Bourgeoisie, die Arbeiterklasse an die nationale Wirtschaft zu binden, indem der kapitalistische Staat als einziger Retter gegen die Verbreitung der Arbeitslosigkeit auftritt. Jeder Lohnraub, jede neue Investition, jeder Versuch, die Kriegswirtschaft zu stärken, wird als eine Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit angekündigt. "Und würden die Arbeiter nur etwas härter arbeiten, dann wären ihre Arbeitsplätze sicherer."
Die staatskapitalistischen Programme der Bourgeoisie und vor allem ihrer linken Fraktionen mit ihrem Ruf nach Verstaatlichung und "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen", erklären uns, dass die Arbeitslosigkeit ein nationales Problem sei, das auf nationaler Ebene gelöst werden könne. Aber die Arbeitslosigkeit ist in der Tat so international wie der Kapitalismus selbst. Der Arbeitsmarkt ist nicht mehr national, sondern international. Nach1929 führte die offene Krise des kapitalistischen Systems zu Pogromen, Massakern, offenen Völkermorden, zu Konzentrationslagern und Atombomben, zu dem Mord von Millionen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges. Diese Barbarei entsteht, wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit den Produktivkräften in Konflikt kommen, wenn es zu viele Menschen gibt, die nicht mehr in die Produktion integriert werden können und die dadurch zu einer Belastung der in ihren Todeszuckungen liegenden Wirtschaft geworden sind. Nach dem Krieg wurden Millionen von rbeitern aus Asien, Nordafrika und Zentralamerika in die kapitalistischen Kernländer gebracht, um dort für den Nachkriegswiederaufbau zu schwitzen. Nach ein paar Jahrzehnten, als die Aufgabe erfüllt war, wurden sie dahin zurückgeschickt, wo sie herkamen. In diesen Kernländern selbst wächst und wächst die Zahl der Arbeitslosen trotz des berühmten Wiederaufbaubooms, der gerade in den USA, Europa und Japan stattfand. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt, vor allem als der Wiederaufbau zu Ende war, führte zu einer weiteren Rationalisierung in den schwachen landwirtschaftlichen und industriellen Sektoren, zu der Entstehung von Millionen zusätzlicher und nutzloser Menschen, zu der Verelendung von drei Vierteln der Menschheit. Nicht einmal die Kriege und Massaker, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Dritten Welt andauernd stattfanden, konnten die Zunahme dieser Zahlen bremsen. Nun ist der Nachkriegswiederaufbau längst vorüber; die Arbeitslosigkeit dehnt sich auf alle Länder der Welt aus. Die Konkurrenzfähigkeit der japanischen Bourgeoisie z.B. stützte sich auf ihrer Fähigkeit, ihre eigene Arbeiterklasse anzugreifen. Firmen erhalten Zuschüsse des japanischen Staates, wenn sie unrentable Betriebe schließen. Die offizielle Rekordarbeitslosenzahl von 0,25 Million erfasst nicht die Ausländer, die Frauen und Jugendlichen, die schon aus der Produktion herausgedrängt wurden oder die 4,6 Millionen älteren Arbeiter, die nicht ersetzt werden, wenn sie - oft frühzeitig - aufhören.
In Osteuropa und in China werden jetzt die Erhaltung der sog. "Vollbeschäftigung" durch die Kriegswirtschaft und eine weitgehende Militarisierung der Gesellschaft immer schwieriger. Auch hier gibt es - laut der offiziellen Planung - meistens keine Stellen mehr für jüngere Menschen. In Polen wurde von Teilen der Bourgeoisie die Forderung nach einer offeneren und besser kontrollierten "Reservearmee" gestellt.Obwohl die Bourgeoisie in allen Ländern unermüdlich über die Notwendigkeit der Beibehaltung oder Schaffung von Arbeitsplätzen redet, forciert die kapitalistische Krise neue Entlassungen. In der BRD hat der DGB seine Arbeitslosen-Kampagne schnell ad acta gelegt, weil dieses Thema die gesamte Klasse sehr tief berührt und er befürchtete, seine Kontrolle zu verlieren.Seine Manöver sind ein weiterer Versuch der Bourgeoisie, die Bedrohung durch die Arbeitslosigkeit auszunutzen, um die noch beschäftigten Arbeiter zu terrorisieren und die Produktivität in die Höhe zu treiben. Aber der unbarmherzige Aufmarsch der Arbeitslosigkeit zeigt die absolute Sinnlosigkeit aller Versuche, durch harte Arbeit und Loyalität gegenüber der Firma seinen Arbeitsplatz zu sichern. Wenn die Wirtschaft weiter in die Krise sinkt, machen große Fabriken und sogar ganze Industriebereiche zu. Dann versteht auch jeder, was seine Zukunft ist: arbeitslos zu sein. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit führt zu der Radikalisierung nicht nur der Arbeitslosen, sondern des ganzen Proletariats.
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit fordert Methoden, die viel weitgehender sind als die, die von den Arbeitern seit der Eröffnung der neuen Krise 1968 angewendet wurden. Damals wurde der Widerstand gegen die Inflation und die steigende Arbeitshetze meistens isoliert geführt: jede Fabrik, jeder Industriezweig oder jedes Land für sich selbst. Diese Methoden konnten der Kontrolle der Gewerkschaften, des Staates nicht entkommen. Aber es ist offensichtlich, dass die Arbeitslosigkeit so nicht bekämpft werden kann.Wenn Streiks gegen Entlassungen nur in den Fabriken stattfinden, die geschlossen werden sollen, dann werden wir wenig wirksam sein - die Betriebe werden so oder so dichtgemacht. Die Arbeitslosigkeit stellt uns auf konkrete Weise vor der Notwendigkeit, den Kampf auszudehnen, aus unserer Isolation herauszubrechen, um wieder zu lernen, als eine vereinigte Klasse zu kämpfen.Und dieser Kampf muss, wie bei den Stahlarbeitern in Frankreich, zu einer Konfrontation mit dem Staat führen. Ihre Kämpfe gegen die Polizeireviere usw. haben die Regierung in Paris dazu gezwungen, ihre Entlassungspläne zu verändern[2].Die eisernen Notwendigkeiten der Krise streben danach, dass sie doch irgendwann entlassen werden. Trotzdem haben sie für ihre Arbeitsplätze gekämpft und sie erhalten - wenn man auf der Straße landen muss, dann lieber morgen als heute. Der Kampf und nur der Kampf lohnt sich heute - dafür müssen wir aber vor allem lernen, uns nicht auf die Bourgeoisie zu stützen.
Arbeiter, Genossen! Die Kampagne für die 35 Stunden-Woche, die der DGB geführt hat, ist nichts anderes als ein Versuch, den Widerstand der Arbeiterklasse dem Erdboden gleichzumachen. Heute gibt es keine sicheren Arbeitsplätze mehr. Jede Entlassung, jede gewerkschaftliche Verhandlung, jede neue Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit ist nichts anderes als ein Angriff gegen uns alle. Was ist die Arbeiterklasse heute, wenn nicht die augenblicklichen Arbeitslosen und die zukünftigen Arbeitslosen? Wir werden keine einzige Entlassung durch eine 35 Stunden-Woche vermeiden. Und trotz des Geredes der Linken über die Aufteilung der Austerität müssen wir sagen, auch wenn wir umsonst arbeiten würden, würde dies die kapitalistische Krise nicht lösen. Die einzige Waffe des Proletariats gegen die Arbeitslosigkeit ist seine eigene Klassensolidarität, der Kampf aller Arbeiter, der gesamten Klasse gegen Entlassungen, eine generalisierte Klassenverteidigung der Arbeitslosen. Die Arbeiter an der Ruhr sind wegen der Arbeitslosigkeit auf die Straße gegangen.Aber heute muss es klar werden, dass der wahre Kampf gegen die Arbeitslosigkeit der Kampf gegen die Gewerkschaften, gegen die Sozialdemokratie, gegen den kapitalistischen Staat ist.
M./Kr., März 79
Die für die Befreiung der Arbeiterklasse unabdingbare Entwicklung des Klassenbewußtseins ist ein fortdauernder und unaufhörlicher Prozeß. Er wird bestimmt durch das soziale Wesen des Proletariats als eine historische Klasse, das als einzige Klasse die Lösung der unüberwindbaren Gegensätze des Kapitalismus in sich birgt, wobei der Kapitalismus selbst die letzte Klassengesellschaft ist. So wie die historische Aufgabe, die die menschliche Gesellschaft zerreißenden Klassengegensätze aufzulösen, nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann, kann das Bewußtsein über diese Aufgabe dem Proletariat keineswegs von außen „importiert“ oder eingetrichtert werden, sondern es ist das Produkt seines wahren Seins, seiner eigenen Existenz. Es ist die wirtschaftliche, soziale und politische Stellung in der Gesellschaft, die die praktischen Handlungen und den historischen Kampf des Proletariats bestimmt.
Diese unaufhörliche Bewegung hin zu einem Bewußtwerdungsprozeß drückt sich in den Versuchen des Proletariats, sich selber zu organisieren, und in der Bildung politischer Gruppen innerhalb der Arbeiterklasse, die in der Bildung der Partei gipfelt, aus.
Gerade dieser Frage, der Bildung der Partei, wird in der Nummer 76 von Programme Communiste (März '78), dem theoretischen Organ der IKP (Internationale Kommununistische Partei), ein sehr langer Artikel gewidmet: „Auf dem Wege zur ‚kompakten und starken‘ Partei von Morgen"(1). Es muß zunächst festgestellt werden, daß man wegen des üblichen Schwulstes der bordigistischen Sprache, der auf vielen Seiten zu findenden Drehungen und Wendungen - nach denen man sich schließlich am Ausgangspunkt wiederfindet -, des Einrennens offener Türen und der sich wiederholenden Bestätigungen, die eine Argumentation ersetzen sollen, die wirklich zur Diskussion stehenden Probleme viel schwerer und umständlicher begreifen kann. Das Vorgehen, eine Behauptung dadurch zu beweisen, indem man die früheren Behauptungen zitiert, welche selbst wieder auf vorherigen Bestätigungen aufgebaut sind – so daß es einem fast schwindelig wird -, mag sicherlich eine Kontinuität in den Behauptungen beweisen, sie kann aber keine schlüssige Beweisführung ersetzen. Unter diesen Umständen und trotz unserer festen Absicht, uns nur mit den Behauptungen auseinanderzusetzen, die die bordigistischen Positionen hinsichtlich der Partei ausdrücken und die wir für falsch halten, können wir es nicht vollständig vermeiden, auf eine Anzahl anderer Punkte zu sprechen zu kommen, die mit diesen Behauptungen zusammenhängen.
Über die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linke
Es wäre sicherlich keine kleine Überraschung für die Mehrzahl der Leser von Kommunistisches Programm und wahrscheinlich auch für die Mehrzahl der Mitglieder der IKP, plötzlich zu erfahren, daß „trotz ihrer objektiven (?) Grenzen, die ‚Linke Fraktion im Ausland‘ ein Teil der Geschichte“ (2) der Italienischen Linke ist und daß man sich auf sie bezieht als „unsere Fraktion im Ausland zwischen 1928 und 1940“. In diesem Punkt hatte uns Kommunistisches Programm eher an eine große Zurückhaltung, ein beredtes Schweigen, wenn nicht gar einfach an eine Mißbilligung der Fraktion gewöhnt. Wie sollte man sonst verstehen, daß innerhalb der 30 Jahre, die die IKP schon existiert, sie keine Mühe gescheut hat, in ihren Zeitungen, theoretischen Zeitschriften, Broschüren und Büchern die Texte der Linken von 1920-1926 wiederaufzulegen und erneut zu veröffentlichen, aber gleichzeitig weder die Zeit noch die Mittel noch den Platz gefunden hat, auch nur einen einzigen Text der Fraktion zu veröffentlichen, die das Bulletin d'Information, die Zeitschrift Bilan, die Zeitung Prometeo, die Bulletins Il Seme und so viel andere Texte veröffentlicht hatte? Es ist kein reiner Zufall, daß Kommunistisches Programm keinen Verweis, keine Erwähnung der politischen Positionen, die „unsere“ Fraktion vertreten hat, enthielt, daß es niemals aus Bilan zitierte. Einige Genossen der IKP, die irgendwann einmal Leute vage über Bilan sprechen gehört hatten, behaupteten, daß die Partei sich weder auf die politische Aktivität noch auf die Schriften "Bilans" berufe, während andere Genossen der gleichen Partei noch nicht einmal von der Existenz von Bilan wußten.
Heute entdeckt man das „Verdienst unserer Fraktion“, ein Verdienst, welches - das stimmt - ziemlich begrenzt ist, aber immer noch groß genug, um davor den Hut zu ziehen. Warum heute? Ist es deshalb, weil die Lücke in der organischen Kontinuität (ein von der IKP so geschätzter Begriff), die von 1926 bis...1952 dauerte, etwas störend geworden ist und weil man diese Lücke mehr schlecht als recht stopfen mußte? Oder ist es deshalb, weil die IKS so lange schon davon gesprochen hat, daß man jetzt nicht mehr das Schweigen aufrechterhalten kann? Und warum wird die Fraktion zwischen 1928 und 1940 plaziert, zumal sie sich - irrigerweise - erst im Juli 1945 aufgelöst hatte, um sich dann in die „Partei“ zu integrieren, die schließlich in Italien wiedergegründet worden war? (Dies geschah, nachdem die Fraktion das italienische antifaschistische Komitee in Brüssel verurteilt und seinen Vorkämpfer Vercesi ausgeschlossen hatte - derselbe Vercesi, der später ohne Diskussion wieder in die IKP und sogar noch in die Führung aufgenommen wurde.) Geschieht all dies aus Ignoranz oder weil die Fraktion während des Krieges noch viel weiter in die Richtung gegangen war, die Bilan schon vor dem Kriege eingeschlagen hatte, insbesondere in der Frage Rußlands, in der Frage des Staates und der Partei – eine Entwicklung, die ein noch helleres Licht auf die Distanz zwischen Kommunistisches Programm und den von der Fraktion vertretenen Positionen wirft. Jedenfalls werden die Bilan zugestandenen „Verdienste“ schnell durch eine umso schärfere Kritik relativiert.
"Die Unmöglichkeit“, schreibt Kommunistisches Programm, „aus dem sozusagen subjektiven (?!) Kreis der Konterrevolution auszubrechen, führte in der Fraktion zu bestimmten Abweichungen, wie z.B. in der nationalen und kolonialen Frage oder in Bezug auf Rußland, nicht so sehr in der Einschätzung, was aus Rußland geworden war, als vielmehr in der Suche nach einem unterschiedlichen Weg gegenüber dem der Bolschewisten in der Ausübung ihrer Diktatur (…) ein Weg, der in der Zukunft eine Wiederholung der Katastrophe der Jahre 1926-27 verhindern sollte (…) wollte die (Fraktion) auf die Rückkehr der Massenkonfrontationen mit den feindlichen Kräften warten, ehe die Partei neu konstituiert wird.“ (1).
Wenn es stimmt, daß die Treue zu den revolutionären Grundlagen des Marxismus in Zeiten der Niederlage ein großes Verdienst ist, so liegt das besondere Verdienst der Fraktion, wodurch sie sich besonders von den damaligen Gruppen unterschied, gerade in dem, was der Artikel des Kommunistischen Programms „Schwächen“ nennt. Wie die Fraktion formulierte: „Der Rahmen für die zukünftigen Parteien des Proletariats kann nur aus dem tiefen Verständnis der Ursachen der Niederlagen hervorgehen. Und dieses Verständnis darf weder durch Verbote noch durch Ächtung beeinträchtigt werden.“ (3)
Für all jene, die meinen, dass das Programm etwas „Vollendetes und Unveränderbares“ ist, die den Marxismus in ein Dogma verwandelt und Lenin zu einem unantastbaren Propheten gemacht haben, müssen es als unhaltbar betrachten, daß die Fraktion es gewagt hat (Brrr, da läuft es einem kalt den Rücken runter!), die politischen und programmatischen Positionen der bolschewistischen Partei und der Komintern im Lichte der Realität zu überprüfen, und nicht etwa die Grundlagen des Marxismus. Wenn man innerhalb des theoretischen Rahmens und der kommunistischen Bewegung eine Überprüfung der politischen Positionen, die eine Rolle in Niederlagen gespielt haben, verlangt, die „weder durch Verbote noch durch Ächtung beeinträchtigt werden darf“, dann ist das die schlimmste Ketzerei; eine „Abweichung“, wie das Kommunistisches Programm dazu sagen würde.
Das große Verdienst der Fraktion, neben ihrer Loyalität zum Marxismus und ihren Stellungnahmen zu den großen, wichtigen Fragen damals - gegen die von Trotzki befürwortete Einheitsfront, gegen die Volksfront, gegen die Kollaboration im und die Unterstützung des Spanienkrieges, gegen die infamen Mystifikationen des Antifaschismus -, lag darin, es gewagt zu haben, mit der Methode zu brechen, die damals in der revolutionären Bewegung die Oberhand gewonnen hatte; eine Methode, die die Theorie in ein Dogma, die Prinzipien in Tabus verwandelt und jedes politische Leben erstickt hat. Ihr Verdienst war es, die Revolutionäre zu Debatten und Diskussionen aufgerufen zu haben, was sie nicht zu „Abweichungen“ verleitet, sondern in die Lage versetzt hat, reiche und wertvolle Beiträge zum revolutionären Projekt zu leisten.
Bei all ihrer Standhaftigkeit zu ihren Überzeugungen war die Fraktion bescheiden genug, nicht vorzugeben, alle Probleme gelöst und auf alle Fragen Antworten zu haben: „Wenn wir jetzt mit der Veröffentlichung dieses Bulletins beginnen, glaubt unsere Fraktion nicht, endgültige Lösungen für die schrecklichen Probleme gefunden zu haben, vor denen die Proletarier aller Länder stehen.“ (4) Und selbst dann, wenn sie überzeugt war, Antworten zu haben, verlangte sie nicht von Anderen die einfache Anerkennung dieser Antworten, sondern rief sie dazu auf, diese zu untersuchen, zu konfrontieren und zu diskutieren: „Sie (die Fraktion) beabsichtigt nicht, die politisch ‚Nahestehenden‘ dazu zu drängen, mit den von ihnen befürworteten Lösungen für die aktuelle Lage einverstanden zu sein. Im Gegenteil, sie ruft alle Revolutionäre dazu auf, die von ihr verteidigten Positionen und grundlegenden politischen Dokumente im Lichte der Ereignisse zu überprüfen.“ Und im gleichen Geiste schrieb sie: „Unsere Fraktion hätte es vorgezogen, daß solch eine Arbeit (die Publizierung von Bilan) von einem internationalen Organismus ausgeführt worden wäre, weil wir von der Notwendigkeit der politischen Konfrontation zwischen den Gruppen, die die Arbeiterklasse in den verschiedenen Ländern repräsentieren, überzeugt sind.“ (Bilan, Nr.1)
Um die enorme Distanz zwischen den Vorstellungen der Fraktion und den der bordigistischen Partei hinsichtlich der Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen den kommunistischen Gruppen aussehen sollen, voll zu würdigen, genügt es, das oben aufgeführte Zitat von Bilan mit dem nachfolgenden Zitat aus Kommunistisches Programm zu vergleichen. So schreibt Kommunistisches Programm über die eigene Gruppe, die unter dem selbst vergebenen Titel „Partei“ ächzt: „‘Parteikern‘? Im Vergleich zur ‚kompakten und starken Partei von morgen‘, ganz gewiß. Aber Partei; eine Partei, die nur auf ihren eigenen Grundlagen wachsen kann, nicht durch die ‚Konfrontation‘ verschiedener Standpunkte, sondern durch den Kampf selbst gegen diejenigen, die ihr ‚nahezustehen‘ scheinen." (Kommunistisches Programm, Nr.18, S. 20). Wie kürzlich ein Sprecher der IKP auf einer öffentlichen Veranstaltung von Révolution Internationale (Sektion der IKS in Frankreich) in Paris sagte: „Wir kommen nicht, um zu diskutieren, auch nicht um unsere Standpunkte mit Euren zu konfrontieren, sondern nur um hier unseren Standpunkt kundzutun. Wir kommen zu eurer Veranstaltung, so wie wir zu den Veranstaltungen der stalinistischen Partei gehen.“
Solch eine Einstellung beruht nicht auf der Standhaftigkeit von Überzeugungen, sondern auf Selbstgefälligkeit und Arroganz. Das sogenannte „vollendete und invariante“ Programm, als dessen Erben und Bewahrer die Bordigisten sich ausgeben, kaschiert nichts anderes als einen enormen Größenwahn.
Je mehr ein Bordigist von Zweifeln und Unverständnis erschüttert wird, desto mehr schwanken seine Überzeugungen; und so fühlt er immer stärker das Bedürfnis, morgens nach dem Aufstehen sich auf die Erde zu knien, den Kopf auf die Erde zu beugen, sich auf die Brust zu schlagen und die Litanei des Islam aufzusagen: „Allah ist der einzige Gott und Mohammed sein Prophet“. Oder wie Bordiga irgendwo sagte: „Um Mitglied der Partei zu sein, braucht man nicht alles zu verstehen und von allem überzeugt zu sein; es genügt, daß man glaubt und der Partei gehorcht.“
Es geht hier nicht darum, ausführlich auf die Geschichte der Fraktion einzugehen, auf ihre Verdienste und Fehler, auf die Gültigkeit und die Irrtümer ihrer Positionen. Wie sie selbst sagte, habe sie auf dem Weg zur Klarheit oft nur herumtasten können, aber ihr Beitrag war umso größer, als sie ein lebendiger politischer Körper war, der es wagte, die Debatte zu eröffnen, ihre Positionen mit anderen zu konfrontieren, sie anderen gegenüberzustellen; sie war keine verkalkte und größenwahnsinnige Sekte wie die bordigistische „Partei“. So konnte die Fraktion für sich korrekterweise eine Kontinuität mit der Italienischen Linken beanspruchen, während die bordigistische Partei groben Mißbrauch betrieb, als sie über „unsere Fraktion im Exil“ sprach.
Die Konstituierung der Partei
Die für das Proletariat unabdingbare Partei wird auf den soliden Fundamenten eines kohärenten Programms, klarer Prinzipien und einer allgemeinen Orientierung aufgebaut, die es ermöglichen, detaillierte Antworten auf die im Klassenkampf auftauchenden politischen Probleme zu geben. Dies hat überhaupt nichts gemein mit dem mythischen „vollendeten und invarianten“ Programm der Bordigisten.
„In jeder Periode sehen wir, daß die Möglichkeit der Bildung der Partei bestimmt wird durch die Grundlage der vorherigen Erfahrung und der neuen Probleme, vor denen das Proletariat steht.“ (Bilan, Nr.1, S.15)
Was für das Programm zutrifft, ist auch für die lebendigen politischen Kräfte gültig, die die Partei physisch bilden. Die Partei ist sicher keine Ansammlung aller möglichen Gruppen und heterogenen politischen Tendenzen. Aber sie ist auch nicht der „monolithische Block“, von dem die Bordigisten sprechen und der übrigens nie bestanden hat, außer in ihrer Einbildung.
„In jeder Periode, in der die Bedingungen für die Bildung der Partei vorhanden sind, in der sich die Arbeiterklasse als Klasse organisieren kann, wird die Partei auf folgende zwei Elemente gegründet: 1) auf ein Bewußtsein der fortgeschrittensten Positionen, die das Proletariat aufgreifen muß; 2) auf die wachsende Kristallisierung der Kräfte, die für die proletarische Revolution handeln können.“ (Bilan, Nr.1)
Nur sich selbst und niemand anderen aus Prinzip und á priori als einzige für die Revolution handelnde Kraft anzuerkennen zeugt nicht von revolutionärer Standhaftigkeit, es ist das Verhalten einer Sekte.
Als Engels die Bedingungen, unter denen die Erste Internationale gegründet wurde, schilderte, schrieb er: „Die Ereignisse und Wechselfälle im Kampf gegen das Kapital, die Niederlagen noch mehr als die Siege, konnten nicht verfehlen, den Menschen die Unzulänglichkeit ihrer diversen Lieblingsquacksalbereien zum Bewußtsein zu bringen und den Weg zu vollkommener Einsicht in die wirklichen Voraussetzungen der Emanzipation der Arbeiterklasse zu bahnen.“ („Vorrede zum ‚Manifest der Kommunistischen Partei‘“, MEW, Bd. 21, S. 353, 1888).
Die Wirklichkeit hat nichts zu tun mit diesem Spiegel, vor dem die bordigistische „Partei“ die meiste Zeit verbringt und der ihr nichts anderes zeigt als ihr eigenes Bild. In der ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung, d.h. in der Wirklichkeit, zeichnete sich die Bildung der Parteien durch einen Zusammenschluß bei gleichzeitiger Abgrenzung der Kräfte aus, die für die Revolution handeln können. Andernfalls müßte man schlußfolgern, daß niemals eine andere Partei als die bordigistische existiert hat. Einige Beispiele: der Bund der Kommunisten, dem sich Marx und Engels sowie ihre Freunde anschlossen, war der ehemalige Bund der Gerechten gewesen, der sich nach der Eliminierung der Weitling-Tendenz aus mehreren Gruppen in Deutschland, Frankreich, Belgien, England und der Schweiz zusammensetzte. Die Erste Internationale beinhaltete sowohl die Eliminierung von Sozialisten wie Louis Blanc und Mazzini als auch die Annäherung anderer Strömungen. Die Zweite Internationale gründete sich auf den Ausschluss der Anarchisten und der Umgruppierung der marxistischen sozialdemokratischen Parteien. Die Dritte Internationale kam nach der Auflösung der Sozialdemokraten und fasste die revolutionären kommunistischen Strömungen zusammen. Das Gleiche finden wir bei der Bildung der sozialdemokratischen Partei in Deutschland, die aus der Eisenacher und Lassalles Partei hervorgegangen war, und bei der sozialistischen Partei Frankreichs vor, die sich aus der Partei Guesdes und Lafargues sowie aus der Partei Jaures entwickelt hatte. Dasselbe auch bei der Bildung der sozialdemokratischen Partei in Rußland, die auf der Grundlage einer Annäherung von Gruppen entstanden war, die isoliert und zerstreut in den Städten und Regionen Rußlands existiert hatten, wobei die Tendenz Struves allerdings ausgeschlossen wurde. Man könnte hier weitere Beispiele aus der Geschichte der Parteigründungen aufführen, die dasselbe Phänomen von Ausschluss und Annäherung zeigen. Die Kommunistische Partei Italiens konstituierte sich nach der Auflösung der Maximalisten Seratis rund um die abstentionistische Fraktion Bordigas und Gramscis Gruppe.
Es gibt keine Kriterien, die absolut gültig und in allen Zeiten identisch sind. Es kommt darauf an, in jeder Epoche klar zu definieren, was die politischen Kriterien für die Annäherung und was die Kriterien für die Abgrenzung sind. Und genau das weiß die bordigistische „Partei“ nicht, die sich ohne Kriterien und in Form eines vagen Amalgams von Kräften konstituiert hatte: die im Norden gegründete Partei, Gruppen aus dem Süden unter Einbeziehung von Partisanenelementen, Vercesis Tendenz im Antifaschistischen Komitee Brüssels, die Minderheit, die 1936 wegen ihrer Teilnahme an den republikanischen Milizen im Spanischen Bürgerkrieg aus der Fraktion ausgeschlossen worden war, und die 1945 vorzeitig aufgelöste Fraktion. Wie man sehen kann, hat das Kommunistische Programm allen Grund dazu, von Unnachgiebigkeit und organischer Kontinuität zu sprechen sowie Lehren über revolutionäre Standhaftigkeit und Reinheit zu erteilen! Seine Verunglimpfung jeglicher Versuche der Konfrontation und Debatte zwischen revolutionären kommunistischen Gruppen beruht nicht auf Prinzipienfestigkeit, auch nicht auf politischer Kurzsichtigkeit, sondern schlicht und einfach auf der Sorge um den Schutz der eigenen, kleinen Kapelle.
Im Übrigen variiert (entschuldigt die Invarianz) diese unheimliche - tatsächlich nur verbale - Unnachgiebigkeit der Bordigisten gegen jede Konfrontation und erst recht gegen jede Umgruppierung, die von vornherein und ohne jedes Kriterium als ein konfuses Unterfangen abgestempelt wird, je nach dem Augenblick und nach Geschmack. So hatten sie 1949 einen „Aufruf zur internationalen Reorganisierung der revolutionären marxistischen Bewegung“ veröffentlicht, den sie 1952 und 1957 wiederholten und in dem man lesen kann:
„In Übereinstimmung mit der marxistischen Auffassung richten heute die Kommunisten der Italienischen Linken einen Aufruf an die revolutionären Arbeitergruppen aller Länder. Sie fordern sie dazu auf, sich auf einen langen und schwierigen Weg zu begeben und sich auf internationaler und strikter Klassengrundlage zu sammeln…“ (Programme Communiste, Nr.18/19 der franz. Ausgabe).
Aber es ist unbedingt notwendig, zwischen der bordigistischen Partei und jeder anderen Organisation zu unterscheiden; man würde einen schweren Fehler begehen, wenn man glaubte, daß das, was der Partei erlaubt ist, die allein über das vollendete und invariante Programm wacht, ebenfalls für eine simple sterbliche Organisation von Revolutionären zulässig ist. Die Partei hat Gründe, die die Vernunft nicht kennt und auch nicht kennen kann. Wenn die Bordigisten zu einer „internationalen Zusammenkunft“ aufrufen, dann ist das reines, pures Gold, doch wenn andere revolutionäre Organisationen zu einer einfachen internationalen Konferenz zur Kontaktaufnahme und Diskussion aufrufen, dann ist das selbstverständlich die größte Scheiße, „Prinzipienhandel“, ein konfuses Unterfangen. Aber kommt das nicht eher daher, daß die Bordigisten sich heute mehr denn je in ihrer Verkalkung verrannt haben und daß sie fürchten, ihre schwankenden Positionen mit den lebendigen, revolutionären Strömungen zu konfrontieren, die heute existieren und sich entwickeln? Ist das nicht der Grund dafür, daß sie sich lieber verschließen und isoliert bleiben?
Es ist lohnenswert, die für diese „Zusammenkunft“ vorgestellten Kriterien in Erinnerung zu rufen, die erneut in dem neulich erschienenen Artikel (eingangs dieses Artikels erwähnt) bekräftigt wurden:
„Die Internationale Kommunistische Partei schlägt den Genossen aller Länder die folgenden Grundprinzipien und -voraussetzungen vor:
1) Bejahung der Waffen der proletarischen Revolution: Gewalt, Diktatur, Terror…
2) vollständiger Bruch mit der Tradition der Kriegsbündnisse, den Partisanenfronten und den 'nationalen Befreiungen'...
3) historische Negation des Pazifismus, des Föderalismus zwischen den Staaten und der 'nationalen Verteidigung'…
4) Verurteilung der üblichen Sozialprogramme und der politischen Bündnisse mit den nichtlohnabhängigen Klassen…
5) Proklamierung des kapitalistischen Charakters der Gesellschaftsstruktur Rußlands;(‚Die Macht ist in die Hände einer hybriden und konturenlosen Koalition von inneren Interessen der niedrigen und höheren Mittelschichten, halb-unabhängigen Geschäftsleuten und der internationalen kapitalistischen Klassen gelegt worden‘?)
6) Schlußfolgerung: Mißbilligung jeder Unterstützung des russischen imperialen Militarismus, kategorischer Defätismus gegen den Militarismus Amerikas..."
Wir haben die sechs Kapitelüberschriften zitiert, die alle durch Kommentare näher erläutert werden; sie hier wiederzugeben wäre allerdings zu lang. Es handelt sich auch nicht darum, im einzelnen diese Punkte hier zu behandeln, obgleich ihre Formulierungen viel zu wünschen übrig lassen, insbesondere was die Frage des Terrors als Hauptwaffe der Revolution angeht (5) oder dieser subtile Unterschied in der Schlußfolgerung über die Haltung gegenüber den USA (Defätismus) und gegenüber Rußland (Mißbilligung) oder diese – gelinde gesagt – kuriose Definition der Macht in Rußland, die nicht schlicht Staatskapitalismus genannt wird, sondern eine „hybride und konturenlose Koalition von inneren Interessen der niedrigen und höheren Mittelschichten (…) und der internationalen kapitalistischen Klassen“. Man könnte ebenso auf die vielsagende Abwesenheit anderer Kriterien hinweisen, insbesondere auf die Forderung nach der Anerkennung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution oder die Notwendigkeit der Klassenpartei. Uns kommt es hier jedoch darauf an zu betonen, daß diese Kriterien in der Tat eine ernsthafte Grundlage darstellen, wenn auch nicht für eine unmittelbare „Zusammenkunft“, so doch mindestens für eine Kontaktaufnahme und Diskussion zwischen den bestehenden revolutionären Gruppen. Dies ist eine Orientierung, wie sie einst auch die Fraktion verfolgt hatte, und es ist eine Orientierung, die wir heute nach wie vor fortführen: Sie war die Grundlage des internationalen Treffens in Mailand im letzten Jahr.
Doch umnachtet durch ihre Invarianz benötigen die Bordigisten heute nichts von alledem mehr, weil… sie ja schon die Partei konstituiert haben („mikroskopisch klein, aber dennoch eine Partei“).
Aber ist dieser Aufruf damals nicht auch von der IKP unterzeichnet worden, werden sich naive Leser fragen? Ja,... aber es war damals nur die Internationalistische Kommunistische Partei und noch nicht die Internationale Kommunistische Partei – ein subtiler Unterschied. Aber war diese Internationale Kommunistische Partei nicht integraler Bestandteil der damaligen Internationalistischen Kommunistischen Partei, hat sie nicht gar behauptet, ihre Mehrheit zu sein? Ja.. aber, …aber …, aber…
Da wir gerade bei diesem Punkt sind: kann man ein für allemal erfahren, seit wann diese „tapfere, mikroskopische Partei“ besteht? Es ist heute Mode – aus welchen Gründen auch immer - zu bestätigen, daß die Partei erst im Jahre 1952 konstituiert wurde, und der oben zitierte Artikel besteht auf dieses Datum.(6) Jedoch werden in dem Artikel auch „fundamentale Texte“ von 1946 zitiert, die Plattform stammt aus dem Jahre 1945, andere grundlegende Texte aus den Jahren 1948, 1949 und 1951. Diese Texte, der eine so grundlegend wie der andere, von wem stammen sie genau? Von einer Partei, von einer Gruppe, von einer Fraktion, von einem Kern, von einem Embryo?
In Wirklichkeit konstituierte sich die IKP nach dem Sturz Mussolinis 1943 im Norden Italiens. Dann wurde sie ein zweites Mal nach der „Befreiung“ des Nordens von der deutschen Besatzung „rekonstituiert“; dies erlaubte den Gruppen, die sich in der Zwischenzeit im Süden gebildet hatten, sich in die im Norden bestehende Organisation zu integrieren. Um sich in diese Partei zu integrieren, beschloss die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken fast einstimmig, sich selbst aufzulösen. Diese Selbstauflösung wie auch die Proklamierung der „Partei“ lösten erbitterte Diskussionen und Polemiken in der GCI (Internationalen Kommunistischen Linken) aus, was in Frankreich zu einer Spaltung in der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken führte, in der nur eine Minderheit dieser Politik zustimmte und sich von der Mehrheit trennte. Die Mehrheit erklärte ihre Opposition gegen die vorschnelle Auflösung der Italienischen Fraktion, verurteilte die Proklamation der Partei in Italien kategorisch und öffentlich als willkürlich und voluntaristisch und wies auf die opportunistische politische Grundlage der neuen Partei hin. (7) Ende 1945 fand der erste Kongreß dieser Partei (IKP) statt. Er veröffentlichte eine politische Plattform und ernannte die zentrale Führung der Partei sowie ein internationales Büro, das aus Vertretern der IKP, der französischen und belgischen Sektion zusammengesetzt war. Der Artikel von Kommunistisches Programm bezieht sich auf „Elemente einer marxistischen Orientierung, unser Text aus dem Jahr 1946“. 1948 gab es noch mehr programmatische Texte der Partei, und weitere folgten. 1951 brach die erste Krise in der Partei aus, die in einer Spaltung kulminierte, die zwei IKPs hinterließ, von denen jede beanspruchte, in Kontinuität mit der alten Partei zu stehen, eine Behauptung, die Kommunistisches Programm nie aufgegeben hat.
Heute erfindet man ein neues Gründungsdatum der bordigistischen Partei. Warum? Kommt es daher, daß erst 1951 „unsere Strömung dank der Kontinuität ihres Kampfes dieses kritische Bewußtsein hat erreichen können, um eine Linie zu vertreten, die wahrhaft allgemein und nicht zufällig war“, so daß sie sich „als organisiertes, kritisches Bewußtsein, als handelnder militanter Organismus, als Partei konstituieren konnte“ (Kommunistisches Programm, Nr.18, „Auf dem Weg zu einer kompakten und mächtigen Partei von Morgen“, S. 15)? Aber wo waren dann die Bordigisten und Bordiga zwischen 1943/45 und 1951? Was wurde aus dem Programm, das seit 1848 unverändert geblieben war? War es während dieser Jahre abhanden gekommen, und mußten sie bis 1951 ausharren, um „das kritische Bewusstsein zu erlangen“, das ihnen erlaubte, die „Partei“ zu konstituieren? Aber waren sie nicht seit 1943/45 als Mitglieder, und zwar als führende Mitglieder, in der IKP organisiert? Es ist schwierig, sehr schwierig, über solch eine schwerwiegende Frage mit Leuten zu diskutieren, die alle ihre Begriffe durcheinanderbringen, die nicht zwischen dem Augenblick der Schwangerschaft und dem der Geburt unterscheiden können, die nicht wissen, wer sie selbst sind und in welchem Stadium sie sich befinden, die sich „Die Partei“ nennen und gleichzeitig die Notwendigkeit der Konstituierung der Partei vertreten. Wie kann man Leute ernst nehmen, die, je nachdem wie es ihnen in den Kram passt, den Zeitpunkt der Geburt auf 1943, 1945, 1952 oder gar auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft festlegen.
So wie mit dem Gründungsdatum der IKP verhält es sich auch mit der Links-Fraktion im Ausland. Entweder wird sie akzeptiert oder sie wird abgelehnt, je nachdem wie es passt. Doch welches Datum auch immer, was die Bildung der Partei angeht, „können (wir) auf Anhieb sagen, daß die Erlangung dieses kritischen Bewußtseins nicht von einer aufsteigenden Bewegung getragen wurde, sondern ganz im Gegenteil ihr weit vorausging." (Kommunistisches Programm, Nr.18, 5.15).
Dies scheint klar zu sein. Die Konstituierung der Partei wird keineswegs durch eine aufstrebende, wachsende Bewegung im Klassenkampf bestimmt, „sondern sie geht ihr im Gegenteil weit voraus“. Aber warum dann dieser Eifer, gleich hinzufügen, daß es darauf ankomme, „die wahre Partei (…) die kompakte und starke Partei aufzubauen, die wir noch nicht sind“? Kurz gesagt: eine Partei,...die die Partei vorbereitet! Mit anderen Worten, eine Partei, die keine ist. Aber warum ist diese Partei, die ein „vollendetes und invariantes“ Programm besitzt, die das notwendige kritische und organisatorische Bewußtsein erreicht hat - warum ist sie nicht die „wahre Partei“? Was fehlt ihr also? Sicher ist es keine Frage der Anzahl der Mitglieder, aber zu sagen, daß die „Partei im Bau“ anerkennt, daß sie sich „im Geburtsprozeß“ befindet und nicht vollendet ist, weil „die Klassenpartei stets im Bau ist, vom Tag ihres ersten Auftretens bis zum Moment ihres Verschwindens“ (Programm Communiste, Nr. 76, unsere Unterstreichungen), bedeutet ganz offensichtlich nur ein Jonglieren mit Worten; sie vermeidet es, die erforderlichen Antworten zu geben, indem sie die Fragen unter den Teppich kehrt. Es ist eine Sache zu sagen, daß der Eisprung Vorbedingung einer späteren Geburt ist, es ist allerdings eine andere Sache zu sagen, daß der Eisprung die eigentliche Geburt sei, die faktische Entstehung von Leben. Die geniale Originalität von Kommunistisches Programm besteht darin zu behaupten, daß beide ein und dasselbe sind. Mit solch einer Scheinargumentation kann man alles Mögliche, einschließlich der Quadratur des Kreises, beweisen. Die Notwendigkeit, die Partei konstant weiterzuentwickeln und zu stärken, wenn sie wirklich existiert, beweist nicht, daß sie bereits existiert, genauso wenig wie die Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Stärkung des Kindes beweist, daß das Ei schon ein Kind ist. Nur unter bestimmten präzisen Voraussetzungen kann aus dem Ei ein Kind werden. Die Problemstellung des einen unterscheidet sich stark von den Problemen, die sich dem anderen stellen.
Diese ganzen Spitzfindigkeiten über die Partei, die existiert, weil sie konstant im Bau ist, und über den ständigen Aufbau einer Partei, die bereits existiert, dienen dazu, verstohlen eine andere bordigistische Theorie einzuführen: die reale Partei und die formale Partei. Dies ist eine weitere Spitzfindigkeit, die zwischen der realen Partei, einem rein „historischen“ Phantom, das zwangsläufig nicht in der Realität existiert, und der formalen Partei unterscheidet, die tatsächlich in der Realität existiert, aber nicht zwangsläufig Ausdruck der realen Partei ist. In der bordigistischen Dialektik ist die Bewegung kein Zustand der Materie und somit etwas Materielles, sondern eine metaphysische Kraft, die die Materie schafft. So wird aus der Wendung im Kommunistischen Manifest: „die Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“ in der bordigistischen Weltanschauung: „die Konstituierung der Partei macht das Proletariat zur Klasse“. Das führt zu widersprüchlichen Schlußfolgerungen, die gleichzeitig auf die Scholastik der Argumentation hinweisen: Entweder bestätigt man entgegen jeder Vernunft, daß die Partei seit ihrem ersten Auftreten (sagen wir seit Babeuf und seit den Chartisten) nie zu existieren aufgehört hat, oder man geht von der offensichtlichen Tatsache aus, daß die Partei während längerer Zeiträume in der Geschichte nicht existiert hat, und man gelangt (wie Vercesi, Camatte) zur Schlußfolgerung, daß die Klasse dauernd oder zeitweilig verschwunden ist. Das einzige Beständige am Bordigismus ist sein Lavieren von einem scholastischen Pol zum nächsten.
Um mehr Klarheit zu erzielen, könnte man vielleicht die Frage auf eine andere Art stellen. Die Bordigisten definieren die Partei als eine Doktrin, als ein Programm und als eine Fähigkeit zur praktischen Intervention, als einen Willen zur Handlung. Diese etwas kurzgefaßte Definition der Partei wird heute durch ein anderes Postulat vervollständigt: Das Bestehen der Partei hängt nicht ab von einem gegebenen Zeitraum, ja muß im Gegenteil absolut unabhängig davon sein. Nun sagt man uns, daß von den beiden Grundlagen der Partei - das Programm und der Willen zum Handeln - die erste, das Programm, seit dem Kommunistischen Manifest 1848 vollendet und invariant ist. Hier stehen wir vor einem offensichtlichen Widerspruch: das Programm, die Essenz der Partei, ist vollendet, aber die Partei, die Materialisierung des Programms, befindet sich im unaufhörlichen Aufbau. Mehr noch: sie verschwindet zeitweise sogar ganz und gar. Wie ist das möglich und warum?
1852 löste sich der Bund der Kommunisten auf und verschwand. Warum? Haben die Gründer des Programms, Marx und Engels, das Programm aus den Augen verloren? Man könnte vielleicht gegen sie vorgeben, daß sie den Willen zur Handlung verloren haben, indem man auf die Spaltung, die von ihnen gegen die Minderheit (Willich-Schapper) arrangiert wurde, und auf ihre Anprangerung des voluntaristischen Aktionismus dieser Minderheit verweist. Aber hieße das nicht, von einer Absurdität zur nächsten, noch größeren Absurdität zu springen? Was bleibt uns also anders übrig, als diese Auflösung durch eine tiefgreifende Änderung der Situation zu erklären - ob es den Bordigisten paßt oder nicht? Engels, der wußte, worüber er sprach, erklärte das Verschwinden des Bundes so:
„Die Niederschlagung der Pariser Juni-Insurrektion von 1848 - dieser ersten großen Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie - drängte die sozialen und politischen Bestrebungen der Arbeiterklasse Europas zeitweilig wieder in den Hintergrund (...) Die Arbeiterklasse wurde beschränkt auf einen Kampf um politische Ellbogenfreiheit und auf die Position eines äußerlich linken Flügels der radikalen Bourgeoisie. Wo selbständige proletarische Bewegungen fortführen, Lebenszeichen von sich zu geben, wurden sie erbarmungslos niedergeschlagen (…) Sofort nach dem Urteilsspruch (des Prozesses der Kölner Kommunisten im Oktober 1852) wurde der Bund durch die noch verbliebenen Mitglieder formell aufgelöst.“ (MEW, Bd. 21, S. 353).
Diese Erklärung scheint unsere Bordigisten nicht zu überzeugen, die sie nur völlig überflüssig finden können, denn für sie hat sich die Partei nie wirklich aufgelöst – sie bestand in der Person von Marx und Engels fort. Um dies zu beweisen, zitieren sie aus einem skurrilen Auszug aus einem Brief von Marx an Engels, und wie jedes Mal wenn es ihnen zweckmäßig erscheint, machen sie aus einem Wort, aus einem Satzteil und selbst aus einem skurrilen Einfall in einem Brief eine absolute Wahrheit, ein invariantes und unwandelbares Prinzip.(8) Geschah zwischen der Auflösung des Bundes 1852 und der Geburt der Internationalen 1864 irgendetwas Relevantes für die Parteiexistenz? Gemäß den Bordigisten überhaupt nichts; das Programm blieb immer noch invariant, der Willen zur Handlung war vorhanden, Marx und Engels waren da und die Partei mit ihnen. Nichts, überhaupt nichts Wichtiges schien passiert zu sein. Das scheint aber nicht die Meinung Engels gewesen zu sein, der schrieb:
„Als die europäische Arbeiterklasse wieder genügend Kraft zu einem neuen Angriff auf die herrschende Klasse gesammelt hatte, entstand die Internationale Arbeiterassoziation.“ (MEW,Bd, 21, S.353) Wenn Kommunistisches Programm in seinem Artikel schreibt: „… die revolutionäre marxistische Partei (ist) nicht das Produkt der unmittelbaren Bewegung, d.h. der Aufstiegs- und Rückflußphasen...“ (S.20), verfälscht es entweder aus Unverständnis oder aus Absicht die Debatte, indem dieses kleine Wort „Produkt“ - im franz. Text unterstrichen - eingeführt wird. Selbstverständlich, die Notwendigkeit einer Partei resultiert nicht aus besonderen Situationen, sondern aus der allgemeinen historischen Lage der Klasse (dies lernt man im Grundkurs des Marxismus und erfordert keine großen Kenntnisse). Die Kontroverse geht nicht darum, sondern darum, ob die Existenz der Partei an die Wechselfälle des Klassenkampfes gebunden ist oder nicht, ob spezifische Bedingungen notwendig sind, damit die Revolutionäre tatsächlich - und nicht nur in Worten - die Rolle erfüllen können, die der Partei obliegt. Es reicht nicht aus zu sagen, daß ein Kind ein menschliches Produkt ist, um daraus zu folgern, daß die notwendigen Lebensbedingungen - Luft zum Atmen, Lebensmittel zur Ernährung, Fürsorge durch andere - gegeben sind. Ohne diese Bedingungen ist das Kind unwiderruflich zum Tode verurteilt. Partei zu sein heißt, wirksam zu intervenieren, eine wachsende Wirkung, einen wirklichen Einfluß auf den Klassenkampf zu haben, und dies ist nur möglich, wenn der Klassenkampf sich im Anstieg befindet. Darin liegt der Unterschied zwischen der Partei und ihrer realen Existenz sowie der Fraktion oder Gruppe. Das hat die IKP noch nicht verstanden und will es auch nicht verstehen.
Der Bund der Kommunisten konstituierte sich zu einer Zeit des wachsenden Klassenkampfes, der der Welle von revolutionären Kämpfen 1848 vorausging, und er verschwand, wie Engels‘ Zitat gezeigt hat, mit der Niederlage und dem Zurückweichen des Klassenkampfes. Dies ist keine vorübergehende, sondern eine allgemeine Tatsache, die sich in der ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung bewahrheitet hat, und es konnte auch nicht anders sein. Die Erste Internationale entstand, „als die europäische Arbeiterklasse wieder genügend Kraft zu einem neuen Angriff auf die herrschende Klasse gesammelt hatte“ (Engels). Und wir können uns voll und ganz den Worten des Berichterstatters des Generalrates auf dem Ersten Kongreß der Internationale anschließen, der auf die Angriffe der bürgerlichen Presse antwortete: „Nicht die Internationale hat die Streiks der Arbeiter ausgelöst, sondern es sind die Arbeiterstreiks, die der Internationale solche Stärke verleihen.“ Wie der Bund der Kommunisten überlebte auch die Internationale nicht lange die blutige Niederlage der Pariser Kommune. Sie brach kurz darauf zusammen, trotz der Präsenz von Marx und Engels und des „vollendeten und invarianten“ Programms.
Um das Gegenteil dessen zu beweisen, was wir gerade festgestellt haben, versucht der Artikel vergeblich zurückzugreifen auf: „…konkrete Belege (...), daß es ganze Gebiete (wie England oder Amerika) gab, wo ausgesprochen heftige Kämpfe stattgefunden haben, obwohl die Partei überhaupt nicht existierte“ (Kommunistisches Programm, S. 20). Hier handelt es sich um ein Argument, das überhaupt nichts beweist, außer die Tatsache, daß es keine mechanische Verbindung zwischen den Kämpfen der Klasse und der Absonderung einer Partei gibt bzw. daß andere Faktoren bestehen, die dem Prozeß der Konstituierung der Partei entgegenwirken; daß im allgemeinen eine Kluft zwischen den objektiven und den subjektiven Bedingungen, zwischen dem Sein und der Entwicklung von Bewusstsein besteht. Wenn das Argument Gültigkeit haben soll, dann muss Kommunistisches Programm Fälle zitieren, die das Gegenteil beweisen, d.h. Beispiele, wo die Partei sich außerhalb von Ländern und Perioden konstituiert hat, in denen der Kampf auf dem aufsteigenden Ast war. Doch es gibt keine Beispiele. Das einzige Beispiel (überflüssig, über die trotzkistische IV. Internationale zu reden), das sie aufführen können, ist die IKP. Aber das ist eine andere Geschichte, die Geschichte mit der Maus, die so groß sein wollte wie der Elefant. Die IKP war niemals eine Partei, außer dem Namen nach.
Nach den Beispielen des Bundes der Kommunisten und der Ersten Internationalen gibt es noch das Beispiel der II. Internationalen und ihres ehrlosen Niedergangs und, noch schlimmer, das Beispiel der Gründung der III. Internationalen und ihres würdelosen Endes im Stalinismus. Diese Beispiele sind eine eindeutige Bestätigung der von der Italienischen Fraktion vertretenen These, eine These, der wir voll und ganz beipflichten: die Unmöglichkeit, die Partei in einer Periode des zurückweichenden Klassenkampfes zu konstituieren.(9) Ganz anders lautet natürlich die Vorstellung von Kommunistisches Programm: die Rekonstituierung der Partei müsse stattfinden, „bevor das Proletariat aus dem Abgrund, in dem es hinabgestürzt war, wiederaufsteigt. Es muss festgestellt werden, daß diese Wiedergeburt zwangsläufig, wie dies stets der Fall gewesen war, diesem Wiederaufleben des Proletariats vorausgeht“ (S.17).
Man versteht, warum der Artikel sich mit solch einem Nachdruck auf Lenins Was tun? bezieht, vor allem auf den Teil über das gewerkschaftliche Bewußtsein der Arbeiterklasse. Denn was der ganzen Argumentationskette in dem Artikel zugrunde liegt, ist nicht so sehr eine Überschätzung der Rolle der Partei und die dem Bordigismus eigentümliche Neigung zum Größenwahn, sondern eine himmelschreiende Unterschätzung der Fähigkeit der Klasse, bewusst zu werden, ein tiefer Mangel an Vertrauen in die Klasse, ein kaum verhülltes Mißtrauen gegen die Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit, die Welt zu verstehen:
„Wenn die Zukunft, die von der Partei wissenschaftlich vorausgesehen wird, für uns Materialisten gewiss und unvermeidlich ist, so wird dies nicht durch irgendeine ‚Reifung‘ des Bewusstseins in der Klasse über ihre historische Mission bestimmt, sondern weil die Arbeiterklasse von objektiven Determinanten gedrängt wird, bevor sie es weiß und ohne zu wissen, wie man für den Kommunismus kämpft.“ (S.21, Nr.18, Kommunistisches Programm)
Im Artikel findet man durchweg diese misstrauischen Komplimente für die Arbeiterklasse: eine rohe und abgestumpfte Masse, die ohne zu wissen und ohne zu verstehen handelt, die aber glücklicherweise von einer Partei geführt wird, die alles versteht, ja die das personifizierte Verständnis ist. Man gestatte uns, diesem erstickenden Misstrauen die frische Luft des Urteils des alten Engels gegenüberzustellen:
„Für den schließlichen Sieg der im 'Manifest' aufgestellten Sätze verließ sich Marx einzig und allein auf die intellektuelle Entwicklung der Arbeiterklasse, wie sie aus der vereinigten Aktion und der Diskussion notwendig hervorgehen mußte.“ (Vorrede für das Kommunistische Manifest, vierte deutsche Ausgabe, London, I. Mai 1890).
Jeder Kommentar erübrigt sich. Fahren wir fort. Gemäß der bordigistischen Vorstellung erfordert die Rekonstituierung der Partei - die vollständig losgelöst von den konkreten Bedingungen ist - die theoretische Reife und den Willen zum Handeln. So fällt der Artikel folgendes Urteil über die Fraktion
„Wenn (die Fraktion) noch nicht die Partei, sondern erst ihr Vorspiel war, so nicht mangels praktischer Aktivitäten, sondern eher infolge der Unzulänglichkeit ihrer theoretischen Arbeit.“ (S.25)
Gut, das ist ihr Urteil. Aber was versteht der Artikel unter ausreichender theoretischer Arbeit? Zweifellos die Wiederherstellung, die Wiederaneignung, die Konservierung des vollendeten und invarianten Programms. Vor allem aber ohne die Positionen der Vergangenheit zu überprüfen, ohne eine Antwort auf die neuen Probleme zu suchen. Dies ist die Art von Arbeit, die der Artikel der Fraktion vorwirft, dies ist es, was er als ihre größte Schwäche ansieht. Diese Museumskonservatoren, die ihre eigene Sterilität zum Ideal erhoben haben, würden gern glauben machen, daß Lenin genau wie sie niemals etwas anderes gemacht hatte, als die vollendete Theorie von Marx zu „restaurieren“. Vielleicht könnten sie einmal darüber nachdenken , was Lenin zur Frage der Theorie gesagt hat :
„Wir betrachten die Theorie von Marx keineswegs als etwas Abgeschlossenes und Unantastbares: wir sind im Gegenteil davon überzeugt, daß sie nur das Fundament der Wissenschaft gelegt hat, die die Sozialisten nach allen Richtungen weiterentwickeln müssen (von Lenin unterstrichen), wenn sie nicht hinter dem Leben zurückbleiben wollen.“.
Der Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, nennt sich… „Unser Programm“.
Und wie messen unsere Päpste des Marxismus den Grad der theoretischen Reife? Gibt es irgendwelche festgelegten Maßstäbe? Um nicht willkürlich vorzugehen, müssen auch die Maßstäbe gemessen werden, und es gibt keinen besseren Weg, dies zu tun, als diese theoretische Reife im Licht der konkreten Positionen, die man vertritt, zu verifizieren.
Wenn man durch dieses Mittel die Reife messen kann und wenn dies das Hauptkriterium für die Bildung der Partei ist, dann können wir ruhig, aber mit aller notwendigen Überzeugung sagen, daß die Bordigisten die Partei nicht 1943, auch nicht 1945 und vor allem aber nicht 1952 hätten konstituieren sollen, sondern daß sie besser bis zum Jahr 2000 gewartet hätten. Jeder hätte dabei gewonnen, vor allem sie selbst.
Wir können noch nicht sagen, wie sich die kompakte und starke Partei von morgen bilden wird, aber was schon heute feststeht, ist, daß die IKP es nicht sein wird. Das Drama des Bordigismus ist, das sein zu wollen, was er nicht ist, die Partei, und das nicht sein zu wollen, was er ist: eine politische Gruppe. So erfüllt die IKP nicht - außer in Worten - die Funktionen der Partei, weil sie sie nicht erfüllen kann, und verwirklicht auch nicht die Aufgaben einer politischen Gruppe - die in ihren Augen belanglos sind. Wenn man ihre politische Reife an ihren Positionen mißt und dabei ihre Entwicklung beobachtet, dann sieht es ganz danach aus, daß sie niemals ihr Ziel erreichen wird, denn mit jedem Schritt vorwärts macht sie gleichzeitig zwei oder drei Schritte zurück.
M.C.
FUSSNOTEN :
(1) Diesen Artikel gibt es in deutscher Sprache in Kommunistisches Programm, Nr.18, Mai 1978.Soweit die deutsche Übersetzung der IKP mit dem Originaltext übereinstimmte, haben wir diese Version verwendet. Andernfalls haben wir selbst den Originaltext übersetzt.
(2) Programme Communiste, Nr.76, 5.5. Dieser Satz ist in der deutschen Übersetzung nicht zu finden.
(3) Bilan, Nr.1, Vorwort, S.3.
(4) Ebenda.
(5) Siehe unseren Artikel "Terror, Terrorismus und Klassengewalt" in dieser Nummer, in dem dieses Thema ausführlich behandelt wird.
(6) Der Proletarier (franz. Ausgabe "Le Proléaire" vom 8/21 April 1978, Nr. 264) drückt sich noch deutlicher aus: „...die charakteristischen Thesen aus dem Jahre 1951, die den Geburtsakt und die Zugehörigkeitsgrundlagen darstellen...“
(7)) Siehe L'Etincelle und Internationalisme, Publikationen der Linkskommunisten Frankreichs bis 1952.
(8) Es ist höchste Zeit, diesem unglaublichen Mißbrauch ein Ende zu setzen, den manche mit Zitaten betreiben, indem sie mit ihnen alles Mögliche ausdrücken wollen. Dies trifft besonders auf die Bordigisten hinsichtlich der Vorstellung von Marx über die Partei zu. Es wäre möglicherweise lohnenswert, sie aufzufordern, über diesen irgendwie überraschenden und rätselhaften Satz im Kommunistischen Manifest nachzusinnen und ihn zu deuten: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien.“ (Kapitel II, "Proletarier und Kommunisten").
(9) Es ist übrigens bekannt, daß Bordiga sich zumindest sehr widerstrebend an der Konstituierung der Partei beteiligte und daß er nur widerwillig dem ihm gegenüber von allen Seiten ausgeübten Druck nachgegeben hat, sich ihr anzuschließen. Vercesi dagegen wartete nicht lange, bis er die Richtigkeit der Parteibildung öffentlich in Frage stellte. Aber wer A sagt, muß auch B sagen. Man kann ein Widerhall seiner Zurückhaltung in dem „Vorentwurf der Prinzipienerklärung für das Internationale Büro der (neuen) internationalen Kommunistischen Linken“ finden, den er entworfen und in Belgien Ende 1946 veröffentlicht hat. Darin kann man lesen: „Der Prozeß der Umwandlung der Fraktionen in eine Partei wurde von der kommunistischen Linke in seinen großen Linien nach einem Schema festgelegt, das besagt, daß die Partei erst dann in Erscheinung treten kann, wenn die Arbeiter Kampfbewegungen begonnen haben, welche den Rohstoff zur Machteroberung liefern.“ (Kommunistisches Programm, S. 24)
Einleitung:
Die eindrucksvollen, ideologischen Kampagnen der europäischen Bourgeoisie zum Thema Terrorismus (die Schleyer-Entführung in Deutschland, die Moro-Affäre in Italien) - Feigenblätter, die die massive Stärkung des Staates des bürgerlichen Staates verdecken sollen - haben das Problem der Gewalt, des Terrors und Terrorismus in den Fokus der Revolutionäre gerückt. Diese Fragen sind nicht neu für Kommunisten. Jahrzehntelang haben sie die barbarischen Methoden angeprangert, die von der Bourgeoisie benutzt wurden, um ihre Macht über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die Brutalität, die selbst die demokratischsten Regimes bei der leisesten Bedrohung gegen die herrschende Ordnung entfesselten. Sie waren in der Lage gewesen zu betonen, dass die gegenwärtigen Kampagnen nicht wirklich den Mückenstichen einer Handvoll verzweifelter Elemente aus dem zerfallenden Kleinbürgertum galten, sondern der Arbeiterklasse, deren zwangsläufig gewaltsame Revolte die einzig ernsthafte Bedrohung für den Kapitalismus darstellt.
Die Rolle der Revolutionäre lag somit darin, diese Kampagnen als das zu entlarven, was sie sind, und gleichermaßen die stupide Unterwürfigkeit der linken Gruppen klar herauszustellen, die, wie z.B. einige trotzkistische Gruppen, ihre Zeit damit verbringen, die „Roten Brigaden“ anzuprangern, weil diese Aldo Moro „ohne ausreichende Beweise“ und „ohne Zustimmung der Arbeiterklasse“ verurteilt hätten. Wenn die Revolutionäre den bürgerlichen Terror verurteilen und die Notwendigkeit der Gewaltanwendung bei der Zerstörung des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse bejahen, müssen sie sich gleichzeitig besonders klar sein über:
- die wahre Bedeutung des Terrorismus und
- die zukünftige Form der von der Arbeiterklasse ausgeübten Klassengewalt in ihrem Kampf gegen die Bourgeoisie.
Und hier muss gesagt werden, dass es selbst in Organisationen, die Klassenpositionen vertreten, eine Reihe von irrigen Auffassungen geben kann, die Gewalt, Terror und Terrorismus als synonym betrachten und davon ausgehen:
- dass es einen „Arbeiterterrorismus“ geben kann;
- dass die Arbeiterklasse dem weißen Terror der Bourgeoisie ihren eigenen „revolutionären Terror“ entgegenstellen muss, der gewissermaßen die Symmetrie zu Ersterem herstellt.
Wahrscheinlich ist es die bordigistische Internationale Kommunistische Partei (IKP - Kommunistisches Programm), die sich am nachdrücklichsten zum Sprachrohr dieser Art von Konfusionen gemacht hat, denn sie schreibt:
"Vom Stalinismus verwerfen die Marchais‘ und Pelikans nur die revolutionären Aspekte - die Einheitspartei, die Diktatur, den Terror -, die sie von der proletarischen Revolution geerbt hatten." (Aus: Programme Communiste, Nr.76, S. 87).
So ist für diese Organisation der Terror, selbst wenn er vom Stalinismus benutzt wurde, dem Wesen nach revolutionär, und können die Methoden der proletarischen Revolution mit den Methoden der schlimmsten Konterrevolution, die jemals die Arbeiterklasse getroffen hat, identisch sein.
Außerdem neigte die IKP zur Zeit der Baader-Affäre dazu, die terroristischen Taten Baaders und seiner Gefährten als Vorbote der zukünftigen Gewalt der Arbeiterklasse darzustellen, trotz der Vorbehalte gegenüber diesen ausweglosen Aktionen. So steht in Le Prolétaire, Nr. 254: "In diesem Geiste haben wir mit Sorge den tragischen Epos Andreas Baaders und seiner Gefährten verfolgt, die an dieser Bewegung teilgenommen haben, einer Bewegung der langsamen Anhäufung der Voraussetzungen für das proletarische Wiedererwachen." Und etwas weiter: „Der proletarische Kampf wird weitere Märtyrer erleben…"
Schließlich taucht die Idee eines „Arbeiterterrorismus“ offen an einigen Stellen auf: „Kurzum, um revolutionär zu sein, genügt es nicht, die Gewalt und den Terror der bürgerlichen Staaten zu verurteilen, man muss auch die Gewalt und den Terrorismus als unabdingbare Waffen der Befreiung des Proletariats einfordern“ (Le Proletaire, Nr. 253).
Entgegen solcher Konfusionen versucht der nachfolgende Text über die bloßen lexikalischen Definitionen und den Sprachmissbrauch, den manche Revolutionäre in der Vergangenheit gelegentlich begangen haben, hinauszugehen und die unterschiedlichen Klasseninhalte von Terrorismus, Terror und Gewalt, insbesondere der Gewalt, die die Arbeiterklasse für die Verwirklichung ihrer Befreiung gebrauchen wird, zu ermitteln.
KLASSENGEWALT UND PAZIFISMUS
Den Klassenkampf anzuerkennen bedeutet, die Gewalt direkt als eines seiner grundlegenden und ihm innewohnenden Elemente zu akzeptieren. Die Existenz von Klassen heißt, dass die Gesellschaft durch antagonistische Interessen, durch unversöhnliche Konflikte zerrissen ist. Die Klassen gründen sich auf der Basis dieser Antagonismen. Die zwischen den Klassen bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen sind deshalb zwangsläufig Verhältnisse des Widerstands und der Antagonismen, d.h. des Kampfes.
Das Gegenteil vorzutäuschen, zu behaupten, dass man diesen Sachverhalt durch den guten Willen, durch die Zusammenarbeit und die Harmonie zwischen den Klassen überwinden kann, hieße, sich außerhalb der Realität zu stellen, und wäre vollkommen utopisch.
Dass die ausbeutenden Klassen sich zu solchen Illusionen bekennen und sie verbreiten, ist nichts Überraschendes: Sie sind „von Natur aus“ davon überzeugt, dass gar keine andere Gesellschaft, keine bessere Gesellschaft existieren kann als die Gesellschaft, in der sie die herrschende Klasse sind. Diese absolute, blinde Überzeugung wird ihnen durch ihre Interessen und Privilegien diktiert. Ihre Klasseninteressen und Klassenprivilegien stimmen mit dem Typ der Gesellschaft überein, die sie beherrschen; sie haben also ein Interesse daran, den beherrschten und ausgebeuteten Klassen zu predigen, auf ihren Kampf zu verzichten, die bestehende Ordnung zu akzeptieren, sich den „historischen Gesetzen“ zu unterwerfen, die die Herrschenden als unveränderlich ausgeben. Diese herrschenden Klassen sind somit einerseits objektiv borniert, beschränkt und unfähig, die Dynamik des Klassenkampfes der unterdrückten Klassen zu verstehen. Andererseits sind sie subjektiv im höchsten Grade daran interessiert, die beherrschten Klassen zur Aufgabe jeder Kampfbereitschaft zu bewegen, indem sie ihren Willen durch alle möglichen Mystifikationen brechen.
Aber die ausbeutenden Klassen sind nicht die einzigen, die solch eine Einstellung gegenüber dem Klassenkampf haben. Gewisse Strömungen haben es für möglich gehalten, den Klassenkampf zu vermeiden, indem sie an die Intelligenz und das Verständnis von Menschen guten Willens appellierten, um eine harmonische und brüderliche Gesellschaft der Gleichen zu schaffen. Dies war beispielsweise der Fall bei den Utopisten zu Anfang des Kapitalismus. Im Gegensatz zur Bourgeoisie und ihren Ideologen hatten die Utopisten kein Interesse, den Klassenkampf zu vertuschen, um die Privilegien der herrschenden Klassen zu erhalten. Wenn sie den Klassenkampf umgingen, dann nur deshalb, weil sie die historischen Gründe für die Existenz von Klassen nicht verstanden. Hierin drückte sich eine Unreife im Verständnis der Realität aus, einer Realität, die bereits den Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie beinhaltete. Obwohl sie das unvermeidliche Hinterherhinken des Bewusstseins gegenüber dem Sein ausdrücken, sind sie das Produkt der ersten theoretischen Gehversuche der Klasse, der Bemühungen der Klasse, zum Bewusstsein zu gelangen. Deshalb werden sie mit vollem Recht als die Vorläufer der sozialistischen Bewegung betrachtet, als bedeutender Beitrag zu der Bewegung, die später mit dem Marxismus eine wissenschaftliche und historische Grundlage erlangte.
Mit den humanistischen, pazifistischen oder ähnlichen Bewegungen, die seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufgeblüht sind und die damit prahlen, den Klassenkampf nicht zur Kenntnis zu nehmen, verhält es sich ganz anders. Sie leisten überhaupt keinen Beitrag zur Befreiung der Menschheit. Sie sind schlicht der Ausdruck der kleinbürgerlichen Klassen und Schichten, die historisch anachronistisch und machtlos sind und in der modernen Gesellschaft, im Kampf zwischen dem Kapital und dem Proletariat zermalmt werden. Ihre Klassen übergreifende, gegen den Klassenkampf gerichtete Ideologie ist das Lamentieren einer todgeweihten Klasse, die weder im Kapitalismus noch in der Gesellschaft, die das Proletariat etablieren wird, eine Zukunft hat. Sie sind erbärmlich und lächerlich, ihre Ideen und ihre politischen Verhaltensweisen, ihr Wehklagen, ihre Gebete und absurden Illusionen können allenfalls den Weg und den Willen des Proletariats behindern. Aus dem gleichen Grunde sind sie im hohen Maße vom Kapitalismus, der alles, was er zu fassen kriegt, als eine Waffe der Mystifikation nutzt, verwendbar und werden auch von ihm verwendet.
Die Existenz der Klassen, des Klassenkampfes beinhaltet zwangsläufig Klassengewalt. Nur jämmerliche Waschlappen und ausgemachte Schwindler (wie die Sozialdemokraten) können dies leugnen. Im Allgemeinen ist die Gewalt ein Kennzeichen des Lebens; man findet sie in der gesamten Entwicklung des Lebens vor. Jede Handlung beinhaltet ein gewisses Maß an Gewalt, da sie das Erzeugnis einer dauernden Störung des Gleichgewichts ist, die aus dem Aufeinandertreffen entgegengesetzter Kräfte resultiert. Die Gewalt ist in den ersten Menschengruppen präsent; sie drückt sich nicht notwendigerweise in der Form offener, physischer Gewalt aus. Gewalt bedeutet alles, was eine Auferzwingung, einen Zwang, die Durchsetzung eines entsprechenden Kräfteverhältnisses, eine Drohung beinhaltet. Gewalt bedeutet die Zuhilfenahme von physischer oder psychischer Aggression, aber sie existiert auch, wenn eine bestimmte Situation oder Entscheidung durch die bloße Tatsache erzwungen wird, dass die Mittel zu einer solchen Aggression zur Verfügung stehen, selbst wenn diese Mittel faktisch nicht benutzt werden. Doch während Gewalt in der einen oder anderen Form existiert, sobald sich etwas regt oder lebt, macht die Spaltung der Gesellschaft in Klassen die Gewalt zu einer der Hauptgrundlagen von gesellschaftlichen Verhältnissen, die im Kapitalismus infernalische Ausmaße annehmen.
Jedes System der Ausbeutung von Klassen gründet seine Macht auf Gewalt, auf eine ständig wachsende Gewalt, die dazu tendiert, zum Hauptpfeiler zur Aufrechterhaltung des gesamten sozialen Gebildes zu werden. Ohne sie würde die Gesellschaft sofort zusammenbrechen. Als ein zwangsläufiges Produkt der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere wird die Gewalt, die in ihrer ausgereiften Form im Staat organisiert, konzentriert und institutionalisiert ist, dialektisch zu einer grundsätzlichen Vorbedingung für die Existenz einer ausbeuterischen Gesellschaft. Dieser immer blutigeren und mörderischeren Gewalt der ausbeutenden Klassen können die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen nur mit ihrer eigenen Gewalt begegnen, wenn sie sich befreien wollen. An die „menschlichen“ Gefühle der ausbeutenden Klassen zu appellieren, wie es die Religiösen à la Tolstoi und Gandhi oder die Sozialisten, jene Wölfe im Schafspelz, getan haben, hieße, an Wunder zu glauben; es hieße, die Wölfe zu bitten, nicht mehr Wölfe zu sein um sich in Lämmer zu verwandeln. Es hieße, die Kapitalistenklasse zu bitten, nicht mehr Kapitalistenklasse zu sein, um sich in die Arbeiterklasse zu verwandeln.
Die Gewalt der ausbeutenden Klassen ist dem Wesen dieser Klasse immanent; ihr kann nur durch die revolutionäre Gewalt der unterdrückten Klassen ein Ende gesetzt werden. Dies zu verstehen, es vorherzusehen, sich darauf vorzubereiten, sie zu organisieren ist nicht nur eine entscheidende Vorbedingung für den Sieg der unterdrückten Klassen, sondern es garantiert auch den Sieg mit dem geringsten Leid. Jeder, der die geringsten Zweifel und Bedenken daran hat, ist kein Revolutionär.
DIE GEWALT DER AUSBEUTENDEN UND HERRSCHENDEN KLASSEN: TERROR
Wir haben gesehen, dass Ausbeutung ohne Gewalt undenkbar ist, dass beide organisch, untrennbar miteinander verbunden sind. Obgleich man sich Gewalt außerhalb von Ausbeutungsverhältnissen vorstellen kann, kann die Ausbeutung nur mit und durch Gewalt verwirklicht werden. Das eine verhält sich zum anderen wie die Lungen zur Atemluft - die Lungen können nicht ohne Sauerstoff funktionieren.
Wie der Kapitalismus beim Übergang zum Imperialismus erreicht auch die mit der Ausbeutung verbundene Gewalt eine neue und besondere Qualität. Sie ist nicht mehr eine zufällige oder zweitrangige Tatsache, sondern wird zu einem dauerhaften Zustand in allen Bereichen des Gesellschaftslebens. Sie durchtränkt alle Beziehungen, dringt in alle Poren der Gesellschaft sowohl auf allgemeiner Ebene als auch in sogenannten persönlichen Beziehungen ein. Ausgehend von der Ausbeutung und ihrem Bedürfnis nach Unterwerfung der produzierenden Klasse zwingt sich die Gewalt allen Beziehungen zwischen den Klassen und Schichten der Gesellschaft auf; den Beziehungen zwischen den industrialisierten und unterentwickelten Ländern, zwischen den industrialisierten Ländern selber, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen den Individuen, zwischen Regierenden und Regierten. Sie spezialisiert, strukturiert, organisiert und konzentriert sich in einem abgesonderten Organismus: im Staat mit seinen Armeen, seiner Polizei, seinen Gefängnissen, seinen Gesetzen, seinen Beamten und Folterknechten, und dieser Organismus neigt dazu, sich über die Gesellschaft zu erheben und sie zu dominieren.
Um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sicherzustellen, wird die Gewalt zur ersten Handlung der Gesellschaft, die ihr einen ständig steigenden Teil ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Mittel widmet. Die Gewalt erlangt den Status eines Kultes, einer Kunst, einer Wissenschaft. Eine Wissenschaft, die nicht nur auf die militärische „Kunst“ angewendet wird, auf die Waffentechnik, sondern auf alle Bereiche und Ebenen, auf die Organisierung von Konzentrationslagern, auf die Einrichtung von Gaskammern, die „Kunst“ der schnellen und massiven Auslöschung ganzer Bevölkerungen, die Schaffung von wahren Universitäten der wissenschaftlichen und psychologischen Folter, in denen eine Unzahl von Folterern Diplome erwerben und ihre Fertigkeiten verfeinern kann. Eine Gesellschaft, die nicht nur, wie Marx feststellte, „Kot und Blut aus allen Poren schwitzt“, sondern die außerhalb einer vergifteten Atmosphäre von Kadavern, Tod, Zerstörung, Massakern, Leid und Folter weder leben noch atmen kann. In solch einer Gesellschaft potenziert sich die Gewalt unendlich und ändert ihre Qualität - Gewalt wird zu Terror.
Von der Gewalt im allgemeinen zu sprechen, ohne sich auf die konkreten Bedingungen zu beziehen, auf die historischen Epochen, auf die Klassen, die sie ausüben, heißt, nichts vom wahren Gehalt der Gewalt zu verstehen, der aus ihr eine unterschiedliche und spezifische Qualität in ausbeuterischen Gesellschaften macht. Auch versteht man nicht den Grund dieser grundlegenden Umwandlung der Gewalt zu Terror, wenn man sie auf eine Frage der simplen Quantität reduziert. Wenn man diesen qualitativen Unterschied zwischen Gewalt und Terror nicht begreift, begeht man den gleichen Fehler wie jener, der, wenn er von der Ware spricht, zwischen der Antike und dem Kapitalismus nur einen quantitativen Unterschied sieht und nicht den grundlegend qualitativen Unterschied zwischen den beiden Produktionsformen.
In dem Maße wie die in antagonistische Klassen gespaltene Gesellschaft sich weiterentwickelt, wird die Gewalt in den Händen der ausbeutenden und herrschenden Klasse einen neuen Charakter annehmen: den Terror. Der Terror ist keine Eigenschaft und auch kein Mittel von revolutionären Klassen zur Durchführung ihrer Revolution. Es ist eine sehr oberflächliche und rein formale Vorstellung, den Terror als die revolutionäre Tat par excellence zu glorifizieren. Auf diese Weise gelangt man zur folgenden Maxime: „Je stärker der Terror, desto tiefgreifender und radikaler ist die Revolution.“ Dies wird jedoch durch die Geschichte vollständig widerlegt. Die Bourgeoisie hat den Terror ihre ganze Existenz hindurch, und nicht nur in Zeiten ihrer Revolution (1848 und die Pariser Commune 1871), benutzt und perfektioniert. Der Terror erreichte aber genau dann seinen Höhepunkt, als der Kapitalismus in die Dekadenz eintrat. Der Terror ist nicht der Ausdruck des revolutionären Wesens und Handelns der Bourgeoisie zur Zeit ihrer Revolution, selbst wenn er in der bürgerlichen Revolution gelegentlich spektakuläre Formen annahm. Er ist vielmehr ein Ausdruck ihres Wesens als Ausbeuterklasse, die wie jede ausbeutende Klasse ihre Herrschaft nur auf Terror stützen kann. Die Revolutionen, die den Übergang von einer ausbeuterischen Gesellschaft zur nächsten sicherstellten, waren keineswegs die Vorläufer des Terrors, sondern übertrugen lediglich den Terror von einer ausbeuterischen Klasse auf die nächste. Die Bourgeoisie perfektionierte und verstärkte ihren Terror nicht, um die alte herrschende Klasse loszuwerden, sondern vielmehr, um ihre Herrschaft über die Gesellschaft im allgemeinen und gegen die Arbeiterklasse im besonderen zu behaupten. Der Terror in der bürgerlichen Revolution war daher kein Endpunkt, sondern eine Fortsetzung, weil die neue Gesellschaft eine Fortsetzung der Gesellschaften der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist. Die Gewalt in den bürgerlichen Revolutionen ist nicht das Ende der Unterdrückung, sondern ihre Fortsetzung. Deshalb konnte sie nur die Form des Terrors annehmen.
Zusammenfassend können wir den Terror als eine Gewalt definieren, die spezifisch ist für die ausbeutenden Klassen. Er wird nur verschwinden, wenn sie verschwinden. Seine besonderen Kennzeichen sind:
1. organisch an die Ausbeutung gebunden zu sein und zu ihrer Durchsetzung gebraucht zu werden;
2. die Tat einer privilegierten Klasse zu sein;
3. die Tat einer Klasse zu sein, die gesellschaftlich in der Minderheit ist;
4. die Tat eines spezialisierten Organismus zu sein, der streng ausgewählt wurde, in sich selbst abgeschlossen ist und dazu neigt, sich jeder Kontrolle der Gesellschaft zu entziehen;
5. sich endlos zu reproduzieren und zu perfektionieren, sich auf alle Bereiche, auf alle gesellschaftlichen Beziehungen auszudehnen;
6. keine andere Daseinsberechtigung zu haben als die Unterwerfung und Niederschlagung der menschlichen Gemeinschaft;
7. feindliche Gefühle und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln: Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus und andere Monstrositäten;
8. egoistische Gefühle und Verhaltensweisen zu entwickeln, sadistische Aggressivität, Rachegefühle, einen endlosen Kleinkrieg aller gegen alle zu entfachen, was die ganze Gesellschaft in einen Zustand des Terrors stürzt.
DER TERRORISMUS DER KLEINBÜRGERLICHEN KLASSEN UND SCHICHTEN
Die kleinbürgerlichen Klassen (Bauern, Handwerker, kleine Geschäftsleute, freiberuflich Tätige, Intellektuelle) bilden keine grundlegende Klasse in der Gesellschaft. Sie weisen weder eine spezifische Produktionsweise auf, noch bieten sie ein Gesellschaftsprojekt an. In marxistischen Begriffen betrachtet, sind sie keine historische Klasse. Sie sind die am wenigsten homogene Gesellschaftsklasse. Selbst wenn ihre oberen Ränge ihre Einkommen aus der Ausbeutung fremder Arbeitskraft beziehen und somit zu den Privilegierten gehören, sind sie in ihrer Gesamtheit der Herrschaft der Kapitalistenklasse unterworfen, die ihnen ihre Gesetze aufzwingt und sie unterdrückt. Sie haben keine Zukunft als Klasse. In ihren oberen Rängen besteht das Größte, wonach sie streben können, darin, individuell in die Kapitalistenklasse aufzusteigen. Die unteren Schichten sind unerbittlich dazu verurteilt, jegliches „unabhängige“ Eigentum an Produktionsmittel zu verlieren und sich zu proletarisieren. Die übergroße Mehrheit ist zum Dahinvegetieren verurteilt und wird ökonomisch sowie politisch von der Herrschaft der Kapitalistenklasse aufgerieben. Ihr politisches Verhalten wird durch das Kräfteverhältnis zwischen den beiden grundlegenden Klassen, den Kapitalisten und dem Proletariat, bestimmt. Ihr aussichtsloser Widerstand gegen die erbarmungslosen Gesetze des Kapitals führt sie zu einer fatalistischen und passiven Verhaltens- und Denkweise. Ihre Ideologie ist das individualistische „Rette-sich-wer-kann“; kollektiv gibt sie sich auf der Suche nach einem jämmerlichen Trost in unfähigen und lächerlichen humanistischen und pazifistischen Predigten allen Arten von pathetischen Wehklagen hin.
Materiell niedergeschlagen, ohne irgendeine Zukunft und sich im Kleingeist suhlend, sind sie in ihrer Verzweiflung ein leichtes Opfer für all die Mystifikationen, angefangen von den pazifistischen (religiöse Sekten, Naturalisten, Gewaltlose, Atombombengegner, Hippies, Umweltschützer, Kernkraftwerkgegner) bis zu den blutrünstigsten Elementen (Schwarzhundertschaften, Pogromisten, Rassisten, Ku-Klux-Klan, faschistische Banden, Gangster und Söldner aller Art). Es sind vornehmlich Letztere, die Blutrünstigen, bei denen sie einen Ausgleich einer illusorischen Würde für ihren persönlichen Niedergang suchen, der sich mit der Entwicklung des Kapitalismus von Tag zu Tag immer mehr verschärft. Es ist der Heldenmut der Feigen, die Courage der Angsthasen, der Ruhm der schäbigen Mittelmäßigkeit. Nachdem der Kapitalismus sie ins größte Elend gestürzt hat, findet er nun in diesen Schichten ein unerschöpfliches Reservoir für die Rekrutierung der Helden seines Terrors.
Auch wenn es im Verlauf der Geschichte zu Wut- und Gewaltausbrüchen seitens dieser Klassen gekommen war, waren diese Explosionen sporadisch geblieben und nie über Bauernaufstände und Revolten hinausgegangen, weil sie keine Perspektive besaßen, außer zermalmt zu werden. Im Kapitalismus verlieren diese Klassen vollständig ihre Unabhängigkeit; sie dienen nur als Kanonenfutter für die Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse sowohl innerhalb als auch außerhalb der nationalen Grenzen. In Zeiten der revolutionären Krise und unter bestimmten günstigen Umständen kann die gewaltige Unzufriedenheit eines Teils dieser Klassen als eine Kraft wirken, die den Kampf des Proletariats unterstützt.
Der unvermeidliche Prozess der Verarmung und Proletarisierung der unteren Schichten dieser Klassen ist ein extrem schwieriger und schmerzvoller Weg und bewirkt eine besonders verschärfte Form der Revolte. Die Kampfbereitschaft dieser Elemente, besonders jener, die von den Handwerkern und den deklassierten Intellektuellenkreisen stammen, beruht eher auf ihren verzweifelten Lebensbedingungen als auf dem Kampf des Proletariats, dem sie sich nur schwer anschließen können. Was diese Kreise vorwiegend auszeichnet, ist ihr Individualismus, ihre Ungeduld, ihr Skeptizismus und ihre Demoralisierung. Ihre Taten zielen eher auf spektakulären Selbstmord ab als auf ein besonderes Ziel. Nachdem sie ihre einstige Stellung in der Gesellschaft verloren und nun keine Zukunft mehr vor sich haben, leben sie in einer Gegenwart des Elends und der erbitterten Revolte gegen dieses Elend, und dies in einer Unmittelbarkeit, die auch als solche empfunden wird. Selbst wenn sie durch Kontakt mit der Arbeiterklasse und deren historischen Aufgaben angeregt werden, so erlangen sie nur eine entstellte Vorstellung dieser Ideen, die selten über die Ebene der Fantasie und Träume hinausgeht. Ihr wahres Wirklichkeitsbild bleibt borniert und dem Zufall überlassen. Die politische Ausdrucksweise dieser Bewegung nimmt extrem unterschiedliche Formen an, die von der strikten Einzeltat bis zu den diversen geschlossenen Sekten, von den Verschwörungen, Komplotten, dem Putschismus, den „exemplarischen Aktionen“ bis zum Äußersten reichen, dem Terrorismus.
Was all diese Vielfalt gemeinsam hat, ist ihre Unkenntnis des objektiven und historischen Determinismus hinter der Bewegung des Klassenkampfes und des historischen Subjekts der modernen Gesellschaft, das allein die gesellschaftliche Umwälzung bewältigen kann, das Proletariat.
Die Erklärung für die fortgesetzten Manifestationen dieser Strömung liegt in dem unaufhörlichen Prozess der Proletarisierung dieser Schichten in der Geschichte des Kapitalismus. Ihre Vielfalt ist das Produkt ihrer lokalen und ungewissen Situation. Dieses gesellschaftliche Phänomen hat die historische Formierung der Arbeiterklasse „begleitet“ und hat sich in unterschiedlichem Maße mit der Arbeiterbewegung vermischt, in die dieses gesellschaftliche Phänomen Ideen und Verhaltensweisen einführt, die der Arbeiterklasse fremd sind. Dies trifft besonders auf den Terrorismus zu.
Wir müssen auf diesem Hauptpunkt bestehen und dürfen keinen Raum für Zweideutigkeiten lassen. Es stimmt, dass zu Beginn der Bildung der Arbeiterklasse das Proletariat in seinem Bestreben, sich zu organisieren, noch nicht die passende Form fand und konspiratorische Organisationsformen nutzte - die Geheimgesellschaften, die das Erbe der bürgerlichen Revolution waren. Aber das ändert überhaupt nichts an dem Klassencharakter dieser Organisationsformen und an der Unzulänglichkeit gegenüber dem neuen Inhalt, dem Klassenkampf des Proletariats. Das Proletariat wurde schnell davon überzeugt, sich von diesen Organisationsformen und Handlungsweisen zu lösen und sie endgültig zu verwerfen.
So wie die theoretische Ausgestaltung unvermeidlich ein utopisches Stadium durchlaufen musste, musste auch die Bildung politischer Klassenorganisationen unvermeidlich die Stufe der konspirativen Sekten durchmachen. Aber es ist wichtig, nicht die Konfusionen noch zu verstärken, aus der Not keine Tugend zu machen und die verschiedenen Phasen der Bewegung zu verwechseln. Wir müssen zwischen den verschiedenen Phasen der Bewegung und den Formen, die sie entstehen ließen, zu unterscheiden wissen.
So wie sich der utopische Sozialismus in einem bestimmten Augenblick in der Arbeiterbewegung von einem großen, positiven Beitrag in eine Fessel für ihre Weiterentwicklung verwandelt hatte, so sind auch die konspirativen Zirkel zu negativen Symbolen geworden, die für die Sterilisierung der Bewegung stehen.
Von nun an konnte die Strömung, die die auf dem Weg zur Proletarisierung befindlichen Schichten repräsentiert hatte, keinen Beitrag mehr zu der bereits entwickelten Klassenbewegung leisten. Diese Strömung befürwortete nicht nur die Sektenform der Organisation und konspirative Methoden, sondern wurde - bei einer immer größeren Diskrepanz zur realen Bewegung - dazu verleitet, diese Ideen und Methoden bis zum Äußersten zu treiben, wobei sie sie zu einer Karikatur machte, die in der Befürwortung des Terrorismus endete.
Der Terrorismus ist nicht schlicht ein Akt des Terrors. Es dabei zu belassen hieße, auf einer rein begrifflichen Ebene zu bleiben. Was wir zeigen wollen, ist die gesellschaftliche Bedeutung und die Unterschiede, die hinter diesen Begriffen stecken. Der Terror ist ein konstruiertes, permanentes, von den ausbeutenden Klassen ausgeübtes Herrschaftssystem. Der Terrorismus dagegen ist eine Reaktion jener unterdrückten Klassen, die keine Zukunft haben, gegen den Terror der herrschenden Klasse. Es handelt sich um vorübergehende Reaktionen ohne Kontinuität, um Racheakte ohne Zukunft.
Wir finden eine anregende Schilderung dieser Art von Bewegung bei Panait Istrati und seinen Heiducken in Rumänien Ende des 19. Jahrhunderts. Das Gleiche finden wir im Terrorismus der russischen Narodniki und ebenfalls, selbst wenn sie als unterschiedlich erscheinen, bei den Anarchisten und der „Bonnot-Gang“. Sie haben alle das gleiche Wesen: die Rache der Machtlosen. Sie kündigen nie etwas Neues an, sondern sind der verzweifelte Ausdruck eines Endes, nämlich des eigenen Endes.
Als gewaltsames Aufbegehren der Machtlosen kann der Terrorismus nicht den Terror der herrschenden Klasse überwinden. Er ist eine Mücke, die den Elefanten sticht. Dagegen ist der Terrorismus oft vom Staat zur Rechtfertigung und Verstärkung des eigenen Terrors benutzt worden.
Wir müssen unbedingt den Mythos verurteilen, dass der Terrorismus als Zündfunken des proletarischen Kampfes dienen kann. Es wäre zumindest einzigartig, dass eine Klasse mit historischer Zukunft auf eine zukunftslose Klasse als Zündfunken ihres eigenen Kampfes bauen muss.
Es ist vollkommen absurd, vorzugeben, dass dem Terrorismus der radikalisierten Schichten der Kleinbourgeoisie das Verdienst zukommt, die Auswirkungen der demokratischen Mystifikationen in der Arbeiterklasse zu zerstören, die bürgerliche Legalität zu zerstören, der Arbeiterklasse die Unvermeidbarkeit der Gewalt zu lehren. Für das Proletariat gibt es keine Lehren aus dem radikalen Terrorismus zu ziehen, außer die, sich von ihm zu distanzieren und ihn abzulehnen, denn die im Terrorismus enthaltene Gewalt befindet sich grundsätzlich auf bürgerlichem Boden. Zu einem Verständnis der Notwendigkeit und Unabdingbarkeit der Gewalt gelangt das Proletariat durch seine eigene Existenz, durch seinen eigenen Kampf, durch seine eigenen Erfahrungen, durch seine Konfrontationen mit der herrschenden Klasse. Dies ist Klassengewalt, die sich im Wesen und Inhalt, in der Form und den Methoden sowohl vom kleinbürgerlichen Terrorismus als auch vom Terror der herrschenden Klasse unterscheidet.
Es ist ganz gewiss, dass die Arbeiterklasse im allgemeinen eine Haltung der Solidarität und der Sympathie einnimmt, nicht gegenüber dem Terrorismus, den sie als Ideologie, als Organisationsform und als Methode verurteilt, sondern gegenüber den Elementen, die in den Terrorismus hineingezogen werden. Dies aus nachvollziehbaren Gründen:
1. weil diese Elemente gegen die bestehende Ordnung des Terrors revoltieren, die das Proletariat vom Scheitel bis zur Sohle zu zerstören beabsichtigt;
2. weil diese Elemente, wie die Arbeiterklasse, Opfer der entsetzlichen Ausbeutung und Unterdrückung durch die Todfeinde des Proletariats sind - die Kapitalistenklasse und ihr Staat. Der einzige Weg für das Proletariat, seine Solidarität mit diesen Opfern zu zeigen, besteht darin, zu versuchen, sie vor den Händen der Henker, vor dem herrschenden Staatsterror zu schützen, und sich zu bemühen, sie vor der tödlichen Sackgasse - dem Terrorismus – zu bewahren.
DIE KLASSENGEWALT DES PROLETARIATS
Wir müssen hier nicht auf die Notwendigkeit der Gewalt im Klassenkampf des Proletariats hinweisen. Wir würden damit offene Türen einrennen, denn seit fast zwei Jahrhunderten, seit Babeufs „Gesellschaft der Gleichen“, verfügen wir über die theoretische Erklärung und über die praktische Erfahrung ihrer Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit. Es ist ebenso Zeitverschwendung, dies bis zum Geht-nicht-mehr zu wiederholen, als sei es eine neue Erkenntnis, dass alle Klassen Gewalt anwenden müssen, das Proletariat eingeschlossen. Wenn man sich mit diesem mittlerweile zu Banalitäten gewordenen Allgemeinplätzen zufrieden gibt, kommt man schließlich dazu, eine Art Gleichung ohne jeglichen Inhalt aufzustellen: „Gewalt gleich Gewalt“. Damit wird absurderweise die Gewalt des Kapitals schlicht mit der Gewalt des Proletariats gleichgesetzt und der wesentliche Unterschied vertuscht: Die eine ist unterdrückerisch, die andere ist befreiend.
Endlos die Tautologie „Gewalt gleich Gewalt“ zu wiederholen, weiterhin zu demonstrieren, dass alle Klassen Gewalt benutzen, und zu zeigen, dass diese Gewalt im Kern dieselbe ist – all dies ist so intelligent und genial, wie die Handlung des Chirurgen, der einen Kaiserschnitt vornimmt, um einem Neugeborenen das Leben zu schenken, mit der Handlung des Mörders gleichzusetzen, der seinem Opfer den Bauch aufschlitzt, um es umzubringen, einfach weil beide ein ähnliches Instrument – ein Messer – benutzen und weil beide scheinbar eine ähnliche Technik ausüben, um den Unterleib zu öffnen.
Worauf es am meisten ankommt, ist nicht, damit fortzufahren, „Gewalt, Gewalt“ zu brüllen, sondern die grundlegenden Unterschiede deutlich herauszustellen, so deutlich wie möglich aufzuzeigen, warum und worin sich die Gewalt des Proletariats vom Terror und Terrorismus anderer Klassen unterscheidet.
Wir machen nicht aus begrifflichen Gründen, aus Zimperlichkeit, aus schüchterner Jungfräulichkeit oder aus Abneigung gegen das Wort Terror einen Unterschied zwischen Terror und Klassengewalt. Wir tun dies, um den unterschiedlichen Klassencharakter, den unterschiedlichen Inhalt und die unterschiedliche Form besser hervorzuheben, die hinter diesem Wort stecken. Das Vokabular hinkt stets den Tatsachen hinterher, und oft ist der Mangel an Genauigkeit der Begriffe ein Zeichen von unzureichend entwickelten Gedanken, der zu weiteren Zweideutigkeiten führen kann. Zum Beispiel entsprach das Wort „Sozialdemokratie“ keineswegs dem revolutionären Wesen - den kommunistischen Zielen - der politischen Organisation des Proletariats. Das Gleiche trifft auf das Wort „Terror“ zu. Manchmal findet man das Wort in der sozialistischen Literatur, selbst bei den Klassikern, wo es den Wörtern „revolutionär“ oder „Proletariat“ beigefügt ist. Wir müssen uns vor dem Missbrauch hüten, der begangen wird, wenn wörtliche Zitate verwendet werden, ohne sie in ihren Zusammenhang zu setzen oder zu beachten, unter welchen Umständen oder gegen wen sie geschrieben wurden. Dies kann darin enden, die wahren Gedanken ihrer Autoren zu verfälschen. Wir müssen unterstreichen, dass in den meisten Fällen die Autoren vorsichtig vorgingen und beim Gebrauch des Wortes Terror immer darauf bedacht waren, die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, zwischen der Pariser Kommune und Versailles, zwischen der Revolution und der Konterrevolution im Bürgerkrieg in Russland herauszustellen. Wenn wir es als notwendig erachten, diese beiden Begriffe zu unterscheiden, dann deshalb, weil wir die Zweideutigkeit beseitigen wollen, die durch die Gleichsetzung beider Begriffe entsteht; eine Zweideutigkeit, die lediglich Unterschiede in der Quantität und Intensität sieht, aber keinen Klassenunterschied. Und selbst wenn es sich um eine Frage der quantitativen Veränderung handelt, würde dies für die Marxisten - die sich auf die dialektische Methode berufen - eine qualitative Veränderung nach sich ziehen.
Wenn wir den Terror zugunsten der Klassengewalt des Proletariats ablehnen, so wollen wir nicht nur unsere Klassenfeindschaft gegenüber der wahren Bedeutung der Ausbeutung und Unterdrückung, die im Terror steckt, zum Ausdruck bringen, sondern ebenso die haarspalterischen und heuchlerischen Feinheiten darüber beseitigen, wie „der Zweck die Mittel heiligt“.
Jene bedingungslosen Verteidiger des Terrors, jene Calvinisten der Revolution - wie die Bordigisten – haben nur Verachtung übrig für die Frage der Organisationsformen, der Mittel. Für sie existiert nur das „Ziel“, für das alle Formen und alle Mittel unterschiedslos verwendet werden können. „Die Revolution ist eine Frage des Inhaltes und nicht der Organisationsform", wiederholen sie unermüdlich. Mit Ausnahme des Terrors natürlich. Was diesen Punkt angeht, sind sie kategorisch: „Keine Revolution ohne Terror. Man ist kein Revolutionär, wenn man keine Kinder töten würde.“ Hier wird der Terror, der als Mittel betrachtet wird, zu einer absoluten Vorbedingung, zu einem kategorischen Imperativ der Revolution und zu ihrem Inhalt. Warum diese Ausnahme? Man könnte die Frage auch anders herum stellen: Wenn die Fragen von Mittel und Formen von keinerlei Bedeutung für die proletarische Revolution sind, wieso kann die Revolution dann nicht durch die monarchistische oder parlamentarische Form verwirklicht werden kann?
In Wahrheit ist es vollkommen absurd, den Inhalt und die Form, den Zweck und die Mittel voneinander zu trennen. In Wirklichkeit sind Inhalt und Form dem Wesen nach miteinander verbunden. Ein Ziel kann nicht mit irgendwelchen Mitteln erreicht werden. Es erfordert spezifische Mittel. Ein vorgegebenes Mittel ist nur auf ein entsprechendes Ziel anwendbar. Jede andere Vorgehensweise führt zu spitzfindigen Spekulationen.
Wenn wir den Terror als Existenzform der Gewalt des Proletariats zurückweisen, geschieht dies nicht aus irgendeinem moralischen Grund, sondern weil der Terror als Inhalt und Methode aufgrund seines Wesens dem Ziel entgegengesetzt ist, das das Proletariat verfolgt. Glauben diese Calvinisten der Revolution wirklich, wollen sie uns wirklich davon überzeugen, dass für das Erreichen unseres Zieles, den Kommunismus, das Proletariat Konzentrationslager, die systematische Ausrottung ganzer Völker, die Einrichtung eines riesigen Netzes von Gaskammern, die wissenschaftlich noch perfekter wären als die Gaskammern Hitler, nutzen kann? Ist der Völkermord Teil des Programms des „calvinistischen Weges" zum Sozialismus?
Es genügt, die von uns gemachte Aufzählung der Hauptcharakteristiken des Inhalts und der Methoden des Terrors aufzugreifen, um auf den ersten Blick die Kluft zu sehen, die das Proletariat vom Terror unterscheidet:
1. „organisch an die Ausbeutung gebunden zu sein, um zu ihrer Ausübung gebraucht zu werden“. Das Proletariat ist eine ausgebeutete Klasse und kämpft für die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
2. „die Handlung einer privilegierten Klasse zu sein“. Das Proletariat hat keine Privilegien und kämpft für die Abschaffung aller Privilegien.
3. „die Handlung einer Klasse zu sein, die gesellschaftlich in der Minderheit ist“. Das Proletariat stellt die große Mehrheit der Gesellschaft dar. Manche mögen in diesem Kriterium unseren unverbesserlichen Hang zu den Prinzipien der Demokratie, zum Mehrheitsprinzip sehen, dabei sind es gerade sie selbst, die von diesem Problem besessen sind – und überdies sind für sie Minderheiten, die sich aus lauter Horror vor der Mehrheit behaupten, das Kriterium der revolutionären Wahrheit. Der Sozialismus ist nicht durchführbar, wenn er nicht auf der historischen Möglichkeit beruht und wenn er nicht den grundlegenden Interessen und dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft entspricht. Dies ist eines der Schlüsselargumente Lenins in „Staat und Revolution“ und auch von Marx, als er sagte, dass das Proletariat sich nicht befreien kann, wenn es nicht gleichzeitig die gesamte Menschheit befreit.
4. „die Handlung eines spezialisierten Organismus zu sein“. Das Proletariat hat auf seine Fahnen die Zerstörung der permanenten Armee und der Polizei sowie die allgemeine Bewaffnung des Volkes und vor allem des Proletariats geschrieben. „… und dazu neigt, sich jeder Kontrolle der Gesellschaft zu entziehen“. Das Proletariat lehnt jegliche Spezialisierung ab, und weil es unmöglich ist, dies unmittelbar durchzuführen, wird die Arbeiterklasse darauf bestehen, dass Spezialisten der vollständigen Kontrolle durch die Gesellschaft unterworfen werden.
5. „Sich endlos zu reproduzieren und zu perfektionieren“. Das Proletariat wird all dem ein Ende setzen und fängt damit an, sobald es die Macht übernommen hat.
6. „Keine andere Daseinsberechtigung zu haben als die Unterwerfung und Niederschlagung der menschlichen Gemeinschaft“. Das Ziel des Proletariats ist dem diametral entgegengesetzt. Seine Daseinsberechtigung ist die Befreiung und die freie Entfaltung der menschlichen Gesellschaft.
7. „Feindliche Gefühle und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln: Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und andere Monstrositäten“. Das Proletariat schafft all diese historischen Anachronismen ab, die zu Ungeheuerlichkeiten und Fesseln der harmonischen Vereinigung der ganzen Menschheit geworden sind, die möglich und notwendig ist.
8. „Egoistische Gefühle und Verhaltensweisen zu entwickeln, sadistische Aggressivität, Rachegefühle, einen endlosen Kleinkrieg aller gegen alle zu entfachen usw...“ Im Gegensatz dazu entwickelt das Proletariat ganz neue Gefühle - der Solidarität, des gemeinschaftlichen Lebens, der Brüderlichkeit - „alle für einen und einer für alle“ - die freie Assoziierung der Produzenten, eine vergesellschaftete Produktion und Konsumtion. Und während der Terror „die ganze Gesellschaft in einen Zustand des Terrors ohne Ende“ stürzt, ruft das Proletariat zur Initiative und zur Kreativität eines Jeden auf, so dass alle im Zustand des allgemeinen Enthusiasmus ihr Leben und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können.
Die Klassengewalt des Proletariats kann kein Terror sein, da ihre Daseinsberechtigung gerade darin liegt, den Terror zu zerschlagen. Man betreibt ein Wortspiel, wenn man Gewalt und Terror als gleich betrachtet, so als sei das Verhalten des Mörders, der sein Messer zieht, und die Hand, die das Messer abwehrt und den Mord verhindert, das Gleiche. Das Proletariat kann nicht auf das Organisieren von Pogromen, auf Lynchjustiz, auf die Schaffung von Folterschulen, auf Vergewaltigungen, auf die Moskauer Prozesse als Mittel und Methoden für die Verwirklichung des Sozialismus zurückgreifen. Es überlässt diese Methoden dem Kapitalismus, weil sie Bestandteil des Kapitalismus sind, weil sie zu seinen Zielen passen und weil sie zur Gattung Terror gehören.
Weder Terror noch Terrorismus vor der Revolution, noch der Terror nach der Revolution können Waffen des Proletariats für die Befreiung der Menschheit sein. M.C. 1979
2. Internationale Konferenz
Ende 1978 fand eine internationale Konferenz von Gruppen statt, die sich auf die Kommunistische Linke berufen. Die Durchführung dieser Konferenz war von der 1. Mailänder Konferenz beschlossen worden, die von der Partito Comunista Internazionalista (Battaglia Comunista) organisiert worden war und an der die Internationale Kommunistische Strömung (IKS) teilgenommen hatte. Auf der Tagesordnung dieser Konferenz standen: 1) die gegenwärtige Krise und die Perspektiven; 2) die Frage der nationalen Befreiungskämpfe; 3) die Parteifrage. Zwei Broschüren, in denen die Korrespondenz zwischen den Gruppen, die Vorbereitungstexte für die Konferenz und das Protokoll der Debatten enthalten sind, werden demnächst veröffentlicht. Der wichtigste Schritt dieser Konferenz war die Erweiterung des Kreises der teilnehmenden Gruppen: So haben neben der IKP (BC) und der IKS die Communist Workers' Organisation (CWO) aus Großbritannien, der Nucleo Communista Internazionalista (NCI) aus Italien, die Marxist Study Group (För Kommunismen) aus Schweden teilgenommen. Zwei weitere Gruppen hatten ihre Zustimmung für die Teilnahme gegeben, konnten aber aus verschiedenen Gründen nicht an der Konferenz teilnehmen: Organisation Communiste Revolutionaire Internationaliste d'Algerie (Travailleurs Immigres en lutte) und Il Leninista aus Italien. Die letztgenannte Gruppe hatte der Konferenz Beiträge geschickt, die in der Broschüre über die Konferenz erscheinen werden. Der Ferment Ouvrier Revolutionaire (FOR) aus Frankreich und Spanien hat die Konferenz zu Beginn verlassen und somit nicht an den Debatten teilgenommen; andere eingeladene Gruppen haben sich geweigert, teilzunehmen.[1] [1]
Wir veröffentlichen hier einen Artikel, der sich dem vorausgehenden Artikel in der Internationalen Revue Nr. 16 (englisch, französisch, spanisch, 1. Trimester 1979) anschließt, welcher hauptsächlich den Gruppen gewidmet war, die ihre Teilnahme verweigert hatten. Der jetzige Artikel ist eine Antwort auf bestimmte Punkte, die in Artikeln der CWO (Revolutionary Perspectives Nr. 12) und der IKP-BC (Nr. 16, 1978) zur Konferenz angesprochen wurden, und stellt die IKS-Resolutionen vor, deren Verabschiedung von der Konferenz verweigert wurde, um die Hauptpunkte der Intervention der IKS auf der Konferenz in Erinnerung zurückzurufen.
In dem Artikel über die 2. Internationale Konferenz in der Internationalen Revue Nr. l6 (engl., franz., span. Ausgabe) haben wir erläutert, welchen Stellenwert wir der Diskussion zwischen den revolutionären Gruppen beimessen, und darüber hinaus die Argumente jener zurückgewiesen, die sich weigerten, an der Konferenz teilzunehmen. Wir haben insbesondere auf der Tatsache bestanden, dass diese Gruppen eine zutiefst sektiererische Haltung an den Tag legten. Für die IKS ist diese Haltung ein Hindernis auf dem Weg zu einer Klärung, die unerlässlich in der Arbeiterbewegung ist, da es ohne die Konfrontation von Positionen keine Möglichkeit zur Klärung gibt.
Wir kommen auf diese Frage zurück, um gewisse Positionen, die von Battaglia Comunista und der CWO über die Teilnahme an der Konferenz zum Ausdruck gebracht worden waren, zu berichtigen. In diesen Positionen wird die IKS vollmundig als „opportunistisch“ (1) bezeichnet, und es wird geleugnet, dass es ein Problem des Sektierertums gibt. Somit ist es notwendig, den Sachverhalt richtigzustellen. Wir werden dann kurz unsere Ansichten über den Inhalt der Diskussionen darreichen, um die Bedeutung zu unterstreichen, die wir der politischen Debatte beimessen, entgegen der Anschuldigung unserer Gegner, denen zufolge wir dies als zweitrangig abtun.
Schließlich werden wir erläutern, warum wir der Konferenz die Resolutionen über die Tagesordnungspunkte vorgeschlagen haben.
Woher kommt das Sektierertum?
Battaglia Comunista (BC) unterstellt uns „die opportunistische Absicht, wichtige prinzipielle Divergenzen zu verschleiern, um alle möglichen Gruppen zusammenzubringen; Gruppen, die eigentlich ziemlich weit voneinander entfernt sind.“ BC unterstellt uns, dass wir uns hinter unserer Kritik am „Kapellengeist“ verstecken, um politische Divergenzen zu übertünchen. Wiederholen wir es: Wir verschleiern keine politischen Divergenzen. Wir beharren auf die Notwendigkeit, gegen die Verweigerung einer Diskussion zu kämpfen, eben weil diese Weigerung eine Weigerung ist, über Divergenzen zu diskutieren. Aus Furcht vor einer Konfrontation politischer Positionen versteckt man sich hinter dem grandiosen Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein. Wir behaupten nicht, die Wahrheit zu besitzen. Wir vertreten eine politische Plattform, die wir in unseren Interventionen und in Diskussionen mit den Gruppen und Elementen, die sich auf die kommunistische Revolution berufen, so oft wie möglich mit der Realität konfrontieren.
Es ist schon ein eigenartiger Purismus, wenn BC uns beschuldigt, Divergenzen aus opportunistischen Gründen zu verschleiern. Beginnend mit einer Analyse des „Eurokommunismus“, stellte BC drei Hypothesen für die Perspektiven der internationalen Lage vor; angesichts des Ernstes der Lage rief BC zu einer internationalen Konferenz auf und wartete mit drei „wirksamen Waffen vom Standpunkt der Theorie und politischen Praxis“ auf:
„a) den Zustand des Unvermögens und der Unterlegenheit zu verlassen, in den sie durch einen Provinzialismus, der von kulturellen Faktoren begünstigt wird, durch eine Selbstzufriedenheit, die das Prinzip der revolutionären Bescheidenheit leugnet, und vor allem durch die Abwertung des Militanz-Konzepts gerieten, das als eine Form des Opfers abgelehnt wird.
b) ein historisch gültiges programmatisches Fundament zu etablieren; für unsere Partei ist dies die theoretische und praktische Erfahrung, die durch die Oktoberrevolution verkörpert wird, und international eine kritische Annäherung an die Thesen des Zweiten Kongresses der Kommunistischen Internationalen.
c) zu erkennen, dass es unmöglich ist, zu Klassenpositionen oder zur Schaffung einer Weltpartei der Revolution oder zu einer revolutionären Strategie zu gelangen, ohne zunächst das Problem zu lösen, ein permanentes internationales Verbindungs- und Informationszentrum in Gang zu setzen, das die Vorwegnahme und die Synthese dessen sein wird, was später die Internationale sein wird, so wie Zimmerwald und vor allem Kienthal Prototypen der III. Internationalen gewesen waren.“ (Texte und Protokolle der Internationalen Konferenz von Mailand, Mai 1977)
Die drei Punkte, die BC für den Rahmen der Konferenz vorstellte, waren also: 1. der Ausbruch aus der Isolation; 2. politische Kriterien; 3. organisatorische Implikationen. Die IKS antwortete positiv auf diesen Aufruf zu einer Konferenz, aber verlangte präzisere politische Kriterien und war der Ansicht, dass es noch zu früh sei für ein Internationales Verbindungs- und Informationszentrum:
„Natürlich denken wir, dass solch eine Konferenz nur stattfinden kann, wenn die teilnehmenden Gruppen ein Minimalkonsens gefunden haben, und dass sie sich den fundamentalsten Fragen in der proletarischen Bewegung heute zuwenden muss, um jegliche Missverständnisse zu vermeiden und einen soliden Rahmen für die Debatten zu schaffen…
Wir denken nicht, dass es auf dieser Ebene notwendig ist, auf euren zweiten Vorschlag, ein internationales Verbindungsbüro zu schaffen, zu antworten, da dieses erst das Resultat der internationalen Konferenz sein kann.“ (ebenda)
Damals sagte BC, dass es notwendig ist, über den „Provinzialismus“ hinauszugehen; wir waren und sind nach wie vor damit einverstanden.
Daher kehren wir zu diesem Punkt zurück und antworten auf den Opportunismus-Vorwurf von BC und auf die Kritik von CWO, die ganz ähnlich klingt. Sie begreifen nicht die Entschlossenheit der IKS, die Weigerung zu verurteilen, sich an politischen Konfrontationen zu beteiligen – ganz abgesehen von den politischen Divergenzen, die als „hehre“ Entschuldigung für dieses Verhalten benutzt werden. Dieses Unverständnis zeigt das Fortbestehen eines Reflexes der Isolierung und Selbstverteidigung. Dieser Reflex ist eine Erbschaft aus der Periode der Konterrevolution, als es überlebenswichtig war, fest zu den Klassenpositionen zu stehen, auch wenn dies bedeutete, allein auf weiter Flur zu sein. Doch dieser Reflex kann zu einem Hindernis werden, wenn der Klassenkampf im Aufstieg begriffen ist, wenn es möglich ist, sich in viel breiteren Debatten zu engagieren, ohne sich von der eigenen politischen Plattform, vom eigenen Programm loszusagen.
Dies ist der elementarste Punkt in der Haltung der IKS gegenüber Gruppen, die sich der Diskussion verweigern. Es geht nicht darum, die politischen Divergenzen beiseite zu kehren, um alle möglichen Gruppen auf jede noch so erdenkliche Weise zusammenzubringen. Es geht vielmehr darum, die gegenwärtige Periode des aufsteigenden Klassenkampfes und des wachsenden revolutionären Potentials zu analysieren und zu begreifen, dass dies eine günstige Lage für die Gegenüberstellung der politischen Divergenzen ist. Es geht darum, in die Richtung zu drängen, die der Klassenkampf einschlägt – zur Verallgemeinerung der Kämpfe und zu den Debatten, die aus diesen Kämpfen herauskommen. Die Haltung der IKS hinsichtlich der Frage der Teilnahme beruht auf einer präzisen politischen Position, die wir nicht verheimlichen: das Ende der Konterrevolution, die Perspektive generalisierter Klassenkonfrontationen. Dieser Wechsel in der Periode zwingt die Revolutionäre, die Diskussion anders aufzufassen: Es kommt nicht mehr darauf an, sich vor der Verseuchung, vor der Degeneration anderer Organisationen zu schützen oder der Demoralisierung des Proletariats zu widerstehen. Jetzt, wo das Proletariat eine Bresche in die bürgerliche Herrschaft geschlagen hat, müssen wir danach streben, kommunistische Positionen zu erarbeiten, die so klar und kohärent wie möglich sind.
Daher müssen wir zunächst in der Lage sein, zwischen Missverständnissen und wirklichen politischen Divergenzen zu unterscheiden. Missverständnisse darüber, was jede Gruppe meint, sind unvermeidbar; sie sind der Tribut, den die Revolutionäre den 50 Jahren der Konterrevolution zollen müssen. In dieser Zeit wurden die revolutionären Organisationen aus ihren Angeln gehoben; genauso wie das Proletariat in seiner Gesamtheit zogen sie sich zurück. Darin liegt der wirkliche Triumph der Bourgeoisie. Die Revolutionäre wurden zu einer winzigen Minderheit und waren voneinander isoliert. Dies rief Gewohnheiten hervor, die während des Wiederaufschwungs der Kämpfe zur Last wurden. Genauso wie das Proletariat, dieser aus seinem Schlaf erwachte Riese, müssen die Revolutionäre erst noch den Staub von fünfzig Jahren der Isolation und Zersplitterung abschütteln. Entweder bestehen die alten Gewohnheiten nach dem Wechsel der Epoche fort, oder die Unerfahrenheit und die mangelnde Kenntnis der Geschichte der Arbeiterbewegung, an denen die im Wiederaufschwung des Klassenkampfes neu entstandenen Gruppen leiden, führen diese Gruppen nach dem ersten vorübergehenden Abebben des Kampfes zu einem raschen Verfall, zum Aktionismus oder zur Fragmentierung in Minifraktionen. Dann wird aus Arroganz und Ignoranz ein Glaubensbekenntnis gemacht, und die Geschichte wird nach den eigenen Vorstellungen umgeschrieben. Die Isolation, die Zersplitterung, die Unerfahrenheit der Revolutionäre sind wirkliche Probleme, die keine Organisation außer Acht lassen kann. Nicht zu erkennen, dass es ein Problem des Sektierertums gibt, heißt die Zersplitterung zu theoretisieren, dieses Problem zu leugnen.
BC und die CWO sehen kein Problem des Sektierertums und des „Kapellengeistes“. Es sei ein Problem, das von der IKS aus Opportunismus gegenüber BC erfunden worden sei. Es war jedoch gar nicht lange her, dass BC sich dieses Problems durchaus bewusst zu sein schien. Heute behauptet BC, dass das Verhalten von Gruppen wie Programma Communista, Pour une Intervention Communiste (PIC) und des FOR schlicht und einfach eine Frage von politischen Divergenzen sei. Doch es gibt auch politische Divergenzen zwischen den Gruppen, die an der Konferenz teilnahmen, Divergenzen, die in mancher Hinsicht noch tiefer gehen als bei den Gruppen, die sich weigerten, teilzunehmen. Es gibt keine direkte und unmittelbare Verknüpfung, die uns erlaubt, jedes Verhalten allein durch politische Divergenzen zu erklären. Es wäre zu einfach und hieße, eine der gewaltsamsten Auswirkungen der Konterrevolution zu vergessen: die Atomisierung des Proletariats, die Fragmentierung der Revolutionäre, die gezwungen waren, ihre politischen Positionen im Vakuum, ohne ständigen Ideenwettstreit zu entwickeln.
In der Zeit des Rückflusses des Klassenkampfes während der 30er und 50er Jahre konnte die wirkliche politische Klärung nur stattfinden, wenn man bereit war, isoliert zu sein, gegen den Strom zu schwimmen. In einer Periode des Wiedererstarkens des Klassenkampfes indes kann die Klärung nur durch die aktive Teilnahme an all den Debatten stattfinden, die durch und im Kampf entstehen. Heute muss die Haltung der Revolutionäre gegenüber der politischen Klärung die gleiche sein wie in früheren Zeiten des Wiederaufschwungs.
Als die Eisenacher den Lassalleanern Zugeständnisse machten, kritisierte Marx heftig die Konzessionen der Marxisten an die Lassalleaner, die er als unnötig beurteilte. Dennoch bestand er unter Berücksichtigung der damaligen Periode auf einen Punkt: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“ (Marx an W. Bracke, Vorwort zur „Kritik des Gothaer Programms“) War Marx ein Opportunist? Nein, das Sektierertum existiert, ist ein Problem als solches und nicht direkt mit den politischen Positionen verbunden. Lenin bekämpfte das Sektierertum, als er zur Gründung der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) drängte, wobei er gleichzeitig fest entschlossen politische Positionen kritisierte und keine Konzessionen machte.
Diese Haltung, auf Diskussionen zu drängen, trifft nicht weniger auf die Zeiten der Isolation zu, als die Bedingungen den Kontakt erschwerten. Die konsequentesten Revolutionäre haben immer auf Diskussionen gedrängt (z.B. Bilan).
Durch eine kuriose Umkehrung, deren Geheimnis nur ihnen bekannt ist, geben uns die Genossen von BC nun Lektionen in politischer Unnachgiebigkeit; doch ist es nur einige Jahre her, dass sie zu Treffen ohne klare politische Kriterien aufriefen, wie zu jenem mit Lotta Comunista und Programma Comunista oder in den frühen 60er Jahren mit R. Dunayeskayas News and Letters und die FOR von Munis oder die Kontakte, und dass sie Kontakte zur französischen trotzkistischen Gruppe Lutte Ouvriere geknüpft hatten. Sollen wir glauben, dass, wenn BC Treffen Kontakte solcherlei Art initiiert, es eine korrekte Position ist, doch wenn die IKS die Notwendigkeit der Konfrontation zwischen wirklich revolutionären Gruppen auf der Grundlage klarer politischer Kriterien vertritt, dies schlichter Opportunismus ist?
Es gibt eine ähnliche kuriose Umkehrung in der Haltung der CWO, die die IKS noch vor kurzem als dem Lager der Konterrevolution zugehörig betrachtete, nun aber ihre Auffassung geändert hat. Sollen wir glauben, dass dies geschehen ist, weil die politischen Positionen der CWO sich so tiefgreifend verändert haben, so dass sie sich nun herablässt, sich aktiv an internationalen Konferenzen zu beteiligen (die erste Konferenz in Mailand, die Oslo-Konferenz, die zweite Konferenz in Paris)? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es eine Verhaltensänderung gegeben hat, die Erkenntnis, dass es überhaupt nicht sinnvoll ist, zu verkünden, man habe die Wahrheit für sich gepachtet, dass es notwendig ist, politische Divergenzen zu diskutieren und nicht nach Vorwänden zu suchen, die Debatte zu vermeiden: mit anderen Worten, die vorbehaltlose Anerkennung, dass es solch ein Problem wie das Verhalten revolutionärer Gruppen gibt?
Um diesen letzten Punkt zu Ende zu führen, möchten wir einfach auf die Inkohärenz hinweisen, Gruppen einzuladen, zur Internationalen Konferenz zu kommen, um Beiträge zu den Tagesordnungspunkten zu bitten und dann zu sagen, dass ihre Weigerung, teilzunehmen, ganz „normal“ sei, weil solche Gruppen aufgrund der Positionen, die sie entwickelt haben, „nichts zu suchen haben auf Konferenzen wie diese“. Warum sind sie dann überhaupt eingeladen worden? Aus irgendeiner „demokratischen“ Sorge? Wenn solche Gruppe zu Recht nicht kommen, dann sollten wir so konsequent sein und einräumen, dass wir falsch darin lagen, sie einzuladen. Wir denken nicht so. Welche politischen Verirrungen solche Gruppen auch immer vertreten mögen, sind sie dennoch Teil des proletarischen Lagers; nach unserer Auffassung ist die direkte, öffentliche Konfrontation der beste Weg, die Verirrungen wegzufegen, die noch immer in der Arbeiterbewegung existieren.
Revolutionäre Organisationen, die ihren Namen wert sind, müssen gegen die falschen, sklerotischen oder konfusen Positionen kämpfen. Wir erkennen keiner politischen Gruppe das „Recht auf Fehler“ zu, und wir „respektieren“ auch nicht politische Positionen, die nur dazu dienen, noch mehr Müll in eine Bewegung zu werfen, die ohnehin schon große Schwierigkeiten hat, sich von den Folgen der Konterrevolution zu befreien. Wir „respektieren“ keine Weigerung aufgrund von politischen Differenzen, zu diskutieren, weil man damit stillschweigend den Positionen, die jede Gruppe vertritt, eine politische Gültigkeit und Kohärenz einräumen würde: Jede Gruppe vertritt ihre Positionen, und alles ist in Butter in der besten aller möglichen revolutionären Welten! Wir dagegen rufen alle Gruppen des revolutionären Lagers dazu auf, sich an einer offenen, öffentlichen und internationalen Konfrontation der Ideen zu beteiligen und in Interventionen und Klassenaktionen ihre Positionen zu vertreten.
Die Arbeit der Konferenz
In diesem Sinne hat die IKS auf der Notwendigkeit bestanden, sich klar zu den Fragen der Tagesordnung zu äußern, denn es handelt sich nicht um akademische Probleme, sondern um Fragen, die immer größere Auswirkungen auf den Klassenkampf haben. Um zur Annahme klarer Positionen anzuregen und um die Übereinstimmungen und Uneinigkeiten zu präzisieren, hat die IKS zusätzlich zu den Vorbereitungstexten noch kurze, zusammenfassende Resolutionen über die augenblickliche Krise und die Perspektiven, über die nationale Frage und über die Organisation der Revolutionäre vorgeschlagen. Das Prinzip, Resolutionen vorzuschlagen, wurde von der Konferenz jedoch verworfen. Wir wollen hier die Kernpunkte unserer Interventionen auf der Konferenz zusammenfassen:
Im ersten Punkt - Die Krise und aktuelle Perspektive – beharrte die IKS auf die Notwendigkeit, klare Perspektiven vorzustellen, die auf einer grundsätzlichen Untersuchung der Lage, wie sie sich vor unseren Augen abspielt, beruht. Läuft die allgemeine Tendenz auf generalisierte Klassenkonfrontationen oder auf einen generalisierten interimperialistischen Konflikt hinaus? Als revolutionäre Organisationen, die in der Klasse intervenieren und vorgeben, politische Orientierungen - eine politische Richtung - zu vertreten, müssen wir in der Lage sein, uns zum allgemeinen Sinn des Klassenkampfes heute zu äußern. Revolutionäre in der Vergangenheit mögen sich in ihrer Einschätzung der Periode getäuscht haben, sie haben sich aber stets dazu geäußert.
Zu dieser Frage hat BC die folgende Position vertreten:
„1976 haben wir drei mögliche Hypothesen formuliert:
1) dass es dem Kapitalismus gelingt, seine ökonomische Krise zeitweise zu überwinden;
2) dass die letztendliche Zuspitzung der Krise eine subjektive Situation der allgemeinen Angst schafft, die zu einer gewaltsamen Lösung und zu einem dritten Weltkrieg führt;
3) dass das schwächste Glied in der Kette zerbricht und eine revolutionäre Periode für das Proletariat einläutet, in historischer Kontinuität mit dem bolschewistischen Oktober.
Zwei Jahre später können wir bestätigen, dass die gegenwärtige Lage die Konturen unserer zweiten Hypothese angenommen hat.“ (Texte und Protokolle der Internationalen Konferenz von Paris, Nov. 1978)
Die CWO dagegen bezieht nicht deutlich Stellung: Die zwei Möglichkeiten, Krieg oder Revolution, bleiben offen. Die Antwort „vielleicht ja, vielleicht nein“ wurde jedoch durch die Betonung der Passivität und des Rückflusses des Klassenkampfes heute entsprechend gewichtet.
Der IKS zufolge haben nach zehn Jahren der offenen Krise des kapitalistischen Systems die inneren Widersprüche wieder einmal den Punkt erreicht, wo imperialistische Konfrontationen immer allgemeiner werden. Hauptpunkte dieser Entwicklung sind:
- kaum wiederaufgebaut, treten Europa und Japan erneut in direkte Konkurrenz zu den USA;
- die Krise hat zu einer Verstärkung der imperialistischen Blöcke geführt;
- der westliche Block hat dem Nahen Osten eine „Pax Americana“ aufgezwungen und hat seine Strategie in Südostasien umgeschichtet, um China endgültig in seinen Machtbereich einzugliedern, usw.
Vom Standpunkt der interimperialistischen Widersprüche, der ökonomischen, politischen und militärischen Strategie aus betrachtet, lautet die Frage nicht: „Wann wird sich der imperialistische Krieg generalisieren?“, sondern eher: „Warum hat sich der Krieg noch nicht generalisiert?“
Für die CWO ist die „magische“ Kurve des tendenziellen Falls der Profitrate noch nicht genügend gesunken. Dem Kapitalismus stünden noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten offen – wie Austeritätsmaßnahmen (?) -, bevor die Bedingungen eines allgemeinen Krieges erfüllt seien: „Das Proletariat hat noch die Zeit und die Möglichkeit, den Kapitalismus zu zerstören, bevor dieser die Zivilisation zerstört.“ (ebenda)
Was bedeuten die wachsenden militärischen Interventionen der kapitalistischen Großmächte auf den Kriegsschauplätzen Zaire, Angola, Vietnam/Kambodscha, China/Vietnam? Was bedeuten die Kampagnen für die „Menschenrechte“ und andere ideologische Propagandaschlachten? Wozu dient dieses beschleunigte und maßlose Wachstum der Rüstungsindustrie?
Die CWO sagt ganz richtig, dass es sich um Kriegsvorbereitungen handelt. Jedoch ist es nicht der Klassenkampf, der die Generalisierung des Krieges verhindern würde – das sei ein „absurdes Szenario der IKS“. Für die CWO sind die Klassenkämpfe „partikulare Kämpfe mit nur geringen Möglichkeiten der Generalisierung in Form von Klassen-weiten Schlachten.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 12) Die „logische“ Schlussfolgerung der CWO: „… die Krise ist noch nicht tief genug, um den Krieg zu einen notwendigen Schritt für die Bourgeoisie zu machen.“ (ebenda) Dies ist schlicht eine Tautologie und besagt lediglich: Der Krieg ist noch nicht da, weil die Bedingungen noch nicht erfüllt sind. Wir stimmen dem zu, aber wir kommen zurück auf die Ausgangsfrage: Welche Bedingungen? Ereignisse wie das Attentat auf den Erzherzog in Sarajewo sind als Vorwand benutzt worden, um einen Weltkrieg auszulösen. Heute haben weitaus bedeutendere Ereignisse wie die Kriege im Nahen Osten 1967 und 1973, in Vietnam, Zypern, China/Vietnam usw. nicht zu solch einem Konflikt geführt. Warum? Warum hat die UdSSR nicht direkt im Vietnamkrieg eingegriffen? Warum haben die USA nicht direkt in Angola oder Äthiopien interveniert? Die „Dialektiker“ werden zweifellos antworten, dass die objektiven Bedingungen nicht vorhanden waren. Wir sind damit einverstanden, aber für die IKS ist die Hauptbedingung, an der es heute mangelt, die Mobilisierung der Bevölkerung und vor allem des Proletariats hinter die Interessen des nationalen Kapitals.
Was die anderen Bedingungen für einen generalisierten Krieg angehen, - die Existenz von imperialistischen Blöcken, die offene Krise des kapitalistischen Systems -, so sind sie bereits vorhanden. Ihr Gradmesser der fallenden Profitrate erlaubt es der CWO und BC nicht, dies zu bestreiten; alles, was sie sagen können, ist, dass die Blöcke nicht stark „genug“ sind oder dass die Krise nicht tief „genug“ ist. Vielleicht ist das Szenario der IKS „absurd“, wie die CWO sagt, aber sie muss es auch beweisen. Auf der anderen Seite sind die politischen Auswirkungen der Idee von BC, eine „subjektive Situation der allgemeinen Angst“, oder der Auffassung der CWO von einem „Proletariat, das konfus, desorientiert und, was das Kämpfen angeht, pessimistisch ist“ (RP, Nr. 12), nur schwer zu glauben.
Sollen die Revolutionäre einem kampfbereiten Proletariat, das seit zehn Jahren kämpft, einem Proletariat, das nirgendwo auf der Welt den bürgerlichen Idealen der Verteidigung des „demokratischen“ oder „sozialistischen“ Vaterlandes oder den Austeritätsappellen hinterherläuft, erzählen, dass die Würfel gefallen sind? Die Bedingungen sind nicht mehr dieselben heute. All dies bedeutet wenig für die CWO, die den Wiederaufschwung des Klassenkampfes heute nicht sieht – alles was sie sieht, ist der Rückfluss. Dasselbe gilt für BC, für die der jüngste anti-gewerkschaftliche Kampf in den italienischen Krankenhäusern wenig bedeutet und für die 1969 praktisch nicht geschehen war, bis auf eine vage Bewegung ohne tiefere Bedeutung für die Arbeiterklasse, einfach weil BC nicht dabei war. Auch die IKS war nicht da, doch wir denken, dass die Geschichte bereits vor uns existiert hat! Die Analyse der gegenwärtigen Lage und ihrer politischen Schlussfolgerungen, die Entwicklung einer klaren Orientierung ist kein akademischer Streit, auch wenn die CWO und BC die Debatte in eine Schlacht der Theorie der fallenden Profitrate „versus“ die Theorie der Sättigung der Märkte umwandeln wollen. Aus unserer Sicht liefert die Theorie der Sättigung des Weltmarktes einen kohärenten Rahmen, der uns in die Lage versetzt, die gesamte Periode vom I. Weltkrieg bis zur heutigen Krise zu verstehen: ein Rahmen, der die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate mit beinhaltet und nicht ausschließt. Die wichtigste Sache an der Debatte über die Krise heute sind die Auswirkungen auf unsere Intervention. Die ökonomische Analyse der CWO und BC weisen enorme Schwächen auf theoretischer Ebene auf, aber ihre grundlegende Schwachstelle ist ihre Unterschätzung des Niveaus des heutigen Klassenkampfes, ihre Unfähigkeit zu analysieren, was vor unseren Augen vor sich geht, die keimhaften Anzeichen einer Klassenkonfrontation zu sehen, die unvermeidlich stattfinden werden, ehe die Widersprüche des Kapitals in einem neuen weltweiten Holocaust explodieren.
2. Die zweite Frage, mit der sich die Konferenz beschäftigte, war die nationale Frage. Obgleich alle anwesenden Gruppen, abgesehen vom Nucleo Comunista Internazionalista (NCI), der Auffassung waren, dass das Proletariat nicht mehr nationale Befreiungskämpfe unterstützen kann, trennen immer noch viele Nuancn und Divergenzen die Gruppen auf dieser Konferenz.
Der NCI hält sich Wort für Wort an die von der Kommunistischen Internationale vertretene Position, die die Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen als eine Schwächung des Imperialismus und somit als eine Hilfe für den Kampf des Proletariats auffasst, das sich an die Spitze solcher Bewegung stellen soll. Die Tatsache, dass dies seit 50 Jahren nie so eingetroffen ist, dass in den vergangenen zehn Jahren jedes Mal, wenn die Arbeiterklasse in den Kampf trat, sie auf die politischen Kräfte der „nationalen Befreiung“ stieß – nichts davon stört den NCI, der keinen „Beweis“ dafür erkennen kann, dass sich seine Theorie als falsch erweist. Der NCI tischt uns eine aufgewärmte Version der Idee auf, die Gesellschaftsbewegungen in den unterentwickelten Regionen und die proletarische Bewegung in den fortgeschrittenen Ländern „zusammenzuschweißen“. Er begreift nicht, dass das einzige Zusammenschweißen nur in den Reihen des Weltproletariats, ob in den schwachen oder starken Gebieten des Kapitalismus, stattfinden kann. Der NCI hat sich noch nicht von der verzerrten Sichtweise des Bordigismus losgemacht; er sieht noch immer eine Kontinuität zwischen der Unterwerfung der Massen in den nationalen Befreiungskämpfen und der Mobilisierung des Proletariats. Doch im Gegenteil zeigen alle Erfahrungen dieses Jahrhunderts, dass das Proletariat nur einen kompromisslosen Bruch mit dem nationalen Terrain vollziehen muss, wo immer es sich befindet und welche zahlenmäßige Stärke es innerhalb des Nationalstaates hat, der ihn ausbeutet.
Die Verurteilung aller nationalen Kämpfe durch die IKS hat nichts zu tun mit Gleichgültigkeit, Abstraktion oder Verachtung gegenüber den Volksaufständen, in die auch das Proletariat oftmals verwickelt ist. Es ist eine Anprangerung all jener, die solche Kämpfe zu imperialistischen oder nationalistischen Zwecken ausnutzen, d.h. all jener, die behaupten, dass es möglich ist, auf nationaler Ebene einen Schritt nach vorn zu machen. Einzig und allein die Arbeiterkämpfe können diesen Aufständen eine Richtung geben; ohne diese Arbeiterkämpfe können sie nur im Elend, in Massakern und im Krieg enden. Und man möge uns nicht erzählen, dass dieser Bruch unmöglich ist ohne die Partei! Selbst ohne Partei haben die Arbeiter durch ihre Streiks bereits gezeigt, dass sie den nationalistischen Feuereifer abkühlen können. Dies war der Fall in Angola, Israel, Ägypten, Algerien und Marokko. Der Bruch mit der „nationalen Befreiung“ ist keine Abstraktion, die von der IKS ausgedacht wurde, sondern die Realität von heute.
Noch subtiler ist die Zweideutigkeit, die noch immer in einer Gruppe wie BC in dieser Frage herrscht. Obwohl sie die nationalen Befreiungskämpfe als Bestandteil imperialistischer Kriege bezeichnet, entwirft sie für das Weltproletariat – und somit auch für das Proletariat in diesen Ländern - die Perspektive, durch den Aufbau der künftigen Kommunistischen Internationalen „‘die nationalen Befreiungskämpfe‘ in die proletarische Revolution umzuwandeln“. Wenn die Position des NCI eine gewisse Kohärenz in dieser Frage aufweist, setzt sich BC zwischen den Stühlen. Wir dürfen wählen. Entweder „haben die nationalen Befreiungskämpfe vollständig ihre historische Funktion ausgeschöpft“ (von BC hervorgehoben), dann muss man daraus die Konsequenz ziehen: Sie sind für das Proletariat, das seine eigene historische Mission hat, unbrauchbar geworden. Die Rolle der Klassenpartei liegt nicht darin, diese Kämpfe umzuwandeln, sondern zum Kampf gegen alle Agenturen aufzurufen, die versuchen, es in imperialistische Kriege zu zwingen. Oder es ist möglich, „sie in proletarische Revolutionen umzuwandeln“. Doch dann muss man ihnen als Teil der historischen Aufgaben des Proletariats eine historische Funktion zuerkennen. Dann muss man sagen, dass die nationalen Befreiungskämpfe nicht nur einfach imperialistische Kriege sind.
Es geht nicht darum, die nationalen Befreiungskämpfe in proletarische Revolutionen umzuwandeln, sondern darum, das Proletariat gegen alle nationalen Bewegungen zu mobilisieren. BC wird wahrscheinlich einmal mehr erwidern, dass die IKS wenig „dialektisch“ denkt. Vielleicht täuscht sich die IKS tatsächlich, aber die Diskussion kommt kein Stück voran, wenn man an eine Allzweck-„Dialektik“ appelliert, was an das Verhalten des Arztes erinnert, der jede Krankheit als eine „Allergie“ diagnostiziert. Die Partei ist aus der Sicht von BC die Antwort auf alle unerwarteten Widersprüche. Doch damit die Partei handeln kann, muss sie erst einmal existieren. Und woraus wird sie hervorgehen? Aus den nationalen Befreiungskämpfen? Mit Sicherheit nicht. Sie wird ihre Reihen mit den Elementen verstärken, die endgültig mit allen möglichen Spielarten nationalistischer Politik gebrochen haben. Und wo werden diese Elemente herkommen? Aus den Klassenbewegungen in allen Ländern, einschließlich jener, die heute dem Blut und Eisen der „nationalen Befreiungskämpfe“ des Weltimperialismus unterworfen sind.
Eine grundlegende Vorbedingung für die Fähigkeit des Weltproletariats, seinen Kampf zu führen, ist ein klares, praktisches und theoretisches Verständnis der Tatsache, dass es nur auf seinem eigenen Terrain, auf dem Terrain des Internationalismus kämpfen kann, dass es für das Weltproletariat unmöglich ist, eine Bewegung zu benutzen, die aus den verschiedenen lokalen und internationalen imperialistischen Antagonismen hervorgegangen ist und die die Massen als simples Kanonenfutter benutzt.
Revolutionäre, die heute noch in dieser Frage schwanken, verstärken nur die herrschende Konfusion über den Nationalismus, die heute innerhalb der Arbeiterklasse grassiert. Sie verleihen der bürgerlichen Idee Gewicht, dass der Nationalismus irgendwie doch revolutionär sei. Nur mit Haarspalterei kann man den Arbeitern, die gerade in ihrer Alltagserfahrung begreifen, dass der Kampf in allen Ländern der gleiche ist, erklären, dass ihr Kampf derselbe und doch nicht derselbe ist oder dass durch eine clevere Strategie das Proletariat in die Reihen der Nationalisten eintreten kann, um die Nationalisten gegen den Nationalismus zu wenden. Ebenso gut könnte man darauf setzen, dass die Polizei gegen die Polizei kämpft.
Was die CWO angeht, die sehr besorgt darum ist, sich selbst von jeglicher Unterstützung für nationale Bewegungen zu distanzieren und die diese Frage zu einem Kriterium für den Ausschluss aus der Diskussion machen wollte, so machte sie überhaupt keine Einwände gegen die Positionen der Kommunistischen Internationalen, wie sie vom NCI vertreten werden. Die CWO hat vor allem auf der Idee bestanden, dass nicht alle Länder imperialistisch oder eher nicht „wirklich“ imperialistisch seien und dass der Imperialismus nur eine Politik der kapitalistischen Hauptmächte sei.
Wir können hier nicht näher auf die Einzelheiten dieser Frage eingehen, jedoch wollen wir kurz die Art und Weise ansprechen, wie die CWO diese Frage simplifiziert. In ihrem Artikel in RP, Nr.12, stellt die CWO die Frage: „Wie kann man behaupten, dass zum Beispiel Israel eine unabhängige, imperialistische Macht ist?“ Keiner ist so taub wie jener, der nicht hören will. Die Tatsache, dass heute kein Land dem Imperialismus entweichen kann, dass heute alle Länder der Welt imperialistisch sind, bedeutet ja gerade, dass die nationale Unabhängigkeit unmöglich geworden ist. Die mächtigsten Länder verfügen nicht über einen größeren Spielraum, weil sie imperialistisch sind und die kleinen Staaten nicht, sondern schlicht und einfach weil sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger und/oder die mächtigsten auf den internationalen Schlachtfeldern sind. Die Tatsache, dass alle Länder heute imperialistisch sind, bedeutet eben, dass keine nationale Bourgeoisie ihre Interessen verteidigen kann, ohne auf die objektiven Grenzen eines Weltmarktes zu stoßen, der die Erde bis in die letzten Winkel erobert hat. Somit antworten wir auf die Frage der CWO: Israel ist ein imperialistischer Staat, aber es ist kein unabhängiger Staat.
Die wichtigste Sache hier jedoch sind die politischen Auswirkungen der Auffassung der CWO. Wenn nur die mächtigsten Länder die Mittel haben, eine imperialistische Politik zu betreiben und die zweitrangigen Länder nicht, muss man schon so konsequent sein und bestätigen, dass die nationalen Regierungen der schwächeren Länder nur einfache „Agenten“ der größeren imperialistischen Mächte sind oder, um die linksextremistische Terminologie zu benutzen, die „Lakaien“ der USA, der Supermächte, der UdSSR. Dies ist richtig, aber nicht ausreichend. Die Verurteilung der nationalen Kämpfe ist keine Frage der Moral, der Anprangerung der nationalistischen Fraktionen, die sich an „den Imperialismus“ verkaufen. Sie beruht auf der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Es ist nicht möglich, die Nation außerhalb der imperialistischen Notwendigkeiten zu verteidigen.
3. Beim dritten Punkt, während der Diskussion über die Frage der Partei, bestand die IKS insbesondere auf einen Aspekt: Übernimmt die Partei die Macht? Die Gruppe För Kommunismen antwortete nein, und der FOR (obwohl er während der Konferenz abwesend war) trug einen Text vor, der deutlich feststellt, was die IKS als eine der wichtigsten Lehren aus der Russischen Revolution betrachtet. Die Rolle der Partei besteht nicht darin, die Macht zu übernehmen. Die Macht wird von den Arbeiterräten ergriffen, die die Einheitsorgane der Diktatur des Proletariats sind, innerhalb derer Parteien die kommunistische Avantgarde der Klasse bilden und die bewusstesten und klarsten Elemente in der Bewegung zum Kommunismus um sich sammeln – das Dahinwelken des Staates, das Verschwinden der Klassen, die totale Befreiung der Menschheit.
Der NCI vertrat die Position, dass die Partei die Macht übernimmt, und identifizierte sich mit Lenins Kritik gegen die Linksradikalen in Die Kinderkrankheit des Kommunismus. Er versteht nicht, dass die Kritik an den Fehlern der KI in dieser Frage nichts mit der bürgerlichen Demokratie zu tun hat. Sie beruht auf der Erfahrung des Proletariats in Russland, der Bolschewiki, Lenins, der ungeachtet einiger theoretischer Fehler, die er beging, eine auffällige Klarheit besaß, als er von den höchsten Augenblicken des proletarischen Kampfes sprach.
So sprach Lenin von der „Notwendigkeit, unmittelbar die ganze Macht in die Hände der revolutionären Demokratie zu übergeben, die von dem revolutionären Proletariat angeführt wird" (hervorgehoben von Lenin).
Wenn es eine Frage gab, die nach der Niederlage der Weltrevolution von 1917-23 wirklich debattiert werden musste, dann war es die Frage nach den Machtformen, die aus der Revolution hervorgehen. Der Fehler der Komintern in dieser Frage erwies sich ab dem Moment als ein beschleunigender Faktor der Konterrevolution, als die Isolation die Macht in Russland dazu verleitete, das Zurückweichen der Revolution, zu dem sie durch die internationale Lage gezwungen wurde, als eine Errungenschaft für das Proletariat darzustellen. In dieser Situation wurde die Macht immer autonomer gegenüber den allgemeinen Klassenorganisationen; dies gipfelte in der Tragödie von Kronstadt, die eine bewaffnete Konfrontation zwischen Arbeitern und Staat, mit der bolschewistischen Partei an der Spitze, erlebte. Die Idee, dass die Partei die Macht übernimmt, reflektiert die Unreife der Revolutionäre zu Beginn des Jahrhunderts, die noch von einer Zeit geprägt waren, in der bürgerliche Schemata noch der Referenzpunkt zum Verständnis des revolutionären Prozesses waren.
Die CWO anerkennt, dass die Arbeiterräte die Fundamente der proletarischen Macht sind, aber sie belebt die alten Ideen des bürgerlichen Parlamentarismus wieder und überträgt sie auf die Räte. Aus der Sicht der CWO bedeutet die Machtübernahme, dass die Mehrheit der Räte für revolutionäre Positionen gewonnen worden sind, und da diese Positionen von der Partei getragen werden, ist es schließlich die Partei, die „praktisch“ die Macht ergreift, sobald sie die Mehrheit in den Räten besitzt. So schließt sich der Kreis. Gemäß der CWO äfft das Proletariat, wenn es die Macht übernimmt, den bürgerlichen Parlamentarismus mit seinen Mehrheiten und Minderheiten nach; der proletarische Kampf wird zu einem „Parteienkampf“, in dem jede von ihnen versucht, die Mehrheit für ihre Positionen zu gewinnen, um die Macht zu übernehmen.
Weder die Pariser Kommune noch die Revolution von 1917 folgte diesem numerischen, parlamentarischen Schema. Sie resultierten aus einer tiefgreifenden Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Gesellschaftsklassen, die nichts mit der bloßen parlamentarischen Sanktionierung eines bereits existierenden Klassenrechts zu tun haben, das auf klar umrissene Produktionsverhältnisse beruht. So funktioniert die Bourgeoisie. Für das Proletariat ist die Machtübernahme der bewusste, organisierte Akt einer Klasse, die noch nicht die Vorherrschaft erlangt hat.
In seinem Vorbereitungstext für die Konferenz behauptet BC richtig, dass „es ohne die Partei keine Revolution und Diktatur des Proletariats geben kann, ebenso wie es keine Diktatur des Proletariats und keinen Arbeiterstaat ohne die Arbeiterräte gibt“ (obgleich wir die Formulierung „Arbeiterstaat“ als Bezeichnung des Staates, der aus der Revolution hervorgehen wird, als falsch betrachten). Darüber hinaus behauptet BC, sich von dem “Superparteientum“ der Bordigisten abzugrenzen, für die die Partei ein und alles ist und die Organisation der Arbeiterklasse in Arbeiterräten einfach eine Form sind, die nur durch die Partei einen revolutionären Inhalt erhalten. Aber in der Frage der Machtübernahme behauptet BC letztendlich doch, dass die Partei die Macht übernimmt! Die der BC so teure Dialektik im Verhältnis zwischen Partei und Klasse vereinfacht sich beträchtlich, und all ihre schönen Reden über die Arbeiterräte und die Diktatur des Proletariats, all ihre bissigen Kritiken an den Bordigisten und ihrem „Superparteientum“ lösen sich in Luft auf. Damit wir uns darüber im klaren sind: Es gibt in der Revolution zwei Hauptorgane, Räte und Parteien. Wenn die Partei die Macht übernimmt, welche Rolle fällt dann den Räten zu? Worin liegt der Unterschied zwischen dieser Auffassung und der Idee, dass die Macht des Proletariats die Einwilligung der Basis (den Räten) gegenüber einer Spitze (der Partei) bedeutet, die faktisch die Macht ausübt? Die Frage der Macht wird wieder einmal als die Macht eines Teils im Namen des Ganzen aufgefasst. Für das Proletariat ist das nicht möglich. Seine einzige Stärke liegt gerade in der kollektiven Fähigkeit, die politische Macht auszuüben. Entweder ergreift das Proletariat die Macht auf kollektive Weise, oder es kann keine Macht ergreifen, und niemand kann es an seiner Stelle tun. Als die bolschewistische Partei die Macht ergriff, geschah dies mit der Parole „Alle Macht den Räten“ und nicht „Alle Macht der Partei“. Es ist verständlich, dass die Unterscheidung zwischen den beiden Organen Lenin und den Bolschewiki ziemlich unklar war. Die Bolschewiki waren die ersten, die von ihrer großen Gefolgschaft innerhalb der Arbeiterklasse überrascht wurden; es war die Initiative der Massen, die die bolschewistische Partei in der Frage des Aufstands und der Machtergreifung vorwärtsdrängte, während Lenin selbst zögerte, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare zu werden.
Später, mit dem Zurückweichen der Revolution, wurde der tragische Beweis geliefert, dass es der Partei unmöglich war, die Macht der Klasse zu ersetzen, die unter den Schlägen der Auszehrung und internationalen Isolation zerfiel. Wenn die Arbeiterklasse mobilisiert ist, kann sie ermöglichen, dass sich in ihrer Partei die größte Klarheit verbreitet, sie erlaubt ihr, die größte revolutionäre Standfestigkeit zu demonstrieren. Doch die größte revolutionäre Standfestigkeit in der besten aller Parteien kann nicht die proletarische Macht einer demobilisierten Klasse aufrechterhalten. Warum? Im wesentlichen weil sich das Wesen der Macht des Proletariats von seinem Wesen als ausgebeutete Klasse ableitet, deren einzige Stärke die kollektive Stärke ist. Die Frage der Machtübernahme ist komplex; sie kann nicht durch den Größenwahnsinn politischer Gruppen gelöst werden, die sich dem Problem entziehen, indem sie die Macht für sich beanspruchen. Die Macht der Partei kann nie eine Garantie sein. Die einzige Garantie befindet sich in der Arbeiterklasse selbst. Die Rolle der revolutionären Partei besteht darin, diese einzige Garantie gegen jede Demobilisierung zu verteidigen - eine Demobilisierung, die nur verschärft werden kann durch jene, die dem Proletariat sagen: „Gebt uns die Macht, wir werden die Revolution durchführen.“
Einige Schlussbemerkungen
Der wichtigste Fortschritt der Internationalen Konferenz war die Erweiterung der Debatte auf neue Gruppen, die an der ersten Konferenz in Mailand nicht teilgenommen hatten. Die direkte Konfrontation von Positionen verschiedener Gruppen, die Klärung von Divergenzen, die Präzisierung von Formulierungen, die solch eine Konfrontation erfordert, sind lebenswichtig für die Organisationen, die im Klassenkampf intervenieren.
Daher hat die IKS während und nach der Konferenz auf das Problem des Sektierertums beharrt. In demselben Punkt gibt es zwei Dinge, die unserer Auffassung nach in den Schlussfolgerungen bedauert werden sollten. Zwar waren die Gruppen einverstanden, diese Arbeit fortzusetzen, doch die Konferenz machte keine Ankündigung als solche und war unfähig, eine gemeinsame offizielle Erklärung über die geleistete Arbeit zu formulieren. In diesem Sinne ist die Konferenz als Organ stumm geblieben und war nicht in der Lage, kollektiv einen Überblick über die Übereinkünfte und Nicht-Übereinkünfte zwischen den Gruppen in den Fragen der Tagesordnung zu geben.
Resolutionen, die aus solch einer Konferenz hervorgehen, sind aus Prinzip verworfen worden. Wenn die IKS die in dieser Internationalen Revue veröffentlichten Resolutionen vorschlägt, dann geschieht dies nicht, weil sie selbstherrlich handelt oder eine politische Übereinkunft mit irgendjemanden zu erzwingen versucht oder ihre eigenen politischen Positionen modifiziert. Wir müssen aber wissen, ob wir Schwätzer oder revolutionäre Militanten sind. Wir nehmen nicht an internationalen Konferenzen teil, um uns mit einer gemeinsamen Veröffentlichung am Ende einer Konferenz zufriedenzugeben, in der jeder seine Position zum Ausdruck bringt, um anschließend zur Arbeit zurückzukehren, als ob nichts geschehen sei. Die Vorbereitungstexte und die Debatten sind Momente, die ermöglichen sollen, Punkte der Übereinstimmung und Uneinigkeit zu klären. Dies muss in die Fähigkeit übersetzt werden, öffentlich und schwarz auf weiß nicht nur eine einfache Gegenüberstellung der Positionen und Erklärungen der jeweiligen Gruppen zu erstellen, sondern möglichst eine gemeinsame Stellungnahme zu formulieren.
Dies war nicht möglich, und es war eine Schwäche der Konferenz. Paradoxerweise wurde dieses Ansinnen, als Konferenz stumm zu bleiben, indem man gemeinsame Erklärungen verweigert, von der Sorge begleitet, für künftige Konferenzen weitere Einladungskriterien hinzuzufügen – Kriterien der „Auswahl“ für BC und des „Ausschlusses“ für die CWO. Wir haben hier einen Vorschlag, der zu einer Art Minimalplattform anstelle eines Diskussionsrahmens tendiert, und gleichzeitig eine Weigerung, gemeinsame Ankündigungen über irgendetwas zu machen. Gratulation an jene, die dies verstehen können. Selbst die getroffenen Beschlüsse, wie die Vorbereitung der nächsten Konferenz, schweben in der Luft. Es sei dem Leser der Broschüre überlassen, die praktischen Auswirkungen der geleisteten Arbeit zu interpretieren.
M.G.
[1] [2] Für Details vgl. International Review Nr. 16 (engl./franz./spanz. Ausgabe)
I. Seit Beginn der Arbeiterbewegung gehörte die Einheit der Revolutionäre zu deren wesentlichsten Bemühungen. Dieses Bedürfnis nach der Einheit der höchst entwickelten Elemente der Klasse ist Ausdruck der tiefen, historischen und unmittelbaren Interessenseinheit der Klasse und stellt einen entscheidenden Faktor im Prozess ihrer weltweiten Vereinigung und der Verwirklichung ihres eigenen Seins dar. Ob wir über den Versuch, 1850 einen „Weltbund der Kommunistischen Revolutionäre" zu bilden, der den Bund der Kommunisten, die Blanquisten und die linken Chartisten um sich sammeln wollte, über die Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864, der Zweiten Internationale 1889 oder der Kommunistischen Internationale 1919 sprechen - jeder wichtige Schritt in der Entwicklung der Arbeiterbewegung beruhte auf diesem Streben nach einer weltweiten Umgruppierung der Revolutionäre.
II. Obwohl diese Tendenz zur Einheit der Revolutionäre einer wesentlichen Notwendigkeit des Klassenkampfes entsprach, wurde diese Tendenz wie auch die Neigung der gesamten Klasse zur Vereinigung ständig durch eine ganze Reihe von Faktoren aufgehalten wie:
III. Die Fähigkeit dieser Tendenz zur Vereinigung der Revolutionäre, diese Hindernisse zu überwinden, entspricht im allgemeinen ziemlich getreu dem Kräfteverhältnis zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat. Den Rückflussperioden des Klassenkampfes entspricht in der Regel eine Bewegung der Zersplitterung und der Isolierung der revolutionären Strömungen und Elemente voneinander. Dagegen werden die proletarischen Aufstiegsperioden von der Konkretisierung der grundsätzlichen Tendenz zur Vereinheitlichung der Revolutionäre begleitet. Dieses Phänomen zeigt sich besonders deutlich bei der Bildung der Parteien des Proletariats, die im Kontext einer qualitativen Entwicklung des Klassenkampfes stattfindet und im allgemeinen ein Ergebnis der Umgruppierung verschiedener politischer Tendenzen der Klasse ist. Dies war besonders der Fall:
Unabhängig von den Schwächen mancher dieser Strömungen und obwohl im allgemeinen die Vereinigung um die politisch stärkste Strömung herum geschah, ist es Tatsache, dass Parteigründungen nie das Resultat einer einseitigen Proklamierung gewesen waren, sondern das Produkt eines dynamischen Umgruppierungsprozesses der höchst entwickelten Elemente der Klasse.
IV. Die Existenz eines solchen Umgruppierungsprozesses in den Momenten der historischen Entwicklung im Klassenkampf erklärt sich durch:
V. Die heutige Situation im revolutionären Milieu wird charakterisiert durch seine extreme Zersplitterung, die Existenz wichtiger Divergenzen über grundsätzliche Fragen, die Isolierung seiner verschiedenen Komponenten voneinander, das Gewicht des Sektierertums, den Krämergeist, die Verknöcherung mancher Strömungen und die Unerfahrenheit anderer. All dies sind Ausdrücke der fürchterlichen Auswirkungen eines halben Jahrhunderts der Konterrevolution.
VI. Eine statische Herangehensweise an diese Situation kann zu der besonders von Fomento Obrero Revolucionario (FOR) vertretenen Idee verleiten, dass es weder heute noch in der Zukunft eine Möglichkeit für eine Annäherung der verschiedenen Positionen und Analysen gibt, die gegenwärtig existieren, für eine Annäherung also, die allein eine gemeinsame Kohärenz und Klarheit ermöglichen kann, die für jegliche Plattform für die Konstituierung einer vereinten Organisation unerlässlich ist.
Solch eine Herangehensweise ignoriert zwei wesentliche Elemente:
VII. Heute haben das Versinken des Kapitalismus in die akute Krise und das weltweite Wiedererwachen des Proletariats die Umgruppierung der Revolutionäre ganz akut auf die Tagesordnung gesetzt. All die Probleme, denen sich die Revolutionäre gemeinsam mit der Klasse in der Praxis stellen werden,
Doch auch wenn die Forderung nach Einheit und in erster Linie die Eröffnung von Debatten zwischen Revolutionären absolut notwendig sind, werden sie nicht mechanisch in die Realität übersetzt. Sie müssen mit einem wirklichen Verständnis dieser Notwendigkeit und einem militanten Durchsetzungswillen einhergehen. Jene Gruppen, die sich heute dieser Notwendigkeit nicht bewusst geworden sind und sich weigern, an dem Diskussions- und Umgruppierungsprozess teilzunehmen, sind verurteilt, der Bewegung Steine in den Weg zu legen und als Ausdrücke des Proletariats zu verschwinden, es sei denn, sie revidieren ihre Positionen.
VIII. All diese Erwägungen animieren die IKS zur Teilnahme an den Debatten, die sich im Rahmen der Mailänder Konferenz im Mai 1977 und der Pariser Konferenz im November 1978 entwickelt hatten. Weil die IKS die aktuelle Periode als eine Zeit des historischen Wiedererwachens der Arbeiterklasse analysiert, misst sie diesen Bemühungen eine solche Bedeutung bei, verurteilt vehement dieses sektiererische Verhalten der Gruppen, die solche Anstrengungen vernachlässigen oder ablehnen, und betrachtet dieses sektiererische Verhalten an sich als eine politische Position, deren Auswirkungen die kommunistische Bewegung behindern. Die IKS schätzt daher diese Diskussionen als ein sehr wichtiges Element im Umgruppierungsprozess der revolutionären Kräfte, der zu ihrer Vereinigung in der Weltpartei des Proletariats, jener essentiellen Waffe im revolutionären Kampf der Klasse, führen wird.
Die spanischen Kollektive von 1936 wurden von den Anarchisten als das perfekte Modell der Revolution dargestellt. Ihrer Auffassung gemäß ermöglichten die Kollektive die Arbeiterselbstverwaltung der Wirtschaft, bedeuteten die Abschaffung der Bürokratie, steigerten die Arbeitseffizienz und waren – „Wunder über Wunder“ - „das Werk der Arbeiter selbst… allzeit von den Libertären angeführt und orientiert“ (in den Worten von Gaston Leval, einem kompromisslosen Vertreter des Anarchismus und der CNT).
Aber die Anarchisten sind nicht die einzigen, die uns das „Paradies“ der Kollektive anpreisen. Heribert Barrera - 1936 ein katalonischer Republikaner, heute Parlamentsabgeordneter im Cortes - lobt sie als „ein Beispiel der Mischwirtschaft, die sowohl die Freiheit als auch die menschliche Initiative respektiert“ (!!!),während uns die Trotzkisten der POUM erzählen, dass „das Werk der Kollektive der spanischen Revolution im Vergleich zu der russischen Revolution einen viel tieferen Charakter verliehen hatte“. G. Munis und die Genossen des FOR (Fomente Obrero Revolucionario) machen sich Illusionen über den „revolutionären“ und „tiefgründigen“ Charakter der Kollektive.
Was uns angeht, so sehen wir uns einmal mehr gezwungen, den Spielverderber zu spielen; die Kollektive 1936 waren kein Mittel der proletarischen Revolution, sondern ein Instrument der bürgerlichen Konterrevolution; sie waren nicht die „Organisation der neuen Gesellschaft“, sondern der letzte Ausweg der alten Gesellschaft, die sich mit aller Brutalität verteidigte.
Wir versuchen hier nicht, unsere Klasse zu demoralisieren. Im Gegenteil, die beste Art, sie zu entmutigen, ist, sie für falsche Revolutionsmodelle kämpfen zu lassen. Die Grundbedingung für den Sieg ihrer revolutionären Bestrebungen besteht in der vollständigen Befreiung von allen falschen Modellen, von allen falschen Paradiesen.
Was waren die Kollektive?
1936 erlebte Spanien, das von der Wirtschaftskrise, die den Weltkapitalismus seit 1929 erschüttert hatte, völlig überwältigt wurde, besonders schwere Erschütterungen.
Jedes nationale Kapital litt unter drei Arten gesellschaftlichen Aufruhrs:
In Spanien 1936 wirkten diese drei Erschütterungen mit einer bestialischen Intensität zusammen, was den spanischen Kapitalismus in eine extreme Lage versetzte.
Erstens führte das spanische Proletariat - das im Gegensatz zu seinen europäischen Klassenbrüdern noch nicht geschlagen war – einen kraftvollen Kampf gegen die Ausbeutung, der von einer außergewöhnlichen Eskalation in Gestalt von Generalstreiks, Revolten und Aufständen gekennzeichnet war, die die herrschende Klasse in Alarmstimmung versetzte.
Zweitens verschärften sich die internen Konflikte der herrschenden Klasse nahezu täglich. Eine rückständige Wirtschaft, die von einem enormen Ungleichgewicht zerrissen und daher von der Weltwirtschaftskrise mit viel größerer Intensität verspeist wurde, war der beste Nährboden für den Ausbruch von Konflikten zwischen der Bourgeoisie der Rechten (Großgrundbesitzer, Finanziers, das Militär, die Kirche – alle unter Franco vereint) und der linken Bourgeoisie (Industrielle, städtischer Mittelstand, Gewerkschaften usw., die von der Republik und der Volksfront angeführt wurden).
Schließlich wurde der spanische Kapitalismus aufgrund seiner Instabilität zu einer leichten Beute für den imperialistischen Heißhunger, der, von der Krise angetrieben, immer neue Märkte und neue strategische Positionen auf dem Weg zur Vorherrschaft benötigte. Deutschland und Italien hatten in Franco ihren Faustpfand und versteckten sich hinter der Maske der „Tradition“ und des „Kreuzzuges gegen den atheistischen Kommunismus". Russland und die Westmächte - damals noch verbrüdert - fanden in der Republik und der Volksfront ihre Bastion, die sich hinter dem Schleier des „Antifaschismus“ und des „revolutionären Kampfes“ verbarg.
Unter diesen Begleitumständen brach am berühmten 18. Juli 1936 Francos Revolte aus, die für die Arbeiterklasse den Höhepunkt der Überausbeutung und der Repression darstellte, welche seit 1936 von der Republik initiiert worden war. Die Reaktion der Arbeiterklasse erfolgte unmittelbar und gewaltig: Generalstreik, Aufstand, Bewaffnung der Massen, Enteignung und Besetzung von Betrieben.
Vom ersten Augenblick an versuchten alle Kräfte der linken Bourgeoisie, von den republikanischen Parteien bis zur CNT, die Arbeiter in die Falle des „antifaschistischen“ Kampfes zu locken und in dieser Falle die Betriebsenteignungen in einen Selbstzweck umzuwandeln, damit die Arbeiter die Arbeit wieder aufnehmen, im illusorischen Glauben, dass die Unternehmen ihnen gehörten, dass sie „kollektiviert“ seien.
Aber die Tage des Juliaufstands zeigten der Gesellschaft, dass sich der Kampf der Arbeiter nicht nur gegen Franco, sondern auch gleichzeitig gegen den republikanischen Staat richtete. Die Arbeiter streikten, enteigneten die Unternehmen und bewaffneten sich als autonome Klasse, um gegen die Gesamtheit des kapitalistischen Staates, d.h. sowohl gegen den frankistischen als auch gegen den republikanischen Staat, eine Offensive zu beginnen. Um den aufständischen Streik erfolgreich durchzuführen, konnten sich die Arbeiter nicht mit den Enteignungen und der Bildung von Milizen zufriedengeben, sondern mussten gleichzeitig neben der frankistischen Armee auch alle republikanischen Kräfte (Azana, Companys, KP, CNT usw.) und anschließend den kapitalistischen Staat vollständig zerstören, um auf dessen Trümmern die Macht der Arbeiterräte aufzubauen.
Indessen lag der Schlüssel für das Scheiterns des Proletariats und seiner Rekrutierung für die Barbarei des Bürgerkriegs in der Tatsache, dass es den republikanischen Kräften - allen voran die CNT und die POUM - gelang, die Arbeiter vom entscheidenden Schritt abzuhalten - die Zerstörung des kapitalistischen Staates - und sie in die „Kollektivierung der Wirtschaft“ und den „antifaschistischen Kampf“ einzusperren.
Den katalonischen Nationalisten, der Volksfront und vor allem der CNT gelang es, die Arbeiter in die schlichte Enteignung der Unternehmen einzuschließen, indem sie diese Aktionen als „revolutionäre Kollektive“ etikettierten. Da sie innerhalb des kapitalistischen Staates verblieben und diesen unberührt ließen, wurden diese Aktionen nicht nur unbrauchbar für die Arbeiter, sondern auch zu einem Mittel für ihre Überausbeutung und Kontrolle durch das Kapital.
„Da die Staatsgewalt intakt blieb, konnte die Generalitat Kataloniens die von den Arbeitern vorgenommenen Enteignungen in aller Ruhe legalisieren und in den Chor all der 'Arbeiterströmungen' mit einstimmen, die die Arbeiter mit den Mystifikationen der Enteignung, der Arbeiterkontrolle, der Landaufteilung, der Säuberungen getäuscht hatten. Diese 'Arbeiterströmungen' bewahrten aber gleichzeitig ein kriminelles Schweigen über die nicht so offen auftretende, in der Realität aber furchtbar wirksame Existenz des kapitalistischen Staates. Aus diesem Grund blieben die von den Arbeitern vorgenommenen Enteignungen im Rahmen des kapitalistischen Staates integriert.“ (Bilan)
Somit sehen wir, dass die CNT, die nie zu den spontanen Streiks des 19. Juli und auch nicht zur Bewaffnung der Arbeiter aufgerufen hatte, nun unter dem Vorwand, dass die Unternehmen bereits „kollektiviert“ seien, umgehend zur Beendigung des Streiks und zur Wiederaufnahme der Arbeit aufrief, mit anderen Worten, sich dem Angriff der Arbeiter gegen den kapitalistischen Staat entgegenstellte. In seinem Buch „Libertäre Kollektive in Spanien“ äußert sich Gaston Leval auf folgende Weise: „Zu Beginn des faschistischen Angriffs wurde die Bevölkerung durch den Kampf und den Alarmzustand fünf oder sechs Tage lang mobilisiert; danach gab die CNT die Order aus, die Arbeit wiederaufzunehmen. Den Streik zu verlängern wäre gegen die Interessen der Arbeiter selbst gewesen, die die Verantwortung für die Situation übernahmen“.
Die schönen „libertären“ Kollektive, die gemäß der POUM eine „tiefere Revolution als die russische“ waren, rechtfertigten die Rückkehr zur Arbeit, das Ende des revolutionären Aufstands, die Unterwerfung der Arbeiter unter die Kriegsproduktion. Unter den damaligen Umständen des Aufruhrs und des extremen Zusammenbruchs des kapitalistischen Gefüges waren die Kollektive mit ihrer radikalen Fassade das letzte Mittel, um die Arbeiter zur Arbeit zu bewegen und die Herrschaft der Ausbeutung zu retten, wie Osorio Gallardo, ein rechter monarchistischer Politiker, offen zugab: „Wir sollten unparteiisch urteilen. Die Kollektive waren eine Notwendigkeit. Der Kapitalismus hatte seine ganze moralische Autorität verloren, seine Herren konnten keine Befehle mehr erteilen, und die Arbeiter wollten auch nicht mehr gehorchen. In solch einer beängstigenden Situation konnte die Industrie entweder stillgelegt werden, oder die Generalitat übernahm sie, indem sie einen sowjetischen Kommunismus errichtete“.
Im Dienst der Kriegswirtschaft
Es ist lachhaft, wenn uns erzählt wird, dass die Kollektive ein Modell des „Kommunismus“, der „Arbeitermacht“ gewesen seien, eine „viel tiefere Revolution als die in Russland“. Die Unzahl von Informationen, von Tatsachen und Zeugnissen, die das Gegenteil beweisen, ist überwältigend. Betrachten wir diese einmal näher:
1. Eine ganze Reihe von Kollektivierungen wurde mit dem Einverständnis der Unternehmer selbst durchgeführt. Hinsichtlich der Kollektivierung der Schokoladenindustrie von Torrente (Valencia) schreibt Gaston Leval in dem oben zitierten Buch: „Motiviert von dem Wunsch nach Modernisierung der Produktion (?) sowie nach Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (sic!), lud die CNT zu einer Versammlung am 1. September 1936 ein. Die Unternehmer wurden genauso wie die Arbeiter zur Teilnahme im Kollektiv eingeladen. Und alle stimmten darin überein, sich für die Organisierung der Produktion und des Lebens auf ganz neuer Grundlage zusammenzuschließen".
Diese „ganz neue Grundlage des Lebens“ hielt die Pfeiler des kapitalistischen Regimes aufrecht, wie z.B. im Kollektiv der Straßenbahnen Barcelonas: Das Kollektiv „akzeptierte nicht nur, den Gläubigern der Gesellschaft die aufgenommenen Kredite zurückzuzahlen, sondern verhandelte sogar mit den Aktionären, die auf einer Aktionärsversammlung einbestellt wurden“ (ebenda).
War dies die tiefgreifende Revolution: die alten Schulden und die Interessen der Aktionäre zu respektieren? Eine seltsame Art, die Produktion und das Leben auf ganz neue Grundlagen zu organisieren!
2. Die Kollektive spielten den Gewerkschaften und den bürgerlichen politischen Parteien beim Wiederaufbau der kapitalistischen Wirtschaft in die Hände:
Wie daraus ersichtlich wird, ging kein Pfennig der Gewinne an die Arbeiter, aber das macht ja nichts! Gaston Leval rechtfertigt dies mit dem größten Zynismus: „Man kann sich mit gutem Grund fragen, warum die Gewinne nicht unter den Arbeitern aufgeteilt werden, die den Gewinn erarbeitet haben. Darauf antworten wir: weil diese Gewinne für Zwecke der gesellschaftlichen Solidarität reserviert sind“. „Gesellschaftliche Solidarität“ mit der Ausbeutung, mit der Kriegswirtschaft, mit der schrecklichsten Armut!
3. Die Kollektive rührten das ausländische Kapital nicht an, „um die befreundeten Länder nicht zu verärgern“, wie die POUM sagt. Wir übersetzen dies: um sich den imperialistischen Mächten zu unterwerfen, die die republikanische Bande unterstützten. Welch eine fabelhafte und tiefgreifende Revolution!
4. Die Organe, die die Kollektive zur Welt brachten und führten (Gewerkschaften, politische Parteien, Komitees) waren völlig in den kapitalistischen Staat integriert: „Die Fabrikkomitees und die Kontrollkomitees der enteigneten Betriebe verwandelten sich in Organe zur Aktivierung der Produktion, und aus diesem Grund wurde ihr Klassencharakter unkenntlich gemacht. Bei diesen Komitees handelte es sich nicht um Organe, die im Verlauf des aufständischen Streiks für die Zerstörung des Staates geschaffen worden waren, sondern um Organe, die auf die Kriegsproduktion orientiert waren, eine grundlegende Bedingung dafür, um das Überleben und die Verstärkung des besagten Staates zu erlauben.“ (Bilan)
Und was die Parteien und die Gewerkschaften betrifft, so kann man sagen, dass nicht nur die Kräfte der Volksfront, sondern auch die eher „basisbezogenen“ und „radikalen“ Organisationen in den Staat integriert waren: Die CNT beteiligte sich am Wirtschaftsrat Kataloniens mit vier Delegierten, an der Regierung der Generalitat Kataloniens mit drei Ministern und an der Zentralregierung Madrids mit drei weiteren Ministern. Aber sie beteiligte sich nicht nur in vollem Ausmaß an der Spitze des Staates, sondern auch an der Basis dieses Staates, von Dorf zu Dorf, von Betrieb zu Betrieb, von Stadtviertel zu Stadtviertel. Das republikanische Spanien hatte Hunderte von „libertären“ Bürgermeistern, Stadträten, Verwaltungschefs, Polizeichefs, Offizieren usw. gekannt.
Aber diese Kräfte sind nicht nur aufgrund ihrer direkten Teilnahme innerhalb des Staates integraler Bestandteil desselben. Es ist die Gesamtheit der von ihnen vertretenen Politik, die sie zu Fleisch und Blut der kapitalistischen Ordnung machte. Jene Philosophie, die die Aktionen der Kollektive ständig hemmte, war die antifaschistische Einheit, die die Opfer der Arbeiter an der militärischen Front und die Überausbeutung an der Heimatfront rechtfertigte. Gaston Leval erklärt uns unmissverständlich diese Politik, die u.a. von der CNT verfolgt wurde: „Wir mussten jene so beschränkten und trotzdem beachtlichen Freiheiten verteidigen, die von der Republik repräsentiert wurden“. Gaston Leval „vergisst“ die „beachtliche Freiheit“ der Arbeiter, die von der republikanischen Repression gegen Arbeiterstreiks verkörpert wurde (erinnert sei an Casas Viejas, Alto Liobregat, Asturien etc.) „Es handelte sich nicht darum, den libertären Kommunismus einzuführen, auch nicht um eine Offensive gegen den Kapitalismus, den Staat oder die politischen Parteien; es war der Versuch, den Triumpf des Faschismus zu verhindern." (Gaston Leval)
Warum zum Teufel kritisieren dann die CNT, die Anarchisten und Co. die spanische KP, wenn ihr Programm genau das gleiche war: nämlich die Verteidigung des Kapitalismus hinter dem Humbug des Antifaschismus?
5. Der „revolutionäre, antikapitalistische und libertäre“ Charakter der Kollektive wurde vom kapitalistischen Staat praktischerweise gutgeheißen, der sie mit dem Kollektivierungsdekret (24. Okt. 1936) anerkannte und sie mittels der Konstituierung des Wirtschaftsrates koordinierte. Und wer unterzeichnete beide Dekrete? Herr Tarradellas, heute brandneuer Präsident der Generalitat Kataloniens!
Wir sind zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass die Kollektive nicht einmal ein Minimalangriff gegen die bürgerliche Ordnung waren, sondern eine Form, welche sich die Bourgeoisie zu eigen machte, um die Wirtschaft zu reorganisieren und um die Ausbeutung aufrechtzuerhalten in einem Augenblick äußerster gesellschaftlicher Spannungen und einer enormen Radikalisierung der Arbeiter, die es ihr nicht erlaubte, zum Gebrauch traditioneller Methoden zu greifen. „Angesichts des Aufruhrs in der Klasse kann der Kapitalismus nicht einmal daran denken, Zuflucht zu den klassischen Methoden der Legalität zu nehmen. Was ihn bedroht, ist die UNABHÄNGIGKEIT des proletarischen Kampfes, die die Bedingung für die nächste revolutionäre Epoche ist, die zur Abschaffung der bürgerlichen Herrschaft führt. Daher muss der Kapitalismus das Netz seiner Kontrolle über die Ausgebeuteten enger knüpfen. Die Maschen dieses Netzes, die vormals die Staatsverwaltung, die Polizei, die Gefängnisse waren, verwandelten sich in der extremen Lage von Barcelona in Milizkomitees, vergesellschaftete Industrien, Arbeitergewerkschaften, Wachmannschaften, etc." (Bilan)
Die Implantierung der Kriegswirtschaft
Nachdem wir das Wesen der Kollektive als kapitalistisches Instrument ausgemacht haben, beginnen wir ihre Rolle zu erkennen. Sie sollten eine drakonische Kriegswirtschaft innerhalb des Proletariats installieren, die die enormen Kosten erleichtern und Ressourcen in Anspruch nehmen sollte, welche der imperialistische Krieg in Spanien von 1936-39 erforderlich machte.
Kurz, die Kriegswirtschaft bedeutete dreierlei:
Das Feigenblatt der Kollektive ermöglichte der Bourgeoisie, den Arbeitern eine militärische Arbeitsdisziplin, die Verlängerung des Arbeitstages und unbezahlte Überstunden aufzuzwingen.
Ein bürgerlicher Journalist schilderte entzückt die in der Ford-Fabrik herrschende „Atmosphäre“: „Es gab weder Kommentare noch Kontroversen. Zuerst kam der Krieg und für ihn galt es zu arbeiten und endlos zu arbeiten (...) Optimistisch und zufrieden, wie sie waren, machte es ihnen nichts aus, dass ihr Komitee - aus Arbeitergenossen wie sie zusammengesetzt - strenge Anweisungen erteilte und mehr Arbeitsstunden anordnete. Was wichtig war, war der Sieg über den Faschismus.“
Die Statuten der Kollektive bestimmten eindeutig die Installation einer Militarisierung der Arbeit: „Artikel 24: Alle werden zur Arbeit ohne Zeitbegrenzung verpflichtet, um das Notwendige zum Nutzen des Kollektivs zu tun; Artikel 25: Jedes Kollektivmitglied ist verpflichtet, zusätzlich zu der ihm zugeteilten Arbeit Hilfe zu leisten, wo seine Hilfe gebraucht wird, d.h. bei allen dringenden oder unvorhergesehenen Arbeiten.“ (Jativa-Kollektiv, Valencia)
In den Kollektiv-„Versammlungen“ wurden mehr und mehr Kasernenmethoden „demokratisch“ erzwungen: „Es wurde beschlossen, eine Werkstatt zu organisieren, wo die Frauen arbeiten können, statt ihre Zeit auf der Straße tratschend zu verlieren (...) Schließlich wurde beschlossen, dass es in jeder Werkstatt eine Delegierte gibt, die es übernimmt, die weiblichen Lehrlinge zu kontrollieren, welche bei zweimaliger grundloser Abwesenheit ohne Einspruch entlassen werden können.“ (Tamarite-Kollektiv, Huesca)
Was die Rationierungen angeht, so erklärt eine katalanische Zeitschrift aus der damaligen Zeit, ohne rot zu werden, die „demokratische“ Methode, mit der sie den Arbeitern aufgezwungen wurden: „Im ganzen Land sind die Bürger verpflichtet, bei allem zu sparen, von den wertvollen Metallen bis hin zu Kartoffelschalen. Die öffentliche Gewalt verlangt dieses strenge Regime. Aber hier in Katalonien ist es das Volk, das sich vollkommen spontan, freiwillig und bewusst eine strenge Rationierung auferlegt.“
Das erste Gesetz des „ultra-revolutionären“ Rates von Aragon (mit Durruti und anderen Satrapen) lautet: „Für den Bedarf der Kollektive werden Rationierungskarten ausgegeben.“ Diese mit „revolutionären Mitteln“ durchgesetzten und „von den Bürgern bewusst akzeptierten“ Rationierungen bedeuteten eine unbeschreibliche Armut für die Arbeiter und die gesamte Bevölkerung. Gaston Leval gesteht ohne Scham ein: „In den meisten Kollektiven gab es fast immer Fleischmangel und vielfach selbst Kartoffelmangel." (ob.zit.)
Letztlich hatten die Kasernendisziplin, die von der Bourgeoisie hinter der Maske der Kollektive erzwungenen Rationierungen ein einziges Ziel: alle wirtschaftlichen und menschlichen Quellen dem blutgierigen Gott des imperialistischen Krieges zu opfern:
Die Kollektive: Instrumente der Überausbeutung
Am sichtbarsten wird das arbeiterfeindliche Wesen der unheilvollen anarchistischen „Kollektive“ in der Tatsache, dass es der republikanischen Bourgeoisie mit ihrer Hilfe gelang, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter auf ein unerträgliches Maß zu reduzieren:
Gerade die sog. „Arbeiterorganisationen“ (KP, UGT, POUM und vor allem die CNT) warben mit größtem Nachdruck für Überausbeutung und Verschlechterung der Lage der Arbeiter.
Peiro, ein Bonze der CNT, schrieb im August 1936: „Für die Bedürfnisse der Nation reicht die 40-Stunden-Woche nicht aus; tatsächlich ist nichts weniger angebracht.“
Die gewerkschaftlichen Anweisungen der CNT waren am „günstigsten“ für die Arbeiter: „Arbeiten, produzieren und verkaufen. Keine Lohnforderungen oder irgendwelche anderen Forderungen. Alles muss dem Krieg untergeordnet werden. In Produktionszweigen, die in direkter oder indirekter Verbindung mit dem antifaschistischen Krieg stehen, dürfen keine Forderungen hinsichtlich der Arbeitsgrundlagen gestellt werden, weder bezüglich der Löhne noch bezüglich der Arbeitszeit. Die Arbeiter können keine Extralöhne für die zugunsten des antifaschistischen Krieges geleisteten Überstunden verlangen und müssen die Produktion im Vergleich zum Zeitraum vor dem 19. Juli erhöhen.“
Die KP heulte: „Nein zu den Streiks im demokratischen Spanien! Kein fauler Arbeiter in der Nachhut!“
Natürlich dienten die Kollektive, das Instrument der „Arbeitermacht“ und der „Vergesellschaftung“ in den Händen des Staates, als Ausrede dafür, dass die Arbeiter die brutale Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen schluckten.
So geschehen im Kollektiv von Graus (Huesca): „Den Frauen wird kein Lohn für ihre Arbeit bezahlt, falls ihre Bedürfnisse durch das Einkommen der Familie gedeckt werden“. Im Kollektiv von Hospitalet (Barcelona): „Die Notwendigkeit außergewöhnlicher Anstrengungen berücksichtigend, werden wir auf die 5%ige Lohnerhöhung und auf die von der Regierung beschlossene Arbeitszeitverkürzung verzichten“. Päpstlicher als der Papst!
Schlußfolgerungen
Die traurige historische Erfahrung in Erinnerung zu rufen, die das spanische Proletariat durchmachte, den großen Schwindel der Kollektive zu brandmarken, mit denen es der Bourgeoisie gelungen war, das Proletariat zu täuschen, ist keine Frage für Intellektuelle und für die Gelehrten. Es ist eine lebenswichtige Notwendigkeit, um nicht wieder in die gleiche Falle zu tappen. Um uns zu besiegen und dazu zu bringen, Überausbeutung, Arbeitslosigkeit und andere Opfer zu schlucken, benutzt die Bourgeoisie Lügen: Sie kleidet sich als „Arbeiter“ und geriert sich als „Volksfreund“ (1936 machte sich die Bourgeoisie Schwielen an die Hände und zog sich als „Arbeiter“ an); die Fabriken wurden als „sozialisiert“ und „selbstverwaltet“ ausgegeben. Sie ruft zu jeder Art von Solidarität zwischen den Klassen hinter den Fahnen des Antifaschismus, der „Verteidigung der Demokratie“, dem „Kampf gegen den Terrorismus“ etc. auf. Sie vermittelt den Arbeitern den falschen Eindruck, „frei“ zu sein, die Wirtschaft zu „kontrollieren“ usw. Aber hinter so viel Demokratie, „Beteiligung“ und „Selbstverwaltung“ versteckt sich unangetastet, mächtiger und stärker denn je der bürgerliche Staatsapparat, um den herum sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufrechterhalten und immer verheerender mit all ihrer Bestialität wüten.
Heute, wo die fatalen Gesetze des altersschwachen Kapitalismus in den Krieg führen, ist das „Lächeln“, das „Vertrauen in die Bürger“, die „umfassendste Demokratie“ und die „Selbstverwaltung“ ein großes Theater, mit dessen Hilfe der Kapitalismus immer mehr Opfer, immer mehr Arbeitslosigkeit, immer größere Armut und immer mehr Blut auf den Schlachtfeldern einfordert. Aus Erfahrung wird man klug. Die „Kollektive“ von 1936 waren eines der arglistigsten Modelle, ein weiteres jener Paradiese, eine weitere jener schönen Illusionen, mit denen der Kapitalismus die Arbeiter in die Niederlage und in das Massaker stieß. Die Lehre aus diesen Ereignissen muss dem heutigen Proletariat dazu dienen, die Fallen zu umgehen, die das Kapital ihm stellt, um so vorwärtszuschreiten auf dem Weg zu seiner endgültigen Befreiung.
E.F. (aus: Accion Proletaria Nr. 20)
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