Die Gewissheit des Todes zu anerkennen ist nicht einfach für den Menschen ganz allgemein - in dieser Hinsicht einzigartig unter den verschiedenen Tierarten trägt er die Last des Bewusstseins über die Unausweichlichkeit des Todes, und das Gewicht dieser Last zeigt sich unter anderem darin, dass überall auf der Welt, zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformationen Mythen über das Leben nach dem Tod entstanden sind.
Ebenso neigen die herrschenden, ausbeutenden Klassen und ihre individuellen Repräsentanten dazu, vor dem Tod in tröstende Phantasien über die Ewigkeit der Gründe und des Schicksals ihrer Herrschaft zu flüchten.
Die Bourgeoisie bekennt sich zwar zu Rationalismus und Wissenschaftlichkeit, aber ist doch anfällig für mythische Projektionen: Wie Marx beobachtete, kann dies einfach an ihrer Haltung zur Geschichte abgelesen werden, in die sie „Robinsonaden" über das Privateigentum projiziert, das mit dem Ursprung der menschlichen Existenz überhaupt einhergehe. Und sie neigt nicht in größerem Ausmaß als die Despoten vergangener Zeiten dazu, ein Ende ihres Ausbeutungssystems in Betracht zu ziehen. Sogar in ihren besten Tagen, sogar in den Gedanken des Philosophen der dialektischen Bewegung schlechthin, Hegels, finden wir den gleichen Hang zu verkünden, dass die Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft das „Ende der Geschichte" sei: Marx stellte fest, dass für Hegel der stete Fortschritt des Weltgeistes schließlich Friede und Ruhe in der Form des bürokratischen Preußischen Staats erhalten hatte (der übrigens noch weitgehend in der feudalen Vergangenheit steckte).
Unseres Erachtens ist ein Grundaxiom der ideologisch verklärten Sichtweise der Bourgeoisie, dass sie keine Theorie dulden kann, welche auf die Vergänglichkeit ihrer Klassenherrschaft hinweist. Während umgekehrt der Marxismus, der den theoretischen Standpunkt der ersten ausgebeuteten Klasse ausdrückt, die in sich die Saat für eine neue gesellschaftliche Ordnung trägt, keine solchen Denkhemmungen hat.
Deshalb beginnt das Kommunistische Manifest von 1848 mit der berühmten Stelle über die Geschichte, welche die Geschichte von Klassenkämpfen ist, die in allen bisher bestehenden Produktionsweisen dazu dienten, das gesellschaftliche Gewebe von innen zu zerreißen - durch „einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen". Die bürgerliche Gesellschaft vereinfachte die Klassengegensätze, indem diese heute im Großen und Ganzen auf die zwei großen Lager reduziert sind, die unversöhnlich antagonistische Interessen vertreten - kapitalistische einerseits, proletarische andererseits. Und das Proletariat ist dazu bestimmt, der Totengräber der bürgerlichen Herrschaft zu sein.
Aber das Manifest erhoffte diesen entscheidenden Zusammenstoß zwischen den Klassen nicht einfach gestützt auf die Vereinfachung der Klassenunterschiede im Kapitalismus oder aufgrund der offensichtlichen Ungerechtigkeit des Monopols der Bourgeoisie an Privilegien und Vermögen. Vielmehr war zunächst erforderlich, dass das bürgerliche System nicht mehr „normal" funktioniert, dass der Punkt erreicht wurde, an dem die Bourgeoisie „unfähig (ist) zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft." Mit anderen Worten wird die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Überlebensfrage für die ausgebeutete Klasse und für das gesellschaftliche Leben insgesamt.
Das Manifest verstand die Wirtschaftskrisen, welche die kapitalistische Gesellschaft damals in periodischen Abständen erschütterte, als Ankündigung dieses näher rückenden Punktes:
„In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse.; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. - Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert."
Zu diesem oft zitierten Abschnitt müssen einige Punkte festgehalten werden.
- Er geht davon aus, dass die Wirtschaftskrisen eine Folge der Überproduktion von Waren sind, da die gewaltigen Produktivkräfte, die der Kapitalismus entfesselt, an die Grenzen ihrer kapitalistischen Aneignung und Verteilung stoßen. Wie Marx später ausführte, handelte es sich dabei nicht um eine Überproduktion im Verhältnis zu den Bedürfnissen. Vielmehr war sie dem Umstand geschuldet, dass die Bedürfnisse der großen Mehrheit notwendigerweise durch die antagonistischen Produktionsverhältnisse beschnitten wurden. Es war Überproduktion im Verhältnis zur zahlungsfähigen Nachfrage - Nachfrage des genügend großen Geldbeutels.
- Er geht davon aus, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bereits zu einer endgültigen Fessel für die Entwicklung dieser Produktivkräfte geworden sind, zu einer Zwangsjacke, die diese gefangen hält.
- Gleichzeitig verfügt der Kapitalismus über verschiedene Mechanismen, um diese Krisen zu überwinden: Einerseits durch die Vernichtung von Kapital, womit Marx in erster Linie nicht die physische Vernichtung von unprofitablen Fabriken und Maschinen meinte, sondern ihre Vernichtung als Wert, wenn die Krise sie zwang, still zu stehen. Wie Marx in späteren Werken ausführte, belebte dies sowohl den Markt, indem nicht konkurrenzfähige Mitstreiter untergingen, als auch die durchschnittliche Profitrate. Andererseits „durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte", was ein zeitweiliger Ausweg aus der Verengung der Märkte in den bereits vom Kapitalismus eroberten Gebieten darstellte.
- Diese Ausweichmechanismen pflasterten den Weg für immer zerstörerische Krisen und wurden als Mittel zur Überwindung der Krisen je länger je hinfälliger. Kurz: Der Kapitalismus ging auf eine geschichtliche Sackgasse zu.
Das Manifest wurde am Vorabend der großen Welle von Aufständen geschrieben, die 1848 über Europa rollte. Aber obwohl diese Welle sehr materielle Gründe hatte - insbesondere die Hungersnot, die in mehreren Ländern ausbrach - und obwohl zum ersten Mal die politische Selbständigkeit des Proletariats einen massenhaften Ausdruck fand (die Bewegung der Chartisten in Großbritannien, die Juli-Aufstände der Pariser Arbeiterklasse), waren es doch im Wesentlichen letzte Feuer der bürgerlichen Revolution gegen den feudalen Absolutismus. Bei seinen Anstrengungen, das Scheitern dieser Aufstände von einem proletarischen Standpunkt aus zu verstehen - sogar die bürgerlichen Ziele der Revolution waren nur selten erreicht worden, und die französische Bourgeoisie hatte nicht gezögert, die aufständischen Pariser Arbeiter niederzuschlagen -, begann Marx zu erkennen, dass die Vorhersage einer unmittelbar bevorstehenden proletarischen Revolution verfrüht gewesen war. Die Arbeiterklasse wurde durch die Niederlage der Aufstände von 1848 politisch zurückgeworfen; darüber hinaus war aber der Kapitalismus noch weit davon entfernt, seine historische Aufgabe erfüllt zu haben, vielmehr machte er sich unaufhaltsam auf dem ganzen Planeten breit, die Bourgeoisie „schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde", wie das Manifest gesagt hatte. Die Lebenskraft der Bourgeoisie, die das Manifest erkannt hatte, war immer noch eine gegenwärtige Tatsache. Gegen die ungeduldigen Aktivisten seiner eigenen „Partei", die meinten, dass der reine Wille die Massen zur Tat anstiften könne, vertrat er die Auffassung, dass die Arbeiterklasse wahrscheinlich noch während Jahrzehnten werde kämpfen müssen, bevor sie auf entscheidende Konflikte mit ihrem Klassenfeind hoffen könne. Er argumentierte auch, dass „eine neue Revolution (...) nur möglich im Gefolge einer neuen Krise"[1] sein werde.
Aus dieser Überzeugung widmete sich Marx in der Folge dem Studium - oder besser gesagt: der Kritik - der politischen Ökonomie, einer tiefen und äußerst detaillierten Untersuchung, die schriftliche Gestalt erhalten sollte in den Grundrissen und den vier Bänden des Kapital. Um die materiellen Bedingungen der proletarischen Revolution zu verstehen, war es nötig, die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu begreifen, die unausweichlichen Schwächen, die ihn zu gegebener Zeit zum Tode verurteilen würden.
In diesen Werken anerkannte Marx die Leistung gewisser bürgerlicher Ökonomen wie Adam Smiths und Ricardos, die wesentliche Beiträge zum Verständnis des bürgerlichen Wirtschaftssystems geleistet hatten, da sie nicht zuletzt in ihren Polemiken mit den Apologeten von veralteten, halbfeudalen Produktionsformen die Sichtweise vertreten hatten, dass der „Wert" der Waren nicht eine irgendwie dem Boden innewohnende Eigenschaft oder eine Größe war, die durch die Launen von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde, sondern auf der realen Arbeit des Menschen beruhte. Aber Marx wies auch nach, dass diese streitbaren Theoretiker ihrerseits Apologeten waren, und zwar insofern, als ihre Schriften:
- den Standpunkt des „gesunden Menschenverstandes" der bürgerlichen Ideologie widerspiegelten, die zwar frühere Produktionsweisen wie die Sklaverei oder den Feudalismus als Systeme der Klassenprivilegien verurteilten, aber bestritten, dass der Kapitalismus seinerseits auf der Ausbeutung von Arbeit beruhte, denn für sie war die grundlegende Transaktion, um die sich in der kapitalistischen Produktion alles drehte, der gerechte Austausch zwischen der Fähigkeit des Arbeiters zu arbeiten und dem Lohn, der ihm der Kapitalist anbot; Marx zeigte dagegen auf, dass so, wie die früheren Produktionsweisen auf der Abpressung von Mehrarbeit durch eine ausbeutende Klasse beruhte, auch der Kapitalismus funktionierte - jedoch in der Form der Aneignung von Mehrwert, der „freien" Arbeitszeit, die dem Arbeiter in der versteckten Form des Arbeitsvertrages abgepresst wird;
- dazu neigten zu behaupten, dass der Kapitalismus trotz des Problems von periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen keine immanenten Grenzen seiner Entwicklung habe und deshalb nie einen Punkt erreichen würde, an dem er durch eine höhere Gesellschaftsform abgelöst werden müsse; sofern es Krisen gebe, seien diese die Folge von Geschäften von Spekulanten oder vorübergehender Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Industriezweigen oder eines anderen zufälligen Faktors; und da jedes Produkt dazu bestimmt sei, seinen Käufer zu finden, so werde der Marktmechanismus selbst immer wieder dafür sorgen, diese Probleme zu überwinden, und die Grundlage schaffen für weitere Wachstumsphasen.
Was allen Varianten der bürgerlichen politischen Ökonomie gemeinsam ist und ihnen zugrunde liegt, ist die Leugnung des Umstandes, dass die Krisen des Kapitalismus grundlegende und unlösbare Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise belegen - Schicksalskrähen, deren heiseres Krächzen den Ragnarök[2] der bürgerlichen Gesellschaft ankündigen.
„Die apologetischen Phrasen, um die Krise wegzuleugnen, sofern wichtig, als sie immer das Gegenteil von dem beweisen, was sie beweisen wollen. Sie - um die Krise wegzuleugnen - behaupten Einheit, wo Gegensatz existiert und Widerspruch. Also soweit wichtig, als gesagt werden kann: Sie beweisen dass, wenn in der Tat die von ihnen wegphantasierten Widersprüche nicht existierten, auch keine Krise existieren würde. In der Tat aber existiert die Krise, weil jene Widersprüche existieren. Jeder Grund, den sie gegen die Krise angeben, ist ein wegphantasierter Widerspruch, also ein realer Widerspruch, also ein Grund der Krise. Das Wegphantasierenwollen der Widersprüche ist zugleich das Aussprechen wirklich vorhandner Widersprüche, die dem frommen Wunsch nach nicht existieren sollen."[3]
Die Apologie, die die Ökonomen für das Kapital betreiben, hat ihre Wurzeln zu einem wesentlichen Teil in der Blindheit gegenüber der Tatsache, dass die Überproduktionskrisen, die im zweiten oder dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aufzutreten begannen, auf unüberwindliche Grenzen der bürgerlichen Produktionsweise deuteten.
Angesichts der konkreten Realität der Krise nahmen die Leugnungen der Apologeten verschiedene Formen an, auf welche die Wirtschaftsexperten der letzten paar Jahrzehnte zu einem großen Teil zurück griffen. Marx hob beispielsweise hervor, dass Ricardo versuchte, die ersten Krisen des Weltmarkts durch verschiedene zufällige Faktoren in den frühen Zeiten des 19. Jahrhunderts zu erklären wie Ernteausfälle, die Entwertung von Papiergeld, fallende Preise oder Schwierigkeiten beim Übergang von Friede zu Krieg oder Krieg zu Frieden. Diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle bei der Verschärfung oder sogar bei der Auslösung von Krisen, aber sie trafen wohl kaum den Kern des Problems. Solche Ausflüchte erinnern uns an jüngere Stellungnahmen von „Wirtschaftsexperten", die die „Ursache" der Krise in den 70er Jahren im Anstieg des Ölpreises oder heute in der Gier der Banker sehen. Als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts der Zyklus der Handelskrisen nicht mehr so einfach zu übersehen war, mussten die bürgerlichen Ökonomen feinere Argumente entwickeln, indem sie beispielsweise zugaben, dass es zu viel Kapital gebe, aber gleichzeitig bestritten, dass dies ebenso einen Überfluss an nicht verkäuflichen Waren bedeute.
Oder wenn das Problem der Überproduktion eingeräumt wurde, so wurde es gleichzeitig relativiert. So sagten die Apologeten beispielsweise zum Kern des Problems: „Kein Mann produziert, außer in der Absicht zu konsumieren oder zu verkaufen und er verkauft niemals, außer mit der Absicht, irgendeine andre Ware zu kaufen, die unmittelbar nützlich für ihn sein mag oder zu künftiger Produktion beitragen mag."[4] Mit anderen Worten gebe es eine grundsätzliche Harmonie zwischen Produktion und Verkauf, und mindestens in der besten aller möglichen Welten soll jede Ware einen Käufer finden. Wenn es Krisen gebe, so seien sie bloß Möglichkeiten, die in der Metamorphose von Ware zu Geld liegen, wie John Stuart Mill argumentierte, oder die Folge einer einfachen Disproportionalität zwischen zwei Produktionszweigen.
Marx bestreitet natürlich nicht, dass es Disproportionalitäten zwischen den verschiedenen Abteilungen der Produktion geben kann - vielmehr unterstreicht er, dass sie einer Tendenz in einer nicht planmäßig organisierten Ökonomie entsprechen, wo es unmöglich ist, alle Waren im Verhältnis zu einer unmittelbaren Nachfrage zu produzieren. Er wehrt sich aber gegen den Versuch, das Problem der „Disproportionalität" als Vorwand zu benutzen, über die grundlegenderen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse hinweg zu sehen:
„Wird gesagt, dass nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiednen Produktionszweige stattfinde, so heißt dies weiter nichts, als dass innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozess aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nicht als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozess ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat."[5]
Ebenso wehrt sich Marx gegen das Argument, es könne nur eine teilweise, aber keine allgemeine Überproduktion geben:
„Deswegen gibt Ric[ardo] auch das glut[6] für einzelne Waren zu. Das Unmögliche soll nur in a simultaneous, general glut of the market[7] bestehn. Die Möglichkeit[8] der Überproduktion wird daher nicht für irgendeine besondre Produktionssphäre geleugnet. Die Unmöglichkeit der allgemeinen Überproduktion[9] soll in der Gleichzeitigkeit dieser Erscheinungen für alle Produktionssphären und daher general glut of the market bestehn"[10].
All diesen Argumenten gemeinsam ist, dass sie die geschichtliche Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise bestreiten. Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit einer verallgemeinerten Warenproduktion, mit einer Produktion zum Verkauf und für den Profit, gültig für den gesamten Prozess von Herstellung und Verteilung; und sein Hang zu Überproduktion ist in dieser Unterscheidung zu finden. Dabei geht es, wie Marx nie müde wurde zu unterstreichen, nicht um Überproduktion im Verhältnis zum Bedürfnis:
„Das Wort overproduction führt an sich in Irrtum. Solange die dringendsten Bedürfnisse eines großen Teils der Gesellschaft nicht befriedigt sind oder nur seine unmittelbarsten Bedürfnisse, kann natürlich von einer Überproduktion von Produkten - in dem Sinn, dass die Masse der Produkte überflüssig wäre im Verhältnis zu den Bedürfnissen für sie - absolut nicht die Rede sein. Es muss umgekehrt gesagt werden, dass auf Grundlage der kapitalistischen Produktion in diesem Sinn beständig unterproduziert wird. Die Schranke der Produktion ist der Profit der Kapitalisten, keineswegs das Bedürfnis der Produzenten. Aber Überproduktion von Produkten und Überproduktion von Waren sind zwei ganz verschiedne Dinge. Wenn Ric[ardo] meint, dass die Form der Ware gleichgültig für das Produkt sei, weiter, dass die Warenzirkulation nur formell verschieden vom Tauschhandel, der Tauschwert hier nur verschwindende Form des Stoffwechsels, das Geld daher bloß formelles Zirkulationsmittel sei - so kömmt das in der Tat auf seine Voraussetzung hinaus, dass die bürgerliche Produktionsweise die absolute, daher auch Produktionsweise ohne nähere spezifische Bestimmung sei, das Bestimmte an ihr mithin nur formell sei. Es darf also auch nicht von ihm zugegeben werden, dass die bürgerliche Produktionsweise Schranke für die freie Entwicklung der Produktivkräfte einschließe, eine Schranke, die in den Krisen und unter anderm in der Überproduktion - dem Grundphänomen der Krisen - zutage tritt."[11]
Marx stellte dann die kapitalistische Produktion früheren Produktionsweisen gegenüber, die nicht danach trachteten, Vermögen anzuhäufen, sondern es zu konsumieren, und die eher vor dem Problem der Unterproduktion als der Überproduktion standen:
„die Alten dachten auch nicht daran, das surplus produce[12] in Kapital zu verwandeln. Wenigstens nur in geringem Grade. (Das ausgedehnte Vorkommen der eigentlichen Schatzbildung bei ihnen zeigt, wieviel surplus produce ganz brach lag.) Einen großen Teil des surplus produce verwandelten sie in unproduktive Ausgaben für Kunstwerke, religiöse Werke, travaux publics[13]. Noch weniger war ihre Produktion auf Entfesselung und Entfaltung der materiellen Produktivkräfte Teilung der Arbeit, Maschinerie, Anwendung von Naturkräften und Wissenschaft auf die Privatproduktion - gerichtet. Sie kamen in der Tat im Großen und Ganzen nie über Handwerksarbeit heraus. Der Reichtum, den sie für Privatkonsumtion schafften, war daher relativ klein und erscheint nur groß, weil in wenigen Händen aufgehäuft, die übrigens nichts damit zu machen wussten. Gab es darum keine Überproduktion, so gab es Überkonsumtion der Reichen bei den Alten, die in den letzten Zeiten Roms und Griechenlands in verrückte Verschwendung ausschlägt. Die wenigen Handelsvölker in ihrer Mitte lebten z.T. auf Kosten aller dieser essentiellement[14] armen Nationen. Es ist die unbedingte Entwicklung der Produktivkräfte und daher die Massenproduktion auf Grundlage der in den Kreis der necessaries eingeschlossnen Produzentenmasse einerseits, der Schranke durch den Profit der Kapitalisten anderseits, die die Grundlage der modernen Überproduktion."[15]
Das Problem bei den bürgerlichen Ökonomen ist, dass sie den Kapitalismus als ein Gesellschaftssystem betrachten, in dem bereits Harmonie walte - als eine Art Sozialismus, in welchem die Produktion grundsätzlich durch die Bedürfnisse bestimmt werde:
„Alle Schwierigkeiten, die Ric[ardo] etc. gegen Überproduktion etc. aufwerfen, beruhn darauf, dass sie die bürgerliche Produktion als eine Produktionsweise betrachten, worin entweder kein Unterschied von Kauf und Verkauf existiert - unmittelbarer Tauschhandel - oder als gesellschaftliche Produktion, so dass die Gesellschaft, wie nach einem Plan, ihre Produktionsmittel und Produktivkräfte verteilt in dem Grad und Maß wie nötig zur Befriedigung ihrer verschiednen Bedürfnisse, so dass auf jede Produktionssphäre das zur Befriedigung des Bedürfnisses, dem sie entspricht, erheischte Quotum des gesellschaftlichen Kapitals falle. Diese Fiktion entspringt überhaupt aus der Unfähigkeit, die spezifische Form der bürgerlichen Produktion aufzufassen und letztre wiederum aus dem Versenktsein in die bürgerliche Produktion als die Produktion schlechthin. Ganz wie ein Kerl, der an eine bestimmte Religion glaubt, in ihr die Religion schlechthin sieht und außerhalb derselben nur falsche Religionen."[16]
Die Wurzeln der Überproduktion liegen in den sozialen Verhältnissen des Kapitalismus
Im Gegensatz zu diesen Entstellungen lokalisierte Marx die Überproduktionskrise in den sozialen Beziehungen und definierte das Kapital als eine spezifische Produktionsweise: das Lohnarbeitsverhältnis.
„Wird also das Verhältnis auf das von Konsumenten und Produzenten einfach reduziert, so wird vergessen, dass die produzierenden Lohnarbeiter und der produzierende Kapitalist zwei Produzenten ganz verschiedner Art sind, abgesehn von den Konsumenten, die überhaupt nicht produzieren. Es wird wieder der Gegensatz weggeleugnet dadurch, dass von einem wirklich in der Produktion vorhandnen Gegensatz abstrahiert wird. Das bloße Verhältnis von Lohnarbeiter und Kapitalist schließt ein:
1. dass der größte Teil der Produzenten (die Arbeiter) Nichtkonsumenten (Nichtkäufer) eines sehr großen Teils ihres Produkts sind, nämlich der Arbeitsmittel und des Arbeitsmaterials;
2. dass der größte Teil der Produzenten, die Arbeiter, nur ein Äquivalent für ihr Produkt konsumieren können, solang sie mehr als dies Äquivalent - die surplus value[17] oder das surplus produce[18] - produzieren. Sie müssen stets Überproduzenten sein, über ihr Bedürfnis hinaus produzieren, um innerhalb der Schranken ihres Bedürfnisses Konsumenten oder Käufer sein zu können."[19]
Selbstverständlich beginnt der Kapitalismus nicht jede Phase des Akkumulationsprozesses mit einem sofortigen Problem der Überproduktion: Er entstand und entwickelte sich als ein dynamisches System mit konstanter Ausdehnung hin zu neuen Gebieten des produktiven Tausches, dies in der Binnenwirtschaft sowie im Weltmaßstab. Doch aufgrund der Natur der unvermeidbaren Widersprüche welche Marx beschrieb, ist die konstante Ausdehnung eine Notwendigkeit für das Kapital, um die Überproduktionskrisen hinauszuschieben oder zu überwinden. Marx musste diese Einsicht gegen die Nachschwätzer verteidigen, welche die Ausdehnung des Marktes nur als eine Annehmlichkeit und nicht als eine für den Kapitalismus existenzielle Frage ansahen, da sie diesen als ein sich selbst genügendes und harmonisches System verstanden:
„Indessen, mit dem bloßen Zugeständnis, dass der Markt mit der Produktion sich erweitern muss, wäre anderseits auch schon wieder die Möglichkeit einer Überproduktion zugegeben, indem der Markt äußerlich geographisch umschrieben ist, der inländische Markt als beschränkt erscheint gegen einen Markt, der inländisch und ausländisch ist, der letzte wieder gegen den Weltmarkt, der aber in jedem Augenblick wieder beschränkt ist, an sich der Erweiterung fähig. Ist daher zugegeben, dass der Markt sich erweitern muss, soll keine Überproduktion stattfinden, so ist auch zugegeben, dass Überproduktion stattfinden kann".[20]
Im selben Abschnitt zeigt Marx auf, dass die Ausdehnung des Weltmarktes es dem Kapital zwar erlaubt, seine Krisen zu überwinden und die Produktivkräfte weiter zu entwickeln, die stattgefundene Ausdehnung des Marktes aber schnell ungenügend wird, um die neue Produktion aufzunehmen. Er sah dies nicht als einen ewigen Prozess: Es existieren innere Limiten in der Kapazität des Kapitals, ein wahrhaft universelles System zu werden, und wenn diese Limiten dereinst erreicht sind, werden sie den Kapitalismus in den Abgrund stoßen:
„Daraus aber, dass das Kapital jedoch solche Grenze als Schranke setzt und daher ideell darüber weg ist, folgt keineswegs, dass es sie real überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. Noch mehr. Die Universalität, nach der es unaufhaltsam treibt, findet Schranken an seiner eigenen Natur, die auf einer gewissen Stufe der Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben."[21]
Deshalb ziehen wir die Schlussfolgerung, dass die Überproduktionskrise die erste Unheilskrähe für den Kapitalismus ist, eine im Kapitalismus auftretende konkrete Illustration der grundlegenden Beschreibung von Marx über den Aufstieg und Niedergang aller bisher existierenden Produktionsweisen: Die einstigen Mittel der Ausdehnung (in diesem Falle die weltweite Ausdehnung des Warenmarktes) werden heute für die Menschheit zu einer Fessel der Weiterentwicklung der Produktivkräfte:
„Um der Sache näherzukommen: D'abord there is a limit, not inherent to production generally, but to production founded on capital[22]. Diese limit ist doppelt, oder vielmehr dieselbe, nach zwei Richtungen hin betrachtet. Es genügt hier nachzuweisen, dass das Kapital eine besondre Beschränkung der Produktion enthält - die seiner allgemeinen Tendenz über jede Schranke derselben fortzutreiben, widerspricht -, um die Grundlage der Überproduktion, den Grundwiderspruch des entwickelten Kapitals aufgedeckt zu haben; um überhaupt aufgedeckt zu haben, dass es nicht, wie die Ökonomen meinen, die absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte ist - absolute Form dafür wie Form des Reichtums, die absolut mit der Entwicklung der Produktivkräfte zusammenfiele. Die Stufen der Produktion, die dem Kapital vorhergehn, erscheinen, vom Standpunkt desselben aus betrachtet, als ebensoviel Fesseln der Produktivkräfte. Es selbst aber, richtig verstanden, erscheint als Bedingung für die Entwicklung der Produktivkräfte, solange sie eines äußern Sporns bedürfen, der zugleich auch als ihr Zaum erscheint. Disziplin derselben, die überflüssig und lästig wird auf einer gewissen Höhe ihrer Entwicklung; ganz ebenso gut wie die Korporationen etc."[23]
Die zweite Unheilskrähe: der tendenzielle Fall der Profitrate
Eine weitere Kritik von Marx an den politischen Ökonomen betrifft deren mangelnde Kohärenz dadurch, dass sie die Warenüberproduktion leugnen, während sie aber die Kapitalüberproduktion zugeben:
„Ric[ardo] ist immer, soweit er selbst weiß, konsequent. Bei ihm ist also der Satz, dass keine Überproduktion (von Waren) möglich, identisch mit dem Satz, dass keine plethora[24] oder superabundance of capital[25] möglich. (...) Was würde Ric[ardo] dann gesagt haben zu der Stupidität seiner Nachfolger, die die Überproduktion in einer Form (als general glut of commodities in the market[26]) leugnen und sie in der andren Form als surproduction of capital, plethora of capital, superabundance of capital[27] nicht nur zugeben, sondern zu einem wesentlichen Punkt ihrer Doktrinen machen?"[28]
Marx zeigt jedoch insbesondere im Dritten Band von Das Kapital, dass die Tendenz des Kapitals zur „Überfülle", vor allem in seiner Form als Produktionsmittel, keineswegs beruhigend ist. Denn eine solche Überfülle führt nur zu einem anderen tödlichen Widerspruch, dem tendenziellen Fall der Profitrate, das nach Marx das „in jeder Beziehung (...) wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste (ist), um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehen".[29] Dieser Widerspruch ist nicht unabhängig von den grundlegenden sozialen Verhältnissen im Kapitalismus: Da nur lebendige Arbeit neuen Wert schaffen kann - und dies ist das „Geheimnis" des kapitalistischen Profits -, und weil gleichzeitig die Kapitalisten unter der Knute der Konkurrenz stehen und darum ihre Produktionsmittel ständig weiterentwickeln müssen (das heißt Erweiterung des Anteils der toten Arbeit der Maschinen gegenüber der lebendigen Arbeit der Menschen), sind sie mit der inhärenten Tendenz konfrontiert, dass der Anteil des neuen Werts, der in der Ware verkörpert ist, sinkt und dass somit auch Profitrate sinkt.
Die bürgerlichen Apologeten nahmen verschreckt Reißaus vor den daraus folgenden Schlüssen, denn das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate offenbart die Vergänglichkeit des Kapitals:
„Andrerseits, soweit die Rate der Verwertung des Gesamtkapitals, die Profitrate, der Stachel der kapitalistischen Produktion ist (wie die Verwertung des Kapitals ihr einziger Zweck), verlangsamt ihr Fall die Bildung neuer selbständiger Kapitale und erscheint so als bedrohlich für die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses; er befördert Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger Bevölkerung. Die Ökonomen also, die wie Ricardo die kapitalistische Produktionsweise für die absolute halten, fühlen hier, dass diese Produktionsweise sich selbst eine Schranke schafft, und schieben daher diese Schranke nicht der Produktion zu, sondern der Natur (in der Lehre von der Rente). Das Wichtige aber in ihrem Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl, dass die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise; bezeugt, dass sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist, vielmehr mit seiner Fortentwicklung auf gewisser Stufe in Konflikt tritt."[30]
In den Grundrissen bringen die Überlegungen von Marx über den tendenziellen Fall der Profitrate wohl am deutlichsten die Perspektive des Kapitalismus zum Ausdruck, der wie die vorgängigen Formen der Sklaverei den Eintritt in eine Phase der Überlebtheit und Senilität nicht verhindern kann, in der eine wachsende Tendenz zur Selbstzerstörung die Menschheit vor die Notwendigkeit eines Schritts hin zu einer höheren Form des Zusammenlebens zwingt:
„(...) so zeigt sich, dass die schon vorhandne materielle, schon herausgearbeitete, in der Form von capital fixe existierende Produktivkraft, wie die scientific power, wie die Bevölkerung etc., kurz alle Bedingungen des Reichtums, dass die größten Bedingungen für die Reproduktion des Reichtums, i.e. die reiche Entwicklung des sozialen Individuums -, dass die durch das Kapital selbst in seiner historischen Entwicklung herbeigeführte Entwicklung der Produktivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt, die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen. Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d.h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift. Die letzte Knechtgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der andren Seite, wird damit abgehäutet, und die Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals, die selbst schon die Negation frührer Formen der unfreien gesellschaftlichen Produktion sind, sind selbst Resultate seines Produktionsprozesses. In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußre Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice gegeben wird to be gone and to give room to a higher state of social production."[31]
In Passagen wie der obigen erkannte Marx schon die Zukunft: Er realisierte, dass es Gegentendenzen gibt, welche den tendenziellen Fall der Profitrate mehr zu einem langfristigen Problem als zu einer unmittelbaren Barriere für die kapitalistische Produktion machen. Dies bringt folgendes mit sich: Eine erhöhte Intensität der Ausbeutung; Drücken der Löhne unter das Niveau des Werts der Arbeitskraft; Verbilligung der Anteile des konstanten Kapitals und den außerkapitalistischen Handel. Die Art und Weise, wie Marx den letzten Punkt behandelte, zeigt auf, wie eng die beiden Hauptwidersprüche im Kapitalismus miteinander verbunden sind. Der Außenhandel bedingt Investitionen (so wie man sie heute beim Phänomen der „Auslagerung" sieht) in billigere Quellen von Arbeitskräften und den Verkauf von inländisch hergestellten Produkten im Ausland „über ihrem Wert (...), obgleich wohlfeiler als die Konkurrenzländer"[32].
Der gleiche Abschnitt behandelt auch „die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterm Markt"[33].
Dies ist auch verbunden mit dem Bestreben, den Fall der Profitrate hinauszuschieben, auch wenn jede Ware weniger Profit abwirft, indem eine größere Masse an Waren abgesetzt wird, um damit eine größere Masse an Profit zu erzielen. Aber auch hier stößt der Kapitalismus auf seine ihm innewohnenden Grenzen:
„Derselbe auswärtige Handel aber entwickelt im Inland die kapitalistische Produktionsweise, und damit die Abnahme des variablen Kapitals gegenüber dem konstanten, und produziert auf der andern Seite Überproduktion mit Bezug auf das Ausland, hat daher auch wieder im weitern Verlauf die entgegengesetzte Wirkung."[34]
Oder nochmals: „Die Kompensation des Falls der Profitrate durch die steigende Masse des Profits gilt nur für das Gesamtkapital der Gesellschaft und für die großen, fertig eingerichteten Kapitalisten. Das neue, selbständig fungierende Zusatzkapital findet keine solche Ersatzbedingungen vor, es muss sie sich erst erringen, und so ruft der Fall der Profitrate den Konkurrenzkampf unter den Kapitalen hervor, nicht umgekehrt. Dieser Konkurrenzkampf ist allerdings begleitet von vorübergehendem Steigen des Arbeitslohns und einer hieraus entspringenden ferneren zeitweiligen Senkung der Profitrate. Dasselbe zeigt sich in der Überproduktion von Waren, der Überfüllung der Märkte. Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muss beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein."[35]
Beim Versuch, einem seiner Widersprüche zu entfliehen, stößt der Kapitalismus unweigerlich auf die Grenzen des anderen. Marx sah die Unvermeidbarkeit von „schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen", „allseitigere und gewaltigere Krisen" voraus, die er schon im Manifest beschrieben hatte. Seine vertieften Studien der politischen Ökonomie hatten seinen Standpunkt bestätigt, dass der Kapitalismus einen Punkt erreichen würde, an dem er seine fortschrittliche Aufgabe abschließt und die wirkliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu hemmen beginnt. Marx hat keine Spekulationen darüber gemacht, welche Form dieser Niedergang annimmt. Er konnte zeitlebens das Auftauchen der großen imperialistischen Kriege nicht mitverfolgen, welche zwar für die einen Teile des Kapitals eine „Lösung" für die ökonomische Krise brachten, für das gesamte Kapital aber immer ruinöser wurden und eine konkrete Gefahr für das Überleben der Menschheit wurden. Gleichfalls konnte er die gewaltige Tendenz des Kapitalismus, die Natur zu zerstören, kaum vorausahnen, welche am Ende jegliche soziale Reproduktion verunmöglicht. Er formulierte das Ende der aufsteigenden Phase des Kapitalismus dennoch in einer konkreten Art und Weise: Wie in einem vorgängigen Artikel dieser Serie dargelegt, beschrieb Marx ab 1858, dass die Öffnung großer Gebiete wie China, Australien oder Kalifornien bedeutet, dass die Aufgabe des Kapitalismus, einen Weltmarkt und eine weltweite Produktion, die auf diesen Märkten beruht, zu schaffen, ihr Ende erreichen wird, und 1881 sprach er vom Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern als ein System das „rückschrittlich" geworden sei. Dies obwohl er in beiden Fällen davon ausging, dass der Kapitalismus noch einen Weg vor sich habe (vor allem in den peripheren Ländern), bevor er aufhöre, auf Weltebene ein aufsteigendes System zu sein. Marx hatte diese Studien des Kapitals ursprünglich als Teil einer größeren Arbeit geplant, welche noch andere wichtige Gebiete wie den Staat und die Geschichte der sozialistischen Gedanken mit einschließen sollte. Doch sein Leben war zu kurz, um auch nur den „ökonomischen" Teil abschließen zu können, was Das Kapital zu einem unvollendeten Werk machte. Gleichzeitig wäre die Erarbeitung einer angeblich abgeschlossenen Theorie über die Entwicklung des Kapitalismus den Grundsätzen der Methode Marxens fremd, welche die Geschichte als eine endlose Bewegung begreift und die dialektische „List der Vernunft" als voll von Überraschungen. Schlussendlich hat Marx auf ökonomischem Gebiet keine definitive Antwort geliefert, welche der beiden Unheilskrähen des Kapitalismus (die Sättigung der Märkte oder der tendenzielle Fall der Profitrate) die entscheidendere Rolle spielen würde bei der Entstehung der Krisen, welche die Arbeiterklasse dazu treiben, sich gegen das System zu erheben. Doch eines ist gewiss: Die Überproduktion von Gütern sowie die Überproduktion von Kapital sind der Beweis dafür, dass die Menschheit definitiv die Etappe erreicht hat, in der es möglich wäre, den Bedürfnissen aller gerecht zu werden und damit die materielle Basis für die Aufhebung der Klassen zu schaffen. Leute sterben an Hunger, während sich gleichzeitig die unverkäuflichen Waren in den Lagerhäusern stapeln. Fabriken, die lebenswichtige Güter produzieren, schließen, nur weil damit kein Profit gemacht werden kann. Wenn die Kluft zwischen der riesigen Potenzialität, die in den Produktionsmitteln liegt, und ihre Fesselung durch das Wertgesetz dermaßen ist, dann bildet dies das Fundament für die Entstehung eines kommunistischen Bewusstseins bei denjenigen, welche am direktesten mit den absurden Konsequenzen des Kapitalismus konfrontiert sind.
Gerrard
[1] Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, IV. Kapitel, MEW Bd. 7 S. 98
[2] Ragnarök ist in der Nordischen Mythologie das Ende der Welt mit einer großen Schlacht von Göttern und Riesen.
[3] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, Siebzehntes Kapitel, MEW 26.2 S. 519
[4] Ricardo, zitiert in den Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 503
[5] Das Kapital, Band 3, MEW Bd. 25 S. 267
[6] die Überfüllung
[7] einer gleichzeitigen, allgemeinen Überfüllung des Marktes
[8] in der Handschrift: Unmöglichkeit
[9] in der Handschrift statt dieser Passage: Sie
[10] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 530
[11] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 528
[12] Mehrprodukt
[13] öffentliche Arbeiten
[14] im wesentlichen
[15] a.a.O. S. 529
[16] a.a.O.
[17] den Mehrwert
[18] Mehrprodukt
[19] a.a.O. S. 520
[20] a.a.O. S. 525
[21] Grundrisse, Heft IV, MEW 42 S. 313 f.
[22] zunächst gibt es eine Schranke, die nicht der Produktion an sich innewohnt, sondern der auf Kapital beruhenden Produktion
[23] a.a.O. S. 318
[24] Überfluss
[25] Überfülle von Kapital
[26] allgemeine Überfülle von Waren auf dem Markt
[27] Überproduktion von Kapital, Überfluss an Kapital, Überfülle von Kapital
[28] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 497
[29] Grundrisse, Heft VII, MEW 42 S. 634
[30] Das Kapital, 3. Band, 15. Kapitel, MEW 25 S. 251 f.
[31] Grundrisse, Heft VII, MEW 42 S. 635 f.
[32] Das Kapital, 3. Band, 14. Kapitel, MEW 25 S. 247 f.
[33] a.a.O. S. 247
[34] a.a.O. S. 249
[35] a.a.O. 15. Kapitel, MEW 25 S. 266 f.
Hoffnungen auf eine Besserung zu haben ist tatsächlich nachvollziehbar. Doch in den letzten zwei Jahren haben sich die Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nur verschärft. Trotz all der grossartigen Ankündigungen eines baldigen, oder schon eingetretenen, wirtschaftlichen Aufschwungs stagniert die Weltwirtschaft, und die Zukunft sieht düster aus. Das Treffen der Regierungschefs die über die Weltwirtschaft entscheiden, und damit auch das Schicksal der Weltbevölkerung in den Händen halten, versprach nach einem Weg zu suchen der alles besser werden lässt.
Das G8 Treffen (eine Vorbereitung auf das G20 Treffen) hatte sich zuvor auf folgende Politik geeinigt um die Welt aus der Krise zu führen: Konjunkturprogramme starten wie sie die USA empfehlen und schon eingeführt haben, oder Sparprogramme durchzuführen um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, so wie es die meisten europäischen Staaten empfehlen und durchziehen. Die G20 sollte die Banken Besteuern um einen Reserve-Fonds gegen Finanzkrisen anzulegen, denn die Krise von 2007 ist nicht gelöst, auch wenn die schlimmsten Auswirkungen im Zaum gehalten werden können. Gleichzeitig sollte eine „Regulierung des Finanzsystems" beschlossen werden um die destabilisierendsten Formen der Spekulation einzudämmen und die finanziellen Ressourcen mehr auf die Entwicklung der Produktion zu lenken. Doch was war das Resultat dieses G20 Gipfels? Nichts! Der ganze Berg von Problemen ist um keinen Millimeter kleiner geworden. Es wurden keine Beschlüsse gefasst zu all diesen Problemen, wie wir weiter in diesem Artikel sehen werden. Die G20 Beteiligten konnten lediglich ihre Unstimmigkeiten feststellen: „Bezüglich der Fragen die am G20 Gipfel im Zentrum standen beschlossen die Teilnehmer, das Wichtigste sei es abzuwarten. Die Divergenzen sind zu gross und demnach auch die mangelnde Vorbereitung"[1] . Der französische Präsident Sarkozy gab sich grösste Mühe die Hilflosigkeit der Herrschenden dieser Welt herunterzuspielen: „Man kann nicht an jedem Gipfeltreffen historischen Entscheide fällen"!
Die vorgängigen G20 Treffen hatten Reformen versprochen, aufgrund der Erfahrungen aus der „subprime"-Krise und der darauf folgenden Finanzkrise. Diesmal wurden nicht einmal Versprechen gemacht. Weshalb sind die grossen Manger des Weltkapitalismus nicht fähig irgendeinen Entscheid zu fällen? Der Grund liegt darin, dass es keine Lösung gibt für die Krise des Kapitalismus - ausser der Überwindung dieser historisch senilen Produktionsweise. Doch es gibt auch noch eine andere Erklärung die mehr aus den direkten Umständen hervorgeht: Seit sich die Staatschefs bewusst darüber sind wie weit die Weltwirtschaft in eine Krise abgleitet, sind sie schlau genug geworden um Phrasen wie die des früheren Präsidenten der Elfenbeinküste F. Houphouet Boigny „Wir befinden uns am Rande des Abgrundes, aber wir haben einen grossen Schritt vorwärts gemacht"[2] zu vermeiden. Unter den heutigen Umständen würde dies niemandem mehr ein Lächeln abringen.
Der Ausbruch der Finanzkrise 2008 hatte zu einem Rückgang in den meisten Ländern der Welt geführt (und hauptsächlich zu einer Verlangsamung in China und Indien). Um diesem Phänomen entgegenzutreten hatten die Herrschenden in den meisten Ländern Konjunkturprogramme verabschiedet, wobei die Chinas und er USA am umfangreichsten waren. Nachdem diese Konjunkturpakete einen teilweisen Anschub der wirtschaftlichen Aktivitäten und eine Stabilisierung der Wirtschaft der am meisten entwickelten Länder bewirken konnte, sind die Auswirkungen auf die Nachfrage, die Produktion und den Handel daran zu verpuffen.
Trotz all der Propaganda über den Aufschwung der in Gang gekommen sei, sind die Herrschenden nunmehr gezwungen einzugestehen, dass sich die Dinge nicht in diese Richtung entwickeln. In den USA hatte man für 2010 ein Wachstum von 3,5 % erwartet, es wurde jedoch auf 2,7 % korrigiert; die Arbeitslosigkeit vergrössert sich Woche für Woche und die amerikanische Wirtschaft begann mit dem Abbau von Arbeitsplätzen[3]; im Generellen zeigten verschiedenste Messfaktoren für die wirtschaftliche Aktivität in den USA ein Abflauen des Wachstums. In der Eurozone betrug das Wachstum im ersten Quartal 2010 kaum 0,1 % und die Europäische Zentralbank schätzt für das gesamte Jahr ein Wachstum das 1 % nicht überschreitet. Die schlechten Nachrichten brechen nicht ab. Das Wachstum in der Industrieproduktion ist zurückgegangen und die Arbeitslosigkeit wieder am steigen, mit Ausnahme Deutschlands. Für 2010 wurde ein anhaltender Rückgang des Bruttosozialproduktes in Spanien vorausgesagt (minus 0,3 %). Es ist auffallend, dass in den USA und in Europa die Investitionen laufend rückgängig sind und dass damit also die Unternehmen kein reales Wachstum in der Produktion vorsehen.
In Asien, der Region die als das neue Anziehungsgebiet der Weltwirtschaft gesehen wurde, gehen die Aktivitäten zurück. In China ist der Conference Board Index, dem im April ein Wachstum von 1,7 % vorausgesagt wurde, nur um 0,3 % angestiegen. Diese Zahl ist durch erst kürzlich veröffentlichte bestätigt worden. Wenn die monatlichen Zahlen für ein bestimmtes Land nicht zwangsläufig den generellen Trend aufzeigen, so zeigt andererseits die Tatsache, dass in den grössten Ländern Asiens die Wirtschaft dieselbe Entwicklung einschlägt etwas Bedeutsames auf: In Indien gehen die wirtschaftlichen Aktivitäten zurück, in Japan sind die Zahlen der industriellen Produktion und des Haushaltkonsums im Mai rückläufig.
Und schlussendlich, um alle Fanfaren in der Presse über einen Aufschwung Lügen zu strafen, zeigt der Baltic Dry Index, der die Entwicklung des Welthandels misst, nach unten und bestätigt diesen Trend.
Immer mehr Staaten haben Schwierigkeiten, ihre Zinszahlungen für ihre Schulden zu erfüllen.
Aber die Zinszahlungen sind eine unabdingbare Bedingung dafür, dass die großen Banken weiterhin Kredite vergeben. Jedoch sind die PIIGs nicht die einzigen Staaten mit wachsender Verschuldung. Die Ratingagenturen haben auch ausdrücklich gedroht, Großbritannien herabzustufen und es in die Reihe der PIIGs einzuordnen, falls das Land keine großen Anstrengungen zur Reduzierung seiner öffentlichen Schulden unternähme. Auch Japan (das in den 1990er Jahren als ein Land gehandelt wurde, das die USA als wirtschaftlich führende Macht überholen könnte) hat ein öffentliches Verschuldungsniveau erreicht, das der zweifachen Summe seines BIP entspricht [4]. Diese Liste, die wir noch verlängern könnten, zeigt, dass die Tendenz zur Zahlungsunfähigkeit der Staaten eine weltweite Tendenz ist, weil alle Staaten von der Zuspitzung der Krise seit 2007 betroffen sind und auch vor ähnlichen Gleichgewichtsstörungen wie in Griechenland oder Portugal stehen.
Aber nicht nur Staaten nähern sich der Zahlungsunfähigkeit. Das Bankensystem ist auch immer mehr aufgrund folgender Faktoren gefährdet:
- Alle Spezialisten wissen und sagen, dass die Banken ihre „giftigen Produkte" nicht wirklich „entsorgen" konnten, die Ende 2008 zum Bankrott zahlreicher Finanzinstitute geführt hatten;
- trotz dieser Schwierigkeiten haben die Banken aber nicht aufgehört auf den Weltfinanzmärkten mit dem Kauf von Hochrisikoprodukten zu spekulieren. Im Gegenteil, sie mussten damit fortfahren, um zu versuchen, die massiv eingefahrenen Verluste auszugleichen;
- die Zuspitzung der Krise seit Ende 2007 hat zu zahlreichen Firmenpleiten geführt, so dass viele arbeitslos gewordene Beschäftigte ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können.
Ein Beispiel hierzu gab es neulich am 22. Mai, als die Caja Sur in Spanien vom Staat übernommen werden musste. Aber dieses Beispiel ist nur die Spitze des Eisberges der Schwierigkeiten der Banken in der letzten Zeit. Andere Banken in Europa wurden von Ratingagenturen heruntergestuft (Caja Madrid in Spanien, BNP in Frankreich), aber vor allem hat die EZB die Finanzwelt darüber informiert, dass die europäischen Banken in den nächsten beiden Jahren ihre Aktiva um 195 Milliarden senken müssten, und dass der geschätzte Kapitalbedarf bis 2012 auf 800 Mrd. Euro ansteigen werde. Ein anderes Ereignis der letzten Zeit wirft ebenso ein krasses Licht auf die gegenwärtige Zerbrechlichkeit des Bankensystems: Siemens hat beschlossen, eine eigene Bank aufzubauen. D.h. eine Bank, die nur Siemens und seinen Kunden zu Diensten stünde. Nachdem Siemens schon bei der Lehman Brothers Pleite ca. 140 Millionen Dollar hat abschreiben müssen, hat der Konzern Angst, dass sich Ähnliches wiederholen könnte mit seinem Guthaben bei anderen „klassischen" Banken. Andere Firmen wie Veolia, das mit British American Tobacco und anderen Firmen zusammenarbeitet, hatten schon im Januar 2010 den gleichen Schritt vollzogen [5]. Es ist klar, wenn Firmen, deren Solidität im Augenblick nicht infrage gestellt wird, ihre Gelder nicht mehr den großen Banken anvertrauen, wird deren Lage sich nicht verbessern.
Man muss hervorheben, dass die Probleme der Zahlungsunfähigkeit der Staaten und der Banken sich in den nächsten Wochen und Monaten nur zuspitzen können. Der "Bankrott » eines Staates, falls er keine Hilfe von anderen bekommen sollte wie im Falle Griechenlands, würde zum Bankrott der Banken führen, bei denen dieser Staat in der Kreide steht. Die Kredite deutscher und französischer Banken, die diese an die PIIGS Staaten (Portugal, Spanien, Italien, Irland, Griechenland) vergeben hatten, belaufen sich auf ca. 1000 Milliarden Euro. Die Zahlungsunfähigkeit eines dieser Länder würde ohne Zweifel unberechenbare Risiken für Deutschland und Frankreich und somit für die Weltwirtschaft mit sich bringen.
Gegenwärtig stellt Spanien das Auge des Wirbelsturms der Finanzkrise dar. Die EZB hat verlautbaren lassen, dass die spanischen Banken, die über keine ausreichende Glaubwürdigkeit zur Aufnahme von Krediten auf dem Markt verfügen, von der EZB Gelder in der Höhe von 85.6 Mrd. Euro allein im Monat Mai erhalten haben. Außerdem kreisen Gerüchte, dass der spanische Staat bis Ende Juli, Anfang August enorme Summen zurückzahlen müsse [6]. Es muss ziemlich schnell gehandelt werden - deshalb sind der Direktor des IWF, D. Strauss-Kahn, und der stellvertretende US-Finanzminister C. Collins, nach Madrid gereist. Ein Rettungsplan in der Höhe von 200 oder 250 Mrd. Euro sei in Abklärung.
Wenn Spanien soviel Aufmerksamkeit erregt, dann weil die Folgen der finanziellen Schwierigkeiten sehr schwerwiegend wären:
- wenn Spanien keine Hilfe bekäme, wenn der spanische Staat pleite wäre, würde dies eine große Vertrauenskrise in den Euro auslösen. Mit anderen Worten - die Euro-Zone würde sehr schwer erschüttert werden;
- Frankreich und Deutschland, d.h. die beiden stärksten in der Euro-Zone, können für die Verpflichtungen Spaniens nicht einspringen; dies würde zu einer extremen Destabilisierung ihrer eigenen Finanzen und damit ihrer gesamten Wirtschaft führen (der Ökonom P. Artus vertritt diese Einschätzung ).[7]
Das bedeutet, dass die Hilfe für den spanischen Staat zur Vermeidung einer Zahlungsunfähigkeit nur das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen allen westlichen Staaten sein könnte, und dass der dafür erforderliche Preis notwendigerweise eine größere Zerbrechlichkeit ihrer eigenen finanziellen Lage wäre. Und da die meisten Staaten sich der Lage in Spanien annähern, müssen auch sie Maßnahmen ergreifen, um Kettenreaktionen der Zahlungsunfähigkeit zu verhindern. Daraus geht hervor, dass der Kapitalismus nicht mehr über die Mittel verfügt, sich solch einer Verschärfung der Krise entgegenzustellen.
„Sparpolitik oder Konjunkturpakete : die Führer der G8 weiterhin uneins" - titelte Le Monde am 27./28. Juni. Trotz einer diplomatischen Formulierung geht daraus hervor, dass die beteiligen Staaten völlig zerstritten sind. Großbritannien und Deutschland und mit ihm die Euro-Zone treten für rigorose Sparmaßnahmen ein; die USA und zu einem geringeren Maße China plädieren für Konjunkturpakete. Welche Inhalte und welche Gründe stecken hinter diesen Divergenzen?
Nachdem man die Folgen eines Bankrotts des griechischen Staates für Europa und die Welt bewertet hatte, sahen sich die EU und der FMI schließlich gezwungen, ein Rettungspaket für Griechenland zu verabschieden, das ungeachtet der weiterhin bestehenden Divergenzen unter den beteiligten Staaten angenommen wurde. Aber dieses Ereignis hat eine wichtige Wende bei der Politik aller Staaten der Euro-Zone bewirkt. Zunächst sind alle mit der Notwendigkeit einverstanden gewesen, den hilfsbedürftigen Staaten unter die Arme zu greifen, denn deren Zahlungsunfähigkeit würde das ganze europäische Finanzsystem erschüttern, mit dem Risiko, dass es zusammenbrechen könnte. Deshalb wurde ein Unterstützungsfond von 750 Milliarden Euro geschaffen, der zu zwei Dritteln aus Mitteln der Euro-Staaten und zu einem Drittel aus Geldern des IWF gedeckt wird, womit den Staaten in Zahlungsschwierigkeiten ermöglicht werden soll, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Auch hat die EZB mehr oder weniger faule Kredite in ihren Bestand übernommen, wie zum Beispiel durch die Übernahme von spanischen Banken.
Um schließlich die Gefahren der Zahlungsunfähigkeit zu senken, haben die Staaten beschlossen, ihre eigenen öffentlichen Defizite zu reduzieren und das Bankensystem zu regulieren. Zu diesem Zweck wurden Sparprogramme verabschiedet, die zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter führen werden, die mit den Verschlechterungen in den 1930er Jahren vergleichbar sein werden. Die Liste der Angriffe ist dermaßen lang, dass sie hier den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Wir können nur einige sehr aufschlussreiche Beispiele nennen. In Spanien wurden die Beamtengehälter um 5% gesenkt, 13.000 Stellen gestrichen. In Frankreich, wo neben der Verschiebung des Renteneintrittalters um mindestens zwei Jahre nur jeder zweite in Rente gehende Kollege ersetzt werden soll. Gleichzeitig sollen 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst zwischen 2011-2013 gestrichen werden. Die 2009 eingeleiteten Konjunkturankurbelungsmaßnahmen werden eingestellt. Steuermehreinnahmen von fünf Milliarden Euro sind geplant. In Großbritannien sind dem Osborne-Plan zufolge Ausgabenkürzungen bei den Ministerien von 25% im Laufe der nächsten fünf Jahre vorgesehen. Eine ganze Reihe von Sozialleistungen, von denen die Einkommensschwächsten profitierten, wird eingefroren. Die Mehrwertsteuer steigt von 17.5% auf 20%. Man geht davon aus, dass allein der Osborne-Plan zu einem Verlust von ca. 1.3 Millionen Arbeitsstellen führen wird. Bis 2014 sollen 14.000 Stellen im öffentlichen Dienst in Deutschland gestrichen werden, zahlreiche Kürzungen für Arbeitslose sind angekündigt worden. In allen Ländern werden die öffentlichen Investitionen zurückgeschraubt.
Die hinter diesen Maßnahmen verfolgten Ziele sind: Durch die Rettung des Finanzsystems mittels der Unterstützung für die in Schwierigkeiten steckenden Banken und der von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Staaten sollen die öffentlichen Finanzen saniert werden, um später erneut Schulden machen zu können, damit so in der Zukunft wieder Wachstum ermöglicht wird. Hinter diesem Ziel steckt zunächst die Absicht der Herrschenden in Deutschland, ihre eigenen ökonomischen Interessen zu schützen. Für das deutsche Kapital, das weiterhin sehr stark auf den Export setzt, insbesondere auf den Export von Maschinen und chemischen Produkten, kommt es nicht infrage, erhöhte Produktionskosten in Kauf zu nehmen, um dadurch in Schwierigkeiten steckende Länder Europas (über eine gewisse Grenze hinaus) zu unterstützen. Dadurch würde seine Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt. Und da Deutschland wirklich als einziges Land den anderen finanziell entscheidend unter die Arme greifen kann, zwingt es allen anderen eine drakonische Sparpolitik auf, auch wenn dies nicht deren Interessen entspricht.
Wenn Großbritannien, das nicht der Euro-Zone angehört, den gleichen Kurs einschlägt, spiegelt das die Tiefe der Krise wider. GB kann sich keine Konjunkturprogramme mehr leisten, nachdem sein Haushaltsdefizit 2010 11.5% des BIP erreicht hat. Zu große Gefahren einer Zahlungsunfähigkeit würden entstehen und damit des Zusammenbruchs des britischen Pfunds. Auch Japan praktiziert die gleiche Sparpolitik aufgrund seiner hohen öffentlichen Verschuldung. Mehr und mehr Länder gehen davon aus, dass ihre Defizite und öffentliche Verschuldung zu hoch geworden sind, und die Zahlungsunfähigkeit würde eine enorme Schwächung des nationalen Kapitals mit sich bringen. Sie stimmen damit für eine Politik der Sparmaßnahmen, welche wiederum nur zu einer Deflation führen kann.[8]Und gerade diese Bewegung zu einer deflationären Dynamik macht den USA Angst. Sie beschuldigen die Europäer, eine neue „Episode Hoover" herbeizuführen (1930, bei Ausbruch der Wirtschaftskrise 1929 war er im Amt), d.h. sie beschuldigen die Staaten Europas, die Welt in eine Depression und eine Deflation zu treiben wie 1929-32. Auch wenn es legitim sei, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte zurückfahren zu wollen, solle dies erst später geschehen, wenn der Aufschwung » wirklich in Gang gekommen sei. Indem sie für solch eine Politik eintreten, verteidigen die USA nur ihre eigenen Interessen, denn als Emittenten der Weltleitwährung bedeutet das Drucken von zusätzlichem Geld für die Finanzierung der Konjunkturpakete für sie nur eine Unterschrift auf dem Geldschein. Und dennoch müssen sie befürchten, dass die Wirtschaft in eine Deflation hineinrutscht.
Gleich welche Option gewünscht oder eingeschlagen wird, die Strategiewechsel während der letzten Zeit sowie die Befürchtungen seitens verschiedener Flügel der herrschenden Klasse belegen die Orientierungslosigkeit, die in ihren Reihen herrscht: Es gibt einfach keine gute Lösung mehr.
Die Wirkungen der Konjunkturpakete verpuffen, wir stehen vor einem Versinken in der Depression. Solch eine Dynamik führt bei den Betrieben zu wachsenden Schwierigkeiten, ausreichend Profite zu erzeugen; die Gefahr entsteht, vom Wettbewerb verdrängt zu werden. Die Sparpolitik, die in vielen Ländern umgesetzt werden wird, wird das Abrutschen in die Depression nur noch beschleunigen und die Deflation verstärken, von der es schon jetzt einige Anzeichen gibt.
Ohne Zweifel ist die Hoffnung, mit Hilfe einer Sparpolitik die öffentlichen Finanzen zu sanieren, um später wieder Schulden machen zu können, eine reine Illusion. Berechnungen des IWF zufolge ziehen die Folgen des Sparpakets in Griechenland einen Rückgang des BIP um 8% nach sich. Auch wird mit einem Rückgang des BIP in Spanien gerechnet. Die Sparpakete werden zu verminderten Steuereinnahmen führen und damit die Defizite noch erhöhen, obwohl die Sparpakete diese eigentlich senken sollten. Ende 2010 und Anfang 2011 muss man mit einem Produktionsrückgang und einem schrumpfenden Handel in den meisten Ländern der Welt rechnen. Dies wird schwerwiegende Folgen für immer größere Teile der Arbeiterklasse haben und eine Verschlechterung ihrer Lage bewirken.
Man kann nicht ausschließen, dass in Anbetracht des beschleunigten Versinkens in der Depression infolge der Sparmaßnahmen nach einigen Monaten ein Richtungswechsel stattfindet und die Politik übernommen wird, welche die USA befürworten. Die letzten sechs Monate haben deutlich werden lassen, dass die Herrschenden, die kaum mehr über Spielraum verfügen, jetzt unfähig sind, über einen kurzen Zeitraum hinaus zu denken, denn erst vor einem Jahr wurden überall Konjunkturpakete aufgelegt. Wenn neue Konjunkturprogramme beschlossen würden, würde dies zu einem erhöhten Geldumlauf führen (die USA seien schon dabei, diese Politik zu praktizieren). Dies führt aber zu einem Verfall der Währung, d.h. einer Explosion der Inflation, mit anderen Worten zu neuen dramatischen Angriffen gegen die Arbeiterklasse.
Vitaz, 3.07.10
[1] Le Monde, 29. Juni 2010
[2] www.dicocitations.com/citations/citation-7496.php [4]
[3] Nach fünf aneinander folgenden Monaten in denen Arbeitsplätze geschaffen wurden gab es im Juni einen Abbau von 125000 Arbeitsplätzen, mehr als die Wirtschaftsexperten befürchtet hatten. Siehe dazu den Artikel „Après cinq mois de créations d`emplois, les Etats-Unis se remettent à en détruire" (www.lemonde.fr/economie/article/2010/07/03/apres-cinq-mois-de-creations-... [5])
[4] Nur weil Japan zweitgrößter Devisenbesitzer auf der Welt ist, wurde Japan von den Ratingagenturen noch nicht so stark heruntergestuft wie viele weniger stark verschuldete Länder als Japan.
[5] https://lemonde.fr/economie/article/2010/06/29/siemens-cree-sa-banque-af... [6]
[6] Es soll sich um 280 Milliarden Euros handeln. Natürlich sind diese Zahlen, die in Kreisen von Börsianern zirkulieren, keine offiziellen. Vielmehr haben die amtlichen Stellen sie dementiert, denn in solchen Fällen würde Schweigen als Bestätigung angesehen und zu einer unbeschreiblichen Panik führen.
[7] Le Monde, 16. April 2010
[8] Rückgang der Preise, die in diesem Falle durch eine unzureichende Nachfrage hervorgerufen würde, die wiederum eine Folge der Spaßmaßnahmen ist.
Die gewerkschaftliche Opposition der sog. „Lokalisten" und die Entstehung der „Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften" (FVDG) im Jahre 1897 waren Meilensteine in der Entstehung des organisierten Syndikalismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Ähnlich wie gewichtigere syndikalistische Tendenzen in Frankreich, Spanien und den USA stellte der Syndikalismus auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung ursprünglich eine gesunde proletarische Reaktion gegen die zunehmend reformistisch ausgerichtete Politik der Führung der mächtigen Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften dar.
Nach dem Ersten Weltkrieg, im September 1919, wurde in Deutschland die Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) gegründet. Auch als nun erklärtermaßen „anarcho-syndikalistische" Organisation sah sich die FAUD als direkter Erbe einer syndikalistischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg.
Es bestehen auch heute noch etliche anarcho-syndikalistische Gruppierungen, die sich auf die Tradition der FVDG und den späteren Anarcho-Syndikalismus der FAUD der 1920er Jahre berufen. Rudolf Rocker, der bekannteste „Theoretiker" des deutschen Anarcho-Syndikalismus, dient dabei oft als politischer Bezugspunkt.
Der Syndikalismus in Deutschland hat seit seiner Entstehung aber zweifellos eine große Veränderung erfahren. Dabei steht für uns die Frage im Zentrum, ob die syndikalistische Bewegung in Deutschland fähig war, die Interessen ihrer Klasse zu verteidigen, ihr politische Antworten auf brennende Fragen zu geben und dem Internationalismus des Proletariates treu zu bleiben.
Es lohnt sich, zunächst einen kurzen Blick auf die folgenreichste Herausforderung zu werfen, mit der die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Deutschland konfrontiert war: den Reformismus. Andernfalls ist die Gefahr groß, den Syndikalismus in Deutschland simpel als eine besonders radikale Gewerkschaftsstrategie zu betrachten oder ihn lediglich als „Ideen-Import" aus den romanischen Ländern wie Spanien oder Frankreich anzusehen, in denen der Syndikalismus immer eine weitaus wichtigere Rolle spielte als in Deutschland.
Die deutsche sozialdemokratische Partei SPD stellte innerhalb der 2. Internationale (1889- 1914) die mächtigste proletarische Organisation dar und diente über Jahre hinweg als politischer Orientierungspunkt für die internationale Arbeiterbewegung. Doch die SPD steht genauso als Symbol für eine tragische Erfahrung: Sie ist Paradebeispiel einer Organisation, die jahrelang auf dem Boden der Arbeiterklasse stand, dann einen schleichenden Degenerationsprozess durchmachte und schlussendlich in den Jahren des Ersten Weltkrieges 1914-18 unwideruflich ins Lager der herrschenden Klasse übertrat. Die Führung der SPD drängte die Arbeiterklasse 1914 in das Gemetzel des Weltkrieges und übernahm eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der Interessen des deutschen Imperialismus.
1878 hatte Bismarck das „Sozialistengesetz" verhängt, das zwölf Jahre lang - bis 1890 - bestehen sollte. Dieses Gesetz unterdrückte die Aktivitäten und Versammlungen proletarischer Organisationen, vor allem aber jegliche organisatorische Verbindung unter den proletarischen Organisationen. Doch das „Sozialistengesetz" war keinesfalls nur harte, blindwütige Repression gegen die Arbeiterklasse. Die herrschende Klasse versuchte der Führung der SPD mit diesen Maßnahmen die Beteiligung im bürgerlichen Parlament als Hauptaktivität schmackhaft zu machen. Geschickt erleichterte sie so der aufkeimenden reformistischen Tendenz innerhalb der Sozialdemokratie den Weg.
Die reformistischen Ansichten innerhalb der Sozialdemokratie drückten sich schon früh im „Manifest der Züricher" von 1879 aus und formierten sich um die Person Eduard Bernsteins. Sie forderten, die Parlamentsarbeit in den Mittelpunkt zu stellen, um schrittweise die Macht im bürgerlichen Staat zu erobern. Eine Absage also an die Perspektive einer proletarischen Revolution, die den bürgerlichen Staat zerschlagen muss - und eine Kehrtwende zu einer Reform des Kapitalismus. Bernstein und seine Anhänger forderten gar eine Umwandlung der SPD von einer Arbeiterpartei in eine klassenversöhnlerische Organisation, die die herrschende Klasse dazu gewinnen sollte, das Privatkapital in Gemeinkapital umzuwandeln. Die herrschende Klasse sollte selbst Triebfeder zur Überwindung ihres eigenen Systems, des Kapitalismus, werden - welche Absurdität! Diese Ansichten stellten ein Frontalangriff auf den damals noch proletarischen Charakter der SPD dar. Doch damit nicht genug: Bernsteins Flügel machte auch offen Propaganda für die Unterstützung der Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus, indem er für den Bau einer mächtigen Hochseeflotte stimmte. Bernsteins reformistische Ideen wurden zurzeit des „Manifests der Züricher" von der Mehrheit der sozialdemokratischen Führung klar bekämpft und fanden auch an der Basis kein großes Echo. Die Geschichte zeigte aber tragischerweise in den folgenden Jahrzehnten, dass sie der erste Ausdruck eines Krebsgeschwürs waren, das unaufhaltsam und Schritt für Schritt große Teile der SPD erobern sollte. Kein Wunder also, dass diese offene Kapitulation gegenüber dem Kapitalismus, wie sie erst Bernstein allein, später aber immer größere Teile der deutschen Sozialdemokratie symbolisierten, innerhalb der Arbeiterklasse einen Reflex der Empörung auslöste. Dass in dieser Situation gerade jene kämpferischen Arbeiter, die in den Gewerkschaften organisiert waren, besonders heftig reagierten, erstaunt nicht.
Es gab aber schon vor dem „Manifest der Züricher", nämlich in den frühen 1870er Jahren und in Gestalt des Schriftsetzers Carl Hillmann, erste Bestrebungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, eine selbständige „Gewerkschaftstheorie" zu entwickeln. Die syndikalistische Bewegung kurz vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem später aber der Anarcho-Syndikalismus sollten sich immer wieder auf sie berufen. Ab Mai 1873 erschien in der Zeitschrift Volksstaat[1] eine Artikelserie unter dem Titel „Praktische Emanzipationswinke", in der Hillman schrieb: „(...) die große Masse der Arbeiter hegt einerseits Misstrauen gegen alle rein politischen Parteien, weil sie von denselben oft missbraucht und hintergangen worden sind, und weil die Unkenntnis der sozialen Bewegungen andererseits die Wichtigkeit der politischen Seite nicht erkennen lässt; im übrigen zeigen die Arbeiter größeres Verständnis und praktischen Sinn für näher liegende Interessensfragen, z.B. kurze Arbeitszeit, Beseitigung widerlicher Fabrikordnungen usw.
Die rein gewerkschaftliche Organisation übt einen nachhaltigen Druck auf die Gesetzgebung und die Regierungen aus, folglich ist die Arbeiterbewegung in dieser Form ihrer Äußerungen ebenfalls politisch, wenn auch erst in zweiter Linie;
(...) die tatsächlichen gewerkgenossenschaftlichen Organisationsbestrebungen reifen den Gedanken der Emanzipation der Arbeiterklasse, und deshalb müssen diese natürlichen Organisationen der rein politischen Agitation gleichgestellt und dürfen weder als eine reaktionäre Bildung noch als Schweif an der politischen Bewegung betrachtet werden."
Hinter Hillmans Anliegen, die Rolle der Gewerkschaften als zentrale Organisationen für den Kampf der Arbeiterklasse zu verteidigen, stand aber keinesfalls die Absicht, eine Trennungslinie zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf zu ziehen oder gar den politischen Kampf abzulehnen. Vielmehr war Hillmans „Gewerkschaftstheorie" in erster Linie eine sensible Reaktion auf unterschwellige Tendenzen innerhalb der Führung der Sozialdemokratie, die Rolle der Gewerkschaften und - allgemein - des Klassenkampfes den parlamentarischen Tätigkeiten unterzuordnen.
Auch Engels kritisierte zur gleichen Zeit wie Hillmann, im März 1875, exakt diesen Punkt des von ihm als „saft- und kraftlos" bezeichneten Programmentwurfs für den anstehenden Einigungskongress der beiden sozialistischen Parteien Deutschlands in Gotha: „Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittels der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede. Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platterdings nicht mehr kaputtzumachen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offen zu lassen."[2]
Tatsächlich waren die Gewerkschaften in der damaligen Periode eines aufstrebenden Kapitalismus ein gewichtiges Instrument zur Überwindung der Isolation der Arbeiter und für die Herausbildung des Selbstverständnisses der Arbeiter als Klasse: eine Schule des Klassenkampfes. Es war der Arbeiterklasse noch möglich, einem aufstrebenden Kapitalismus dauerhafte Reformen zu ihren Gunsten abzuringen.[3]
Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung in gewissen Teilen des anarcho-syndikalistischen Milieus war es nicht die Absicht Hillmans, „den Marxisten Paroli zu bieten", die die Gewerkschaften angeblich immer unterschätzt hätten. Eine Behauptung, auf die man eigenartigerweise immer wieder stößt, die aber nicht der Wirklichkeit entspricht. Hillmann rechnete sich in seinen generellen Ansichten klar der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) zu, in der auch Marx und Engels arbeiteten. Seine Kritik richtete sich in ihrem Kern gegen jene Hörigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen parlamentarischen Kampf, die sich in der Sozialdemokratie eingeschlichen hatte und gegen die sich Marx und Engels in ihrer Kritik am Gothaer Programm gewandt hatten. Von einem selbständigen „Syndikalismus" innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung schon in den 1870er Jahren zu sprechen wäre demnach sicher falsch. Als greifbare Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse in Deutschland formierte er sich allmählich erst knapp 20 Jahre später.
Auch wenn Hillmann, mit einem gesunden proletarischen Instinkt ausgestattet, früh den sich langsam anbahnenden parlamentarischen Kretinismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung spürte und darauf reagierte, gibt es dennoch einen wesentlichen Unterschied gegenüber Marx und Engels: Hillmann pochte in erster Linie auf eine Autonomie der Gewerkschaften und einen „Sinn für näher liegende Interessensfragen". Marx dagegen hatte schon in den späten 1860er Jahren vor einer Reduzierung des gewerkschaftlichen Kampfes auf den Kampf um Lohnerhöhungen gewarnt: „Die Gewerksgenossenschaften haben sich bisher zu ausschließlich mit dem lokalen und unmittelbaren Kampf gegen das Kapital beschäftigt und haben noch nicht völlig begriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das System der Lohnsklaverei selbst darstellen. Sie haben sich deshalb zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen gehalten."[4]
Wie wir sehen, bestanden Marx und Engels schon damals auf die allgemeine Einheit von ökonomischem und politischem Kampf der Arbeiterklasse, auch wenn dieser mit verschiedenen Organisationen geführt werden sollte. Hillmans Ideen trugen demgegenüber die große Schwäche in sich, nicht konsequent und aktiv auch den politischen Kampf gegen den ausschließlich auf das Parlament ausgerichteten Flügel der SPD aufzunehmen, sondern sich in die Gewerkschaftsarbeit zurückzuziehen und dem Reformismus damit das Feld allzu kampflos zu überlassen. Dies spielte seinen Gegnern in die Hände, denn es war ja exakt das Zurückdrängen der Arbeiter auf den rein ökonomischen Kampf, was den anschwellenden Reformismus innerhalb der Gewerkschaftsbewegung auszeichnete.
Im Sommer 1890 bildete sich in der SPD eine kleine Opposition, die sog. „Jungen". Bezeichnend für ihre bekanntesten Repräsentanten Wille, Wildberger, Kampffmeyer, Werner und Baginski war der Ruf nach „mehr Freiheit" innerhalb der Partei und ihre antiparlamentarische Haltung. In ihrer lokalistischen Haltung lehnten sie überdies die Notwendigkeit eines Zentralorgans für die SPD ab.
Die „Jungen" stellten eine sehr heterogene Parteiopposition dar; es ist wohl treffender, von einer Ansammlung unzufriedener SPD-Mitglieder zu sprechen. Die Unzufriedenheit der „Jungen" an sich hatte aber durchaus ihre Berechtigung, denn die reformistischen Tendenzen in der Sozialdemokratie verschwanden nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 keineswegs. Der Reformismus gewann mehr und mehr an Gewicht. Doch die Kritik der „Jungen" war nicht imstande, die wirklichen Probleme und die ideologischen Wurzeln des Reformismus aufzuzeigen. Anstelle eines politisch fundierten Kampfes gegen die reformistische Idee des „friedlichen Hinüberwachsens" des Kapitalismus in eine klassenlose sozialistische Gesellschaft führten die „Jungen" lediglich eine scharfe Kampagne gegen einzelne Führer der SPD und personifizierten ihre Angriffe. Ihre Erklärung des Reformismus fand Ausdruck in einer unreifen und reduzierten Argumentation, die die „Jagd nach persönlichem Profit und Ruhm" und die „Psychologie der SPD-Führer" in den Mittelpunkt rückte. Dieser Konflikt wurde durch den Austritt bzw. Ausschluss der „Jungen" aus der SPD auf dem Erfurter Kongress von 1891 beendet. Dies führte im November 1891 zur Gründung des anarchistischen Vereins Unabhängiger Sozialisten (VUS). Der kurzlebige VUS, eine völlig heterogene Gruppierung, die sich vornehmlich aus unzufriedenen, ehemaligen SPD-Genossen gebildet hatte, geriet nach schweren persönlichen Spannungen schnell unter die Kontrolle des Anarchisten Gustav Landauer und verschwand schon drei Jahre später, 1894, wieder von der Bildfläche.
Bei der Lektüre zeitgenössischer anarcho-syndikalistischer Darstellungen und der bekanntesten Bücher über die Entstehung des Syndikalismus in Deutschland sticht eines ins Auge: der oft krampfhafte Versuch, eine Vergangenheit zu konstruieren, an die der Anarcho-Syndikalismus der 1919 gegründeten FAUD angeblich angeknüpfte. Meist sind diese Darstellungen eine simple Aneinanderreihung verschiedener Oppositionsbewegungen innerhalb der deutschen Arbeiterorganisationen: von Hillmann über Johann Most und die „Jungen" zu den „Lokalisten" und weiter zur Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften (FVDG) bis schlussendlich zur FAUD. Die reine Existenz eines Konfliktes mit den jeweils führenden Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften wird dabei als die bestimmende Gemeinsamkeit betrachtet. Doch allein der Konfliktfall mit der Partei- oder Gewerkschaftsführung stellt keine politische Kontinuität dar. Bei genauerem Hinsehen gab es keineswegs eine solche Kontinuität zwischen all diesen Organisationen! Zwar teilten Hillman, Most und die „Jungen" sehr wohl die Abneigung gegen die um sich greifenden Illusionen über den Parlamentarismus. Während aber Hillman immer Teil der Ersten Internationale blieb und mitten im realen Kampf der Arbeiterklasse stand, glitt Most zusammen mit Hasselmann in den frühen 1880er Jahren schnell in die isolierte, verzweifelte und kleinbürgerliche „Propaganda der Tat" - sprich: terroristische Aktionen - ab. Und die Angriffe der „Jungen" gegen einzelne Personen konnten nicht an die politische Qualität der Hillman'schen Kritik anknüpfen, die ein ernsthafter Versuch gewesen war, den Klassenkampf voranzutreiben. Die späteren „Lokalisten" und die daraus hervorgehende FVDG hingegen stellten über Jahre hinweg eine lebendige Bewegung in der Arbeiterklasse dar. Bis 1908 hatten anarchistische Ideen in der gewerkschaftlichen Opposition, aus der später der Syndikalismus in Deutschland entstehen sollte, nur einen geringen Einfluss. Tatsächlich konnte man von einer „anarchistischen Prägung" des deutschen Syndikalismus, der sich aus dem Schoß der sozialdemokratischen Gewerkschaften entwickelt hatte, erst nach dem Ersten Weltkrieg sprechen.
Eine organisierte Opposition in den Reihen der sozialdemokratischen Gewerkschaften formierte sich in Deutschland anlässlich des ersten Gewerkschaftskongresses nach der Aufhebung des „Sozialistengesetzes" im März 1892 in Halberstadt. Die Generalkommission des Gewerkschaftsverbandes dekretierte unter Führung Carl Legiens auf diesem Kongress eine absolute Trennung zwischen politischem und ökonomischem Kampf. Die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterklasse sollte sich nach dieser Auffassung lediglich auf ökonomische Kämpfe beschränken, während allein die Sozialdemokratie und - dabei vor allem ihre Parlamentsabgeordneten (!) - für politische Fragen zuständig sein sollten.
Doch durch die Bedingungen des zwölf Jahre andauernden „Sozialistengesetzes" waren die in Berufsverbänden organisierten Arbeiter an eine Verschmelzung von politischen und ökonomischen Anliegen und Diskussionen in ein und derselben Organisation, die sich auch durch die Illegalität zwangsläufig ergeben hatte, gewohnt.
Schon damals war das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem Kampf Gegenstand zentraler Auseinandersetzungen in der internationalen Arbeiterklasse gewesen - und ist es zweifellos bis heute geblieben! In einer Zeit, in der durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsepoche die Bedingungen für eine Weltrevolution herangereift waren, zeichnete sich immer deutlicher ab, dass das Proletariat die einzige Gesellschaftsklasse war, die auf politische Fragen wie den Krieg eine Antwort geben konnte und musste!
1892 richtete die Führung der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach jahrelanger Fragmentierung durch die Illegalität in isolierten Berufsverbänden einen gewerkschaftlichen Zentralverband ein - aber eben zum tragischen Preis der Beschränkung der Gewerkschaften auf den ökonomischen Kampf. Diese Beschränkung war jedoch nicht mehr die Folge des „Sozialistengesetzes", das die Versammlungs- und Redefreiheit suspendierte und die Diskussion politischer Fragen verbot, sondern das Resultat reformistischer Visionen und beträchtlicher Illusionen über den Parlamentarismus, die immer mehr überhand nahmen. Gegen diese Politik der Gewerkschaftsführung um Legien formierte sich die Opposition der „Lokalisten" als gesunde proletarische Reaktion. Eine wesentliche Rolle spielte dabei Gustav Kessler. Er hatte in den 1880er Jahren in der Koordination der Berufsverbände in Gestalt eines sog. Vertrauensmänner-Systems gearbeitet und war maßgeblich an der Herausgabe des Gewerkschaftsorgans Der Bauhandwerker beteiligt.
Um den „Lokalisten" gerecht zu werden, gilt es zunächst, mit einem verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Der Name „Lokalisten" lässt auf den ersten Blick eine Opposition vermuten, deren Hauptanliegen ein politischer Lokalismus ist, also das Bestreben, sich ausschließlich um Angelegenheiten der Region zu kümmern oder sich gar prinzipiell gegen organisatorische Verbindungen mit den Arbeitern anderer Sektoren und Regionen zu sträuben. Dieser Eindruck entsteht oft bei der Lektüre zeitgenössischer Literatur, gerade aus dem Lager des heutigen Anarcho-Syndikalismus. Meist ist es schwer zu beurteilen, ob dies mit der Absicht geschieht, aus den „Lokalisten" und der daraus hervorgehenden FVDG im Nachhinein Organisationen ihrer heutigen eigenen lokalistischen anarcho-syndikalistischen Kragenweite zu konstruieren - oder lediglich aus purer Unkenntnis der eigenen Geschichte.
Dies gilt aber auch, wenn die sehr wertvollen Schilderungen der Anfänge des Syndikalismus in Deutschland aus den Reihen des Marxismus allzu schematisch angewandt werden. Wenn Anton Pannekoek 1913 schrieb: „(...) nach ihrer Praxis bezeichnen sie sich als ‚Lokalisten‘ und drücken damit in dem Gegensatz zu der Zentralisation der großen Verbände ihr wichtigstes Agitationsprinzip aus", so beschreibt dies eine Entwicklung, die innerhalb des deutschen Syndikalismus erst ab 1904 einsetzte und schließlich in eine Annäherung an die Ideen der „Arbeiterbörsen"[5] der französischen Charte d`Amiens von 1906 (einem Programmpapier) mündete; es übersieht aber, dass dies auf die Entstehungszeit in den 1890er Jahren nicht zutrifft.
Die „Lokalisten" hatten sich nicht formiert, weil sie in ihrer gewerkschaftlichen Opposition gegen Legiens Politik à priori eine lokal zerstreute, föderalistische Methode des Klassenkampfes als politisches Hauptanliegen theoretisierten. Die führenden Kräfte in den Gewerkschaften schmückten sich mit dem Konzept einer strikten „Zentralisierung" des Kampfes der Arbeiterklasse, um gleichzeitig die strikte politische Abstinenz der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter durchzusetzen. Die Feststellung, dass durch diese Situation jedoch eine Dynamik entstand, die Teile der „Lokalisten" tatsächlich schrittweise in föderalistische und anti-zentralistische Auffassungen zu drängen begann, ist eine andere Realität.
Eine Zentralisierung im Sinne einer berufs-, sektoren- und nationenübergreifenden Solidarität und des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse war absolut notwendig. Die Idee der Zentralisierung, wie sie die großen Gewerkschaftsverbände vertraten, verbreitete jedoch schon damals für einige Arbeiter zu Recht den schalen Beigeschmack regelrechter „Kontrollorgane" in den Händen der reformistischen Gewerkschaftsführer. Doch bei der Formierung der lokalistischen Opposition Mitte der 1890er Jahre stand unübersehbar die Entrüstung über das Dekret der politischen Abstinenz für die Arbeiter im Mittelpunkt!
Es erscheint uns wichtig, diese falsche und oft ausschließliche Fokussierung auf die Frage „Föderalismus gegen Zentralismus" bei der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland gerade mit den Worten von Fritz Kater (eines der langjährigsten und prägendsten Mitglieder der FVDG und FAUD) richtigzustellen: „War doch mit dem Bestreben, die Gewerkschaften in Deutschland in Zentralverbände zu organisieren, verbunden, alle Aufklärung in den Versammlungen über öffentlichen und politische Angelegenheiten und ganz besonders ein Einwirken auf diese durch die Gewerkschaft, aufzugeben und sich lediglich auf den Tageskampf um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen einzustellen. Gerade letzteres aber war damals der Hauptgrund der sog. Lokalisten, den Verbandszentralismus abzulehnen und zu bekämpfen, waren sie doch damals, als revolutionäre Sozialdemokraten und Mitglieder der Partei, der sehr richtigen Ansicht, dass der so genannte gewerkschaftliche Kampf um Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heute bestehenden Ordnung nicht geführt werden kann, ohne das Verhältnis der Arbeiter zu dem heutigen Staat und seinen Organen der Gesetzgebung und Verwaltung scharf und bestimmt zu berühren..."[6]. (Hervorhebung durch uns)
Mit ihrer Entrüstung über die „Lokalisten" als angebliches Symbol des Föderalismus in Reinkultur geht die stalinistische und trotzkistische Geschichtsschreibung konform mit gewissen neo-syndikalistischen Schriften, die den Föderalismus als das „Nonplusultra" anbeten.
Selbst Rudolf Rocker, der von 1893 bis 1919 außerhalb Deutschlands weilte und in den 20er Jahren den Föderalismus dann tatsächlich zum besonderen theoretischen Prinzip in der FAUD erhob, beschreibt den Föderalismus der „Lokalisten" von 1892 ehrlich und treffend folgendermaßen: „Jedoch war dieser ‚Föderalismus‘ durchaus nicht das Ergebnis einer politischen und sozialen Erkenntnis wie bei Pisacane in Italien, Proudhon in Frankreich und Pi y Margall in Spanien, der später von der anarchistischen Bewegung jener Länder übernommen wurde; er entsprang vielmehr dem Versuch, die Bestimmungen des damaligen Preußischen Vereinsgesetzes zu umgehen, das zwar rein lokalen Gewerkschaften die Erörterung politischer Fragen in ihren Versammlungen gestattete, aber dieses Recht den Mitgliedern der Zentralverbände versagte."
Unter den Bedingungen des „Sozialistengesetzes" durch ein Netz von Vertrauensmännern an die Arbeitsweise der Koordination (man mag es auch Zentralisierung nennen!) gewohnt, fiel es den „Lokalisten" tatsächlich schwer, sich eine andere Art und Weise der Koordination anzueignen, die den veränderten Bedingungen ab 1890 entsprach. Schon 1892 lässt sich eine föderalistische Tendenz ohne Zweifel im Keim ausmachen. Doch war dieser Föderalismus der „Lokalisten" wohl eher der Versuch, aus der Not des Vertrauensmänner-Systems eine Tugend zu machen! Die „Lokalisten" verblieben mit der Absicht, eine kämpferische Vorhut innerhalb der sozialdemokratischen Gewerkschaften zu bilden, noch knapp fünf Jahre in den großen gewerkschaftlichen Zentralverbänden und verstanden sich unmissverständlich als Teil der Sozialdemokratie.
In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre brachen vor allem in Streiks immer öfter offene Konflikte zwischen den Anhängern der „lokalistischen" Berufsverbände und den Zentralverbänden aus, am heftigsten unter den Bauarbeitern in Berlin und im Streik der Hafenarbeiter 1896/97 in Hamburg. In diesen Auseinandersetzungen stand zumeist die Frage im Mittelpunkt, ob die Berufsverbände auf eigene Entscheidung in den Streik treten konnten oder ob dies an die Einwilligung der Führung des Zentralverbandes gebunden war. Dabei sticht ins Auge, dass die „Lokalisten" ihre Anhängerschaft überproportional unter bauhandwerklichen Berufsgruppen (Maurer, Fliesenleger, Zimmerleute) fanden, bei denen ein starker Berufsstolz vorhanden war, und anteilsmäßig viel weniger unter den Industriearbeitern.
Parallel dazu neigte die Führung der Sozialdemokratie ab Ende der 1890er Jahre immer mehr dazu, das apolitische Gewerkschaftsmodell der Generalkommission um Legien, die so genannte „Neutralität" der Gewerkschaften, zu übernehmen. Die SPD hatte gegenüber den Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften aus verschiedenen Gründen lange laviert und sich zurückhaltend geäußert. Auch wenn die „Lokalisten" zur Zeit des Kongresses von Halberstadt 1892 eine vergleichsweise kleine Minderheit von ca. 10.000 Mitgliedern (nur ca. drei Prozent aller gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in Deutschland) darstellten, so befanden sich gerade unter ihnen viele alte und kämpferische Gewerkschafter, die eng mit der SPD verbunden waren. Aus Furcht, diese Genossen durch eine einseitige Parteinahme in den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen vor den Kopf zu stoßen, aber vor allem aus einer eigenen Unklarheit über das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse hatte sich die Führung Sozialdemokratie lange zurückgehalten. Erst 1908 sollten die Mitglieder der FVDG von der Führung der SPD definitiv fallen gelassen werden.
Im Mai 1897 entstand ein erster und nun auch erklärtermaßen selbständig organisierter, 6.800 Mitglieder starker[7] Vorläufer des zukünftigen Syndikalismus in Deutschland - oder, präziser, jene Organisation, die in den folgenden Jahren den Weg zum Syndikalismus in Deutschland einschlagen sollte. Mit der Gründung als nationaler Gewerkschaftszusammenschluss ging eine historische Spaltung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung einher. Die „Lokalisten" erklärten auf dem „1. Kongress der lokal organisierten Gewerkschaften Deutschlands" in Halle ihre organisatorische Selbständigkeit. Den Namen „Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG"[8] legten sie sich aber erst im September 1901 zu. Ihr nun neu gegründetes Presseorgan Die Einigkeit sollte bis zum Verbot der FVDG bei Kriegsbeginn 1914 bestehen.
Auf welchem Verständnis bezüglich des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und des Verhältnisses zur Sozialdemokratie sich die FVDG gründete, drückt am deutlichsten die bekannte, von Gustav Kessler ausgearbeitete Resolution des Kongresses von 1897 aus:
„1. Eine Trennung der gewerkschaftlichen Bewegung von der bewussten sozialdemokratischen Politik ist unmöglich, ohne den Kampf um die Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heutigen Ordnung aussichtslos zu machen und zu lähmen.
2. Dass die Bemühungen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, den Zusammenhang mit der Sozialdemokratie zu lockern oder zu durchbrechen, als arbeiterfeindlich zu betrachten sind.
3. Dass Organisationsformen der gewerkschaftlichen Bewegung, die sie in dem Kampf um die politischen Ziele hindern, als fehlerhaft und verwerflich zu betrachten sind. Der Kongress sieht in der Form der Organisation, die sich die sozialdemokratische Partei Deutschlands auf dem Kongress zu Halle 1890 gegeben hat, mit Rücksicht auf die bestehende Vereinsgesetzgebung auch für die gewerkschaftliche Organisation die zweckmässiste und beste Einrichtung zur Verfolgung aller Ziele der Gewerkschaftsbewegung."[9]
In diesen Zeilen drückten sich die Verteidigung politischer Anliegen der Arbeiterklasse und eine starke Bindung zur Sozialdemokratie als „Schwesterorganisation" aus. Die Verbindung mit der Sozialdemokratie wurde als die Brücke zur Politik verstanden. Die Gründung der FVDG war demnach auf programmatischer Ebene nicht etwa eine Absage gegenüber dem Geist des Klassenkampfes, den schon Marx verteidigt hatte, oder gar eine Absage an den Marxismus im Allgemeinen, sondern ein Versuch, diesen Geist aufrechtzuerhalten. Das formulierte Anliegen der FVDG, den „Kampf um die politischen Ziele" nicht den Händen der Arbeiter zu entreißen, war die wesentliche Stärke in ihrer Gründungszeit.
Wie stark die politische Bindung zur Sozialdemokratie war, zeigte die Debatte auf dem „4. Kongress der Vertrauensmänner-Zentralisation" in Mai 1900. Die FVDG zählte damals knapp 20.000 Mitglieder. Kessler stellte gar die Forderung auf, Gewerkschaften und Partei wiederzuvereinen, die auch in eine Resolution aufgenommen wurde: „Die politische und die gewerkschaftliche Organisation müssen sich also wiedervereinigen. Das kann nicht auf einmal geschehen, denn Umstände, die sich historisch entwickelt haben, haben ein Recht zu bestehen; wohl aber haben wir die Pflicht, diese Vereinigung vorzubereiten, indem wir die Gewerkschaften geeignet machen, Träger des sozialistischen Gedankens zu bleiben. (...) Wer davon überzeigt ist, dass der gewerkschaftliche und der politische Kampf ein Klassenkampf ist, dass er in der Hauptsache nur geführt werden kann durch das Proletariat selbst, der ist uns Genosse und mit uns auf demselben Boot" [10].
Wenngleich hinter diesem Standpunkt, sich einerseits nicht nur auf den ökonomischen Kampf zu beschränken und sich andererseits an die größte politische Organisation der deutschen Arbeiterklasse, die SPD, zu binden, ein gesundes Anliegen steckt, so lässt sich jedoch hier bereits im Keim deutlich die spätere Konfusion des Syndikalismus in Sachen „Einheitsorganisation" erkennen. Eine Idee, die sich in Deutschland erst Jahre später, ab 1919, nicht nur im Syndikalismus, sondern vor allem in den „Arbeiterunionen" manifestieren sollte. Die von der FVDG noch in der Resolution von 1900 angestrebte Vision eines gemeinsamen Kampfes mit der Sozialdemokratie sollte aber schon im selben Jahr vor eine harte Zerreißprobe gestellt werden.
Als 1900 in Hamburg der Zentralverband der Gewerkschaften mit den Unternehmern einen Vertrag zur Aufhebung der Akkordarbeit abschloss, sperrte sich ein Teil der Akkordmaurer dagegen. Sie nahmen die Arbeit wieder auf und wurden, des Streikbruchs bezichtigt, aus dem gewerkschaftlichen Zentralverband ausgeschlossen. Daraufhin schlossen sich die Akkordmaurer der FVDG an. Die Hamburger SPD forderte den sofortigen Ausschluss dieser Arbeiter aus der Partei; ein Schiedsgericht der SPD lehnte dies aber ab.
Wenn Rosa Luxemburg die Entscheidung des Schiedsgerichts, die Hamburger FVDG-Maurer nicht aus der SPD auszuschließen, verteidigte, dann nicht, weil sie etwa der FVDG politisch nahestand, sondern weil sie in ihrem Kampf gegen den Reformismus darum bestrebt war, das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse zu klären. Sie forderte zwar, wegen des Streikbruchs „den Akkordmaurern eine scharfe Rüge zu erteilen"[11], wies aber den bürokratischen und formalistischen Standpunkt heftig zurück, einen Streikbruch als Grund für den sofortigen Ausschluss von Arbeitern aus der Partei gelten zu lassen. Der sozialdemokratische gewerkschaftliche Zentralverband selbst hatte sich in Konfrontationen mit der FVDG mehrmals des Mittels des Streikbruchs bedient! Die SPD sollte Luxemburgs Ansicht nach nicht zu einer „Prügelkammer" der Gewerkschaften werden. Die Partei richte nicht über die Arbeiterklasse.
Rosa Luxemburg erkannte, dass hinter dieser heftigen gewerkschaftlichen Affäre um die Hamburger Akkordmaurer viel zentralere Fragen verborgen waren. Dieselben Fragen, die im Kern auch in den Vorstellungen innerhalb der FVDG zur „Wiederverschmelzung" von Partei und gewerkschaftlicher Massenorganisation enthalten waren: die Unterscheidung zwischen einer politischen revolutionären Organisation einerseits und der organisatorischen Form, welche sich die Arbeiterklasse in Zeiten des offenen Klassenkampfes zu geben hat, andererseits: „In der Praxis würde es aber in erster Linie zu einer Verschmelzung der politischen und wirtschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse führen, bei welchem Durcheinander beide Kampfformen verlören und ihre geschichtlich entstandene und bedingte äußere Trennung und Arbeitsteilung rückgängig gemacht würde"[12].
Wenn Luxemburg 1900, wie die gesamte Arbeiterbewegung damals, den Horizont der traditionellen gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiterklasse noch nicht überschreiten konnte und die Gewerkschaften als die großen Organisationen des wirtschaftlichen Klassenkampfes betrachtete, lag dies daran, dass die Arbeiterklasse erst in den folgenden Jahren mit der Aufgabe konfrontiert wurde, den Massenstreik und die Arbeiterräte hervorzubringen - die revolutionären Schmelztiegel zur Verbindung von ökonomischem und politischem Kampf.
Eine Vereinigung des Kampfes der Arbeiterklasse, die in Deutschland in verschiedenste Gewerkschaften zersplittert war, war tatsächlich historisch notwendig. Doch sie konnte weder durch eine formalistische Instrumentalisierung der Parteiautorität zur Disziplinierung der Arbeiter, wie es die Zentralverbände wollten, noch durch die Vision von „Einheitsorganisationen" erreicht werden, die die Notwendigkeit einer politischen Partei unterschätzte, eine Idee, die in den Reihen der FVDG zu wachsen begann. Nicht „eine große Gewerkschaft" konnte das Rätsel lösen, sondern nur die Vereinigung der Arbeiterklasse im Klassenkampf selbst. Der Parteitag der SPD in Lübeck 1901 lehnte es auf Druck Luxemburgs zwar noch formell ab, Schiedsrichter zwischen dem gewerkschaftlichen Zentralverband und der FVDG zu spielen. Er nahm aber gleichzeitig die „Sonderbunds-Resolution" Bernsteins an, die künftigen gewerkschaftlichen Abspaltungen mit einem Parteiausschluss drohte. Die SPD begann sich damit deutlich von der FVDG zu distanzieren.
Die FVDG litt in den Jahren 1900/01 auch unter zunehmenden internen Spannungen, die sich hauptsächlich um die Frage der gegenseitigen finanziellen Unterstützung durch eine einheitliche Streikkasse drehten. Es manifestierten sich starke eigenbrötlerische Tendenzen und ein Mangel an solidarischem Geist in den eigenen Reihen. Das Beispiel der Solinger Federmesserschneider-Gewerkschaft, die lange Zeit von der Geschäftskommission der FVDG finanzielle Unterstützung erhalten hatte, aber sofort mit dem Austritt drohte, als sie selbst für andere Streiks finanziell um Hilfe gebeten wurde, ist bezeichnend dafür.
Vom Januar 1903 bis März 1904 fanden auf Initiative und Druck der SPD schleppende Verhandlungen zwischen der FVDG und dem gewerkschaftlichen Zentralverband statt, mit dem Ziel, die FVDG wieder in den Zentralverband zu integrieren. Die Verhandlungen scheiterten. Innerhalb der Geschäftskommission der FVDG lösten diese Einigungsverhandlungen heftige Spannungen aus, insbesondere zwischen Fritz Kater, der die spätere klar syndikalistische Tendenz repräsentierte, und Hinrichsen, der schlicht dem Druck der Zentralverbände nachgab. Es machte sich eine enorme Verunsicherung unter den organisierten Arbeitern breit. Ca. 4.400 Mitglieder der FVDG (mehr als 25 Prozent) traten 1903/04 in den Zentralverband über! Die misslungenen und in großem gegenseitigem Misstrauen geführten Einigungsverhandlungen führten zu einer empfindlichen personellen Schwächung der FVDG und stellten das erste Kapitel ihres historischen Bruchs mit der SPD dar.
Bis ins Jahr 1903 steht den „Lokalisten" und der FVDG in Deutschland das Verdienst zu, das gesunde Bedürfnis der Arbeiter auszudrücken, die politischen Fragen nicht als ausschließliche Parteisache zu verstehen. Sie stemmten sich damit gegen den Reformismus und seine Delegierung der Politik an die Parlamentarier. Die FVDG war eine stark politisch motivierte und sehr kämpferische, aber heterogene und komplett auf dem gewerkschaftlichen Terrain verhaftete proletarische Bewegung. Als lockerer Verbund kleiner gewerkschaftlicher Berufsverbände konnte sie die Rolle einer politischen Organisation der Arbeiterklasse selbstverständlich nicht übernehmen. Um ihrem „Drang nach Politik" gerecht zu werden, hätte sie sich stärker dem revolutionären linken Flügel innerhalb der SPD annähern müssen.
Überdies zeigt die Geschichte der „Lokalisten" und der FVDG, dass es vergeblich ist, nach einer exakten Geburtsstunde des deutschen Syndikalismus zu suchen. Vielmehr handelte es sich um einen jahrelangen Ablösungsprozess einer proletarischen Minderheit aus dem Schoß der Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Gewerkschaften.
Die unmittelbar vor der Tür stehende Herausforderung zur Frage des Massenstreiks sollte ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland werden. Der nächste Artikel wird mit der Auseinandersetzung um den Massenstreik beginnen und anschließend die Geschichte der FVDG von ihrem endgültigen Bruch mit der SPD 1908 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrachten.
Mario, 27.10.2008
[1] Volksstaat war das Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, die „Eisenacher" Richtung, unter der Führung Wilhelm Liebknechts und August Bebels.
[2] Engels an August Bebel, 18./28. März 1875, MEW, Bd.34, S.128
[3] siehe dazu unsere Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse
[4] Instruktionen für die Delegierten des Zentralrates, 1866, MEW, Bd. 16, S.197
[5] Anton Pannekoek: "Der deutsche Syndikalismus" 1913.
[6] Fritz Kater: „Fünfundzwanzig Jahre Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), Der Syndikalist, 1922, Nr. 20
[7] „Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten", Suhrkamp, S. 288
[8] siehe auch: www.syndikalismusforschung.info/museum.htm [9]
[9] Der große gewerkschaftliche Zentralverband bezeichnete sich offiziell als „Freie Gewerkschaften". Die sprachliche Nähe zur „Freien Vereinigung" führt oft zu Verwechslungen.
[10] aus W. Kulemann: „Die Berufsvereine", Bd. 2, Jena 1908, Seite 46
[11] Protokoll der FVDG, zitiert aus D. H. Müller „Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte" 1985, S. 159
[12] Rosa Luxemburg: „Der Parteitag und der Hamburger Gewerkschaftsstreit", Ges. Werke, Bd.1/2, Seite 117.
Schon seit 1968, aber besonders seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben viele, die für die Revolution wirken wollen, den Erfahrungen der Russischen Revolution und der 3. Internationale den Rücken gekehrt, um in einer anderen Tradition nach Lehren für den Kampf und die Organisation des Proletariats zu suchen: im „revolutionäre Syndikalismus" (gelegentlich bekannt als „Anarcho-Syndikalismus"). [1]
Diese Strömung tauchte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auf und spielte in einigen Ländern bis in die 30er Jahre hinein eine wichtige Rolle. Ihr Hauptkennzeichen war die Ablehnung (oder zumindest die beträchtliche Unterschätzung) der Notwendigkeit für das Proletariat, eine politische Partei zu schaffen, ob für den Kampf innerhalb des Kapitalismus oder für den revolutionären Sturz des Kapitalismus: Die Gewerkschaft wurde als die einzige in Frage kommende Organisationsform betrachtet. Tatsächlich entspringt das Vorgehen jener, die sich der syndikalistischen Tradition zuwenden, größtenteils der Diskreditierung, die die eigentliche Idee einer politischen Organisation infolge der Erfahrungen aus dem Stalinismus erlitten hat: erst die brutale Repression in der UdSSR selbst, schließlich die Repression der Arbeiteraufstände in Ostdeutschland und in Ungarn in den 50er Jahren, die Okkupation der Tschechoslowakei 1968, die Sabotage der Arbeiterkämpfe im Mai 1968 durch die französische KP und dann die Repression gegen die polnischen Arbeiterkämpfe zu Beginn der 70er Jahre, etc. Diese Situation verschlimmerte sich nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 durch eine widerwärtige Kampagne der Bourgeoisie, die das Ziel verfolgte, den Stalinismus mit dem Bankrott des Kommunismus und mit dem Marxismus gleichzusetzen und dabei zum großen Schlag gegen jegliche Idee einer politischen Umgruppierung auf der Grundlage marxistischer Prinzipien auszuholen.
Eine der großen Stärken des Proletariats ist seine Fähigkeit, ständig auf seine vergangenen Niederlagen und Irrtümer zurückzukommen, um sie zu verstehen und die entsprechenden Lehren daraus zu ziehen, die sie für den gegenwärtigen und zukünftigen Kampf beinhalten. Wie Marx sagte: „Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche (...)" (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 118). Die Erfahrung des revolutionären Syndikalismus in der Arbeiterbewegung ist keine Ausnahme von dieser Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung, um seine Lehren zu begreifen. Um so zu verfahren, müssen wir die syndikalistischen Ideen und Handlungen in ihren historischen Kontext stellen, denn nur dies gestattet uns, ihre Ursprünge innerhalb der Geschichte der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit zu lokalisieren.
Daher haben wir uns entschlossen, eine Artikelreihe (mit diesem Artikel als Einleitung) über die Geschichte des revolutionären Syndikalismus und des Anarchosyndikalismus in Angriff zu nehmen. Wir wollen versuchen, Antworten auf folgende Fragen zu geben:
Welche Prinzipien und Methoden zeichnen die syndikalistische Strömung aus?
- Hat der Syndikalismus irgendwelche gültigen Lehren für den historischen Kampf der Arbeiterklasse hinterlassen?
- Welche Schlussfolgerungen können wir aus seinen Treuebrüchen, besonders 1914 (ein Teil der französischen CGT nahm seit Kriegsbeginn an der nationalen Regierung des „Burgfriedens" teil) und 1937 (Beteiligung der spanischen CNT an den Regierungen sowohl der katalanischen Generalidad als auch der Madrider Republik während des Bürgerkriegs), ziehen?
- Hat der Syndikalismus der Arbeiterklasse von heute eine Perspektive anzubieten?
Grundlage unserer Entgegnung auf die konkrete Erfahrung des Syndikalismus durch die Arbeiterklasse ist die Analyse einiger wichtiger Episoden im Leben des Proletariats:
- die Geschichte der französischen Confédération Générale du Travail (CGT), die seit ihrer Bildung vor dem Krieg von 1914-18 von den Anarchosyndikalisten stark beeinflusst, wenn nicht gar dominiert wurde;
- die Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) in den Vereinigten Staaten bis in die 1920er Jahre;
- die Geschichte der Shop Steward-Bewegung in Großbritannien vor und während des I. Weltkrieges;
- die Geschichte der spanischen Confederación National del Trabajo (CNT) während der revolutionären Welle nach der Russischen Revolution und bis zu ihrem Zusammenbruch im Bürgerkrieg 1936/37.
- Schließlich wollen wir mit einer Untersuchung der konkreten Realität des Syndikalismus heute und jener Strömungen schließen, die dieser Tradition anzugehören behaupten.
Ziel dieser Reihe ist es nicht, eine detaillierte Chronologie der verschiedenen syndikalistischen Organisationen anzufertigen, sondern zu demonstrieren, dass sich die Prinzipien des Syndikalismus als Kompass für den Emanzipationskampf des Proletariats nicht nur als ungeeignet erwiesen haben, sondern unter bestimmten Umständen sogar dazu beigetragen haben, Letzteres auf das Terrain der Bourgeoisie zu locken. Diese historische, materialistische Vorgehensweise wird den profunden Unterschied zwischen Anarchismus und Marxismus aufzeigen, der sich besonders in ihrer unterschiedlichen Haltung gegenüber dem Verrat offenbarte, der sowohl innerhalb der sozialistischen Bewegung als auch innerhalb der anarchistischen Bewegung begangen worden war.
Viele Anarchisten zögern nie, auf den schlimmen Verrat der sozialistischen und kommunistischen Bewegung hinzuweisen: die Beteiligung der sozialdemokratischen Parteien am Krieg von 1914-18 und die stalinistische Konterrevolution in den 20er und 30er Jahren. Sie behaupten, dass dies das unvermeidliche Resultat des „autoritären" Erbes von Marx, Lenin und Stalin sei, kurz: eine „Erbsünde", womit sie vollkommen mit der ganzen bürgerlichen Propaganda über den „Tod des Kommunismus" übereinstimmen. Ganz anders verhalten sie sich jedoch, wenn es um die eigenen, anarchistischen Treuebrüche geht: Weder der anti-deutsche Patriotismus von Kropotkin oder James Guillaume 1914 noch die treue Unterstützung der Regierung des Burgfriedens während des Krieges von 1914-18 durch die französische CGT oder die Beteiligung der spanischen CNT an den bürgerlichen Regierungen der spanischen Republik kann in ihren Augen die „ewigen" Prinzipien des Anarchismus in Frage stellen.
Im Gegensatz dazu wurde der Verrat in der marxistischen Bewegung stets von der Linken bekämpft und erklärt. [2] Der Kampf der Linken beschränkte sich niemals auf ein bloßes „Erinnern" an die marxistischen Prinzipien. Er war immer auch ein praktisches und theoretisches Bestreben, zu verstehen und aufzuzeigen, wo die Ursprünge des Verrats liegen, dass er mit Veränderungen in der historischen, materiellen Situation des Kapitalismus erklärt werden kann und vor allem dass die veränderte Lage die Kampfmethoden obsolet gemacht hat, welche sich bis dahin als geeignete Mittel im Kampf der Arbeiterklasse erwiesen hatten.
Es gibt nichts Gleichartiges unter den Anarchisten und Anarchosyndikalisten, die ihren Prinzipien nach wie vor einen ewigen, rein moralischen Wert, bar jeden historischen Inhalts, beimessen. Im Angesicht eines „Verrats" gäbe es nichts anderes zu tun, als dieselben ewigen Werte zu beschwören; daher hat die anarchistische Bewegung, anders als der Marxismus, nie beständige linke Fraktionen produziert (ausnahme bildeten aber internationalistische AnarchistInnen wie Emma Goldman, Alexander Berkmann und andere in England welche angesicht des Kriges die Positionen Kropotkin offen und vehement kritisierten). Daher versuchten auch die wirklichen Revolutionäre in der syndikalistischen Bewegung Frankreichs von 1914 (um Rosmer und Monatte) nicht, eine linke Strömung innerhalb der syndikalistischen Bewegung zu bilden, sondern wandten sich stattdessen dem Bolschewismus zu.
Wie wir oben gesehen haben, steht im Mittelpunkt der Divergenzen zwischen der revolutionären syndikalistischen Bewegung und dem Marxismus die Frage der Organisationsform, der die Arbeiterklasse für ihren Kampf gegen den Kapitalismus bedarf. Tatsächlich konnte diese Frage nicht im Handumdrehen begriffen werden. Das Proletariat ist die revolutionäre Klasse, deren historische Aufgabe der Sturz des Kapitalismus ist; das bedeutet nicht, dass sie völlig ausgereift in die kapitalistische Gesellschaft fiel, wie Athena aus dem Haupt von Zeus. Im Gegenteil, die Arbeiterklasse musste sich ihr Bewusstsein durch enorme Anstrengungen und oft bittere Niederlagen erkämpfen. Von Anfang an hatte sich das Proletariat auf dem langen Weg zu seiner Emanzipation mit zwei fundamentalen Erfordernissen konfrontiert gesehen:
- die Notwendigkeit für alle ArbeiterInnen, bei der Verteidigung ihrer Interessen (zunächst im Kapitalismus, dann für seinen Sturz) kollektiv zu kämpfen;
- die Notwendigkeit, ihr Denken auf die allgemeinen Ziele ihres Kampfes und auf die Frage zu lenken, wie diese erreicht werden können.
In der Tat war die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert vom ständigen Bemühen gekennzeichnet, die geeignetsten Organisationsformen zu finden, um diesen beiden fundamentalen Notwendigkeiten gerecht zu werden, konkret: sowohl eine allgemeine Organisation, die alle ArbeiterInnen im Kampf um sich sammelte, als auch eine politische Organisation zu entwickeln, deren wesentliche Aufgaben darin bestand, diesen Kämpfen eine klare Perspektive zu verleihen.
Die Periode von den ersten Manifestationen der Arbeiterklasse bis zur Pariser Kommune zeichnete sich durch eine ganze Reihe von Bemühungen um eine proletarische Organisation aus; Bemühungen, die im Allgemeinen stark von der spezifischen Geschichte der Arbeiterbewegung in jedem einzelnen Land beeinflusst waren. In dieser Zeit bestand eine der Hauptaufgaben der Arbeiterklasse und ihrer organisatorischen Bemühungen noch in ihrer Behauptung als eine spezifische Klasse, die zwar getrennt ist von den anderen Klassen der Gesellschaft (die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum), mit denen sie aber noch immer gelegentlich gemeinsame Ziele teilte (wie den Sturz der feudalen Ordnung).
In diesem historischen Kontext, der von der Unreife eines sich in der Entwicklung befindlichen und unerfahrenen Proletariats gekennzeichnet war, fanden diese beiden elementaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse ihren Ausdruck in Organisationen, die entweder dazu neigten, sich der Vergangenheit zuzuwenden (wie die französischen „compagnons", die auf das feudale System der Gilden zurückblickten), oder sie versäumten es, die Notwendigkeit einer allgemeinen Klassenorganisation zu verstehen, um die kapitalistische Ordnung zu bekämpfen, trotz ihrer wirksamen, radikalen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. So waren die ersten politischen Organisationen des Proletariats häufig von einer „sektiererischen" Vision charakterisiert, die die Revolution nicht als eine Aufgabe der gesamten Klasse betrachtete, sondern als die Tat einer Minderheit von Verschwörern, die die Macht in einem Staatsstreich ergreifen würden, um sie danach in die Hände des Volkes zu legen. Aus dieser Tradition kommen solch große Gestalten der Arbeiterbewegung wie Gracchus Babeuf und Auguste Blanqui. In derselben Zeit arbeiteten die utopischen Sozialisten (am bekanntesten Fourier und Saint-Simon in Frankreich und Robert Owen in Großbritannien) ihre Pläne für eine zukünftige Gesellschaft aus, die die kapitalistische Gesellschaft, die sie gnadenlos und oft mit großer Einsicht anprangerten, ersetzen sollte.
Die ersten Massenorganisationen der Arbeiterklasse drückten oftmals sowohl die Tendenz zu einer illusorischen Rückkehr in die Vergangenheit als auch gelegentlich eine Vorahnung des Klassenschicksals aus, das weit über ihre damaligen Fähigkeit hinausging: Einerseits drückten zum Beispiel die klandestinen Gewerkschaftsorganisationen in Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts (die unter dem Namen „Army of Redressers", unter dem Kommando des mythenumrankten Generals Ludd, bekannt waren) häufig eine Sehnsucht der ArbeiterInnen nach einer Rückkehr zu ihrem handwerklichen Status aus. Andererseits treffen wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Grand National Consolidated Union [3], deren Ziel es war, die verschiedentlichen korporatistischen Bewegungen in einem revolutionären Generalstreik zu vereinen - eine utopische Vorwegnahme der Sowjets, die erst ein Jahrhundert später gebildet werden sollten.
Die Bourgeoisie erkannte sehr früh die Gefahr, welche die Massenorganisation der ArbeiterInnen für sie darstellte: 1793, inmitten der Französischen Revolution, verbot das „Loi Chapelier" alle Arten von Arbeiterassoziationen, einschließlich simpler Freundschaftsvereine zum gegenseitigen wirtschaftlichen Beistand in Zeiten der Arbeitslosigkeit oder Krankheit.
Mit seiner Weiterentwicklung behauptete sich das Proletariat immer mehr als autonome Klasse im Verhältnis zu den anderen Klassen der Gesellschaft. Im britischen Chartismus erblicken wir sowohl das Embryo der politischen Klassenpartei als auch die erstmalige Abtrennung des Proletariats vom radikalen Kleinbürgertum. Die Welle von Kämpfen, die in der Niederlage der Revolutionen von 1848 (und somit auch des Chartismus) endeten, hat uns die im Kommunistischen Manifest Eingang gefundenen Prinzipien hinterlassen. Dennoch sollte die Idee einer wirklich politischen Partei des Proletariats erst später aufkommen, nachdem die Erste Internationale in den 1860er Jahren die Merkmale sowohl der politischen Partei als auch der Einheitsorganisationen der Massen kombiniert hatte.
Die Pariser Kommune von 1871, gefolgt vom Haager Kongress der Ersten Internationale 1872, markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung der Arbeiterorganisationen. Die Fähigkeit der arbeitenden Massen, über die konspiratorische Praxis der Blanquisten hinauszugehen, wurde deutlich von ihrer Organisationskapazität demonstriert, sowohl beim Erfolg der ökonomischen Kämpfe der in der Internationalen Arbeiterassoziation organisierten Arbeiter als auch bei der Schaffung der Kommune, der ersten Arbeitermacht in der Geschichte. Seither blieben lediglich die Anarchisten mit ihrer Ideologie der „exemplarischen Aktion", insbesondere die Anhänger Bakunins [4], Adepten der Konspiration einer winzigen Minderheit als Handlungsmittel. Gleichzeitig hatte die Kommune die Absurdität des Gedankens demonstriert, dass die ArbeiterInnen die politischen Aktivitäten (mit anderen Worten: unmittelbare Forderungen an den Staat und die revolutionäre Perspektive der politischen Machtergreifung) einfach ignorieren können.
Das Abebben des Kampfes und des Klassenbewusstseins nach der niederschmetternden Niederlage der Kommune bedeutete, dass diese Lehren nicht sofort gezogen werden konnten. Doch die 30 Jahre, die der Kommune folgten, erlebten eine Reifung im Verständnis des Proletariats, wie es sich organisieren muss: einerseits in den gewerkschaftlichen Organisationen zur Vertretung der ökonomischen Interessen jeder Korporation und jeden Gewerbes [5] und auf der anderen Seite in der Organisation der politischen Partei sowohl für die Vertretung der unmittelbaren allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse durch die politische Aktion im Parlament (Kämpfe zur Durchsetzung einer gesetzlichen Einschränkung der Kinder- und Frauenarbeit oder des Arbeitstages zum Beispiel) als auch für die Vorbereitung und Propaganda für das „Maximalprogramm", mit anderen Worten: für den Sturz des Kapitalismus und die sozialistische Umwandlung der Gesellschaft.
Weil der Kapitalismus sich in seiner Gesamtheit immer noch im Aufstieg befand - was merklich durch eine nie dagewesene Expansion der Produktivkräfte demonstriert wurde (die letzten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten eine Expansion und Ausweitung der kapitalistischen Produktivkräfte weltweit) -, war es der Arbeiterklasse noch möglich, der Bourgeoisie dauerhafte Reformen abzuringen[6]. Der Druck auf die bürgerlichen Parteien innerhalb des parlamentarischen Rahmens ermöglichten die Annahme von arbeiterfreundlichen Gesetzen sowie die Rücknahme der anti-sozialistischen Gesetze, die die Organisierung der ArbeiterInnen in Gewerkschaften und politischen Parteien verboten hatten.
Doch erwies sich der Erfolg der Arbeiterparteien im Kapitalismus auch als äußerst tückisch. Die reformistische Strömung behauptete, dass diese Situation endgültig sei - eine Situation, in der der Einfluss der Arbeiterorganisationen, der sich auf der Grundlage von für die Arbeiterklasse errungenen Reformen entwickelt hatte, unübersehbar war -, obwohl er tatsächlich bloß temporärer Natur war. Die Reformisten, für die „die Bewegung alles, das Ziel nichts" war, fanden ihren Hauptausdruck Ende des 19. Jahrhunderts, abhängig vom Land, entweder in den politischen Parteien oder in den Gewerkschaften. So wurde in Deutschland der Versuch der Strömung um Bernstein, eine opportunistische Politik, die sich vom revolutionären Ziel abwenden sollte, offiziell zur Parteipolitik zu küren, energisch vom linken Flügel in der sozialdemokratischen Partei um Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek bekämpft. Dagegen gewann die revisionistische Strömung viel leichter in den großen deutschen Gewerkschaftsorganisationen einen starken Einfluss. In Frankreich verhielt es sich genau umgekehrt; die sozialistische Partei war viel stärker als in Deutschland von der reformistischen und opportunistischen Ideologie gezeichnet. Dies wurde durch die Einbeziehung des sozialistischen Ministers Alexandre Millerand [7] in der Regierung Waldeck-Rousseau 1899-1901 demonstriert. Diese Regierungsbeteiligung wurde von der gesamten Sozialdemokratie auf den Kongressen der Zweiten Internationale abgelehnt, jedoch nur unter Schwierigkeiten (und für einige mit großen Bedauern) von den französischen Sozialisten rückgängig gemacht. Es ist daher kein Zufall, dass beim Bruch mit den Arbeiterorganisationen, die zum Feind übergelaufen waren (die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften), die internationalistische Linke aus der deutschen Partei (die Spartakus-Gruppe um Luxemburg und Liebknecht) und aus den französischen Gewerkschaften (die u.a. von Rosmer, Monatte und Merrheim repräsentierte internationlistische Tendenz) hervorkam.
Allgemein betrachtet, war der Opportunismus am präsentesten in den Parlamentsfraktionen der sozialistischen Parteien und in dem ganzen Apparat, der in der Parlamentstätigkeit involviert war. Dieser Apparat übte dabei eine große Anziehungskraft auf all jene karrieristischen Elemente aus, die der Partei in der Hoffnung beigetreten waren, vom wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung zu profitieren, und die natürlich kein Interesse am revolutionären Sturz der herrschenden Ordnung hatten. Folglich gab es eine Tendenz in der Arbeiterklasse, die die politische Arbeit mit parlamentarischer Aktivität, parlamentarische Tätigkeit mit Opportunismus und Karrierismus, den Karrierismus mit der kleinbürgerlichen Intelligentsia von Anwälten und Journalisten und schließlich den Opportunismus mit dem eigentlichen Begriff der politischen Partei identifizierte.
Angesichts der Entwicklung des Opportunismus bestand die Antwort vieler revolutionärer ArbeiterInnen darin, die politische Tätigkeit als solche abzulehnen und sich in die Gewerkschaften zurückzuziehen. Und wie wir sehen werden, war es das Ziel der revolutionären syndikalistischen Bewegung als originäre Strömung in der Arbeiterklasse, Gewerkschaften aufzubauen, die die Einheitsorgane der Arbeiterklasse bilden und in der Lage sein sollten, Letztere für die Vertretung ihrer ökonomischen Interessen zu sammeln, sie auf den Tag vorzubereiten, an dem sie mittels des Generalstreiks die Macht ergreift, und die als organisatorische Struktur für die künftige kommunistische Gesellschaft dienen. Diese Gewerkschaften sollten Klassengewerkschaften sein, frei vom Karrierismus einer Intelligentsia, die die Arbeiterbewegung benutzen wollte, um sich selbst auf parlamentarischen Bänken Platz zu verschaffen, und unabhängig von allen politischen Parteien - wie die französische CGT 1906 auf dem Kongress von Amiens betonte.
Kurz, so wie Lenin sagte: „In Westeuropa war der revolutionäre Syndikalismus in vielen Ländern das direkte und unvermeidliche Resultat des Opportunismus, des Reformismus, des parlamentarischen Kretinismus. Bei uns verstärkten die ersten Schritte der „Dumatätigkeit" ebenfalls in gewaltigem Masse den Opportunismus, es kam dahin, dass die Menschewiki vor den Kadetten auf dem Bauche krochen. (...) Der Syndikalismus muss sich, als Reaktion auf das schändliche Treiben „hervorragender" Sozialdemokraten, zwangsläufig auf russischem Boden entwickeln." [8].
Was war schließlich der revolutionäre Syndikalismus, dessen Entwicklung Lenin voraussah? Zunächst teilten seine verschiedenen Komponenten eine gemeinsame Vision dessen, was eine Gewerkschaft sein sollte. Um diese Konzeption zusammenzufassen, können wir nichts Besseres tun, als die Präambel der zweiten Konstituierung der International Workers of the World (IWW) zu zitieren, die 1908 in Chicago verabschiedet wurde: „Die historische Mission des Proletariates ist die Überwindung des Kapitalismus [9]. Die Masse der Produzenten muss nicht nur für den täglichen Kampf gegen die Kapitalisten organisiert werden, sondern auch um die Produktion in die eigenen Hände zu nehmen, wenn der Kapitalismus überwunden werden soll. Indem wir uns in der Industrie organisieren formen wir die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der alten" [10].
Die Gewerkschaft soll also die Einheitsorganisation der Klasse zur Verteidigung ihrer unmittelbaren Interessen, für die revolutionäre Machtergreifung und für die Organisation der künftigen kommunistischen Gesellschaft sein. Gemäß dieser Sichtweise ist die politische Partei bestenfalls irrevelant (Bill Haywood behauptete, dass die IWW ein „Sozialismus im Blaumann" seien) und schlimmstenfalls eine Brutstätte für Bürokraten.
Es gibt zwei Kritiken an dieser syndikalistischen Sichtweise zu üben, auf die wir später noch detaillierter eingehen werden.
Die erste betrifft die Idee, dass es möglich sei „die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der alten" zu bilden. Diese Idee, wonach es möglich sei, mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft innerhalb der alten zu beginnen, entspringt einer tiefgehenden Unkenntnis über das Ausmaß der Antagonismen zwischen dem Kapitalismus, der letzten ausbeutenden Gesellschaft, und der klassenlosen Gesellschaft, die ihn ersetzen soll. Dieser schwerwiegende Irrtum verleitet zur Unterschätzung des Ausmaßes der gesellschaftlichen Umwandlung, das notwendig ist, um den Übergang zwischen diesen beiden Gesellschaftsformationen zu bewerkstelligen, und er unterschätzt auch den Widerstand der herrschenden Klasse gegen die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse.
Jeglicher Gedanke, dass es möglich ist, willkürlich eine Abkürzung zu finden und somit die unvermeidlichen Zwänge zu umgehen, die der Übergang vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft erfordert, spielt in der Tat in die Hände solch reaktionärer Auffassungen wie die Selbstverwaltung (in Wahrheit: Selbstausbeutung) oder der Aufbau des Sozialismus in einem Land, was Stalin besonders am Herzen lag. Wenn heutige Anarcho-Syndikalisten die Bolschewiki beschuldigen, keine radikalen Maßnahmen bei der gesellschaftlichen Umwandlung im Oktober 1917 durchgesetzt zu haben, als die ökonomische Vorherrschaft des Kapitalismus sich noch über den ganzen Planeten erstreckte, einschließlich Russland, so enthüllen sie bloß ihre reformistische Sichtweise sowohl der Revolution als auch der neuen Gesellschaft, die die Revolution etablieren soll. Dies ist wenig überraschend, da die syndikalistische Vision tatsächlich auf den Wechsel des Eigentümers von privatem Eigentum beschränkt bleibt: Das Privateigentum der Kapitalisten wird zum Privateigentum einzelner Arbeitergruppen, da jede Fabrik, jedes Unternehmen im Verhältnis zu den anderen autonom bleibt. Diese Vision der künftigen gesellschaftlichen Umwandlung ist so beschränkt, dass sie sogar vorsieht, dass dieselben ArbeiterInnen weiter in derselben Industrie und somit unter denselben Umständen arbeiten werden.
Unsere zweite Kritik am revolutionären Syndikalismus betrifft seine völlige Ignoranz gegenüber der realen revolutionären Erfahrung der Arbeiterklasse. Für die Marxisten war die Russische Revolution von 1905 ein enorm wichtiger Moment, besonders ihre spontane Bildung von Arbeiterräten. Für Lenin waren die Sowjets „die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariates". Rosa Luxemburg, Trotzki, Pannekoek, im Grunde der gesamte linke Flügel der Sozialdemokratie, der später die Kommunistische Internationale bilden sollte, widmeten der Analyse dieser und auch anderer Ereignisse, wie die großen Streiks in den Niederlanden 1903, große Aufmerksamkeit. Die politische Erfahrung aus 1905 wurde durch die Propaganda der linken Strömungen der Zweiten Internationale zu einem vitalen Element im Bewusstsein der Arbeiterklasse, was im Oktober 1917 in Russland (wo die anarchistische Bewegung übrigens nur eine marginale Rolle spielte) und in der revolutionären Welle Früchte trug, die das Entstehen von Sowjets in Finnland, Deutschland und Ungarn erlebte. Die „revolutionären" Syndikalisten blieben dagegen in ihren abstrakten Schemata gefangen, die auf der Erfahrung des reformistischen Gewerkschaftskampfes in der Aufstiegsepoche des Kapitalismus beruhten und die sich als komplett inadäquat für den revolutionären Kampf im dekadenten Kapitalismus erwiesen. Es trifft zu, dass die Anarchisten gern behaupten, dass die spanische „Revolution" in Sachen gesellschaftlichen Wandels viel tiefgehender als die Russische Revolution gewesen sei. Wie wir sehen werden, ist nichts falscher als dies.
Die heutigen revolutionären Syndikalisten setzen dieselben Traditionen fort und ignorieren völlig die realen Erfahrungen aus den Arbeiterkämpfen seit 1968. Insbesondere gehen sie mit keiner Silbe auf die Tatsache ein, dass einerseits die organisatorische Form, die von den Kämpfen geschaffen wurde, nicht die Gewerkschaft, sondern die souveräne allgemeine Versammlung mit ihren gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten ist [11] und dass andererseits der bürgerliche Staat sich die Gewerkschaften direkt einverleibt hatte [12].
Wir haben gesehen, dass die revolutionären Syndikalisten eine gemeinsame Vision der Gewerkschaft als den Ort teilen, wo die Arbeiterklasse sich organisiert. Werfen wir nun einen Blick auf die drei Schlüsselelemente, die regelmäßig in syndikalistischen Organisationen zum Vorschein kommen und die wir detaillierter in den nächsten Artikeln untersuchen werden.
Man mag denken, dass heute die Frage der direkten Aktion von der Geschichte beantwortet worden sei. Als der revolutionäre Syndikalismus zum ersten Mal von sich reden machte, wurde die direkte Aktion als Gegenteil zur Aktion der „Führer", mit anderen Worten: der parlamentarischen Führer der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokraten vorgestellt. Doch seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Epoche haben die „sozialistischen" und „kommunistischen" Parteien nicht nur endgültig das Proletariat verraten; zudem bedeuten die reellen Bedingungen des Klassenkampfes, dass jede Aktion auf dem Terrain des Parlaments oder zur Eroberung politischer „Rechte" unmöglich geworden ist. In diesem Sinne ist die Debatte zwischen „direkter Aktion" und „politischer Aktion" völlig irrelevant. Manche mögen daraus folgern, dass die Geschichte die Frage geregelt habe und dass Marxisten und Anarchisten darin übereinstimmen könnten, die direkte Aktion der Arbeiterklasse im Kampf zu vertreten.
Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Frage der „direkten Aktion" steht im Mittelpunkt der Divergenzen zwischen den marxistischen und anarchistischen Auffassungen über die Rolle der revolutionären Minderheit. Für die Marxisten ist die Aktion der revolutionären Minderheit eine Tat der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse und hat absolut nichts mit jener Art von Minderheitsaktion zu tun, die in der Nachfolge der „exemplarischen Aktion" der Anarchisten steht, welche die Tat der gesamten Arbeiterklasse durch das stellvertretende Handeln einer Minderheit ersetzen wollen. Die politischen Orientierungen, die die marxistische Organisation ihrer Klasse vorstellt, hängen stets vom Niveau des Klassenkampfes in seiner Gesamtheit ab, von der mal größeren, mal kleineren Fähigkeit des gesamten Proletariats, als Klasse gegen die Bourgeoisie zu handeln und die Prinzipien und Analysen der Kommunisten anzunehmen (um „sich die Waffe der Theorie anzueignen", wie es Marx formulierte). Der Anarchosyndikalismus dagegen bleibt infiziert von der im Kern moralischen und minoritären Vision der Anarchisten. Für diese Strömung gibt es keinen Unterschied zwischen der „direkten Aktion" der Arbeitermassen und der Aktion einer Minderheit, wie klein auch immer.
Die Idee des Generalstreiks ist nichts Spezifisches des Anarchosyndikalismus, kommt doch dieser Begriff zum ersten Mal in den Schriften des utopischen Sozialisten Robert Owen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor. Doch abgesehen davon ist er zu einem Hauptmerkmal der syndikalistischen Theorie geworden und kann anhand dreier Hauptaspekte dargestellt werden [13]:
- die Fähigkeit der Arbeiterklasse, den Generalstreik erfolgreich durchzuführen, hängt vom zahlenmäßigen Wachstum und von der wachsenden Macht der (natürlich revolutionären) Gewerkschaftsorganisationen ab;
- die Revolution ist keine Frage der Politik: In der anarchosyndikalistischen Sichtweise lähmt der Generalstreik den bürgerlichen Staat einfach, der schließlich die ArbeiterInnen bei der Umwandlung der Gesellschaft unbehelligt lässt;
- die Theorie des Generalstreiks ist eng mit der Selbstverwaltung verknüpft, die überall in der Fabrik und am Arbeitsplatz vorgebracht wird.
In Wahrheit hat keine dieser Ideen die Prüfung der konkreten Erfahrung der Arbeiterklasse bestanden.
Zunächst einmal hat sich die Theorie, derzufolge die kontinuierliche Stärkung der Gewerkschaften der revolutionären Epoche vorausgehen werde, als völlig falsch erwiesen. Weder in der Russischen noch in der Deutschen Revolution waren die Gewerkschaften Organe des Kampfes oder der Ausübung proletarischer Macht. Im Gegenteil, sie stellten sich bestenfalls als konservative Bremse der Revolution heraus (zum Beispiel die Eisenbahnergewerkschaft in Russland, die sich der Revolution von 1917 widersetzte). In allen am I. Weltkrieg beteiligten Ländern kontrollierten die Gewerkschaften die Arbeiterklasse zugunsten des bürgerlichen Staates, um die Kriegsproduktion zu gewährleisten und jegliche Entwicklung eines Widerstandes gegen das Gemetzel zu verhindern. Diese Rolle wurde ohne Zögern auch von der Führung der anarchosyndikalistischen CGT angenommen, sobald Frankreich in den Krieg getreten war.
Das Resultat aus der Verweigerung des revolutionären Syndikalismus gegenüber der „Politik" war die Entwaffnung der ArbeiterInnen bei der Konfrontation mit diesen Fragen, die sich in den kritischen Momenten des Krieges und der Revolution unweigerlich stellten. All diese Fragen, die sich zwischen 1914 und 1936 stellten, waren politische Fragen: Worin bestand der Charakter des Krieges, der 1914 ausbrach? War er ein imperialistischer Krieg oder ein Krieg zur Verteidigung der demokratischen Rechte gegen den deutschen Militarismus? Welche Haltung sollte gegenüber der „Demokratisierung" der absolutistischen Staaten im Februar 1917 (Russland) und 1918 (Deutschland) eingenommen werden? Welche Haltung sollte gegenüber dem demokratischen Staat in Spanien 1936 eingenommen werden? War er ein bürgerlicher Feind oder ein antifaschistischer Verbündeter? In allen Fällen erwies sich der revolutionäre Syndikalismus als unfähig, Antworten zu geben; er endete schließlich in einem faktischen Bündnis mit der Bourgeoisie.
Die Erfahrung aus dem Streik in Russland 1905 stellte die Theorie in Frage, die bis dahin sowohl von den Anarchisten als auch von den Sozialdemokraten (den damaligen Marxisten) vertreten wurde. Doch nur der linke Flügel des Marxismus zeigte sich im Stande, die Lehren aus dieser eminent wichtigen Erfahrung zu ziehen. „Die russische Revolution (von 1905), dieselbe Revolution, die die erste geschichtliche Probe auf das Exempel des Massenstreiks bildet, bedeutet nicht bloß keine Ehrenrettung für den Anarchismus, sondern sie bedeute geradezu eine geschichtliche Liquidation des Anarchismus. (...) So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht, dass heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks selbst in einen Gegensatz geraten ist, während umgekehrt der Massenstreik, der als der Gegensatz zu der politischen Betätigung des Proletariats bekämpft wurde, heute als die allmächtige Waffe des politischen Kampfes um politische Rechte erscheint. Wenn also die russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wiederum nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen. Moors geliebte kann nur durch Moor selber sterben." (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, R. Luxemburg Werke, Bd. 2, S. 95 und 97, das Zitat ist Shakespeares Stück Othello entnommen).
Auf dem ersten Blick mag es rein akademisch erscheinen, zwischen dem Internationalismus und dem Antimilitarismus zu unterscheiden. Muss im Grunde nicht jeder, der gegen die Armee ist, für die Brüderlichkeit zwischen den Völkern sein? Ist beides, wenn es darauf ankommt, nicht derselbe Kampf? In Wahrheit rühren diese beiden Prinzipien aus völlig unterschiedlichen Vorgehensweisen her. Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und der zunehmend frenetischen Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. Seit 1848 war der Hauptschlachtruf nicht antimilitaristisch gewesen, sondern stets internationalistisch: „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!" (Kommunistisches Manifest) Doch für die marxistische Linke der Sozialdemokratie vor 1914 war es unmöglich, sich den Kampf gegen den Militarismus als etwas anderes als einen Aspekt eines viel breiteren Kampfes vorzustellen. „Indessen betrachtet die Sozialdemokratie, entsprechend ihrer Auffassung vom Wesen des Militarismus, die völlige Beseitigung des Militarismus allein für unmöglich: Nur mit dem Kapitalismus - der letzten Klassengesellschaftsordnung - zugleich kann der Militarismus fallen. (...) dass der Zweck der antimilitaristischen Propaganda der Sozialdemokratie nicht die isolierte Bekämpfung und ihr Endziel nicht die isolierte Beseitigung des Militarismus ist" (Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, S. 432 und 433).
Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus. Für die Anarchosyndikalisten in der französischen CGT vor 1914 wurde die antimilitaristische Propaganda vor allem durch die unmittelbare Erfahrung mit einer Armee motiviert, die gegen Streikende eingesetzt wurde. Sie betrachtete es als notwendig, sowohl den jungen Proletariern während ihres Militärdienstes Unterstützung zu gewährleisten als auch die Truppen davon zu überzeugen, den Einsatz ihrer Waffen gegen Streikende zu verweigern. An sich gibt es nichts an solchen Absichten auszusetzen. Doch die Anarchosyndikalisten zeigten sich nicht im Stande, den Militarismus als ein integrales Phänomen des Kapitalismus zu begreifen, als ein Phänomen, das in der Periode vor 1914 immer schlimmer werden sollte, als die imperialistischen Großmächte den I. Weltkrieg vorbereiteten. Typisch für dieses Unverständnis ist der Gedanke, dass der Militarismus faktisch nichts anderes sei als eine Ausrede, um die Repressionskräfte gegen die Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, ein Gedanke, der von den anarchosyndikalistischen Führern Pouget und Pataud so ausgedrückt wurde: „Die Regierung will die Kriegsführung erhalten - denn die Furcht vor dem Kriege war für sie das beste Mittel für ihre Vorherrschaft. Dank der Angst vor dem Krieg, die geschickt geschürt wurde, konnten sie stehende Heere im ganzen Land aufrechterhalten, die unter dem Vorwand, die Grenzen zu schützen, in Wahrheit nur das Volk bedrohten und nur die herrschende Klasse beschützten." (Pouget und Pataud, Comment nous ferons la révolution, eigene Übersetzung)
In der Tat war der Antimilitarismus der CGT dem Pazifismus in dessen Eigenschaft sehr ähnlich, eine 180°-Kehrtwende zu vollziehen, sobald „das Vaterland in Gefahr" war. Im August 1914 entdeckten die Antimilitaristen über Nacht, dass die französische Bourgeoisie „weniger militaristisch" sei als die deutsche Bourgeoisie und dass es daher notwendig sei, die französische „revolutionäre Tradition" von 1789 gegen die barbarischen Stulpen der preußischen Militaristen zu verteidigen, statt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, wie Lenin sagte.
Es ist klar, dass die Frage des Militarismus nicht mehr auf dieselbe Weise gestellt werden konnte nach dem schrecklichen Gemetzel von 1914-18, das an Schrecken alles übertraf, was die Antimilitaristen sich 1914 vorstellen konnten. Die antimilitaristische Ideologie wurde somit von der Ideologie des Antifaschismus verdrängt, wie wir sehen werden, wenn wir auf die Rolle der CNT im spanischen Bürgerkrieg in den 1930er Jahren zu sprechen kommen. In beiden Fällen wählten die Syndikalisten ein Lager - die demokratischere Bourgeoisie - gegen das andere, das der autoritären, diktatorischen Bourgeoisie.
Ihren Zeitgenossen war durchaus nicht klar, dass es überhaupt Unterschiede zwischen beiden Strömungen gab, die ansonsten in vielerlei Hinsicht miteinander verknüpft waren. In der Tat konnte man vor 1914 sagen, dass die französische CGT als Leitstern für andere syndikalistische Strömungen diente, so wie es die deutsche SPD für andere Parteien der Zweiten Internationale war. Es scheint uns - mit der nachträglichen historischen Einsicht -dennoch geboten, zwischen den Positionen der Anarchosyndikalisten und denen der revolutionären Syndikalisten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung fällt größtenteils mit den Unterschieden zwischen den industriell weniger entwickelten Ländern (Frankreich und Spanien) und den zwei wichtigsten und entwickeltsten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts (Großbritannien) und des 20. Jahrhunderts (Vereinigte Staaten von Amerika) zusammen. Während der Anarchosyndikalismus eng mit dem größeren Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung weniger entwickelter Länder, mit dem anarchistischen Merkmal des Kleinbürgertums und der kleinen Handwerkerschichten im Proletarisierungsprozess verhaftet war, war der revolutionäre Syndikalismus eher die Antwort auf die Probleme eines Proletariats, das sich hoch konzentriert in großen Industrien befand.
Wir möchten kurz drei wichtige Elemente untersuchen, die es uns gestatten, zwischen diesen beiden Strömungen zu unterscheiden.
Für oder gegen Zentralisierung. Der Anarchosyndikalismus hatte stets eine föderalistische Sichtweise gehabt, in der die Föderation nicht mehr als eine lose Ansammlung unabhängiger Gewerkschaften war: Die Konföderation besaß gegenüber den Gewerkschaften keine Autorität. Besonders in der CGT passte den Anarchosyndikalisten dieser Umstand perfekt, da sie vor allem die kleinen Gewerkschaften dominierten; das System, das jeder Gewerkschaft eine Stimme gab, verlieh ihnen ein Gewicht in der CGT, das ihre numerische Bedeutung weit übertraf.
Der revolutionäre Syndikalismus der IWW wurde dagegen sowohl implizit wie auch ausdrücklich auf der Zentralisierung der Arbeiterklasse gegründet. Es ist kein Zufall, dass einer der Schlachtrufe der IWW lautete: „One big union" („Eine große Gewerkschaft"). Selbst der Name der Gewerkschaft („Industrial Workers of the World") machte - auch wenn das ehrgeizige Unterfangen nicht immer der Realität standhielt - ihre Absicht deutlich, die ArbeiterInnen der gesamten Welt in einer einzigen Organisation zu sammeln. Die Statuten der IWW, die 1905 in Chicago verabschiedet wurden, setzten die Autorität des Zentralorgans durch: „Die Unterabteilungen Internationale und Nationale Industrieunionen sollen völlige industrielle Autonomie in ihren besonderen inneren Angelegenheiten haben, unter dem Vorbehalt, dass die Allgemeine Exekutivkommission die Macht hat, diese Industrieunionen in Angelegenheiten zu kontrollieren, die das Interesse des allgemeinen Wohls betreffen" (siehe „Jim Crutchfield's IWW Page", oben zitiert für den vollen Text). [14]
Es gab einen beträchtlichen Unterschied zwischen Anarchosyndikalisten und revolutionären Syndikalisten in ihrer Haltung gegenüber der politischen Aktion. Obgleich es Mitglieder der sozialistischen Parteien in einigen Gewerkschaften der CGT gab, waren die Anarchosyndikalisten selbst „anti-politisch" und sahen in diesen Parteien nichts als parlamentarische Finten oder Manipulationen durch die „Führer". Die berühmte Charta, die vom Kongress in Amiens 1906 verabschiedet worden war, erklärte die totale Unabhängigkeit gegenüber jeglichen Parteien oder „Sekten" (ein Hinweis auf anarchistische Gruppierungen). Diese Verweigerung jeglicher politischer Visionen (die ausschließlich als parlamentarisches Tagesgeschäft verstanden wurden) ist einer der Gründe, warum die CGT politisch völlig unvorbereitet vom Krieg 1914 überrascht wurde, der sich nicht für das Schema des Generalstreiks auf einem rein „ökonomischen" Terrain eignete. Die anarchistische Ablehnung der „Politik" fand keine Parallele bei der Gründung der IWW, auch wenn die Gründer selbst behaupteten, eine Einheitsorganisation der Arbeiterklasse aufzubauen, und ihre völlige Handlungsfreiheit gegenüber politischen Parteien zu erhalten beabsichtigten. Im Gegenteil, die bekanntesten Gründer und Führer der IWW waren häufig Mitglieder einer politischen Partei: Big Bill Haywood war nicht nur Sekretär der Western Federation of Miners, sondern auch ein Mitglied der Sozialistischen Partei von Amerika, so wie auch A. Simons. Daniel De Leon von der Sozialistischen Arbeiterpartei spielte auch bei der Bildung der IWW eine führende Rolle. In dem ziemlich spezifischen Kontext der Vereinigten Staaten wurden die IWW von der Bourgeoisie und von der reformistischen Gewerkschaft AFL (American Federation of Labour) als gewerkschaftlicher Ausdruck des politischen Sozialismus angesehen. Selbst nach der Spaltung von 1908 spielten Mitglieder der SAP auf jenem Kongress, auf dem die IWW ihre Satzung dahingehend modifizierten, dass jegliches Bekenntnis zur politischen (das heißt: Wahl-)Aktion verbannt wurde, eine fundamentale Rolle in den IWW. Insbesondere Haywood wurde 1911 in das Exekutivkomitee gewählt: Seine Wahl stellte darüber hinaus einen Sieg der Revolutionäre über die Reformisten innerhalb der Sozialistischen Partei dar.
Es wäre gleichfalls unmöglich, den Einfluss des revolutionären Syndikalismus unter den Shop Stewards in Großbritannien zu erklären, ohne die Rolle zu erwähnen, die John MacLean und die schottische SLP gespielt hatten. Auch ist es kein Zufall, dass die Bastionen der Shop Steward-Bewegung (der Kohlebergbau und die Stahlindustrie in Südwales, die Industrie entlang des Clyde River in Schottland, die Region um Sheffield in England) auch zu Bastionen der Kommunistischen Partei in den Jahren nach der Russischen Revolution werden sollten.
Schließlich ist die Position, die jede dieser Strömungen gegenüber dem Krieg einnahm, kein geringer Unterschied zwischen beiden. In der Zeit von 1900 und 1940, in welcher der Syndikalismus den größten Einflusses besaß, gab es einen großen Unterschied zwischen dem Anarchosyndikalismus und dem revolutionären Syndikalismus in der Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg:
- Der Anarchosyndikalismus verlor Leib und Seele, als er den imperialistischen Krieg unterstützte: 1914 verpflichtete die CGT die französische Arbeiterklasse für den Krieg, während die spanische CNT 1936/37 durch ihre antifaschistische Ideologie und ihre Regierungsbeteiligung zu einem der Hauptpfeiler der bürgerlichen Republik wurde.
- Der revolutionäre Syndikalismus blieb hingegen seinen internationalistischen Positionen treu: Die IWW in den Vereinigten Staaten und die Shop Stewards in Großbritannien standen im Zentrum des Arbeiterwiderstandes gegen den Krieg.
Sicherlich sollte diese Unterscheidung nuanciert werden: Der revolutionäre Syndikalismus hatte seine Schwächen (besonders eine starke Neigung, die Frage des Krieges allein aus dem beschränkten Blickwinkel des ökonomischen Kampfes gegen dessen Auswirkungen zu betrachten). Dennoch bleibt auf der Ebene der Organisationen die Unterscheidung gültig.
Kurz: während der revolutionäre Syndikalismus trotz seiner Schwächen einige der entschlossensten Streiter der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Krieg stellte, stellte der Anarchosyndikalismus Minister für die Regierungen des Burgfriedens in den bürgerlichen Republiken Frankreichs und Spaniens.
„Gen. Woinow verfolgt deshalb vollkommen richtig seine Linie, wenn er die russischen Sozialdemokraten aufruft, am Beispiel des Opportunismus und am Beispiel des Syndikalismus zu lernen. Die revolutionäre Arbeit in den Gewerkschaften, die Verlegung des Schwerpunktes von parlamentarischen Kunststücken auf die Erziehung des Proletariats, auf die Festigung von reinen Klassenorganisationen, auf den außerparlamentarischen Kampf, die Fähigkeit, den Generalstreik wie auch die „Kampfformen des Dezember" [15] in der russischen Revolution anzuwenden (und die Vorbereitung der Massen auf ihre erfolgreiche Anwendung) - alles das tritt gebieterisch in den Vordergrund als Aufgabe der bolschewistischen Richtung. Die Erfahrungen der russischen Revolution erleichtern uns diese Aufgabe gewaltig, geben uns eine Vielzahl wertvollster praktischer Hinweise und liefern eine Menge historischen Materials, das uns ermöglicht, die neuen Methoden des Kampfes, den Massenstreik und die unmittelbare Gewaltanwendung, ganz konkret einzuschätzen. "Neu" sind diese Methoden des Kampfes am wenigsten für die russischen Bolschewiki, für das russische Proletariat. „Neu" sind sie für die Opportunisten, die mit aller Macht bemüht sind, aus dem Gedächtnis der Arbeiter die Erinnerungen im Westen an die Kommune, in Russland an den Dezember 1905 zu tilgen. Diese Erinnerungen zu festigen, diese großen Erfahrungen wissenschaftlich zu studieren, ihre Lehren und das Bewusstsein der Unvermeidlichkeit der Wiederholung dieser Erfahrungen in neuem Maßstab in den Massen zu verbreiten - diese Aufgabe der revolutionären Sozialdemokraten in Russland eröffnet uns unermesslich inhaltsreichere Perspektiven als der einseitige „Antiopportunismus" und „Antiparlamentarismus" der der Syndikalisten." (Lenin, Vorwort zur Broschüre von Woinow).
Für Lenin war der revolutionäre Syndikalismus eine proletarische Antwort auf den Opportunismus und den parlamentarischen Kretinismus der Sozialdemokratie, aber er war eine partielle und schematische Antwort, die nicht in der Lage war, den Gezeitenwechsel im frühen 20. Jahrhundert in seiner ganzen Komplexität zu begreifen. Trotz der historischen Unterschiede, die in den verschiedenen syndikalistischen Strömungen zutage traten, hatten alle diesen Defekt gemeinsam. Wie wir in den kommenden Artikeln sehen werden, erwies sich diese Schwäche als fatal: Im günstigsten Fall war die syndikalistische Strömung unfähig, voll und ganz zur Ausbreitung der revolutionären Welle von 1917-23 beizutragen; im schlimmsten Fall endete er in offener Unterstützung für den imperialistischen Kapitalismus, den er einst zu bekämpfen vorgegeben hatte.
Jens, 4. Juli 2004
[1] Wir werden später auf die Unterscheidung zwischen dem revolutionären Syndikalismus und dem Anarchosyndikalismus zurückkehren. Um es kurz zu machen, können wir sagen, dass der Anarchosyndikalismus ein Zweig des revolutionären Syndikalismus ist. Sämtliche Anarchosyndikalisten betrachten sich selbst als revolutionäre Syndikalisten, während umgekehrt dies nicht der Fall ist. Wo wir den Begriff „Syndikalismus" benutzen, beziehen wir uns unterschiedslos auf beide Strömungen.
[2] Der Verrat durch die sozialistischen Parteien 1914 wurde bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts vom linken Flügel in den sozialistischen Parteien (Luxemburg, Pannekoek, Gorter, Lenin, Trotzki) bekämpft. Der Verrat durch die Kommunistischen Parteien (die die Konterrevolution in den 20er und 30er Jahren anführten) wurde von den Linkskommunisten (die KAPD in Deutschland, die GIK in den Niederlanden, die Linke der italienischen KP um Bordiga, schließlich die Fraktionen der Internationalen Linken in Bilan und Internationalisme) bekämpft.
[3] Die Grand National Consolidated Union wurde 1833 unter aktiver Beteiligung Robert Owens gebildet; laut der Presse dieser Tage organisierte sie 800.000 britische ArbeiterInnen (siehe J.T. Murphy, Preparing for power).
[4] Die Anarchisten widersetzten sich gern dem „libertären" und „demokratischen" Bakunin. In Wahrheit empfand der Aristokrat Bakunin tiefe Verachtung für das „Volk", das von der unsichtbaren Hand geheimer Verschwörer gelenkt werden sollte: „Die wahre Revolution braucht keine Individuen die sich an die Spitze der Massen stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der anderen ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig" (Bakunin, Die Prinzipien der Revolution). Siehe International Revue Nr. 20, deutsche Ausgabe, „Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum". Für weitere Details über Bakunins organisatorische Ideen siehe die exzellente Biographie von E.H. Carr.
[5] In dieser Periode organisierten sich die Gewerkschaften in Gewerben; darüber hinaus beschränkte sich die gewerkschaftliche Mitgliedschaft auf ausgebildete Arbeiter.
[6] Als ein Beispiel für den Unterschied zwischen der Epoche des Aufstieg und der Epoche der Dekadenz des Kapitalismus können wir die Entwicklung des Arbeitstages anführen. Von 16-17 Stunden am Tag zu Beginn des 19. Jahrhunderts fiel die Arbeitszeit auf zehn oder gar acht Stunden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither blieb sie (abgesehen vom Schwindel der 35-Stunden-Woche in Frankreich, die heute wieder in Frage gestellt wird) hartnäckig um acht Arbeitsstunden herum verharren, und dies trotz eines phantastischen Anstiegs in der Produktivität. In Ländern wie Großbritannien wird der Arbeitstag momentan wieder verlängert; der typische „Neun-bis-fünf-Job" der 60er Jahre wurde durch einen Arbeitstag ersetzt, der erst um 18 Uhr oder später endet.
[7] Millerand war ein Anwalt, der in der französischen Arbeiterbewegung wegen seiner Qualitäten bei der Verteidigung von Gewerkschaftern vor Gericht hoch geschätzt wurde. Als Protégé von Jaurès kam er 1889 als unabhängiger Sozialist ins Parlament. Doch seine Beteiligung am Kabinett Waldeck-Rousseau entfremdete ihn von den Sozialisten, von denen er sich ab 1905 sukzessive löste. 1909 wurde er Minister für Öffentliche Arbeiten, diente schließlich als Kriegsminister zwischen 1912 und 1915.
[8] Lenins Vorwort zu einem Pamphlet von Woinow (A. W. Lunatscharski) über die Haltung der Partei gegenüber den Gewerkschaften (1907) (Lenin Werke, Bd. 13, S. 162) In Wahrheit entwickelte sich der Syndikalismus nur wenig in Russland, und dies aus einem bestimmten Grund: Die russischen Arbeiter wandten sich einer wirklich revolutionären marxistischen Partei zu, den Bolschewiki. Siehe: https://www.marxists.org/archive/lenin/works/1907/nov/00.htm [13].
[9] Es sollte angemerkt werden, dass diese Sichtweise einer historischen Mission der Arbeiterklasse weitaus enger mit dem Marxismus als mit dem Anarchismus verbunden ist.
[10] „Jim Crutchfields IWW-Seite" enthält nützliches Material für die Geschichte der IWW. Siehe: https://jdcrutch.home.mindspring.com/i/constitution/1908const.html [14].
[11] Siehe unsere Artikel über die Klassenkämpfe in Polen 1980/81 in der deutschen Internationalen Revue, Nr. 6 und 8.
[12] Für jene, die die Wahrheit dieser Vereinigung anzweifeln, lohnt sich ein Blick auf den Umfang der Finanzierung der Gewerkschaften in den „demokratischen" Ländern durch den Staat. Zum Beispiel gibt es laut der französischen Zeitung La Tribune vom 23.02.2004 allein 2.500 Zivilangestellte, die vom Bildungsministerium bezahlt werden und sich voll und ganz der Gewerkschaftsarbeit widmen. Derselbe Artikel gibt Details über die vielfältigen, an die Gewerkschaften ausbezahlten Beihilfen preis, einschließlich der etwa 35 Millionen, die jährlich im Namen der „Kooperation Gewerkschaften-Management" gezahlt werden.
[13] Die anarchosyndikalistische Vision eines Generalstreiks wird in Romanform im Buch Comment nous ferons la révolution beschrieben, verfasst von zwei CGT-Führern, Pouget und Pataud, ein Buch, das erstmals 1909 veröffentlicht wurde (Editions Syllepse).
[14] Man sollte bemerken, dass der Grad der Zentralisierung in den IWW-Statuten weit über jene Zentralisierung hinausging, die zurzeit der Zweiten Internationale herrschte.
[15] Mit anderen Worten: die Sowjets.
Die weltweite Verschuldung hat astronomische Proportionen erreicht, die es unmöglich machen, einen „Neustart" der Wirtschaft durch eine neue Schuldenspirale zu veranlassen, ohne die finanzielle Glaubwürdigkeit der Staaten und den Wert ihrer Währungen zu gefährden. Angesichts dieser Situation haben Revolutionäre die Verantwortung, eine in die Tiefe gehende Analyse darüber vorzunehmen, wie der Kapitalismus bis jetzt durch das „Austricksen" der eigenen Gesetze sein System künstlich am Leben gehalten hat. Dies ist die einzige Methode, um zu einer angemessenen Beurteilung der Sackgasse zu gelangen, der sich die Bourgeoisie heute gegenübersieht.
Mit der Untersuchung der als „Wirtschaftswunderjahre" bekannten Periode, die von der Bourgeoisie so gepriesen wird und der sie nachtrauert, wird sicherlich kein Neuland betreten. Natürlich müssen Revolutionäre die Interpretationen zurückweisen, die die Vertreter des Kapitalismus offerieren, insbesondere wenn sie uns überzeugen wollen, dass der Kapitalismus reformiert werden kann.[1] Gleichzeitig müssen sie sich solidarisch mit den verschiedenen Standpunkten auseinandersetzen, die innerhalb des proletarischen Lagers zu diesem Thema existieren. Dies ist der Zweck der Debatte, für die unsere Organisation ihre Seiten der Internationalen Revue seit zwei Jahren nun geöffnet hat.[2]
Die Sichtweise, die in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus entwickelt wurde, der zufolge die Zerstörung, die während des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat, und die dadurch ermöglichte Schaffung eines Wiederaufbau-Marktes die Quelle des Booms der 1950er und 1960er Jahre gewesen seien, ist einer Kritik in der IKS unterzogen worden, besonders seitens der Position der von uns vertretenen These, die sich auf die „außerkapitalistischen Märkte und die Verschuldung" bezieht. Wie ihr Name schon andeutet, behauptet diese These, dass es der Absatz auf außerkapitalistischen Märkten und der Verkauf auf Kredit gewesen seien, die den Motor für die kapitalistische Akkumulation während der 50er und 60er Jahre gebildet hatten, und nicht keynesianische Maßnahmen, wie in einer anderen These, der keynesianisch-fordistischen These, vertreten wird.[3] In der Internationalen Revue Nr. 45 gab es einen von Salome und Ferdinand unterzeichneten Beitrag, der die letztgenannte Auffassung vertritt und durch die Vorstellung einer Reihe von Argumenten, die noch nicht öffentlich diskutiert wurden, die Debatte wiederbelebt hat. Neben der Beantwortung der Argumente dieser beiden Genossen hat dieser Artikel folgende Ziele: die Fundamente der These von den außerkapitalistischen Märkten und der Verschuldung in Erinnerung zu rufen; einige statistische Elemente zu präsentieren, die unserer Auffassung nach die Gültigkeit der These illustrieren, und ihre Implikationen für den globalen Rahmen der IKS-Analysen der Periode der kapitalistischen Dekadenz zu untersuchen.[4]
Die in der Dekadenz des Kapitalismus vertretene Analyse erblickt im Krieg eine gewisse ökonomische Rationalität (der Krieg hat positive wirtschaftliche Konsequenzen). In diesem Sinn steht sie in Widerspruch zu älteren Texten unserer Organisation, die argumentieren: „Was all diese Kriege auszeichnet, wie die zwei Weltkriege, ist, dass sie anders als diejenigen im vorausgegangenen Jahrhundert keinen Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichten. Sie haben lediglich massive Zerstörungen und die Ausblutung der Länder, in denen sie stattfanden, zur Folge (ganz abgesehen von den schrecklichen Massakern".[5]
Unserer Auffassung nach ist der Fehler in unserer Broschüre auf eine hastige und irreführende Anwendung der folgenden Passage aus dem Kommunistischen Manifest zurückzuführen: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte." Tatsächlich schreiben diese Zeilen der Zerstörung von Produktionsmitteln nicht die Tugend zu, neue zahlungsfähige Märkte zu eröffnen, um die Wirtschaftsmaschinerie wieder in Gang zu setzen. Es ist notwendig, in Übereinstimmung mit den ökonomischen Schriften von Marx die Auswirkungen der Kapitalzerstörung (oder vielmehr der Kapitalentwertung) als Hilfe zu interpretieren, um den existierenden Markt auszuweiten und dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken.[6]
Die These, die sich auf den keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus bezieht, bietet eine Interpretation der „Wohlstands"-Jahre in den 50er und 60er Jahren an, die sich sowohl von jener, die in Die Dekadenz des Kapitalismus vorgestellt wird, als auch von der These der außerkapitalistischen Märkte und der Verschuldung unterscheidet. „Die garantierte Steigerung der Profite, der Staatsausgaben und der Anstieg der Löhne waren in der Lage, die Endnachfrage zu gewährleisten, die so entscheidend ist, wenn das Kapital seine Akkumulation fortsetzen will"[7]. Zwei Argumente sind in der Antwort auf diese Gedanken vorgebracht worden:
Vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet, stellen steigende Löhne über das notwendige Maß der Reproduktion der Arbeitskraft hinaus eine pure, simple Verschwendung von Mehrwert dar, die in keiner Weise zum Akkumulationsprozess beitragen kann. Ferner: auch wenn es zutrifft, dass steigender Konsum durch die ArbeiterInnen (durch steigende Löhne) und eine Steigerung der Staatsausgaben einen Absatz für die gesteigerte Produktion schaffen können, so ist die vorrangige Konsequenz daraus eine Sterilisierung von Reichtum, die der Verwertung des Kapitals nicht dienlich sein kann.[8]
Unter den Verkäufen, die der Kapitalismus macht, entspricht nur der Teil, der der Akkumulation von Kapital gewidmet werden kann und der so an seiner Vermehrung beteiligt ist, den Verkäufen, die durch den Handel mit außerkapitalistischen Märkten (interne oder externe) realisiert werden. Dies ist der einzig effektive Weg, um dem Kapitalismus zu erlauben, zu vermeiden, sich in einer Situation wieder zu finden, in der „die Kapitalisten selbst nur unter sich ihre Waren austauschen und aufessen", was, wie Marx sagte, „keineswegs eine Verwertung des Kapitals erlaubt"[9].
In ihrem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 45 kommen die Genossen Salome und Ferdinand auf dieses Thema zurück. Sie machen hier eine Präzisierung, eine völlig richtige in unseren Augen, bezüglich dessen, was sie als Rahmen dieser Debatte betrachten: „Darauf könnte man antworten, dass eine solche Vergrößerung des Marktes nicht genüge, um den ganzen für die Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwertes zu realisieren. Dies trifft sicher zu, wenn man die Frage allgemein und für einen längeren Zeitraum stellt. Wir, die diese These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus vertreten, meinen nicht, wir hätten die Lösung für die inneren Widersprüche des Kapitalismus gefunden - eine Lösung, die nach Gutdünken immer wieder aus dem Hut gezaubert werden könnte".
Daraufhin veranschaulichen sie auf dem Wege eines Schemas (basierend auf jenem von Marx verwendeten Schema im zweiten Band des Kapital, wo er das Problem der erweiterten Reproduktion darlegte), wie die Akkumulation trotz der Tatsache fortgesetzt werden kann, dass ein Teil des Mehrwerts in Form von Lohnerhöhungen bewusst an die ArbeiterInnen zurückgegeben wird. Von ihrem Standpunkt aus erklärt dieselbe zugrundeliegende Logik, warum ein außerkapitalistischer Markt nicht unerlässlich ist für die Weiterentwicklung des Kapitalismus: „Wenn die Bedingungen, die die Schemata voraussetzen, erfüllt sind und wenn wir die Konsequenzen daraus akzeptieren (Bedingungen und Konsequenzen, die separat untersucht werden können), kann zum Beispiel eine Regierung, die die gesamte Wirtschaft kontrolliert, diese so organisieren, dass die Akkumulation gemäß dem Schema funktioniert".
Für die Genossen ist die Bilanz dieser Wiederaufteilung des Mehrwerts, auch wenn sie die Akkumulation verlangsamt, nichtsdestotrotz positiv, da sie es ermögliche, den internen Markt zu vergrößern: „Wenn dieser Profit genügend hoch ist, können die Kapitalisten gleichzeitig die Löhne anheben, ohne den ganzen Zuwachs an abgepresstem Mehrwert zu verlieren (...) Die einzige ‚schädliche‘ Wirkung dieser ‚Verschwendung von Mehrwert‘ ist, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals langsamer zunimmt, als dies theoretisch möglich wäre".
Wir stimmen der Beobachtung der Genossen hinsichtlich der Auswirkungen der „Verschwendung von Mehrwert" zu. Doch sie sagten zu diesem Thema auch: „... man kann nicht behaupten, dass diese ‚Verschwendung von ‚Mehrwert‘ kein Bestandteil des Akkumulationsprozesses sein könne. Im Gegenteil: Diese Aufteilung der Gewinne aus der Erhöhung der Produktivität geht vollumfänglich in die Akkumulation ein". Es ist klar, dass, wie die Genossen selbst anerkennen, die fragliche Verschwendung nicht - etwa durch das Einspritzen von Kapital in den Produktionsprozess - zum Akkumulationsprozess beiträgt. In der Tat lenkt sie Kapital, das akkumuliert werden könnte, weg vom kapitalistischen Ziel der Akkumulation. Zweifellos gibt sie einen zeitweiligen Nutzen für die Bourgeoisie her, da sie erlaubt, einen bestimmten Grad der Wirtschaftsaktivitäten künstlich aufrechtzuerhalten oder gar zu steigern. Sie verschiebt somit das Problem des Mangels an ausreichenden Märkten für die kapitalistische Produktion. Dies ist die Funktion der keynesianischen Maßnahmen; doch noch einmal: sie tragen nicht zum Akkumulationsprozess bei. Vielmehr sind sie ein Bestandteil des Produktionsprozesses unter den Bedingungen der Dekadenz des Kapitalismus, wenn das System, das immer weniger imstande ist, „normal" zu funktionieren, unproduktive Ausgaben erhöhen muss, um die Wirtschaftsaktivitäten am Laufen zu halten. Diese Verschwendung fügt sich in dem bereits enormen Umfang an Verschwendungen ein, die sich aus den Militärausgaben und den Kosten für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Kontrolle zusammensetzen. Von der Notwendigkeit veranlasst, einen künstlichen inneren Markt zu erschaffen, sind diese Ausgaben genauso irrational und unproduktiv wie die beiden letztgenannten.
Zwar erlaubten keynesianische Maßnahmen in den 50er und 60er Jahren ein sehr wichtiges Wachstum des BSP in den Hauptindustrieländern und verbreiteten so die Illusion einer dauerhaften Rückkehr zum Wohlstand in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, doch wuchs das Vermögen, das tatsächlich während dieser Periode gemacht wurde, in einem Rhythmus, der notwendigerweise weitaus bescheidener war, da ein bedeutender Anteil des Wachstums des BSP sich aus unproduktiven Ausgaben zusammensetzte.[10]
Um diesen Teil zu beenden, werden wir eine weitere Konsequenz aus der Begründung der Genossen untersuchen, die besagt, dass es „so gesehen (...) keine außerkapitalistischen Märkte" brauche. Im Gegensatz zu dem, was die Genossen ankündigen, haben wir hier nicht ein einziges neues Argument gefunden, das die Notwendigkeit von Käufern außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage stellt. Das Schema, das sie vorstellen, ist das „einer Regierung, die die gesamte Wirtschaft kontrolliert", und dies in einer Weise, die die Erweiterung der Produktion (durch die Steigerung der Produktions- und Konsummittel) gestattet, ohne Zuflucht zu nehmen zu einem externen Käufer, sondern durch die Bezahlung der ArbeiterInnen über die notwendigen gesellschaftlichen Reproduktionskosten ihrer Arbeitskraft hinaus. Sehr gut, aber dies stellt noch keine erweiterte Akkumulation dar, wie sie der Kapitalismus praktiziert. Präziser, die erweiterte Akkumulation kann im Kapitalismus nicht auf diese Weise praktiziert werden, wie immer der Grad der Staatskontrolle über die Gesellschaft beschaffen ist, und dies trifft zu, einerlei ob die ArbeiterInnen Extralöhne erhalten oder nicht.
Die Erklärung, warum dies unmöglich ist, die Rosa Luxemburg in ihrer Schilderung des endlosen Karussells anbietet, das in den Schemata der erweiterten Reproduktion (erarbeitet von Marx in Band 2 des Kapital) enthalten ist, bezieht sich auf die konkreten Bedingungen der kapitalistischen Produktion. „Nach dem Marxschen Schema geht die Bewegung von der Abteilung I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten Produktionsmittel? Das Schema antwortet: Die Abteilung II braucht sie, um mehr Lebensmittel herstellen zu können. Wer aber braucht die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben die Abteilung I, weil sie jetzt lediglich mehr Arbeiter beschäftigt. Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität".[11]
Auf dieser Stufe unserer Reflexionen bietet es sich an, eine Bemerkung näher zu untersuchen, die von den Genossen gemacht wurde: „Wenn es keine Kredit gäbe und wenn man die jährliche Produktion auf einmal auf dem Markt in Geld umwandeln müsste, so wäre tatsächlich ein Käufer nötig, der sich außerhalb der kapitalistischen Produktion befände. Aber so verhält es sich nicht ".
Wir stimmen den Genossen zu, dass die Intervention eines externen Käufers nicht in jedem Produktionszyklus notwendig ist, solange der Kredit existiert. Dies schafft jedoch nicht das Problem aus der Welt, sondern dehnt es in seiner zeitlichen Dauer einfach aus, damit sicher stellend, dass es sich weniger häufig, aber ein jedes Mal auf schwerwiegendere Weise stellt.[12] Ist erst einmal ein Käufer vorhanden, zum Beispiel nach zehn Akkumulationszyklen, die die Kooperation zwischen Sektor I und II mit sich brachte, und kauft er die Produktions- oder Konsummittel, die benötigt werden, um die Schulden zu erstatten, die er in jenen zehn Akkumulationszyklen aufgenommen hat, dann geht für den Kapitalismus alles gut. Doch wenn es in letzter Instanz keinen externen Käufer gibt, können die angehäuften Schulden niemals erstattet werden, es sei denn um den Preis neuer Anleihen. Die Schulden schwellen dann unweigerlich und unermesslich an, bis zum Ausbruch einer neuen Krise, die den bloßen Effekt hat, die Schuldenspirale weiter zu erhöhen. Exakt diesen Prozess haben wir mit unseren eigenen Augen in wachsendem Ausmaß seit dem Ende der 60er Jahre erlebt.
Die Umverteilung eines Teils des extrahierten Mehrwerts in Form von Lohnerhöhungen erhöht letztendlich nur die Kosten der Arbeitskraft. Doch dies eliminiert keineswegs das Problem des endlosen Karussells, auf das Rosa Luxemburg hingewiesen hat. In einer Welt, die sich nur aus Kapitalisten und ArbeiterInnen zusammensetzt, gibt es keine Antwort auf die Frage, die sich Marx im Band 2 des Kapital immer wieder gestellt hatte: „Doch woher stammt das notwendige Geld, das notwendig ist zur Finanzierung der Ausweitung der Produktionsmittel sowie der Konsumtion"? In einer anderen Passage in Die Akkumulation des Kapitals greift Rosa Luxemburg dieses Problem auf und stellt die Frage auf ganz einfache Weise: „Einen Teil des Mehrwerts verzehrt die Kapitalistenklasse selbst in Gestalt von Lebensmitteln und behält in ihrer Tasche das dafür gegenseitig ausgetauschte Geld. Wer aber nimmt ihr die Produkte ab, in denen der andere, kapitalisierte Teil des Mehrwerts verkörpert ist? Das Schema antwortet: zum Teil die Kapitalisten selbst, indem sie neue Produktionsmittel herstellen behufs Erweiterung der Produktion, zum Teil neue Arbeiter, die zur Anwendung jener neuen Produktionsmittel nötig sind. Aber um neue Arbeiter mit neuen Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, muss man - kapitalistisch - vorher einen Zweck für die Erweiterung der Produktion haben, eine neue Nachfrage nach Produkten, die anzufertigen sind (...) Wo kommt das Geld zur Realisierung des Mehrwerts her unter Voraussetzung der Akkumulation, d.h. des Nichtverzehrs, der Kapitalisierung eines Teils des Mehrwerts?"[13] In der Tat sorgte Marx selbst für eine Antwort auf diese Frage, indem er auf die „fremden Märkte" verwies.[14]
Luxemburg zufolge löst der Einsatz eines Käufers, der sich außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse befindet, das Problem der Ermöglichung der Akkumulation. Es löst auch den anderen Widerspruch in den Marxschen Schemata, der aus dem unterschiedlichen Entwicklungstempo der organischen Zusammensetzung des Kapitals in den beiden Sektoren (Produktionsmittel und Konsumtionsmittel) resultiert.[15] In ihrem Text kommen die beiden Genossen auf diesen Widerspruch zurück, der von Rosa Luxemburg bemerkt wurde: „Diese Aufteilung der Gewinne aus der Erhöhung der Produktivität geht vollumfänglich in die Akkumulation ein. Und nicht bloß dies - sie schwächt genau das Problem ab, das R. Luxemburg im 25. Kapitel ihrer Akkumulation des Kapitals analysierte, wo sie überzeugend nachwies, dass die Tendenz zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals langfristig einen Austausch zwischen den beiden Hauptabteilungen der kapitalistischen Produktion (Produktion von Produktionsmitteln auf der einen Seite, von Konsumtionsmitteln auf der anderen) verunmöglicht." In diesem Zusammenhang machen die Genossen folgenden Kommentar: „F. Sternberg meinte, dass dies der stärkste Punkt der Position Luxemburgs sei, auf den einzugehen sich, alle diejenigen, die Rosa Luxemburg kritisiert haben, (...) eifrigst gehütet hätten". Auch hier teilen wir nicht die Position der Genossen, auch nicht die von Sternberg, die der Weise, in der Rosa Luxemburg das Problem stellt, nicht wirklich gerecht werden.
Laut Luxemburg wird dieser „Widerspruch" in der Gesellschaft gelöst, indem „eine größere Portion des zu kapitalisierenden Mehrwerts in der Abteilung der Produktionsmittel statt in derjenigen der Konsumtionsmittel angelegt wird. Da die beiden Abteilungen der Produktion nur Zweige derselben gesellschaftlichen Gesamtproduktion oder, wenn man will, Teilbetriebe des Gesamtkapitalisten darstellen, so ist gegen die Annahme einer solchen fortschreitenden Übertragung eines Teils des akkumulierten Mehrwerts - den technischen Erfordernissen gemäß - aus der einen Abteilung in die andere nichts einzuwenden, sie entspricht auch der tatsächlichen Praxis des Kapitals. Allein diese Annahme ist nur so lange möglich, wie wir den zur Kapitalisierung bestimmten Mehrwert als Wertgröße ins Auge fassen."[16] Dies setzt die Existenz „externer Käufer" voraus, die regelmäßig in die aufeinanderfolgenden Akkumulationszyklen intervenieren.
Während solch ein „Widerspruch" in der Tat das Risiko enthält, den Austausch zwischen den beiden Sektoren der Produktion zu verunmöglichen, ist er wichtig in der abstrakten Welt der Schemata der erweiterten Reproduktion, sobald der „externe Käufer" aus der Gleichung genommen wird: „Was durch unsere obigen Versuche mit dem Marxschen Schema lediglich illustriert werden sollte, ist folgendes. Die fortschreitende Technik muss sich nach Marx selbst in dem relativen Wachstum des konstanten Kapitals im Vergleich mit dem variablen äußern. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer fortschreitenden Verschiebung in der Einteilung des kapitalisierten Mehrwerts zwischen c und v". Oder: „Die Kapitalisten des Marxschen Schema sind aber gar nicht in der Lage, diese Einteilung beliebig vorzunehmen, denn sie sind bei ihrem Geschäft der Kapitalisierung von vornherein an die Sachgestalt ihres Mehrwerts gebunden. Da nach der Marxschen Annahme die ganze Produktionserweiterung ausschließlich mit den eigenen kapitalistisch hergestellten Produktions- und Konsumtionsmitteln vorgenommen wird...".[17]
In der Tat denken wir, dass die Genossen niemals überzeugt waren von Rosa Luxemburgs Demonstration der Notwendigkeit eines äußeren Käufers, um dem Kapital die Akkumulation zu erlauben, (oder, wenn nicht vorhanden, einer Flucht in den Kredit, der jedoch nicht rückerstattbar ist). Auf der anderen Seite haben wir noch nicht aufgezeigt, wie die Einwände, die sie vorbringen und die auf den Argumenten von Sternberg beruhen (von dem wir allen Anlass haben anzunehmen, dass auch er den Kern der Luxemburgschen Akkumulationstheorie nicht richtig verarbeitet hat)[18], faktisch die Hauptpositionen dieser Theorie in Frage stellen.
Wie wir bereits in früheren Beiträgen unterstrichen haben, reicht die Tatsache, dass Extralöhne für die ArbeiterInnen nicht dazu dienen, konstantes oder variables Kapital zu vermehren, aus, um den Schluss zu ziehen, dass diese Ausgaben vom Standpunkt der kapitalistischen Rationalität aus eine völlige Verschwendung sind. Vom strikt ökonomischen Standpunkt aus würden dieselben Effekte durch das Wachstum der persönlichen Ausgaben der Kapitalisten eintreten. Doch um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, ist es nicht notwendig, auf Rosa Luxemburg zu schauen.[19] Wenn wir es für notwendig erachten, auf die Einwände der Genossen gegen die Akkumulationstheorie zu antworten, dann geschieht dies, weil wir meinen, dass uns die Debatte über diese Frage dabei hilft, uns mit einer solideren Grundlage für das Verständnis nicht nur des Phänomens der Wirtschaftswunderjahre, sondern auch der Überproduktion auszustatten, die angesichts der gegenwärtigen Schwierigkeiten des Kapitalismus schwer zu leugnen ist.
Die Rolle der außerkapitalistischen Märkte und die Schulden in der Akkumulation der 50er und 60er Jahre
Zwei Faktoren sind maßgeblich für den Anstieg des BSP in diesem Zeitraum:
- eine Vermehrung des realen Reichtums der Gesellschaft durch den Prozess der Kapitalakkumulation;
- eine ganze Reihe von unproduktiven Ausgaben, die infolge der Entwicklung des Staatskapitalismus und insbesondere der keynesianischen Maßnahmen, die ergriffen worden waren, anstiegen.
In diesem Abschnitt sind wir daran interessiert, in welcher Weise die Akkumulation stattfand. Ausgangspunkt der mächtigen Expansionsphase des Kapitalismus während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer Phase, die erst vom I. Weltkrieg zum Halten gebracht wurde, war der Beginn einer verschärften Ausbeutung der außerkapitalistischen Märkte. Die Periode der kapitalistischen Dekadenz ist dagegen global von der relativen Unzulänglichkeit dieser Märkte im Verhältnis zum stetig wachsenden Bedürfnis für den Warenabsatz gekennzeichnet. Doch können wir daraus folgern, dass außerkapitalistische Märkte in der durch den Krieg 1914 eröffneten Periode des Kapitalismus nur noch eine marginale Rolle in der Akkumulation spielten? Wenn dies der Fall wäre, dann könnten diese Märkte nicht einmal teilweise die Akkumulation erklären, die in den 50er und 60er Jahren stattfand. Dies ist die Erwiderung, die die Genossen in ihrem Beitrag äußern: „Für uns ist das Rätsel des ‚Wirtschaftswunders‘ nicht erklärbar mit Überresten von außerkapitalistischen Märkten, denn diese vermögen schon seit dem Ersten Weltkrieg den Akkumulationsbedürfnissen, die der Kapitalismus erreicht hat, nicht mehr genügen". Wir denken unsererseits im Gegenteil, dass diese außerkapitalistischen Märkte eine wichtige Rolle in der Akkumulation spielten, besonders zu Beginn der 50er Jahre, und dann bis zum Ende der 60er Jahre immer mehr schwanden. Je unzureichender sie wurden, desto mehr übernahmen die Schulden die Rolle des externen Käufers für die Kapitalisten; doch offensichtlich waren dies Schulden einer „neuen Qualität", da es keine Aussicht darauf gab, dass sie jemals vermindert werden. Tatsächlich müssen wir auf diese Periode zurückblicken, um den Ursprung für das Phänomen der explodierenden Weltverschuldung ausfindig zu machen, die wir heute erleben, selbst wenn der Wert der Schulden in den 50er und 60er Jahren, verglichen mit den heutigen Schulden, eher lächerlich war.
Statistisch betrachtet, erlebte das Jahr 1953 den Höhepunkt der Exporte aus den entwickelten Ländern in die Kolonien, dargestellt als prozentualer Anteil an den Weltexporten (siehe Abb. 1, wo die Kurve der Importe aus den Kolonien denselben Verlauf wie die Kurve der Exporte aus den entwickelten Ländern haben sollte). Die Rate von 29 Prozent, die damals erreicht wurde, war also ein Indikator für die Bedeutung der Exporte in die außerkapitalistischen Märkte in den Kolonien, denn zu dieser Zeit waren die Kolonialmärkte zu einem großen Umfang noch außerkapitalistisch. Danach reduzierte sich der prozentuale Anteil der Exporte auf 22 Prozent im Jahr 1966. In Wirklichkeit ging das Schrumpfen dieses Anteils im Verhältnis zum BSP (und nicht der Exporte) viel schneller vonstatten, da das BSP in dieser Zeit schneller als die Exporte wuchs.> Grafik 1
Grafik 1: Importe aus den Kolonialmärkten als prozentualer Anteil an den Weltimporten (Tabellen aus dem BNP-Guide Staistique, 1972. Quelle: P. Baroich, ob. zit., OECD-Kommuniqué, November 1970)
Zu den Exporten in Richtung außerkapitalistischer Märkte der Kolonien sollten wir den Absatz in kapitalistischen Ländern wie Frankreich, Japan, Spanien, etc. hinzufügen, der in Bereichen wie der Landwirtschaft erzielt wurde, die allenfalls teilweise in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse integriert waren. Auch in Osteuropa gab es noch immer einen außerkapitalistischen Markt, da die Folgen des Ersten Weltkriegs die kapitalistische Expansion in diesen Ländern zum Stillstand verdammt hatten.[20]
Wenn wir also alle Verkäufe berücksichtigen, die von Regionen, die von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen dominiert waren, gegenüber jenen getätigt wurden, die noch unter vor-kapitalistischen Verhältnissen produzierten - ob diese nun äußere oder innere Märkte waren -, dann sehen wir, dass sie einen bedeutenden Anteil des realen Wachstums zu fördern imstande waren, der während der Wirtschaftswunderjahre stattgefunden hatte, zumindest zu Beginn jener Periode. Im letzten Teil dieses Artikels werden wir auf die Einschätzung des Sättigungsgrades der Märkte zu der Zeit zurückkommen, als der Kapitalismus in seine Dekadenzepoche eintrat, um diese präziser zu charakterisieren.
Gleich zu Beginn unserer internen Debatte argumentierten jene, die die keynesianisch-fordistische These vertreten und unsere Hypothese ablehnen, dass Schulden eine Hauptrolle bei der Unterstützung der Nachfrage in den 50er und 60er Jahren spielten, dass „die Gesamtverschuldung wuchs während der Periode von 1945-1980 praktisch nicht, sie explodierte erst als Antwort auf die Krise. Die Verschuldung kann also nicht das enorme Wachstum der Nachkriegszeit erklären". Die ganze Frage ist, was hinter diesem „praktisch nicht" steckt und ob dies trotz allem genug war, um den Akkumulationsprozess entlang der außerkapitalistischen Märkte zu vervollständigen.
Es ist ziemlich schwierig, für die meisten Länder statistische Daten über die Schuldenentwicklung in den 50er und 60er Jahren zu finden, ausgenommen die USA.
Wir haben allerdings die jährlichen Zahlen für die Entwicklung der Gesamtschulden und des amerikanischen BSP zwischen 1950 und 1969. Die Untersuchung dieser Daten (Abb. 2) sollte uns in die Lage versetzen, auf die folgende Frage zu antworten: Ist es möglich, dass das alljährliche Wachstum der Schulden ausreichend war, um den Teil der Vermehrung des BSP zu bewältigen, der sich nicht mit den Verkäufen deckte, die in die außerkapitalistischen Märkte gingen? Wie wir bereits gesagt haben, sind es die Schulden, die die Rolle des Käufers außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse spielen, sobald diese Märkte nicht mehr verfügbar sind.[21]
Year |
49 |
50 |
51 |
52 |
53 |
54 |
55 |
56 |
57 |
58 |
59 |
60 |
61 |
62 |
63 |
64 |
65 |
66 |
67 |
68 |
69 |
||
GNP |
257 |
285 |
328 |
346 |
365 |
365 |
398 |
419 |
441 |
447 |
484 |
504 |
520 |
560 |
591 |
632 |
685 |
750 |
794 |
866 |
932 |
||
Debt |
446 |
486 |
519 |
550 |
582 |
606 |
666 |
698 |
728 |
770 |
833 |
874 |
930 |
996 |
1071 |
1152 |
1244 |
1341 |
1435 |
1567 |
1699 |
||
%annual Debt/GNP |
|
171 |
158 |
159 |
160 |
166 |
167 |
167 |
165 |
172 |
172 |
174 |
179 |
178 |
181 |
182 |
182 |
179 |
181 |
181 |
182 |
||
%over the period Δ Debt /ΔGNP |
185% |
||||||||||||||||||||||
Δ annual GNP |
|
28 |
44 |
17 |
19 |
0 |
33 |
21 |
22 |
6 |
36 |
20 |
16 |
40 |
30 |
42 |
53 |
65 |
44 |
72 |
67 |
||
Δ annual Debt |
|
40 |
33 |
31 |
31 |
24 |
60 |
33 |
30 |
41 |
63 |
41 |
56 |
66 |
75 |
81 |
93 |
97 |
94 |
132 |
132 |
||
(Δ annual Debt- Δ annual GNP) |
|
12 |
-11 |
14 |
12 |
24 |
27 |
11 |
8 |
35 |
27 |
21 |
40 |
26 |
45 |
39 |
40 |
32 |
50 |
60 |
65 |
||
Grafik 2: Vergleich der Entwicklung des BSP und der Schulden der USA zwischen 1950 und 1969
% jährliche Schulden=(Schulden/BSP)*100; % über die Periode Δ Schulden/ΔBSP = (Schulden 1969 - Schulden 1949) / (BSP 1969 - BSP 1949)*100; Δ jährliches BSP = BSP in (n) - BSP in (n-1); Δ jährliche Schulden im Jahr (n) = Schulden im Jahr n - Schulden im Jahr (n-1).
(Quelle: Federal Reserve Archival System for Economic Research)https://fraser.stlouisfed.org/publications/scb/page/6870 [16] (1) https://fraser.stlouisfed.org/publications/scb/page/6870/1615/download/6... [17] (2)
Die Steigerung des Wertes der Schulden als prozentualer Anteil an der Steigerung des BSP beträgt für den fraglichen Zeitraum 18 Prozent. Mit anderen Worten, die Steigerung des Schuldenwertes ist in zwanzig Jahren fast doppelt so hoch wie die Steigerung des Wertes des BSP gewesen. Tatsächlich zeigt dieses Resultat, dass die Schuldenentwicklung in den USA dergestalt war, dass die Schulden während des gesamten Zeitraums ganz allein das Wachstum im BSP der USA sicherten (und gar eine wichtige Rolle im Wachstum in anderen Ländern spielten), ohne die Notwendigkeit, auf den Absatz auf außerkapitalistischen Märkten zurückzugreifen. Ferner können wir sehen, dass mit Ausnahme von 1951 die Steigerung der Schulden alljährlich höher ist als die des BSP (erst 1951 war die Differenz zwischen dem Schuldenwachstum und der Steigerung des BSP negativ). Dies bedeutet, dass in all diesen Jahren, außer einem, die Schulden für die Steigerung des BSP gesorgt haben. Diese waren höher, als es angesichts des Beitrages, den die außerkapitalistischen Märkte damals noch leisten konnten, notwendig gewesen wäre.
Die Schlussfolgerung aus dieser Betrachtung ist folgende: Die theoretische Analyse, die davon ausgeht, dass die Flucht in den Kredit an die Stelle der Verkäufe auf außerkapitalistischen Märkte trat, um die Akkumulation stattfinden zu lassen, wird von den realen Entwicklung der Schulden in diesen Ländern nicht widerlegt. Und auch wenn eine solche Schlussfolgerung nicht automatisch für alle Industrieländer verallgemeinert werden kann, verleiht die Tatsache, dass es die größte Wirtschaftsmacht der Welt betrifft und dass dies vom Beispiel Westdeutschlands bestätigt wird, dem Ganzen eine gewisse Allgemeingültigkeit. Im Falle Westdeutschlands verfügen wir über Statistiken zur Schuldenentwicklung im Verhältnis zum BSP (Abb. 3), die die gleiche Tendenz veranschaulichen.
Year |
50 |
55 |
60 |
65 |
70 |
%annual Debt/GNP |
22 |
39 |
47 |
67 |
75 |
Grafik 3: Entwicklung der Schulden in Westdeutschland zwischen 1950 und 1970. Quelle: Survey of Current Business (07/1975) - Monthly Review (Bd. 22, Nr. 4, 09/190, S. 6)
Der Erste Weltkrieg brach inmitten einer Prosperitätsphase der kapitalistischen Weltwirtschaft aus. Ihm ging keine offene Wirtschaftskrise voraus; dennoch war es das wachsende Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, die die Quelle des Weltkonflikts und, damit einhergehend, des Eintritts des Kapitalismus in seine Dekadenz war. Die Entwicklung dieses Systems war bedingt gewesen durch die Eroberung außerkapitalistischer Märkte, und das Ende der kolonialen und ökonomischen Eroberung der Welt durch die großen kapitalistischen Metropolen führte Letztere in eine Konfrontation um ihre jeweiligen Märkte.
Im Gegensatz zur Interpretation der Genossen Salome und Ferdinand beinhaltet eine solche Situation nicht, dass „die außerkapitalistischen Märkte (...) seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr genügen, gemessen an den Bedürfnissen der im Kapitalismus erreichten erweiterten Akkumulation". Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte sich die Krise auf rein ökonomischer Ebene vor 1914 manifestiert.
Diese Charakteristiken der Periode (imperialistische Rivalitäten rund um die verbliebenen nicht-kapitalistischen Territorien) wurden in folgender Passage von Luxemburg sehr präzise zum Ausdruck gebracht: „Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde"[22]. Bei etlichen Gelegenheiten kam Luxemburg auf den Zustand der Welt in dieser Zeit zurück: „In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerkmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Russland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im Übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerkmäßigen aufweisen." [23]. Tatsächlich: „ (...) weil der Erste Weltkrieg, der zwar an sich ein Produkt der ökonomischen Widersprüche des Systems war, ausbrach, bevor sich diese Widersprüche auf einer „rein" ökonomischen Ebene entfalten konnten. Die Krise von 1929 war die erste Weltwirtschaftskrise in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus".[24]
Wenn 1929 die erste bedeutende Manifestation der Unzulänglichkeit der außerkapitalistischen Märkte in der Epoche der Dekadenz gewesen war, bedeutet dies, dass nach diesem Zeitpunkt es für sie nicht mehr möglich war, eine bedeutsame Rolle bei der kapitalistischen Prosperität zu spielen?
In den zehn Jahren, die 1929 folgten, war es nicht möglich gewesen, die weiten vorkapitalistischen Zonen „auszutrocknen", die 1914 in der ganzen Welt noch existierten: Es war eine Periode, die sich nicht durch intensive Wirtschaftsaktivitäten auf Weltebene auszeichnete. Noch während der 30er Jahre und einem Gutteil der 40er Jahre verlangsamten sich die Wirtschaftsaktivitäten. Daher signalisierte die Krise von 1929, auch wenn sie die Grenzen der außerkapitalistischen Märkte enthüllte, nicht das Ende jeglicher Möglichkeit für Letztere, eine wichtige Rolle bei der Akkumulation des Kapitals zu spielen.
Die Ausbeutung eines jungfräulichen, außerkapitalistischen Marktes oder die bessere Ausbeutung eines alten hängt zu einem großen Teil von Faktoren ab wie die Arbeitsproduktivität in den zentralen kapitalistischen Ländern, die die Konkurrenzfähigkeit der von ihnen produzierten Waren bestimmen, und die für das Kapital verfügbaren Transportmittel, um die Warenzirkulation sicherzustellen. Diese Faktoren bilden den Motor der Expansion des Kapitalismus in der ganzen Welt, wie bereits vom Kommunistischen Manifest hervorgehoben wurde.[25] Darüber hinaus machte der Prozess der Entkolonialisierung gewisse außerkapitalistische Märkte weitaus profitabler, da er den Handel von der Bürde der Aufrechterhaltung des Apparates der kolonialen Vorherrschaft entlastete.
Der Zyklus „Krise-Krieg-Wiederaufbau" ist in Frage gestellt
Vor einiger Zeit korrigierte die IKS die falsche Interpretation, dass der Erste Weltkrieg die Folge einer offenen Wirtschaftskrise gewesen sei. Wie wir gesehen haben, muss Ursache und Wirkung im Verhältnis zwischen Krise und Krieg erkannt werden, indem der Begriff Krise in seiner weiteren Bedeutung als Krise der Produktionsverhältnisse gesehen wird.
Was den Verlauf „Krieg - Wiederaufbau - neue Krise" anbetrifft, so haben wir ebenfalls gesehen, dass diese Analyse nicht in der Lage war, die Prosperität der 50er und 60er Jahre mit zu berücksichtigen, die nicht dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben werden kann. Es verhält sich genauso wie mit dem Wiederaufleben nach dem Ersten Weltkrieg, als der Kapitalismus wieder an die Vorkriegs-Dynamik anknüpfte und sich dabei auf der Ausbeutung der außerkapitalistischen Märkte stützte, allerdings in einem viel geringeren Umfang. Es gab in der Tat einen Wiederaufbauprozess nach dem Krieg; er war allerdings wegen der Folgen der Zerstörungen, die durch den Krieg angerichtet worden war, weit entfernt davon, die Akkumulation zu erleichtern, und Bestandteil der Nebenkosten, die benötigt wurden, um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.
Und seit 1967, als der Kapitalismus einmal mehr in eine Periode wirtschaftlicher Turbulenzen trat, ist eine Krise nach der anderen eingetreten. Der Kapitalismus hat den Planeten verwüstet, indem sich die imperialistischen Konflikte multipliziert haben, ohne im Entferntesten die Bedingungen für einen Wiederaufbau zu schaffen, der synonym für eine Rückkehr zur Prosperität, selbst in einem limitierten und temporären Sinn, wäre.
Wie die IKS aufgezeigt hat und wie die Fortsetzung des Wachstums nach 1914 und heute bewiesen hat, bedeutet der Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz nicht das Ende der Akkumulation, obgleich dieses Wachstum in seinen Proportionen gegenüber den schnellsten Phasen der aufsteigenden Periode (der größte Teil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1914) zweitrangig erscheint. Die Fortsetzung der Akkumulation basierte auf der Ausbeutung von außerkapitalistischen Märkten bis zu deren Erschöpfung. Es waren schließlich nicht-rückzahlbare Schulden, die den Stab aufnahmen, wenngleich sie gleichzeitig zunehmend unüberwindliche Widersprüche aufhäuften.
Somit, und im Gegensatz zu dem, was die Formulierung „Krise - Krieg - Wiederaufbau - neue Krise" beinhaltete, waren es nicht die Mechanismen von Zerstörung und Wiederaufbau, die die Bourgeoisie in die Lage versetzten, das Leben des Kapitalismus zu verlängern, weder nach dem Ersten Weltkrieg noch nach dem Zweiten. Die Hauptinstrumente solch eines Unterfangens, der Keynesianismus und vor allem Schulden, sind, auch wenn sie durch eine Hinauszögerung der Folgen der Überproduktion eine unmittelbare Wirkung ausüben, keineswegs eine wundersame Antwort. Der auffälligste Beweis dafür ist der Verzicht auf keynesianische Maßnahmen in den 1980er Jahren und die gegenwärtige Sackgasse allgemeiner, bodenloser Schulden.
Silvio, 1. Quartal 2010
[1] Angesichts der Krise gibt es einen vielstimmigen Chor auf der „Linken" (und selbst eines Gutteils der Rechten heutzutage), der nach einer Rückkehr zu keynesianischen Maßnahmen ruft, wie aus der folgenden Passage ersichtlich wird, die einem Arbeitsdokument von Jacques Gouverneur, einem Lehrer an der Katholischen Universität von Louvin in Belgien, entnommen ist. Wie der Leser sehen kann, beinhaltet die Lösung, die er vorstellt, die Nutzung der Produktivitätssteigerungen, um keynesianische Maßnahmen und eine alternative Politik zu installieren... wie jene, die von der Linken des Kapitals als Antwort auf die Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage Ende der 60er Jahre befürwortet wurde, mit der Absicht, Verwirrung in der Arbeiterklasse über die Möglichkeit der Reformierung des Systems zu stiften. „Sollten wir, um aus der Krise zu gelangen und das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, Löhne, Sozialleistungen (Arbeitslosengelder, Krankengeld, Familienbeihilfen), öffentliche Ausgaben (Bildung, Kultur, öffentliche Arbeiten...) reduzieren - oder sollten wir sie im Gegenteil steigern? Mit anderen Worten: sollten wir mit der restriktiven Politik fortfahren, die vom Neoliberalismus inspiriert wurde (wie wir dies seit Beginn der 80er Jahre getan haben), oder sollten wir im Gegenteil zu der expansiven Politik zurückkehren, die vom Keynesianismus angeregt und in der Wachstumsperiode zwischen 1945 und 1975 angewendet wurde? Mit anderen Worten: können Unternehmen gleichzeitig ihre Profite und ihren Absatz steigern? Dafür sind zwei Bedingungen notwendig. Die erste ist ein allgemeines Wachstum der Produktivität, in dem Sinn, dass die Wirtschaft mit derselben Anzahl von Arbeitern (oder Einwohnern) ein größeres Volumen von Waren und Dienstleistungen produziert. Um es in einem Bild auszudrücken, jede Steigerung in der Produktivität in einem bestimmten Zeitraum (...) vergrößert den Umfang des produzierten ‚Kuchens‘, vergrößert die Zahl der Kuchenstücke, die ausgeteilt werden. In einem Zeitraum, in dem die Produktivität steigt, ist die Etablierung keynesianischer Maßnahmen die zweite Bedingung für die Unternehmen, um größere Profite und mehr Absatz zu machen (...) Die Beibehaltung der neoliberalen Politik wird die gesellschaftlichen Dramen multiplizieren und zu einem ökonomischen Hauptwiderspruch führen: Sie akzentuiert die Scheidung zwischen der globalen Steigerung der Profite und der globalen Steigerung des Absatzes. Doch sie begünstigt Unternehmen und die vorherrschenden Gruppen: Letztere werden fortfahren, wirksamen Druck auf die öffentlichen Behörden (nationale oder supranationale) auszuüben, um diese schädliche Politik zu verlängern. Die Rückkehr zur keynesianischen Politik setzt eine Veränderung des gegenwärtigen Gleichgewichts der Kräfte voraus: Es wird jedoch nicht ausreichen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, die von der Strukturkrise des kapitalistischen Systems beleuchtet wurden. Die Lösung dieser Probleme erfordert eine andere Politik: eine Erhöhung öffentlicher Steuern (im Wesentlichen auf Profite), um gesellschaftlich nützliche Produktion zu finanzieren, die Reduzierung der Arbeitszeit, um Ebenen der Beschäftigung und der Freizeit zu entwickeln, eine gleitende Zusammensetzung der Löhne, um Solidarität zu fördern."
https://www.capitalisme-et-crise.info/telechargements/pdf/FR_JG_Quelles_... [18] (unsere Hervorhebungen)
[2] Die Darstellung dieser Debatte und der drei wichtigsten involvierten Positionen können in dem Artikel „Die Gründe für das „Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg" in der Internationalen Revue Nr. 42 nachgelesen werden; wir veröffentlichten anschließend die folgenden Artikel: „Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus" in Internationale Revue Nr. 43, „Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation" und „Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus" in Internationale Revue Nr. 44, „Zur Verteidigung der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" in Internationale Revue Nr. 45.
[3] „Zur Verteidigung der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus, Antwort auf Silvio und Jens" in Internationale Revue Nr. 45.
[4] Wenn dieser Beitrag keinen Blick auf die Antwort von Salome und Ferdinand auf die Thesen der Kriegswirtschaft und des Staatskapitalismus wirft, dann geschieht dies deshalb, weil wir die von Letzteren aufgeworfene Diskussion als weniger prioritär betrachten, auch wenn es notwendig ist, darauf zurückzukommen. Dies deshalb, weil diese These nicht in erster Linie von einer besonderen Auffassung über den Akkumulationsprozess bestimmt ist, sondern eher von den geopolitischen Bedingungen, unter denen die Akkumulation stattfindet.
[5] „Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke in der Dekadenz des Kapitalismus", Internationale Review Nr. 52, 1988 (engl./franz./span. Ausgabe), zitiert im Artikel, der diese Debatte in der Internationalen Revue Nr. 42 einleitete.
[6] Siehe „Die Dekadenz des Kapitalismus. Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft", in der vorliegenden Nr. der Internationalen Revue.
[7] „Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus", Internationale Revue Nr. 43.
[8] Siehe „Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation", Internationale Revue Nr. 44.
[9] Siehe den Abschnitt über die These der außerkapitalistischen Märkte und Verschuldung in „Die Gründe für das „Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg" in Internationale Revue Nr. 42. Die Bezüge auf Marx sind vom Kapital, Bd. 3, Teil III, Kap. XV, Überfluss an Kapital bei Überfluss an Bevölkerung.
[10] Zu diesem Punkt siehe den Abschnitt über außerkapitalistische Märkte und Verschuldung in dem Artikel in Internationale Revue Nr. 42.
[11] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 7, „Analyse des Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion"
[12] Es ist unbestreitbar, dass der Kredit eine regulierende Rolle spielt und es ermöglicht, das Bedürfnis nach außerkapitalistischen Märkten in jedem Zirkel zu dämpfen. Doch er macht keinesfalls das grundlegende Problem ungeschehen, das, wie Rosa Luxemburg es formuliert hat, durch die Untersuchung eines abstrakten Zyklus‘, der aus den elementaren Zyklen des diversen Kapitals resultiert, betrachtet werden kann: „Element der erweiterten Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals ist - genau wie bei der früher vorausgesetzten einfachen - die Reproduktion des Einzelkapitals. Geht doch die Gesamtproduktion - ob sie als einfache oder als erweiterte betrachtet wird - tatsächlich nur unter der Form von zahllosen selbständigen Reproduktionsbewegungen privater Einzelkapitale vor sich". (Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 6). Ebenso liegt es auf der Hand, dass nur in bestimmten dieser Zyklen ein externer Käufer interveniert.
[13] Diese beiden Passagen sind aus den Kapiteln 7 und 9.
[14] Diese Antwort kann unter anderem im Kapital, Bd. 3, gefunden werden: „Wie könnte es sonst an Nachfrage für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr." (Bd. 3, 15. Kapitel: Entfaltung der inneren Widersprüche des Gesetzes, Abschnitt 3: Überfluß an Kapital bei Überfluß an Bevölkerung)
[15] Die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals (d.h. das größere Wachstum des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital) im Produktionsgütersektor ist im Durchschnitt schneller als im Konsumgütersektor, angesichts der technologischen Charakteristiken dieser beiden Sektoren.
[16] Die Akkumulation des Kapitals, „Widersprüche des Schemas der erweiterten Reproduktion".
[17] Ebenda.
[18] Trotz der exzellenten Illustrationen und Interpretationen der Entwicklung des Weltkapitalismus, die er aus der Theorie von Rosa Luxemburg zog, insbesondere in Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, müssen wir uns dennoch fragen, ob Sternberg diese Theorie in ihrer Tiefe wirklich verarbeitet hat. So analysiert Sternberg im gleichen Buch die Krise der 30er Jahre als ein Resultat der Unfähigkeit des Kapitalismus während dieser Periode, die wachsende Produktion mit dem wachsenden Konsum in Einklang zu bringen: „Der Test, auf Basis der kapitalistischen Profitwirtschaft ohne größere äußere Expansion die Steigerung der Produktion und der Produktivität mit der Steigerung des Konsums zu synchronisieren, wurde nicht bestanden. Das Ergebnis war die Krise." (Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Rowohlt 1951, S. 240). Dies führt uns zur Auffassung, dass solch ein Einklang im Kapitalismus möglich ist, was der Beginn der Abkehr von der Stringenz und Kohärenz von Rosa Luxemburgs Theorie ist. Dies wird von Sternbergs Untersuchung der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt, wo er den Gedanken entwickelt, dass es möglich sei, die Gesellschaft durch Verstaatlichungen umzuwandeln und die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Die folgende Passage gibt uns eine Ahnung davon: „Die Erschütterung des Kapitalismus zwischen den beiden Weltkriegen und im Zweiten Weltkrieg selbst schuf die Basis für ein derartiges Programm. Die englische Labour-Partei ging mit ihm in die Wahlen, die 1945 stattfanden. (...) Mit der Durchführung dieses Programms wäre ein wesentlicher Schritt in der sozialistischen Umgestaltung der englischen Wirtschaft und Gesellschaft getan, und zwar ein Schritt, der weitere Schritte auf dem gleichen Wege erleichtern würde. (...) Die Labour-Partei begann in den Jahren nach dem Krieg das Mandat, das sie vom englischen Volk durch die Wahlen erhielt, durchzuführen. Es geschah hier ein erster, großer, wichtiger Schritt in der Richtung auf eine radikale Umgestaltung des kapitalistischen Staates, der kapitalistischen Gesellschaft und Wirtschaft, und zwar auf demokratischer Basis." (ebenda, S. 434/435). Das Ziel hier ist es nicht, Sternbergs Reformismus einer radikalen Kritik zu unterziehen. Es geht einfach darum, aufzuzeigen, dass seine reformistische Vorgehensweise notwendigerweise eine beträchtliche Unterschätzung der ökonomischen Widersprüche einschließt, die die kapitalistische Gesellschaft überfallen, eine Unterschätzung, die kaum vereinbar ist mit Rosa Luxemburgs Theorie, wie sie in Die Akkumulation des Kapitals entwickelt wurde.
[19] Wie in unserem Text „Die Grundlagen des Kapitalismus" veranschaulicht, der sich auf die Schriften von Paul Mattick stützt. Für Letztgenannten ist, im Unterschied zu Rosa Luxemburg, die Intervention von Käufern außerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse für die Ermöglichung der Akkumulation nicht notwendig.
[20] Fritz Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, siehe Teil 3: Die Stagnation des Kapitalismus, 1. Kapitel: Der Stop der kapitalistischen Expansion - Der Stop der äußeren Expansion des Kapitalismus, Rowohlt, S. 177
[21] Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Funktion der Schulden nicht nur darin besteht, einen künstlichen Markt zu schaffen.
[22] Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 31, Schutzzoll und Akkumulation (unsere Hervorhebungen)
[23] Antikritik, Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 5 S. 429 (unsere Hervorhebungen)
[24] „Resolution über die internationale Situation", 16. IKS-Kongress, Internationale Revue, Nr. 36
[25] „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt." (unsere Hervorhebung) Manifest, 1. Kapitel: Bourgeois und Proletarier
Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/todliche-widerspruche-der-kapitalistischen-gesellschaft
[2] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/nekrologie-des-kapitalismus
[3] https://de.internationalism.org/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[4] http://www.dicocitations.com/citations/citation-7496.php
[5] http://www.lemonde.fr/economie/article/2010/07/03/apres-cinq-mois-de-creations-d-emplois-les-etats-unis-se-remettent-a-en-detruire_1382703_3234.html
[6] https://lemonde.fr/economie/article/2010/06/29/siemens-cree-sa-banque-afin-de-s-affranchir-des-etablissements-traditionnels_1380459_3234.html
[7] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/sparprogrammkonjunkturprogramme
[8] https://de.internationalism.org/tag/3/49/politische-konomie
[9] http://www.syndikalismusforschung.info/museum.htm
[10] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/deutschland
[11] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/syndikalismus
[12] https://de.internationalism.org/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage
[13] https://www.marxists.org/archive/lenin/works/1907/nov/00.htm
[14] https://jdcrutch.home.mindspring.com/i/constitution/1908const.html
[15] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/revolutionarer-syndikalismus
[16] https://fraser.stlouisfed.org/publications/scb/page/6870
[17] https://fraser.stlouisfed.org/publications/scb/page/6870/1615/download/6870.pdf
[18] https://www.capitalisme-et-crise.info/telechargements/pdf/FR_JG_Quelles_politiques_%C2%E%C3%A9conomiques_contre_la_crise_et_le_ch%C3B4mage_1.pdf
[19] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/wirtschaftswunder