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Weltrevolution Nr. 167

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Die Mobilisierung der Empörten in Spanien und ihre Auswirkungen in der Welt: eine Bewegung welche die Zukunft in sich trägt

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Die Bewegung „15M“ in Spanien - der Name entspricht dem Datum ihrer Geburt, dem 15. Mai - ist ein Ereignis von großer Bedeutung und mit bisher unbekannten Charakteristiken. Wir wollen in diesem Artikel die prägnantesten Episoden festhalten, um zu versuchen, die Lehren aus den einzelnen Episoden zu ziehen und die Perspektiven vorzuzeichnen.

Rechenschaft ablegen über das, was wirklich geschehen ist, stellt einen notwendigen Beitrag dar, um zu verstehen, welche Dynamiken der Klassenkampf hin zu einer massiven Bewegung annimmt. Wie verschafft sich eine solche Bewegung das Selbstvertrauen, das es ihr erlaubt, die Mittel zu finden, dieser todkranken Gesellschaft eine Alternative entgegenzustellen?[1]

Das kapitalistische „No Future“ ist der wirkliche Hintergrund der Bewegung 15M

Das Wort Krise hat eine dramatische Bedeutung für Millionen von Menschen, die von lawinenartigen Angriffen auf ihre Lebensbedingungen betroffen sind. Die unbefristete Arbeitslosigkeit, die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die es verunmöglicht, dass sich eine minimale, alltägliche Stabilität einstellt, bis zu den extremsten Fällen, die direkt Ausdruck von großer Armut und Hunger sind.[2] 

Was aber am meisten beunruhigt, ist das völlige Fehlen einer Zukunftsperspektive. Dieser Zustand wurde von der Gefangenenversammlung in Madrid[3] angeprangert. Das war, wie wir sehen werden, der Funke, der das Feuer der Bewegung entfachte: „Wir finden uns einer Zukunft gegenüber, welche ohne die mindeste Hoffnung auf ein ruhiges Leben ist, wo wir uns dem widmen könnten, was uns gefallen würde“.[4] Die OECD erklärt uns, dass es 15 Jahre brauche, bis das Beschäftigungsniveau wieder auf der Höhe von 2007 sei, d.h. eine ganze Generation werde ohne Arbeit sein. Diese Zahlen können auch auf die USA und Großbritannien übertragen werden, daran sieht man, in was für eine Abwärtsspirale von Armut, Arbeitslosigkeit und Barbarei diese Gesellschaft hineingeraten ist.

Die Bewegung hat sich, wenn man sie nur oberflächlich betrachtet, auf das Zweiparteiensystem eingeschossen (auf der Rechten der Partido popular [PP] und auf der Linken die sozialistische Arbeiterpartei Spaniens [PSOE], die zusammen 86% der Stimmenden vertreten).[5] Dieser Faktor hat eine Rolle im Zusammenhang mit der Zukunftslosigkeit gespielt, nachdem die Rechten einen arroganten und arbeiterfeindlichen Ruf hatten, stellten weite Teile der Bevölkerung mit Sorge fest, dass die Angriffe vom PSOE – den angeblichen  Freunden – durchgeführt wurden. Die deklarierten Feinde des PP drohen somit für lange Zeit, sich an der Macht zu halten, ohne dass es irgendeine Alternative innerhalb des parlamentarischen Spiels noch geben würde. Dies widerspiegelt die allgemeine Blockierung der Gesellschaft.  

Dieses Gefühl wurde verstärkt durch die Haltung der Gewerkschaften, die zunächst für einen „Generalstreik“ am 29. September 2010 aufriefen, der aber nur ein Scheingefecht war, und dann im Januar 2011 einen Sozialpakt unterschrieben, der brutale Reformen gegen die Rentner vorsah und alle Möglichkeiten einer Mobilisierung unter ihrer Führung verunmöglichte.

Zu diesen Faktoren gesellte sich noch ein tiefes Gefühl der Empörung. Es ist die Folge der Krise, wie das in einer Versammlung von Valencia festgehalten wurde: dass „die Wenigen, die viel besitzen, noch weniger werden und immer mehr besitzen, währenddem die anderen, die viel zahlreicher sind, immer weniger besitzen“. Die Kapitalisten und ihr politisches Personal werden immer arroganter, gieriger und korrupter. Sie zögern nicht, riesige Vermögen anzuhäufen, während sich gleichzeitig rund um sie herum Armut und Verzweiflung verbreitet. All das lässt uns begreifen, leichter als eine Demonstration es könnte, dass die sozialen Klassen existieren und dass wir nicht „alles gleichgestellte Bürger“ sind.

Ende 2010 haben sich infolge dieser Situation Kollektive gebildet, die dazu aufgerufen haben, dass man sich auf der Strasse vereinigen müsse, dass man am Rande der Gewerkschaften und Parteien agieren muss, sich in Versammlungen organisieren … Der alte Maulwurf, von dem Marx sprach, wühlte in den Eingeweiden der Gesellschaft, indem er eine unterirdische Reifung voranbrachte, die dann im Monat Mai ans Tageslicht kam. Die Mobilisierung der „Jugend ohne Zukunft“ brachte 5000 Jugendliche in Madrid auf die Strasse. Im Übrigen waren der Erfolg der Demonstration der Jugend in Portugal – Geraçao à Rasca (die Generation am Abgrund) –, welche mehr als 200.000 Personen umfasste, und das sehr populäre Beispiel vom Tahrir-Platz in Ägypten anspornend für die Bewegung.

Die Versammlungen: ein erster Blick auf die Zukunft

Am 15. Mai berief ein Zusammenschluss von mehr als 100 Organisationen - unter dem Namen Democracia Real Ya (DRY)[6] - Demonstrationen in den großen Provinzstädten „gegen die Politiker“ ein und forderte „echte Demokratie“.

Kleine Gruppen von Jugendlichen (Arbeitslose, prekär Arbeitende und Studenten), die nicht einverstanden waren mit der Rolle eines Ventils der sozialen Unzufriedenheit, welche die Organisatoren der Bewegung zuschreiben wollten, versuchten, auf zentralen Plätzen in Madrid, Granada und anderen Städten Zelte aufzustellen, um die Bewegung fortzusetzen. DRY fiel ihnen in den Rücken und ließ den Polizeitruppen freie Hand für eine brutale Repression, die insbesondere auf den Polizeiposten verübt wurde. Doch die Opfer der Repression beriefen eine Versammlung der Verhafteten von Madrid ein und stellten innert Kürze ein Communiqué her, das die durch die Polizei verübten entwürdigenden Misshandlungen anprangerte. Dieser Schritt hinterließ einen starken Eindruck und ermutigte zahlreiche Jugendliche, sich den Zeltstätten anzuschließen.

Am Dienstag, dem 17. Mai, versuchte DRY, die Zelte in die Rolle eines symbolischen Protestes zu drängen, aber die gewaltige Masse, die zu ihnen strömte, führte unweigerlich zur Abhaltung von Vollversammlungen. Am Mittwoch und Donnerstag breiteten sich die Massenversammlungen in mehr als 73 Städte aus. Hier drückte sich ein interessantes Nachdenken über vernünftige Vorschläge aus, wo alle Aspekte des sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens behandelt wurden. Nichts, was menschlich ist, war dieser unermesslichen improvisierten Agora fremd!

Ein Demonstrantin in Madrid sagte: „Das Beste sind die Versammlungen, das Wort befreit sich, die Leute verstehen sich, man kann laut nachdenken, Tausende von Leuten, die sich nicht kennen, schaffen es, sich einig zu sein. Ist das nicht wunderbar?“ Die Versammlungen waren von einer anderen Welt, im Gegensatz zu der finsteren Atmosphäre in den Wahlbüros und Hunderte von Meilen entfernt von der Marketingbegeisterung im Wahlkampf der Bourgeoisie. „Brüderliche Umarmungen, Rufe des Entzückens und der Begeisterung, Freiheitslieder, frohes Gelächter, Humor und Freude hörte man in der vieltausendköpfigen Menge, die vom Morgen bis Abend in der Stadt wogte. Die Stimmung war eine gehobene, man könnte beinahe glauben, dass ein neues, besseres Leben auf Erden beginnt. Ein tiefernstes und zugleich idyllisches, rührendes Bild“[7]. Tausende von Menschen diskutierten leidenschaftlich und hörten sich aufmerksam zu in einer Stimmung des tiefen Respekts und in bewundernswerter Ordnung. Sie waren durch die Empörung und die Sorgen um die Zukunft vereint, aber insbesondere auch durch den Willen, die Ursachen des Elends zu begreifen; deshalb diese Anstrengungen für eine Debatte, für die Analyse einer Unzahl von Fragen, Hunderte von Sitzungen und die Schaffung von Straßenbibliotheken … Eine Anstrengung scheinbar ohne konkretes Ergebnis, aber die alle Geister in Bewegung gebracht und den Samen des Bewusstseins in die Felder der Zukunft gesät hat.

In subjektiver Hinsicht steht der Klassenkampf auf zwei Pfeilern: einerseits auf dem Bewusstsein, andererseits auf dem Vertrauen und der Solidarität. Gerade auch bei diesem zweiten Aspekt waren die Versammlungen Träger der Zukunft: die menschlichen Beziehungen, die gewoben wurden, der Strom von Empathie, der die Plätze belebte, die Solidarität und die Einheit, die blühten, hatten mindestens ebenso viel Bedeutung wie die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen oder sich auf eine bestimmte Forderung zu einigen. Die Politiker und die Presse verlangten wütend mit der charakteristischen Ungeduld und dem typischen Utilitarismus der bürgerlichen Ideologie, dass die Bewegung ihre Forderungen in einem „Protokoll“ zusammenfasse, was DRY dann versuchte, in einen „Dekalog“ zu verwandeln, der alle lächerlichen und stumpfen demokratischen Maßnahmen wie Listen der offenen Kandidaten, Gesetzesinitiativen und die Reform des Wahlgesetzes aufführte.

Der eifrige Widerstand, auf den diese überstürzten Maßnahmen stießen, veranschaulichte, wie die Bewegung die Zukunft des Klassenkampfs ausdrückte. In Madrid schrien die Leute: „Wir gehen nicht langsam, sondern wir werden sehr weit gehen!“ In einem offenen Brief an die Versammlungen sagte eine Gruppe von Madrid: „Das schwierigste besteht darin, zusammenzufassen, was unsere Demonstrationen wollen. Wir sind überzeugt, dass es nicht um etwas Einfaches geht, wie es die eigennützigen Politiker und all jene gerne hätten, die wollen, dass sich nichts ändert, oder besser gesagt: jene, die einige Einzelheiten ändern wollen, damit es im übrigen bleibt, wie es ist; dass sich unser Protest nicht ausdrückt und stärkt, indem er plötzlich einen „Forderungskatalog“ vorschlägt oder einen kleinen Forderungshaufen schafft“[8].

Die Anstrengung, die Ursachen einer dramatischen Lage und einer unsicheren Zukunft zu begreifen und die beste Art zu finden, wie folglich zu kämpfen ist, stellte die Achse der Versammlungen dar. Von daher ihr beschlussfassender Charakter, der all jene verwirrte, die auf einen Kampf hofften, der auf präzise Forderungen ausgerichtet ist. Die Anstrengung zu Überlegungen über ethische, kulturelle, künstlerische und literarische Fragen (es gab Interventionen in Form von Liedern oder Gedichten), hat fälschlicherweise das Gefühl entstehen lassen, es handle sich um eine kleinbürgerliche Bewegung „von Empörten“. Wir müssen hier die Spreu vom Weizen trennen. Jene ist sicher in der demokratischen und bürgerlichen Hülle zu finden, die oft die auf die Straße getragenen  Anliegen umwickelten. Aber diese sind vom Weizen, denn die revolutionäre Umwandlung der Welt stützt sich auf eine gewaltige kulturelle und ethischen Veränderung  - und stimuliert diese gleichzeitig; „die Welt und das Leben verändern, indem wir uns selber verändern“, das ist die revolutionäre Devise, die Marx und Engels in der Deutschen Ideologie vor mehr als anderthalb Jahrhunderten formulierten: „dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden“[9].

Die massenhaften Vollversammlungen waren in erster Linie Ausdruck einer Antwort gegenüber einem generellen gesellschaftlichen Problem, welches wir schon seit mehr als 20 Jahren thematisieren: der soziale Zerfall des Kapitalismus. In den „Thesen über den Zerfall“, die wir damals schrieben[10], beschrieben wir die Tendenz des Zerfalls der Ideologie und des Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, die einhergeht mit der Auflösung der sozialen Beziehungen, die auch die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum erfasst. Die Arbeiterklasse kann dem nicht entfliehen, da sie Berührungspunkte mit dem Kleinbürgertum hat. Wir betonten in diesem Dokument gegen den Effekt dieser Entwicklung folgendes: „1.) Das kollektive Handeln, die Solidarität; all das hebt sich ab von der Atomisierung, dem Verhalten, 'Jeder für sich', 'jeder schlägt sich individuell durch; 2.) Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerbröckelung der Verhältnisse, auf die jede Gesellschaft baut; 3.) Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft immer mehr überhand nimmt, durch den Nihilismus, durch die Ideologie des 'No future'; 4.) Das Bewusstsein, die Klarheit, die Kohärenz und den Zusammenhalt des Denkens, den Geschmack für die Theorie, all diese Elemente müssen sich behaupten gegenüber den Fluchtversuchen, der Gefahr der Drogen, der Sekten, dem Mystizismus, der Verwerfung der theoretischen Überlegungen, der Zerstörung des Denkens, d.h. all den destruktiven Elementen, die typisch sind für unsere Epoche.“

Was die massiven Vollversammlungen in Spanien zeigen – gleich wie 2006 in Frankreich während der Mobilisierungen der Studenten[11] ist, dass die dem Zerfall gegenüber empfindlichsten Sektoren - die Jugend und die Arbeitslosen (aufgrund der geringen Erfahrung im Arbeitsleben) – sich dennoch in der Vorhut der Vollversammlungen befanden und sich bemühten, das Bewusstsein, die Solidarität und eine Empathie zu entwickeln.

Aus all diesen Gründen sind die massenhaften Vollversammlungen ein erster Vorgeschmack dessen, was vor uns steht. Für diejenigen, die erwarten, dass die Arbeiterklasse wie ein Gewitter aus heiterem Himmel auf den Plan tritt und klar und ohne Schwankungen als revolutionäre Klasse der Gesellschaft handelt, ist dies sicher sehr unbefriedigend. Dennoch, aus einem geschichtlichen Blickwinkel und unter Einbezug der enormen Schwierigkeiten, vor denen das Proletariat steht, um dieses Ziel zu erreichen, sind diese Ereignisse ein guter Anfang, weil das subjektive Terrain klar vorangetrieben wird.

Paradoxerweise waren diese Charakteristiken auch die Achillesverse der „M15“-Bewegung, wie es sich in der ersten Phase ihres Entstehens ausdrückte. Entstanden ohne klares Ziel, waren die Ermüdung und die Schwierigkeit, über erste Schritte hinauszugehen, große Probleme. Die Abwesenheit von Bedingungen für die Arbeiterklasse, auch an den Arbeitsplätzen in den Kampf einzutreten, hatten die Bewegung in eine Leere stürzen lassen und auf ein vages Terrain gebracht, das sich nicht lange halten konnte. DRY konnte dort mit ihren Forderungen nach „demokratischen Reformen“, die angeblich „leicht“ und „realisierbar“ seien, einhaken, sie waren aber nur utopisch und reaktionär.

Fallen, die der Bewegung lauerten

Während nahezu zwei Jahrzehnten hat die weltweite Arbeiterklasse einen Gang durch eine Wüste durchmachen müssen, gezeichnet von der Abwesenheit massiver Kämpfe und vor allem einem Verlust an Selbstvertrauen und Identität als Klasse[12]. Auch wenn diese Atmosphäre vorüber ist und seit 2003 fortschreitend bedeutende Kämpfe in verschiedenen Ländern und die Herausbildung einer neuen Generation von revolutionären Minderheiten Realität sind, so bleibt das stereotype Bild einer Arbeiterklasse, die „sich nicht bewegt“ und die „komplett abwesend“ ist, noch heute dominant.

Das plötzliche Eintreten großer Massen auf die soziale Bühne ist mit dem Gewicht dieser Vergangenheit beladen. Ein Gewicht, welches auf einer Bewegung sozialer Schichten, die auf dem Weg hin zur Proletarisierung sind und die auch anfällig sind für die Fallen der Demokratie und des „Bürger-Gedankens“, besonders lastet. Dazu kommt die Tatsache, dass die Bewegung nicht als Antwort auf einen konkreten Angriff entstanden ist. Sie ist aus einem Paradoxon hervorgegangen, welches nicht neu ist in der Geschichte[13], bei dem die beiden großen Klassen der Gesellschaft – das Proletariat und die Bourgeoisie – einem offenen Kampf ausweichen, was den Eindruck einer friedlichen Bewegung unter „Zustimmung aller“ erweckt[14].

Doch in der Realität war die Konfrontation zwischen den verschiedenen Klassen vom ersten Tag an präsent. Gab die PSOE-Regierung nicht eine klare Antwort mit ihrer brutalen Repression gegen eine Handvoll junger Leute? War es nicht die sofortige und leidenschaftliche Antwort der Vollversammlungen an die Inhaftierten von Madrid, welche die Bewegung entfesselte? War es nicht die Denunzierung dieser Ereignisse, welche vielen jungen Menschen die Augen öffnete, welche dann skandierten: „Sie nennen es Demokratie, doch das ist es nicht!“? Eine schwammige Parole, die dann von einer Minderheit in: „Sie nennen es Diktatur, und es ist eine!“ umgewandelt wurde.

Für alle, welche denken, der Klassenkampf sei ein Ergebnis „starker Emotionen“, ist der „friedliche“ Aspekt der Vollversammlungen etwas, das sie meinen lässt, diese seien nichts weiter als die „Ausübung eines harmlosen verfassungsmäßigen Rechtes“. Auch viele Teilnehmer glaubten wirklich, dass ihre Bewegung darauf reduziert sei.

Doch die Vollversammlungen auf den öffentlichen Plätzen mit den Parolen „Nehmen wir uns den Platz, den wir brauchen!“ drückten eine Infragestellung der demokratischen Ordnung aus. Was die sozialen Beziehungen bestimmt und das Gesetz absegnet, ist, dass sich die ausgebeutete Mehrheit um „ihre Dinge“ kümmern soll, und wenn sie „teilnehmen“ will an den öffentlichen Angelegenheiten, so soll sie die Stimme an der Urne abgeben und den gewerkschaftlichen Protest wählen, Formen welche nur noch mehr zur Atomisierung und Individualisierung beitragen. Sich versammeln, Solidarität leben, gemeinsam diskutieren, als kollektiver unabhängiger sozialer Körper handeln, das ist in Wirklichkeit eine unwiderstehliche Kraft gegen die bürgerliche Ordnung.

Die herrschende Klasse unternahm alles, um die Vollversammlungen zu beenden. Vordergründig zum Schein mit der widerlichen Heuchelei, die sie charakterisiert, spendete sie Lob und Augengezwinker an die „Empörten“, doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus.

Angesichts des nahenden Wahltages am Sonntag, 22. Mai hatte die zentrale Wahlversammlung beschlossen, Vollversammlungen für den Samstag, 21. Mai im ganzen Lande zu verbieten, zu welchen als „Tag des Nachdenkens“ aufgerufen wurde. Ab Samstag Mitternacht kreiste ein enormes Aufgebot von Polizisten die Puerta del Sol ein, doch die Polizei wurde daraufhin selbst von einer riesigen Menschenmenge eingekesselt, was den Innenminister drängte, zum Rückzug zu blasen. Mehr als 20`000 Menschen besetzten in einer Explosion der Freude den Platz. Wir sehen hier eine andere Konfrontation zwischen den Klassen, auch wenn sich die offene Gewalt auf wenige Ausbrüche reduzierte.

DRY schlägt vor, die Camps aufrecht zu erhalten, für Ruhe zu sorgen, um damit die „Tage des Nachdenkens“ zu respektieren, aber keine Vollversammlungen zu machen. Doch niemand folgt ihnen und die Versammlungen am Samstag, dem 21., die formell illegal sind, verzeichnen die größte Beteiligung. In der Vollversammlung in Barcelona verkünden Schilder, im Chor gerufene Parolen und Plakate als Antwort auf die Wahlversammlung: „Wir sind diejenigen, die nachdenken!“.

Am Sonntag, dem 22. Mai, dem Tag der Wahlen, wurde ein weiterer Versuch gestartet, die Vollversammlungen zu beenden. DRY verkündete: „die Ziele sind erreicht“ und dass sich die Bewegung auflösen solle. Die Antwort kam postwendend: „Wir sind nicht hier für die Wahlen!“. Am Montag und Dienstag 23./24. erreichten die Vollversammlungen bezüglich Beteiligung und Qualität der Diskussionen ihren Höhepunkt. Die Redebeiträge, Parolen und Schilder manifestierten ein vertieftes Nachdenken: „Wo ist denn die Linke? Schlussendlich bei den Rechten!“, „Die Urnen enthalten nicht unsere Träume!“, „600 Euros pro Monat, das ist Gewalt!“, „Wenn ihr uns nicht träumen lässt, dann stören wir euren Schlaf!“, „Ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne Angst!“, „Sie haben unsere Großeltern betrogen, sie haben unsere Kinder betrogen, sie werden unsere Enkelkinder nicht betrügen!“. Es tauchte aber auch ein Bewusstsein über die Perspektiven auf: „Wir sind die Zukunft, der Kapitalismus ist die Vergangenheit!“, „Alle Macht den Vollversammlungen!“, „Es gibt keine Entwicklung ohne Revolution!“, „Die Zukunft beginnt jetzt!“, „Glaubst du noch immer, dass es eine Utopie ist?“

Nach diesem Höhepunkt flauen die Vollversammlungen ab. Einerseits wegen der Ermüdung, aber auch wegen den permanenten Bombardement der DRY, man müsse ihren «Demokratischen Dekalog» akzeptieren. Die Punkte des Dekalogs sind alles andere als neutral, sie richten sich direkt gegen die Vollversammlungen. Die „radikalste“ Forderung, die „gesetzgebende Volksinitiative“[15], welche endlose parlamentarische Verfahren zu überwinden vorgibt, entmutigt selbst die Hartnäckigsten, denn sie ersetzt jegliche massenhafte Debatte oder alle Gefühle, an einem kollektiven politischen Leben teilzunehmen, durch individuelles Handeln, als Bürger, eingekerkert in den Mauern des Gesetzes.[16]             

Die Sabotage von Innen ergänzte sich mit den repressiven Angriffen von Außen, welche aufzeigten, wie heuchlerisch die herrschende Klasse ist, wenn sie vorgibt, dass Versammlungen ein „Recht in der Verfassung des Staates“ seien. Am Freitag 27. unternimmt die Katalanische Regierung – in Absprache mit der Zentralregierung – einen Sturmangriff: die „mossos de esquadra“ (Polizeitruppe der Region) stürmten die Plaça de Catalunya in Barcelona und schlugen wild drauflos. Es gab zahlreiche Verletzte und Verhaftungen. Die Vollversammlung von Barcelona – bis anhin die am meisten von Klassenpositionen geprägte – lief in die Falle der klassischen demokratischen Forderungen: Eine Petition für die Absetzung des Ministers des Inneren, Zurückweisung der „übertriebenen“ Repression“[17], Forderung nach einer „demokratischen Kontrolle der Polizei“. Ihre Kehrtwendung wurde noch offensichtlicher als sie dem nationalistischen Gift erlag und in ihre Forderungen das „Recht auf Selbstbestimmung“ einfügte.

Die Repression steigerte sich in der Woche vom 5.-12. Juni: Valencia, Santiago de Compostela, Salamanca… Der brutalste Angriff aber wurde vom 14. auf den 15. Juni in Barcelona verübt. Das Katalanische Parlament diskutierte ein Gesetz namens Omnibus, welches harte soziale Abbaumaßnahmen vorsieht, vor allem im Schul- und Gesundheitssektor (im letzteren  unter anderem 15000 Entlassungen). DRY rief, komplett außerhalb jeglicher Dynamik der Versammlungen der Arbeiter, zu einer „pazifistischen Demonstration“ auf, welche das Parlamentsgebäude einkreisen sollte, um „die Parlamentarier daran zu hindern, über ein ungerechtes Gesetz abzustimmen“. Es handelte sich dabei um eine typische symbolische Aktion, welche anstelle eines Kampfes gegen ein Gesetz und gegen die Institutionen, die es lancieren, sich an das „Bewusstsein“ der Parlamentarier richtet. Den in die Falle gelockten Demonstranten blieb nur die Wahl zwischen zwei falschen Alternativen: das demokratische Terrain und das hilflose Jammern der Mehrheit oder, das Gegenteil, die „radikale“ Gewalt einer Minderheit.

Beleidigungen und Handgreiflichkeiten gegenüber einigen Parlamentariern wurden zum Vorwand einer hysterischen Kampagne, welche die „Gewalttätigen“ kriminalisierte (Leute, die Klassenpositionen vertraten, wurden in dieselbe Ecke gestellt) und dazu aufrief, „die gefährdeten demokratischen Institutionen zu verteidigen“. Um die Schleife ganz zusammen zu ziehen, übersah DRY seinen Pazifismus und spornte die Demonstranten an, gegen die „gewalttätigen“ Demonstranten[18] vorzugehen, und forderte sogar offen, diese an die Polizei auszuliefern und Letzterer auch noch für ihre „guten Dienste“ zu applaudieren!

Die Demonstrationen des 19. Juni und die Ausdehnung auf die Arbeiterklasse

Von Anfang an hat die Bewegung zwei Seelen in ihrer Brust gehabt: einerseits eine durch Verwirrungen und Zweifel genährte, sehr breite demokratische Seele, die zum sozial heterogenen Charakter und der Tendenz passt, der direkten Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Aber es gab auch eine proletarische Seele, die sich in den Versammlungen[19] und einer immer gegenwärtigen Tendenz ausdrückte, „auf die Arbeiterklasse zuzugehen“.

An der Versammlung von Barcelona beteiligten sich Arbeiter der Telekommunikation und des Gesundheitswesens, Feuerwehrmänner, Studenten der Universität, die sich gegen die Angriffe im Sozialbereich wehrten. Sie setzen einen Ausschuss zur Ausdehnung und für den Generalstreik ein, dessen Debatten sehr lebhaft sind, und organisieren ein Netz der empörten Arbeiter von Barcelona, das eine Versammlung von kämpfenden Betrieben für Samstag, den 11. Juni einberuft, dann ein Treffen für Samstag, den 3. Juli. Am Freitag, dem 3. Juni, demonstrieren Arbeitslose und Beschäftigte auf der Plaça de Catalunya unter einem Transparent, auf dem steht: "Nieder mit der Gewerkschaftsbürokratie! Generalstreik!". In Valencia unterstützt die Versammlung eine Demonstration der Arbeiter der öffentlichen Verkehrsbetriebe und auch eine Quartierdemonstration, die gegen die Kürzungen im Schulsektor protestiert. In Saragossa schließen sich die Arbeiter des öffentlichen Verkehrs der Versammlung mit Begeisterung an[20]. Die Versammlungen beschließen Quartiersversammlungen zu bilden[21].

In der Demonstration des 19. Juni stärkt sich die „proletarische Seele“ erneut. Diese Demonstration wird von den Versammlungen von Barcelona, Valencia und Malaga einberufen und ist gegen die Kürzungen im Sozialbereich gerichtet. DRY versucht, sie zu beschneiden, indem sie nur demokratische Parolen vorschlägt. Dies ruft Widerstand hervor, der sich in Madrid in der spontanen Initiative ausdrückt, zum Kongress zu gehen, um gegen die Angriffe zu demonstrieren; an dieser Demonstration beteiligen sich mehr als 5.000 Personen. Außerdem erlässt eine Koordination der Quartiersversammlungen des Südens von Madrid, die nach dem Fiasko des Streiks des 29. September ins Leben gerufen wurde und eine Richtung eingenommen hat, die stark jener der interprofessionellen (verschiedene Berufsgruppen umfassenden) Vollversammlungen ähnelt, die in Frankreich in der Hitze der Ereignisse des Herbstes 2010 gebildet wurden, den folgenden Aufruf: „Aus der Bevölkerung und den Arbeiterquartieren von Madrid gehen wir zum Kongress, wo, ohne uns zu fragen, die Kürzungen im Sozialbereicht beschlossen werden, um zu sagen: basta! (…) Diese Initiative geht von einer Auffassung der Basisversammlungen im Arbeiterkampf aus, gegen all jene, die Entscheidungen hinter dem Rücken der Arbeiter fällen, ohne sie nach ihrer Zustimmung zu fragen. Weil der Kampf lang ist, möchten wir dich ermutigen, dich in den Versammlungen der Stadt oder des Stadtviertels zu organisieren, oder am Arbeits- und Studienplatz.“

Die Demonstrationen des 19. Juni werden zum Erfolg, die Unterstützung ist in mehr als 60 Städten massenhaft, aber noch wichtiger ist ihr Inhalt. Sie sind eine Antwort auf die brutale Kampagne gegen „die Gewalttätigen“. Diese Antwort ist Ausdruck einer Reifung zahlreicher Debatten unter den Aktivsten der Bewegung[22]; so ist die am häufigsten ausgegebene Parole zum Beispiel in Bilbao: „Gewalt ist, wenn die Kohle nicht bis zum Monatsende reicht!“ oder in Valladolid: „Gewalt = Arbeitslosigkeit und Räumungen!“.

Es ist aber insbesondere die Demonstration in Madrid, welche die Kurve des 19. Juni in Richtung Zukunft nimmt. Sie wird durch ein Organ einberufen, das direkt mit der Arbeiterklasse verknüpft ist und aus ihren aktivsten Minderheiten hervorgegangen ist[23]. Das Thema dieser Versammlung ist: „Marschieren wir gemeinsam gegen die Krise und das Kapital“. Die Forderungen sind: „Nein zu den Kürzungen von Löhnen und Renten; um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: Arbeiterkampf gegen die Erhöhung der Preise, für die Erhöhung der Löhne, für die Erhöhung der Steuern der Bestverdienenden, zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes, gegen die Privatisierung des Gesundheitswesen und der Bildung … Es lebe die Einheit der Arbeiterklasse!“[24]

Ein Kollektiv von Alicante nimmt dasselbe Manifest an. In Valencia verteilt ein "Autonomer und antikapitalistischer Block" aus mehreren sehr aktiven Kollektiven in den Versammlungen ein Manifest, in dem steht: "Wir wollen eine Antwort auf die Arbeitslosigkeit. Auf dass die Arbeitslosen, die Prekarisierten, die schwarz Arbeitenden, sich in Versammlungen treffen und dass sie gemeinsam über ihre Forderungen entscheiden, und dass diese erfüllt werden. Wir verlangen den Widerruf der Revision des Arbeitsgesetzes und von jener Gesetzesänderung, die Sozialpläne ohne Kontrolle und mit einer Entschädigung von nur 20 Tagen erlaubt. Wir verlangen den Widerruf des Gesetzes über die Rentenreform, denn nach einem Leben von Entbehrungen und Elend wollen wir nicht in noch mehr Elend und Unsicherheit dahin siechen. Wir verlangen, dass die Räumungen und Ausweisungen aufhören. Das menschliche Bedürfnis nach einer Wohnung wiegt schwerer als die blinden Gesetze des Handels und des Strebens nach Profit. Wir sagen NEIN zu den Kürzungen im Gesundheits- und Schulwesen, NEIN zu den künftigen Entlassungen, welche die regionalen Regierungen und die Gemeindevorsteher nach den letzten Wahlen vorbereiten.[25]

Zur Demo in Madrid haben sich die Leute in mehreren Zügen zusammengefunden, die von sieben Vororten und weiteren Quartieren der Peripherie losmarschieren; in dem Maße, wie diese Züge vorrücken, stoßen immer mehr Menschen dazu. Diese Massen knüpfen an die Arbeitertradition der Streiks von 1972-76 in Spanien (aber auch die Tradition von 1968 in Frankreich) an, wo, ausgehend von einer Arbeiterkonzentration oder einer „Brennpunkt-Fabrik“ wie seinerzeit der Standard in Madrid, die Demonstrationen wachsende Massen von Jugendlichen, Bewohnern, Arbeitslosen, Arbeitern anzogen, und diese ganze Masse ins Zentrum der Stadt strömte. Diese Tradition ist im Übrigen bereits in den Kämpfen von Vigo von 2006 und 2009 wieder erwacht.[26]

In Madrid ruft das während der Kundgebung verlesene Manifest dazu auf,  „Versammlungen zur Vorbereitung des Generalstreiks“ abzuhalten, was mit Rufen: „Es lebe die Arbeiterklasse!" quittiert wird.

Begeisterung ja, aber nicht kopflos

Die Demonstrationen des 19. Juni lösen Gefühle der Begeisterung aus; eine Demonstrantin in Madrid erklärt: „Es war eine richtige Feststimmung. Wir gingen alle zusammen, sehr verschiedene Leute und sehr verschiedenen Alters: von den Jugendlichen um die 20 bis zu den Rentnern, Familien mit ihren Kindern, und noch mal andere Menschen … und das, während Leute von ihren Balkonen aus uns zu applaudieren. Ich kam erschöpft nach Hause, aber mit strahlender Freude. Ich hatte nicht nur  das Gefühl, soeben meinen Beitrag zu einer guten Sache geleistet zu haben, sondern hatte darüber hinaus einen starken Moment erlebt“. Ein anderer sagt: „Es ist wirklich wichtig, all diese an einem Ort versammelten Leute zu sehen, die politisch diskutieren oder die für ihre Rechte kämpfen. Habt ihr nicht das Gefühl, dass wir daran sind,  die Straße zurück zu erobern?“

Nach den ersten Explosionen, die von den Versammlungen als solche der „Suche“ bezeichnet wurden, beginnt die Bewegung jetzt, den offenen Kampf zu suchen, beginnt vorauszusehen, dass die Solidarität, die Vereinigung, der Aufbau einer gemeinsamen Stärke zum Erfolg führen können[27]. Die Idee beginnt sich zu verbreiten, dass „wir stark sein können gegenüber dem Kapital und seinem Staat!“ und dass der Schlüssel zu dieser Stärke der Eintritt der Arbeiterklasse in den Kampf sein wird. In den Quartiersversammlungen in Madrid war eine der geführten Debatten zum Thema der Einberufung eines Generalstreiks im Oktober, mit dem „die Kürzung der Sozialleistungen“ bekämpft werden soll. Die Gewerkschaften CCOO und UGT schrien entsetzt, dass diese Einberufung „illegal“ sei, und dass sie allein dies machen dürften, worauf viele Sektoren laut und stark antworteten: „Einzig die Massenversammlungen können ihn einberufen“.

Wir dürfen uns aber nicht von der Euphorie mitreißen lassen, der Eintritt der Arbeiterklasse in den Kampf wird kein einfaches Unterfangen sein. Die Illusionen und Verwirrungen in der Frage der Demokratie, der Bürgergesichtspunkt, die „Reformen“ wiegen schwer und werden verstärkt durch den Druck von DRY, der Politiker, der Medien, welche die Zweifel und die vorherrschende Ungeduld, „sofort greifbare Resultate“ zu haben, ausnutzen, aber auch die Angst angesichts der Gewaltigkeit der Fragen, die sich stellen. Es ist besonders wichtig zu verstehen, dass die Mobilisierung der Arbeiter an ihren Arbeitsstätten heute wirklich sehr schwierig ist wegen des hohen Risikos, den Arbeitsplatz zu verlieren und ohne Einkommen da zu stehen, was für viele bedeutet, die Grenze zwischen einem elenden, aber erträglichen Leben und einem elenden Leben in extremer Armut zu überschreiten.

Nach den demokratischen und gewerkschaftlichen Kriterien ist ein Kampf die Summe individueller Entscheidungen. Sind Sie nicht unzufrieden? Fühlen Sie sich nicht zertreten? Wenn Sie sich so fühlen: Warum lehnen Sie sich dann nicht auf? Es wäre so einfach, wenn es für den Arbeiter nur darum ginge, zu wählen, ob er „mutig“ oder „feige“ sein wolle, allein mit seinem Gewissen, wie in einem Wahlbüro! Der Klassenkampf folgt diesem idealistischen und den wahren Prozess verfälschenden Schema nicht, er ist vielmehr das Ergebnis von kollektiver Stärke und ebensolchem Bewusstsein, die sich nicht allein aus dem Unbehagen in einer unerträgliche Lage nähren, sondern auch die Wahrnehmung voraussetzen, dass es möglichst sei, gemeinsam zu kämpfen, und dass es ein Mindestmaß an Solidarität und Entschlossenheit gebe, das den Kampf ermöglichte.

Eine solche Situation ist das Produkt eines unterirdischen Vorgangs, der auf drei Pfeilern gründet: die Organisation in offenen Versammlungen, die es erlauben, sich der verfügbaren Kräfte und der nächsten Schritte bewusst zu werden, die es braucht, um stärker zu werden; das Bewusstsein, um zu bestimmen, was wir wollen und wie wir es erkämpfen; die Kampfbereitschaft angesichts der Unterhöhlungsarbeit der Gewerkschaften und aller Mystifizierungorgane.

Dieser Prozess läuft bereits, aber es ist schwierig zu wissen, wann und wie er sich Bahn brechen wird. Ein Vergleich kann uns vielleicht helfen. Beim großen massenhaften Streik vom Mai 68[28] gab es am 13. Mai eine gigantische Demonstration in Paris zur Unterstützung der brutal unterdrückten Studenten. Das Stärkegefühl, das sie freisetzte, äußerte sich schon vom nächsten Tage an in einer Reihe von spontan ausbrechenden Streiks wie jenem von Renault in Cléon und dann Paris. Dies ist aber nach den großen Demonstrationen des 19. Juni in Spanien nicht passiert. Warum?

Die Bourgeoisie war im Mai 1968 politisch kaum vorbereitet, um der Arbeiterklasse entgegen zu treten, die Repression goss bloß Öl ins Feuer; heute dagegen kann sie sich in zahlreichen Ländern auf einen hoch ausgeklügelten Apparat von Gewerkschaften und Parteien stützen und ideologische Kampagnen lancieren, die auf der Demokratie beruhen und einen politisch sehr wirksamen Einsatz der selektiven Repression erlauben. Heute erfordert die Aufnahme eines Kampfes eine viel höhere Anstrengung des Bewusstseins und der Solidarität, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

Im Mai 1968 stand die Krise gerade an ihrem Anfang, heute dagegen reißt sie den Kapitalismus klar in eine Sackgasse. Diese Situation schüchtert ein, sie erschwert die Aufnahme eines Streiks, selbst wenn es nur um eine „einfache“ Lohnerhöhung gehen würde. Der Ernst der Lage führt dazu, dass Streiks ausbrechen, weil „das Fass voll“ ist, aber daraus müsste sich dann die Schlussfolgerung ergeben, dass „das Proletariat nur die Ketten zu verlieren und eine Welt zu gewinnen“ hat.

Diese Bewegung hat keine Grenzen

Der Weg scheint also länger und schmerzhafter als im Mai 1968 zu sein, aber die Grundlagen, die sich bilden, sind tragfähiger. Eine der heutigen Stärken ist, das man sich als Teil einer internationalen Bewegung sieht. Nach einer „Versuchsphase“ mit einigen massenhaften Bewegungen (der Studentenbewegung in Frankreich im Jahre 2006 und der Revolte der Jugend in Griechenland im Jahre 2008[29]), reißt nun schon während neun Monaten eine Folge sehr viel breiterer Bewegungen nicht ab, welche die Möglichkeit aufscheinen lassen, die barbarische Hand des Kapitalismus zu lähmen: Frankreich im Herbst 2010, Großbritannien im November und Dezember 2010, Ägypten, Tunesien, Spanien und Griechenland im Jahre 2011.

Das Bewusstsein, dass die Bewegung „15M“ Teil dieser internationalen Serie ist, beginnt sich in Ansätzen zu entwickeln. Die Parole „Diese Bewegung hat keine Grenzen“ wurde durch eine Demonstration in Valencia aufgenommen. Demonstrationen „für eine europäische Revolution“ wurden von verschiedenen Zeltlagern organisiert; am 15. Juni gab es Demonstrationen zur Unterstützung des Kampfes in Griechenland, und sie wiederholten sich am 29. Am 19. begannen bei Minderheiten internationalistische Parolen aufzutauchen - auf einem Transparent stand: „Glückliche weltweite Vereinigung!“ und auf einem anderen stand auf Englisch: „World Revolution“.

Während Jahren diente der linken Bourgeoisie das, was sie die „Globalisierung der Wirtschaft“ nannte, als Vorwand für die Propagierung nationalistischer Reaktionen; ihr Diskurs bestand darin, die „nationale Souveränität“ angesichts „staatenloser Märkte“ zu fordern. Sie schlug den Arbeitern nichts Geringeres vor als, nationalistischer zu sein als die Bourgeoisie! Mit der Entwicklung der Krise, aber auch dank der allgemeinen Verbreitung des Internets, der sozialen Netzwerke usw. beginnt die Arbeiterjugend, diese Kampagnen gegen ihre Autoren zu wenden. Die Idee setzt sich durch, dass man „angesichts der Globalisierung der Wirtschaft mit der internationale Globalisierung der Kämpfe“ antworten müsse, dass angesichts des weltweiten Elends die einzig mögliche Antwort der weltweite Kampf ist.

Der „15M“ hatte eine breite Wirkung auf internationaler Ebene. Die Mobilisierungen in Griechenland folgen seit zwei Wochen demselben „Modell“ von massenhaften Versammlungen auf dem wichtigsten Platz der Stadt; sie haben sich bewusst von den Ereignissen in Spanien[30] leiten lassen. Nach Kaosenlared vom 19. Juni ist „es nun schon der vierte Sonntag in Folge, wo Tausende von Personen jeden Alters auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament demonstrieren; sie folgen einem Aufruf der paneuropäischen Bewegung der „Empörten“, um gegen die Sparmaßnahmen zu protestieren“.

In Frankreich, Belgien, Mexiko, Portugal finden regelmäßige Versammlungen von kleinen Minderheiten statt, wo sich Leute mit den Empörten solidarisieren und versuchen, die Debatte und die Antwort voranzutreiben. In Portugal schlossen sich „etwa 300 Personen, in ihrer Mehrheit Jugendliche, am Sonntagnachmittag im Zentrum von Lissabon einem Aufruf von Democracia Real Ya an, Bezug nehmend auf die spanischen Empörten. Die portugiesischen Demonstranten marschierten ruhig hinter einem Transparent, auf dem man lesen konnte: „Spanien, Griechenland, Irland, Portugal: unser Kampf ist international!““[31]

Die Rolle der aktiven Minderheiten bei der Vorbereitung neuer Kämpfe

Die weltweite Schuldenkrise veranschaulicht die Ausweglosigkeit der Krise des Kapitalismus. In Spanien wie in den anderen Ländern hagelt es frontale Angriffe, und es gibt keine Feuerpause, im Gegenteil folgen neue und schlimmere Tiefschläge gegen unsere Lebensbedingungen. Die Arbeiterklasse muss antworten, und zu diesem Zweck muss sie sich auf den Impuls stützen, den die Versammlungen vom Mai und die Demonstrationen des 19. Juni gaben.

Um diese Antworten vorzubereiten, bringt die Arbeiterklasse aktive Minderheiten hervor; GenossInnen, die versuchen, die Ereignisse zu begreifen; sich politisieren, die Debatten, Aktionen, Sitzungen, Versammlungen beleben; versuchen, jene zu überzeugen, die noch zweifeln; denen Argumente bringen, die welche suchen. Wie wir es zu Beginn sahen, trugen diese Minderheiten zum Entstehen des „15M“ bei.

Mit ihren bescheidenen Kräften hat sich die IKS an der Bewegung beteiligt und versucht, Orientierungen zu geben. „Während einer Kraftprobe zwischen den Klassen erlebt man wichtige und schnelle Fluktuationen, bei denen man wissen muss, wie man sich - geleitet von Prinzipien und Analysen - zu orientieren hat, ohne unterzugehen. Man muss in der Strömung der Bewegung sein und wissen, wie die „allgemeinen Ziele“ zu konkretisieren sind, um auf die wirklichen Anliegen eines Kampfes zu antworten, um die positiven Tendenzen, die sich zeigen, zu unterstützen und zu stimulieren“[32]. Wir haben zahlreiche Artikel geschrieben, die versuchen, die verschiedenen Phasen zu begreifen, durch die die Bewegung gegangen ist, indem wir konkrete und realisierbare Vorschläge gemacht haben: das Auftauchen der Versammlungen und ihre Vitalität, der Angriff von DRY gegen sie, die Falle der Repression, die Wende, die die Demonstrationen des 19. Juni darstellen[33].

Ein weiteres Bedürfnis der Bewegung ist die Debatte, weshalb wir auf unserer Webseite in spanischer Sprache eine Rubrik mit dem Titel „Debates del 15M“ eröffnet haben, wo sich GenossInnen mit verschiedenen Analysen und Positionen zu Wort melden können.

Mit anderen Kollektiven und aktiven Minderheiten zusammen zu arbeiten, war eine weitere Priorität für uns. Wir haben uns koordiniert und an gemeinsame Initiativen teilgenommen mit dem Círculo obrero de debate von Barcelona, der Red de Solidaridad von Alicante und verschiedenen Versammlungskollektiven von Valencia.

In den Versammlungen haben unsere Mitglieder zu konkreten Punkten interveniert: Verteidigung der Versammlungen, den Kampf auf die Arbeiterklasse ausrichten, Anregung von massenhaften Versammlungen in den Arbeits- und Studienzentren, Zurückweisung der demokratischen Forderungen, um sie durch den Kampf gegen die Kürzungen der Sozialausgaben zu ersetzen, die Unmöglichkeit, den Kapitalismus zu reformieren oder zu demokratisieren, während umgekehrt die einzige realistische Möglichkeit seine Zerstörung ist[34]. Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir auch aktiv an Quartiersversammlungen teilgenommen.

Nach dem „15M“ hat sich die Minderheit, die für eine Klassenorientierung eintritt, vergrößert und ist dynamischer sowie einflussreicher geworden. Sie sollte jetzt zusammen bleiben, eine Debatte führen, sich auf nationaler und internationaler Ebene koordinieren. Gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse muss sie eine Position behaupten, die ihre tiefsten Bedürfnisse und Ansprüche zusammenfasst: gegenüber den demokratische Lügen aufzeigen, was sich hinten der Parole „Alle Macht den Versammlungen!“ abzeichnet; gegenüber den demokratischen Reformforderungen den konsequenten Kampf gegen die Kürzungen im Sozialbereich führen; gegenüber den illusorischen „Reformen“ des Kapitalismus den zähen und beharrlichen Kampf im Hinblick auf die Zerstörung des Kapitalismus voranstellen.

Wichtig ist, dass sich in diesem Milieu eine Debatte und ein Kampf entwickeln. Eine Debatte über die zahlreichen Fragen, die sich in den letzten Monaten gestellt haben: Reform oder Revolution? Demokratie oder Versammlungen? Bürgerbewegung oder Klassenbewegung? Demokratische Forderungen oder Forderungen gegen die sozialen Angriffe? Generalstreik oder Massenstreik? Gewerkschaften oder Versammlungen? etc. Ein Kampf darum, die Selbstorganisation und den unabhängigen Kampf zu propagieren, und insbesondere ein Kampf zur Befähigung, die zahlreichen Fallen zu vermeiden und zu überwinden, die uns die herrschende Klasse unweigerlich stellen wird.

10.07.2011, C. Mir

 

[1] Internationale Revue Nr. 144 (franz./engl./span.): „Mobilisierungen der Rentner in Frankreich, Antwort der Studenten in Großbritannien, Arbeiterkämpfe in Tunesien – Die Zukunft liegt in der internationalen Entwicklung und indem wir die Kämpfe in die eigenen Hände nehmen.

[2] Ein Verantwortlicher von Caritas in Spanien - einer kirchlichen NGO, die sich der Armut widmet - gab an, dass „wir gegenwärtig von 8 Millionen Menschen sprechen, die daran sind, ausgeschlossen zu werden, und von 10 Millionen unter der Armutsgrenze“. Vgl. www.burbuja.info/inmobiliaria/threads/tenemos-18-millones-de-excluidos-o-pobres-francisco-lorenzo-responsable-de-caritas.230828 [1]. 18 Millionen Menschen sind ein Drittel der Bevölkerung Spaniens! Und dies ist alles andere als eine spanische Besonderheit, der Lebensstandard der Griechen hat sich in einem Jahr um 8% verschlechtert.

[3] Auf sie werden wir detaillierter im nächsten Abschnitt eingehen.

[4] Vgl. Wir haben dieses Communiqué [2] in verschiedene Sprachen übersetzt.

[5] Zwei Parolen waren oft zu hören: „PSOE-PP - die gleiche Scheiße“ und „Ob mit Rosen oder mit Möwen, sie walzen uns platt!“, darauf anspielend, dass die Rose das Emblem des PSOE ist, während die Möwe dasjenige des PP.

[6] Um sich ein Bild von dieser Bewegung und ihren Methoden zu machen, vgl. unseren Artikel „Spanien: Bürgerbewegung Echte Demokratie jetzt! - staatliche Diktatur gegen Massenversammlungen [3]“, der in verschiedene Sprachen übersetzt ist.

[7] Dieses Zitat aus Rosa Luxemburgs Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, das sich auf den großen Streik 1903 im Süden Russlands bezieht, passt wie ein Handschuh zur ausgelassenen Stimmung der Versammlungen ein Jahrhundert später.

[8] Vgl. „Offener Brief an die Versammlungen [4]“.

[9] Vgl. im Kapital „Feuerbach - Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung“, B. Die wirkliche Basis der Ideologie

[10] siehe dazu: „Der Zerfall, letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“, in Internationale Revue Nr. 13

[11] siehe dazu: „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“, https://de.internationalism.org/frank06 [5]

[12] Unserer Meinung nach liegt die Ursache dieser Schwierigkeiten in den Ereignissen von 1989, welche die fälschlich als „sozialistisch“ bezeichneten Regime zu Fall brachten und der herrschenden Klasse erlaubten eine großangelegte Kampagne über den „Tod des Kommunismus“, das „Ende des Klassenkampfes“ und das „Scheitern des Kommunismus“, usw. vom Zaun zu reißen, die mehrere Generationen von Arbeitern und Arbeiterinnen beeinflusste. Siehe: „Die Arbeiterklasse vor einer schwierigen Lage“, Internationale Revue Nr. 12

[13] Erinnern wir uns, wie zwischen Februar und Juni 1848 in Frankreich sich ebenfalls ein solches „großes Fest aller sozialen Klassen“ ereignete, das sich in den Junitagen steigerte, wo das Proletariat von Paris mit der Waffe in der Hand gegen die Provisorische Regierung kämpfte. Während der Russischen Revolution 1917 dominierte während Februar und April ebenfalls die Stimmung eines großen Zusammenschlusses unter der „revolutionären Demokratie“.

[14] Mit Ausnahme der extremen Rechten, welche getrieben durch ihren irrationalen Hass auf die Arbeiterklasse lauthals das verkündete, was sich die anderen Fraktionen der herrschenden Klasse nur im Versteckten zuflüsterten.  

[15] Möglichkeit für die Bürger, eine gewisse Anzahl Unterschriften zu sammeln, um damit im Parlament Abstimmungen über Gesetze und Reformen zu erreichen.

[16] Die Demokratie basiert auf der Passivität und Atomisierung der überwiegenden Mehrheit und reduziert sie zu einer Summe von Individuen, die noch anfälliger und wehrloser werden, wenn sie denken, dass ihre Stimme eine Macht beinhalte. Vollversammlungen basieren auf einer diametral entgegen gesetzten Auffassung: Die Individuen sind deshalb stark, weil sie sich auf „den Reichtum ihrer sozialen Beziehungen“ (Marx) abstützen und sich in einen großen kollektiven Körper integrieren, von dem sie ein Teil werden.  

[17] Als gäbe es eine „angemessene“ Repression!

[18] DRY verlangte, dass die Demonstranten jede „gewalttätige“ oder „verdächtig gewalttätige“ Person einkreisen und sie öffentlich an den Pranger stellen sollen!

[19] Die am weitesten zurück liegenden Ursprünge liegen in den Bezirksversammlungen während der Pariser Kommune, aber eigentlich bestätigten sie sich in der revolutionären Bewegung von 1905 in Russland, und seither brachte jede große Bewegung der Arbeiterklasse solche Strukturen mit unterschiedlichen Formen und Namen hervor: Russland 1917, Deutschland 1918, Ungarn 1919 und 1956, Polen 1980 … 1972 gab es in Vigo/Spanien eine städtische Vollversammlung, die 1973 in Pamplona und 1976 in Vitoria neu aufgelegt wurde. Wir veröffentlichten zahlreiche Artikel über die Ursprünge dieser Arbeiterversammlungen. Vgl. insbesondere die Serie „Was sind Arbeiterräte“ ab Nr. 140 der International Review (engl./frz./span. Ausgabe).

[20] In Cadiz organisiert die Vollversammlung eine Debatte über die prekäre Arbeit, an der viele Leute teilnehmen. In Caceres wird der Mangel an Nachrichten über die Bewegung in Griechenland gebrandmarkt, und in Almeria wird am 15. Juni ein Treffen zur „Lage der Arbeiterbewegung“ organisiert.

[21] Diese sind in Tat und Wahrheit ein zweischneidiges Schwert: Einerseits beinhalten sie positive Aspekte wie zum Beispiel die Ausweitung der massenhaften Debatte in die tieferen Schichten der Arbeiterbevölkerung und die Möglichkeit – die auch umgesetzt wurde -, Versammlungen gegen die Arbeitslosigkeit und die prekäre Arbeit zu initiieren, die die Vereinzelung und das Schamgefühl durchbrechen, mit denen viele Arbeitslose kämpfen, und damit die Lage der Verletzlichkeit zu ändern, in der sich die prekär Angestellten im Kleingewerbe befinden. Andererseits ist der negative Punkt, dass solche Quartierversammlungen auch dazu benützt werden, die Bewegung zu zerstreuen, die allgemeineren Sorgen vergessen zu lassen, sie in eine Dynamik der „Bürger“ einzuschließen, welche durch die Tatsache begünstigt wird, dass im Quartier – einem Rahmen, der die Arbeiter mit dem Kleinbürgertum, den Unternehmern, etc. vermischt – sich solche Sorgen vordrängen.  

[22] Vgl. u.a. das „Anti-Gewalt-Protokoll“ esparevol.foroactivo.com [6]

[23] In der Koordination der Versammlungen der Quartiere und Vororte des Südens von Madrid befinden sich hauptsächlich die Delegierten der Arbeiterversammlungen der verschiedenen Sektoren, auch wenn sich einige kleine radikale Gewerkschaften ebenfalls beteiligen. Vgl. https://asambleaautonomazonasur.blogspot.com/ [7] 

[24] Die Privatisierung von Teilen des öffentlichen Dienstes und der Sparkassen ist eine Antwort des Kapitalismus auf die Verschärfung der Krise und - konkreter - auf die Tatsache, dass der je länger je stärker verschuldete Staat gezwungen ist, seine Ausgaben zu senken mit der Folge einer unerträglichen Verschlechterung auch der wesentlichen Dienste. Man muss sich aber auch bewusst sein, dass die Alternative zu den Privatisierungen nicht der Kampf für den Erhalt der Dienste in staatlicher Hand ist. Denn zunächst einmal bleiben die „privatisierten“ Dienstleistungen oft unter der organischen Kontrolle von staatlichen Institutionen, welche die Arbeit an private Unternehmen weiter vergeben. Hinzu kommt, dass der Staat und das staatliche Eigentum nichts „Soziales“ an sich haben und nichts zu tun mit einem irgendwie gearteten „Wohlergehen der Bürger“. Der Staat ist ein Organ, das ausschließlich im Dienste der herrschenden Klasse steht, und beruht auf der Lohnsklaverei. Dieses Problem beginnt, in gewissen Arbeiterkreisen diskutiert zu werden, so namentlich in der Versammlung von Valencia gegen die Arbeitslosigkeit und die prekäre Arbeit. kaosenlared.net/noticia/cronica-libre-reunion-contra-paro-precariedad 

[25] Vgl. https://infopunt-vlc.blogspot.com/2011/06/19-j-bloc-autonom-i-anticapitalista.html [8]

[26] Vgl. „Streik der Metallarbeiter in Vigo, Spanien: die proletarische Kampfmethode“ (/content/1016/streik-der-metallarbeiter-vigo-spanien-die-proletarische-kampfmethode [9]) und auch „Vigo/Spanien: Gemeinsame Vollversammlungen und Demonstrationen von Arbeitslosen und Beschäftigten“ (/content/1943/vigospanien-gemeinsame-vollversammlungen-und-demonstrationen-von-arbeitslosen-und [10])

[27] Dies bedeutet nicht, die Hindernisse zu unterschätzen, die das eigentliche Wesen des Kapitalismus, der auf der Konkurrenz und dem Misstrauen den anderen gegenüber beruht, diesem Prozess der Vereinigung in den Weg stellt. Dieser Prozess wird sich nur nach gewaltigen und vielfältigen Anstrengungen durchsetzen, die ihre Grundlage im gemeinsamen und massenhaften Kampf der Arbeiterklasse hat, einer Klasse, die kollektiv, mittels der assoziierten Arbeit die wesentlichen gesellschaftlichen Reichtümer schafft - und die deshalb in sich das gesellschaftliche Sein des Menschen trägt.

[28] Vgl. dazu diverse Artikel in unserer Presse, z.B. /content/1668/40-jahre-seit-mai-1968-das-ende-der-konterrevolution-das-historische-wiedererstarken [11]

[29] Vgl. die „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“, /content/876/thesen-ueber-die-studentenbewegung-frankreich-im-fruehling-2006 [12], und „Griechenland: Der Aufstand der Jugend in Griechenland bestätigt die Entwicklung des Klassenkampfs“, in der Internationalen Revue Nr. 43

[30] Die Zensur über die Ereignisse in Griechenland und die massenhaften Bewegungen dort ist so vollständig, dass wir diese Geschichte nicht wirklich in unsere Analyse einbetten können.

[31] Von https://www.kaosenlared.net/ [13]

[32] International Review Nr. 20 (engl./frz./span. Ausgabe), „Über die Intervention der Revolutionäre: Antwort an unsere Kritiker“

[33] Vgl. die verschiedenen Artikel in der Presse / auf der Webseite, die jeden dieser Aspekte beleuchten.

[34] Dieses Anliegen ist nicht eine Besonderheit der IKS, vielmehr lautete eine ziemlich populäre Parole: „Realistisch zu sein, heißt antikapitalistisch zu sein!“, ein anderes Transparent erklärte: „Das System ist unmenschlich - seien wir gegen das System“.

Geographisch: 

  • Spanien [14]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Indignados [15]
  • Empörte in Spanien [16]
  • Bewegung 15M [17]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [18]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [19]

Eurokrise - Staatsbankrotte...

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Normalerweise schlägt die Schuldenfalle zu, wenn der Schuldner seine Schulden nicht mehr begleichen kann und insolvent wird. Dann kann der Gläubiger eine Reihe von Ansprüchen geltend machen (z.B. Pfändungen), wenn nötig mit Gerichtsvollzieher, Zwangsvollstrecker, Abtretungen usw. Dies ist die Alltagspraxis bei der Regelung von Insolvenzen. Was aber wenn ein Staat pleite geht? Zurzeit stehen immer mehr Staaten vor dem Staatsbankrott.

Verträge zwischen Staaten werden durch internationale, bilaterale oder multilaterale Übereinkommen zwischen Staaten abgesichert. Dies funktioniert meistens gut, weil das Überleben der Nationalstaaten vom Welthandel und internationalen Finanzsystem abhängt. In Anbetracht des Staatsbankrotts von immer mehr Staaten – auch und vor allem im Euro-Bereich – stellt sich mittlerweile heraus, dass es keine Instanz gibt, die die üblichen Insolvenzmaßnahmen gegenüber einem bankrotten Staat durchsetzen kann.

Der berühmte Artikel 125 des Europäischen Vertrages, der die Grundlage der gemeinsamen europäischen Währung ist, sieht vor, dass im Falle eines Bankrotts eines Mitgliedstaates kein anderer Mitgliedsstaat haften oder unterstützend einspringen muss. Dies bedeutet, dass unter solchen Bedingungen ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden muss. Es ist mittlerweile klar geworden, dass zum Zeitpunkt, als der Vertrag aufgesetzt wurde, keiner der Verantwortlichen diesen schlimmsten Fall, der in Artikel 125 behandelt wird, jemals für möglich gehalten hatte. Aber die Wirklichkeit hat sie überholt, denn nunmehr stehen Griechenland und andere Staaten vor dem Bankrott. Und was ist aus diesem Insolvenzverfahren geworden? Es hat bislang nicht stattgefunden. Warum nicht? Die üblichen Erklärungen lauten, dass dann Griechenland aus der Eurozone ausscheren müsste (obwohl dies nicht sicher ist), und dass dies das Ende des Euro bedeuten würde (auch das ist nicht sicher!). Eine Insolvenz würde in solch einem Fall wahrscheinlich zu einem „haircut“ für Griechenland führen, wie es die Experten nennen: ein Teil der Schulden würde gestrichen, aber gleichzeitig würde der souveräne griechische Staat teilweise „enteignet“.

In Wirklichkeit aber gibt es solch einen Insolvenzmechanismus für Nationalstaaten, der jetzt eigentlich nötig wäre,  nirgendwo auf der Welt, und genauso wenig gibt es irgendwelche Institutionen, die solch eine Insolvenz durchsetzen könnten. Auf diesem Hintergrund würde ein Insolvenzverfahren zum Beispiel in Griechenland unter ganz chaotischen, unkontrollierbaren Bedingungen stattfinden, ohne irgendwelche solide staatliche Regulierung. Unter diesen Bedingungen würde in der Tat der Euro in Gefahr geraten, ja das ganze internationale Finanzgefüge. Deshalb sind diese Institutionen gezwungen gewesen, Griechenland, Irland und Portugal mit immer neuen Rettungspaketen zu versehen. Wahrscheinlich werden sie bald Spanien und Italien „retten“ müssen. Es liegt auf der Hand, dass dieser ganze Prozess nicht endlos so weitergehen kann.

Die Weltwirtschaftskrise 1929 war damals die schlimmste Wirtschaftskrise; sie war die erste große Krise im niedergehenden Kapitalismus. Aber das Ausmaß dieser Katastrophe wurde noch verschlimmert durch zwei schwere „Fehler“ einer noch ziemlich unerfahrenen herrschenden Klasse: Man drehte den Kredithahn zu und ließ der Autarkie freien Lauf. Mittlerweile hat die herrschende Klasse die Lehren aus diesen Ereignissen gezogen. Gegenüber der Zuspitzung der Wirtschaftskrise hat sie mit der Vergabe von noch mehr Krediten reagiert und mit verschiedenen Maßnahmen zum Ausbau des internationalen Wesens der Weltwirtschaft. Aber nunmehr werden die Grenzen dieser Maßnahmen immer deutlicher – auch für die herrschende Klasse. Es wird immer offensichtlicher, dass das Ausmaß des Schuldenbergs selbst zum zentralen Problem geworden ist. Heute ist die Gefahr von zahlungsunfähigen Nationalstaaten, die zum Auseinanderbrechen des Weltmarktes führen können, noch größer als die Auseinandersetzungen um den Zugang zu den Märkten.

Vermutlich wäre Europa die wahrscheinlichste Bruchstelle, da es sich um eines der Hauptzentren der Weltwirtschaft handelt und es gleichzeitig in eine Reihe von Nationalstaaten gespalten ist. Falls es dazu kommen sollte, wären auch heute wie 1929 (seinerzeit Deutschland und die USA) die höchst entwickelten Industriestaaten die Hauptleidtragenden (zu denen Deutschland und China gehören).

Die einzige „Alternative“ gegenüber einem Auseinanderbrechen des Weltmarktes scheint aus der Sicht der Herrschenden darin zu bestehen, dass eine Reihe von mächtigeren Staaten den schwächeren Nationalstaaten die Souveränität raubt, so dass diese dazu gezwungen würden, sich wegen ihres Bankrotts den „Gesetzen“ und „Regeln“ der Stärkeren zu unterwerfen. Innerhalb der Europäischen Union scheint ein solches Tauziehen eingesetzt zu haben, vor allem zwischen Berlin und Athen (als Repräsentanten der beiden extremsten Positionen). Athen hat damit gedroht, die ihm auferlegten Bedingungen nicht zu akzeptieren, oder es hat Gerüchte verbreitet, man werde die Euro-Zone verlassen – um so zu versuchen, bessere Bedingungen für sich herauszuschlagen. Berlin und „Brüssel“ an seiner Seite sind mehr und mehr dazu übergangen, dem griechischen Kapital und seiner Regierung ihre Wirtschaftspolitik zu diktieren. Unter anderem wird Athen dazu gezwungen, große Teile seiner verstaatlichten Wirtschaft zu privatisieren. Diese Maßnahmen dienen nicht dazu, Geld zusammenzukratzen, um damit Schulden oder auch nur Schuldzinsen zu begleichen, sondern um die Kontrolle über die Schaltstellen seiner Wirtschaft zu übernehmen.

Seit 1989 wird die Weltwirtschaft nicht mehr unter den gleichen Rahmenbedingungen betrieben, wie zur Zeit der beiden imperialistischen Blöcke nach dem 2. Weltkrieg. Die Art Disziplin, welche die stärkeren Länder den schwächeren aufzuzwingen versuchen, mit dem Ziel, ein Mindestmaß an Regeln in der Weltwirtschaft einzuhalten und „vertragstreu“ zu bleiben, kann sich nicht mehr auf die drohende Rolle eines imperialistischen Blockführers stützen.  Solch eine Disziplin durchsetzen könnte nur eine führende Regionalmacht (wie zum Beispiel Deutschland in Europa) – aber das müsste dann Schritt für Schritt, pragmatisch, empirisch und unvermeidlich total chaotisch erfolgen. Zu Beginn der „Griechenlandkrise“ verbarg die herrschende Klasse in Deutschland kaum ihre Methoden des Umgangs mit solch einer Lage. Jedes Mal, wenn die „Rettung Griechenlands“ zur Debatte stand, verlangte Berlin die Errichtung eines förmlichen „Insolvenzverfahrens“ für die Eurozone. Aber es musste bald einsehen, dass dieses Ziel, zumindest unmittelbar, politisch nicht durchsetzbar war. Ist es überhaupt durchsetzbar? Ökonomisch vielleicht, wenn man die Abhängigkeit eines Landes wie Griechenland von den zentralen Ländern berücksichtigt, die in Anbetracht der grenzenlos wachsenden Schulden nur noch weiter zunehmen wird. Auf der anderen Seite aber verfügen diese Länder paradoxerweise über mehr Möglichkeiten, die größeren Staaten zu erpressen, je mehr ihre Schulden zunehmen. Sie können zum Beispiel damit drohen, ihre Zahlungen einzustellen, mit anderen Worten keine Politik des traditionellen „nationalen Widerstandes“, sondern eine Politik des reinen „Vandalismus“, Chaos schaffen, etwas zum Einsturz bringen.

Damit beschränken sich die Probleme nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft, sondern sie werden politisch. Schwächeren Ländern ihre Souveränität zu rauben, heißt Öl aufs Feuer des Nationalismus zu gießen. Aber nicht nur das. Wenn Länder wie Deutschland oder Frankreich für Rettungspakete in einer Reihe anderer Staaten blechen müssen, ohne Aussicht auf eine effektive Reduzierung der Schulden, kann dies langfristig zu einer Explosion des politischen Populismus in den zentralen Ländern selbst führen und es wäre dann nicht ausgeschlossen, dass „unverantwortliche“, unberechenbare Flügel der Herrschenden die Regierung übernehmen, die eine engstirnige und bornierte Form des Nationalismus praktizieren würden, und für welche die Aufrechterhaltung einer „funktionierenden“ Weltwirtschaft keine Priorität mehr wäre. Wie zwischen 1914-45 würde eine Phase kapitalistischer Globalisierung zu einer ökonomischen Zersplitterung und nationalistischen Vandalismus führen. Wir denken dabei nicht unbedingt an den Aufstieg faschistischer Regime wie in den 1920er und 1930er Jahren, da wir nicht mehr in einer Zeit der Konterrevolution leben. Aber es liegt auf der Hand, dass das Aufblühen des Nationalismus heute auf dem Hintergrund einer zerfallenden Gesellschaft große Probleme nicht nur für die Herrschenden mit sich bringt, sondern auch für die Arbeiterklasse. In Kairo und Athen sieht man oft Nationalfahnen bei Kundgebungen, nicht dagegen in Madrid und Barcelona! Aber natürlich beschränkt sich die Frage der „schwachen Glieder“ unter den Nationalstaaten nicht nur auf Europa; ein Blick auf die Beziehung zwischen den USA  und China und den schwebenden Bankrott des US-Staats genügt. Hier verläuft die Nahtstelle nicht zwischen stärkeren und schwächeren Staaten, sondern zwischen den beiden Großen der Weltwirtschaft überhaupt, mit unglaublicher Sprengkraft für die Weltwirtschaft insgesamt.  22.7.2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Staatsbankrotte [20]
  • Eurokrise [21]
  • staatliche Insolvenzen [22]

Kapitalismus und Umweltzerstörung: Die Menschheit am Scheideweg

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Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben.“ (Karl Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, MEW Bd. 40, S. 516

Ein Blick auf die Katastrophenbilanz der jüngsten Vergangenheit reicht aus, um zu begreifen, dass die Menschheit sich bereits heute mit den Folgen der von ihr – oder besser: von der kapitalistischen Produktionsweise – verursachten Veränderung des globalen Klimas konfrontiert sieht. Ob die verheerenden Waldbrände in Russland oder die nicht minder schlimme Überschwemmungskatastrophe in Pakistan im vergangenen Jahr, ob die Häufung von außergewöhnlich kalten Wintern in Europa oder die Heimsuchung der USA von immer zerstörerischeren Tornados, die eine Spur der Verwüstung hinter sich lassen – all dies und vieles mehr lässt sich in seiner Häufung und Intensität nur um den Preis der Lächerlichkeit mit klimatischen Kapriolen, mit den „Launen der Natur“ erklären. All diese Katastrophen sind – darüber gibt es in der seriösen Wissenschaft keinen ernsthaften Zweifel mehr - direkt oder indirekt Folgen der von Menschenhand verursachten Erderwärmung. Und als ob dies nicht genug wäre, reißen die Meldungen über katastrophale Havarien im kapitalistischen Produktionsapparat nicht ab: im letzten Sommer die Explosion der „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko (deren Langzeitfolgen sich bereits heute im Massensterben von größeren Meerestieren äußert), nun die Kernschmelze der Atomreaktoren von Fukushima (unter deren Folgen die japanische Bevölkerung noch lange Zeit zu leiden haben wird), um nur die größten zu nennen.

Ist die Welt angesichts all dessen noch zu retten? Und wenn ja, wie?

Umweltkatastrophen gestern und heute

Dass der Mensch mit seiner Produktionsweise imstande ist, seine eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, ist beileibe keine Erfahrung, die sich ausschließlich auf den Kapitalismus beschränkt. Spätestens mit der Einführung der Sesshaftigkeit und der Landwirtschaft (der so genannten neolithischen Revolution vor rund 11.000 Jahren in der Region des so genannten Fruchtbaren Halbmonds) ging es dem Menschen vornehmlich darum, der natürlichen Umwelt urbares Land „abzuringen“, die Naturkräfte zu „zähmen“ – oder um es in den Worten der Bibel zu sagen: sich die Erde „untertan“ zu machen. Der Erfolg einer jeden Gesellschaft, der Aufstieg von Hochkulturen maß sich nun an ihrer Fähigkeit, die Grundlagen für das Wachstum ihrer Bevölkerung zu legen. Bereits die frühgeschichtlichen Häuptlings-und Priestergesellschaften griffen dabei massiv in die natürliche Umwelt ein, indem sie durch Brandrodungen und Be- und Entwässerungssysteme die Wildnis urbar machten und die Urwälder u.a. für ihre Sakralbauten abholzten.

Dabei liefen insbesondere jene Völker Gefahr, Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden, die sich in ökologisch besonders sensiblen Regionen angesiedelt hatten. Etliche von ihnen schwangen sich zu großartigen kulturellen Zeugnissen auf, um anschließend nicht einfach nur als Gesellschaft zu kollabieren, sondern auch physisch zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen (ausgenommen ihre Artefakte) – wie die Maya im heutigen Mexiko, die kulturell am höchsten entwickelte Gesellschaft der präkolumbianischen Neuen Welt (eigene Schrift, Städtebau), die um 3000 v.Chr. aus dem Dunklen der Geschichte auftauchten und deren Spuren sich um 900 n. Chr. im Nichts verloren, oder die Anasazi im heutigen New Mexico im Südwesten der USA, eine Hochkultur (600-ca.1150n.Chr.), die in der Lage war, Häuser von einer Höhe zu bauen, die erst von den Wolkenkratzern im 19. Jahrhundert übertroffen wurden, oder die Osterinsulaner mitten im Pazifik, von denen nicht viel mehr übrig blieb als eine Unzahl imposanter, metergroßer Götzenstatuen. Noch heute liegt ein großer Teil der Geschichte dieser Völker im Verborgenen. Doch eine Fülle von Indizien spricht dafür, dass es - neben den auch in den frühen Klassengesellschaften üblichen Phänomenen wie Krieg und Konkurrenz - der Verlust der natürlichen Lebensgrundlage war, der diese Gesellschaften zunächst in den Kollaps, dann in den Kannibalismus trieb und schließlich auslöschte. All ihnen war gemeinsam, dass sie in relativ regenarmen Breitengraden existierten, deren Vegetation eine vergleichsweise geringe Wachstums- und Regenerationsrate aufwies – eine Rate, die nicht Schritt halten konnte mit dem Raubbau durch den Menschen. Letztendlich führten Bevölkerungsdruck und Konkurrenz, das Füttern von immer mehr hungrigen Mäulern und die Befriedigung der Imponierbedürfnisse der Herrschenden[1] zuerst zur Entwaldung, dann zur Bodenerosion und –versalzung und schließlich zur Desertifikation. Um es bildlich auszudrücken: diese Gesellschaften sägten an dem Ast, auf dem sie selbst saßen.

Fazit: alle Klassengesellschaften, angefangen von den frühgeschichtlichen Häuptlings- und Priestergesellschaften über die antiken Sklavenhaltergesellschaften und die mittelalterlichen Feudalgesellschaften bis hin zum modernen Kapitalismus, haben sich an der Umwelt „versündigt“. So wie sie die menschlichen Arbeitskräfte ausgebeutet haben, so haben sie auch die natürlichen Schätze unserer Erde geplündert und dabei in vielen Fällen buchstäblich verbrannte Erde hinterlassen. Doch es hieße, die Umweltzerstörung im Kapitalismus zu bagatellisieren, beließe man es bei dieser eher banalen Feststellung. In der Tat hat die Zerstörung der natürlichen Umwelt im Kapitalismus Dimensionen erreicht, die sich qualitativ wie quantitativ von den Brandrodungen, Abholzungen und Überweidungen in vorkapitalistischen Gesellschaften unterscheiden:

·        Die Auswirkungen der vorkapitalistischen Umweltzerstörung waren allenfalls regionalen Charakters und blieben in der Regel überschaubar – bis auf die oben genannten Beispiele von ökologisch besonders sensiblen Umwelten. Die Folgen der Umweltzerstörung im Kapitalismus haben dagegen längst globale Ausmaße angenommen; mögen sich einige Staaten im „Ruhm“ ihrer angeblichen ökologischen Politik noch so sehr sonnen – auch sie sind Leidtragende der Globalität der Umweltzerstörung. Darüber hinaus sind die Folgen des alltäglichen Umweltfrevels im Kapitalismus auch unüberschaubar geworden. Überall lauern tickende Umweltzeitbomben, drohen unübersehbare Gefahren mit Langzeitwirkung, sieht sich die Menschheit einem globalen Feldversuch des Kapitalismus mit zweifelhaftem Ausgang ausgesetzt.

·        Die frühgeschichtlichen, aber auch die antiken und mittelalterlichen Gesellschaften waren noch weitestgehend in Unkenntnis über die größeren Zusammenhänge des natürlichen Kreislaufes und somit über die langfristigen Folgen ihrer Eingriffe in die Umwelt. Sie eroberten sich mit Brandrodungen ihren Lebensraum, weil sie eine nachhaltigere Bewirtschaftung des Bodens schlicht und einfach noch nicht kannten. Sie holzten die Urwälder ab, weil sie in ihnen eine bedrohliche Wildnis wahrnahmen und nicht ihre eminent wichtige Bedeutung für den eigenen Lebensraum. Der Kapitalismus rennt dagegen sehenden Auges in den Abgrund. Der „Club of Rome“ in den 1960er Jahren, danach die unzähligen staatlichen, nicht-staatlichen und supranationalen Umweltinstitutionen und nun der Weltklimarat – der Weg des Kapitalismus in den ökologischen Abgrund war und ist gesäumt von unzähligen Mahnern und Kritikern, die seit Jahr und Tag dem Kapitalismus in Sachen Umweltverschmutzung den Spiegel vorgehalten haben.

·        Der ökologische Raubbau in den vorkapitalistischen Gesellschaften war der Unterentwicklung ihrer Produktivkräfte geschuldet. Ihnen fehlte die entsprechende Technik für einen schonenderen Umgang mit der natürlichen Umwelt. So griffen die Menschen dieser Gesellschaften in Ermangelung anderer Energiequellen auf Brennholz zur Aufbereitung ihrer Lebensmittel, zur Herstellung ihrer Werkzeuge und zur Beheizung ihrer Häuser zurück, was zur Vernichtung unzähliger Wälder führte. Im Kapitalismus dagegen wird die Umwelt trotz und wegen der hochentwickelten Produktivkräfte zerstört. Einerseits basiert die ungeheure Leistungskraft und Mobilität des modernen Kapitalismus auf der Verfeuerung fossiler Brennstoffe, was zu eben jener fatalen Aufheizung der Atmosphäre geführt hat, unter deren Folgen wir heute bereits leiden. Andererseits hat die kapitalistische Produktionsweise der Menschheit auch die technologischen Möglichkeiten verliehen, auf andere Energieformen auszuweichen, ohne in die Steinzeit zurückzufallen. Die technischen Mittel für eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Umwelt sind längst vorhanden, allein es fehlt der Wille und das Vermögen der herrschenden Klasse.

·        In den vorkapitalistischen Gesellschaften waren es neben den Überlebensbedürfnissen der Menschen vor allem die Machtgelüste der Herrschenden, die die natürliche Umwelt in Mitleidenschaft zogen. So wurden die Wälder Siziliens zugunsten des Aufbaus einer großen Kriegsflotte geopfert, die das junge Römische Reich in den so genannten Punischen Kriegen in den letzten drei Jahrhunderten vor Christi Geburt gegen Karthago benötigte. Ähnlich erging es den Wäldern Spaniens, die im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen dem spanischen Thron und dem aufstrebenden, kapitalistischen Großbritannien Ende des 16. Jahrhunderts für den Aufbau der „Armada“ abgeholzt wurden. Im Kapitalismus gibt es jedoch daneben noch einen weiteren Faktor, der zur Umweltzerstörung beiträgt: die Jagd nach den Profiten. Sie ist zum beherrschenden Faktor bei der täglichen Zerstörung unserer Biosphäre geworden. Zum Zweck der Profitmaximierung werden die Flüsse verseucht, die Böden vergiftet, Regenwälder abgeholzt, Landschaften zubetoniert, die Weltmeere leergefischt und zugemüllt und nicht zuletzt der Mensch krank gemacht.

Wie lernfähig ist der Kapitalismus?

Spielen wir einmal den Advocatus diaboli und untersuchen die Substanz der „grünen“ Politik, derer sich nicht nur die politische Klasse, sondern auch so mancher Topmanager hierzulande rühmt. Hat der Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern nicht bewiesen, dass er in Sachen Ökologie lernfähig ist? Hat er nicht dafür gesorgt, dass sich die Luft- und Wasserqualität in den Industrieländern in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert hat? Der Smog in den Ballungsgebieten und das Umkippen ganzer Seen und Flüsse gehören dort zweifellos der Vergangenheit an. Und hat sich das kapitalistische Regime nach zähem Widerstand nicht schließlich zu einem Verbot verschiedener hochgiftiger Substanzen wie DDT, Asbest etc. durchgerungen? Dem Waldsterben ist dank der Einführung von Rauchgasentschwefelungsanlagen in den Kraftwerken allem Anschein nach Einhalt geboten worden; der Benzinverbrauch pro PKW ist dank etlicher technologischer Verbesserungen im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich gesenkt worden. Illegale Giftmülldeponien, die noch in den 70er Jahren in den Medien skandalisiert wurden, gibt es nicht mehr, dafür aber jede Menge Naturparks, Nationalreservate, Renaturierungen. Daneben hat sich eine mächtige Umweltbewegung etabliert, der sich mittlerweile kein etablierter Politiker mehr entziehen kann. Und kaum ein Konzern kann es sich leisten, auf eins der Öko-Labels zu verzichten, um seine Waren loszuwerden.

Ist es dem Kapitalismus der Industrieländer also gelungen, über seinen Schatten zu springen? Angesichts der Tatsache, dass die westlichen Industrieländer noch immer den mit Abstand größten Beitrag zur Verschmutzung der Atmosphäre leisten und immer noch Spitzenreiter im Energieverbrauch sind, relativieren sich allerdings die umweltpolitischen Leistungen der staatskapitalistischen Regimes in Europa, Nordamerika und Japan. Dies umso mehr, als dass bestimmte ökologische Erfolge wie die unbestreitbare Verbesserung der Luft- und Wasserqualität in erster Linie ein Abfallprodukt massiver Umstrukturierungen in der Industrielandschaft bzw. der De-Industrialisierung sind, die in vielen traditionellen Industrienationen im Laufe der 70er, 80er und 90er Jahre um sich gegriffen haben. Und kaum sind die alten Umweltgefahren gebannt, tauchen neue am Horizont auf. Smog war gestern, heute wird die Bevölkerung der fortgeschrittenen Industrieländer vom Albtraum der radioaktiven und chemischen Verseuchung heimgesucht (Tschernobyl, Seveso, Bhopal, Fukushima). Die Gewässer sind heute zwar frei von Tensiden und industriellen Abwässern, dafür lassen sich im Wasser fast aller Flüsse und Seen Spurenelemente von Pharmazeutika wie die Antibabypille nachweisen. Die Verseuchung der Böden mit DDT und anderen Chemiekeulen ist Vergangenheit, die Verschmutzung der Weltmeere (nebst ihrer Überfischung) durch Kunststoffabfälle dagegen traurige Gegenwart. Alljährlich werden rund 6,5 Millionen Tonnen Plastikmüll in den Meeren entsorgt. Mit fatalen Folgen für Mensch und Umwelt: mittlerweile sind für die Kunststoffherstellung notwendige Chemikalien, insbesondere die so genannten Weichmacher, selbst im Blut von Eskimos nachgewiesen worden.

Doch abgesehen von diesen „Kleinigkeiten“ hat der niedergehende Kapitalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts vor allen Dingen eins bewirkt: Mit der Entfesselung des Freihandels durch die GATT-Abkommen in den 90er Jahren und der Öffnung Chinas gegenüber dem Weltmarkt hat eine Globalisierung der Umweltzerstörung stattgefunden, die jeglichen Umweltschutz in den westlichen Industrieländern, selbst wenn er ehrlich gemeint wäre, wirkungslos verpuffen lässt. Alle Experten sind sich darüber einig, dass eine Industrialisierung der Schwellenländer nach dem Vorbild der westlichen Konsumgesellschaft die bereits feststehende Erwärmung der Atmosphäre (zwischen zwei und vier Grad Celsius) vervielfachen würde. Angesichts dieser globalen Dimensionen der Zerstörung unserer „äußeren Natur“ sind nationale Alleingänge zwecklos; was nottut, ist ein globales Vorgehen aller Länder, ist mithin nichts Geringeres als eine Weltgemeinschaft, die den kapitalistischen Zug in den Abgrund zum Halten bringt, eine Gesellschaft, die planvoll und vereint eine Kurskorrektur herbeiführt.

Nun ist es nicht so, dass sich die Weltbourgeoisie dessen nicht bewusst wäre. Die zahllosen supra- und transnationalen Institutionen, die in den letzten Jahrzehnten im Umweltbereich gegründet wurden, stehen für den Versuch der kapitalistischen Klasse, die nationalstaatliche Fragmentierung angesichts der gewaltigen Herausforderungen, die sich auch und gerade auf dem Gebiet des Umweltschutzes stellen, zumindest teilweise zu überwinden. Einige Teile der Bourgeoisie sind in ihrem Denkprozess noch weiter gegangen. So hat der „Wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesregierung zur Großen Umweltveränderung“ (wbgu.de) der Öffentlichkeit in diesem Sommer einen „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ vorgestellt, der nichts anderes als den Abschied vom „kohlenstoffbasierten Weltwirtschaftsmodell“ ankündigt. Die Autoren – Wissenschaftler bzw. Wissenschaftsfunktionäre diverser Disziplinen – scheuen nicht davor zurück, diese „Transformation“[2] in einem Atemzug mit der neolithischen und der industriellen Revolution zu nennen. Im Unterschied zu den bisherigen Umwälzungen, fahren die Autoren des Beirats fort, bestehe „die historisch einmalige Herausfor­derung bei der nun anstehenden Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft (…) darin, einen umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraus­sicht voranzutreiben“. Die Autoren gehen sogar noch weiter und wagen den Nationalstaat als „alleinige Grundlage“ für den angestrebten neuen „Gesellschaftsvertrag“ anzuzweifeln; sie streben nichts Geringeres als eine „Kooperationsrevolution“ an.

Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Denn hier zeigen sich die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise. Unsere Gesellschaft, deren Grundlage eigentlich die assoziierte Arbeit ist, hat die Konkurrenz unter den Menschen zu ihrem Lebensprinzip und Hauptantrieb gemacht. Sie stellt den Egoismus vor dem Gemeinsinn und ist zerrissen von tausenderlei Partikularinteressen. Nirgendwo wird dabei die Unfähigkeit des Kapitalismus zu einem einheitlichen Handeln deutlicher demonstriert als in der Frage der Ökologie. Kyoto und Kopenhagen, Schauplätze der letzten beiden Umweltkonferenzen vor Cancún, stehen für das jämmerliche Versagen der internationalen Staatengemeinschaft; beide Konferenzen scheiterten an den nationalen Egoismen der Beteiligten. Die einen – Industrieländer wie Japan, Skandinavien, der deutschsprachige Raum, etc. – drängen auf die Einführung neuer Umweltstandards, denn sie versprechen sich davon Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz, da sie im Laufe der letzten Jahrzehnte ein beachtliches Know-how in umweltschonenden Produktionsverfahren und –anlagen erworben und ihre Claims auf diesem Markt bereits abgesteckt haben. Die Anderen – die Entwicklungsländer, sog. Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien, aber auch Industrieländer wie die USA – sträuben sich mit Händen und Füßen gegen eben jene Standards, weil sie befürchten, dass sie in ihrer Aufholjagd von den etablierten Industrieländern ausgebremst werden bzw. gegenüber ihren Konkurrenten ins Hintertreffen geraten. Der Umweltschutz ist mithin selbst zum Gegenstand der Konkurrenz unter den imperialistischen Staaten geworden.

Die kapitalistische Produktionsweise generiert aber nicht nur tödliche Konkurrenz, sie ist auch eine planlose, erratische Wirtschaftsform, deren „ordnende Hand“ (Adam Smith), der Markt, nur auf unmittelbare Nachfrage reagiert, nicht aber auf langfristige Erfordernisse und schon gar nicht auf die Bedürfnisse der natürlichen Umwelt. Nur so ist zu erklären, warum sich die Manager der deutschen Automobilindustrie anlässlich regelmäßiger Rekordabsätze auf dem chinesischen Markt die Hände reiben, obwohl sie wissen, dass eine Motorisierung der chinesischen Bevölkerung katastrophale Auswirkungen auf unser Klima hätte. Nur so ist auch zu erklären, warum die petrochemische Industrie unbeirrt auf Wachstumskurs ist, obwohl die globalen Ölförderkapazitäten, der sog. oil peak, seit einigen Jahren bereits ihr Maximum überschritten haben. Nur so ist zu erklären, dass Shell, BP und die anderen Ölkonzerne mit ihrer üblen Praxis der Gasabfackelung bei der Erdölförderung jährlich mehr als vier Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre blasen. In dieser Vogel-Strauß-Politik offenbart sich das ganze Dilemma der kapitalistischen Produktionsweise. Ihre Protagonisten sind nicht Herren über ihr eigenes Geschick; sie sind zur Akkumulation verdammt und verschwenden keinerlei Gedanken für die Konsequenzen ihres Handelns. Um es in den Worten von Engels zu formulieren: „… jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, daß in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. Jeder produziert für sich mit seinen zufälligen Produktionsmitteln und für sein besondres Austauschbedürfnis. Keiner weiß, wieviel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wieviel davon überhaupt gebraucht wird, keiner weiß, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kosten herausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion.“[3] Die „Zwangsgesetze der Konkurrenz“ (ebenda) lassen den einzelnen Kapitalisten (aber auch den einzelnen Staaten) keine andere Wahl, als die Rentabilität vor der Nachhaltigkeit, den Profit vor den gesellschaftlichen (und ökologischen) Nutzen zu stellen.

Um zur Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukehren: es bestehen ernsthafte Zweifel an der Fähigkeit des Kapitalismus als globales System, rechtzeitig und adäquat auf eine derart existenzielle Gefahr wie die globale Erwärmung der Atmosphäre zu reagieren. Nichts spricht dafür, dass sich die kapitalistischen Führer der Weltgemeinschaft zu einem gemeinsamen und entschlossenen Handeln zusammenraufen werden, um noch Schlimmeres zu verhüten. Im Gegenteil: selbst jene Staaten, denen eine gewisse Vorreiterrolle in Sachen Umweltschutz nachgesagt wird, schlagen schnell alle ökologischen Vorbehalte in den Wind, wenn es um ihre nackten ökonomischen Interessen geht.[4] Was wunder, dass die Emporkömmlinge aus den sog. BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) in dem Bohei der Führer der westlichen Welt um den Umweltschutz nur ein billiges Manöver wittern und nicht im Traum daran denken, von ihrem Wachstumskurs abzuweichen. Ein grundsätzlicher Kurswechsel sieht anders aus. Die Jagd nach Rohstoffen für den unersättlichen Appetit des Kapitals geht unvermindert weiter, ja hat sich verschärft, weil neben den etablierten Industrieländern nun auch die Emporkömmlinge aus Asien und Lateinamerika mitmischen. Nachdem der Kapitalismus bereits zu Lande eine Spur der Verwüstung hinter sich gelassen hat, ist er nun dabei, nun auch die letzten natürlichen Refugien, die Antarktis und die Tiefsee auszuplündern (Erdöl, Mangan und viele andere Rohstoffe) – mit unabsehbaren Folgen für unseren Planeten.

Hatte der „juvenile Kapitalismus“ (R. Luxemburg) des 18. und 19. Jahrhunderts der Menschheit neue Lebensräume erschlossen, so ist er nun, in seiner Niedergangsphase, im Begriff, dieselben wieder zu zerstören und darüber hinaus den Rest der Welt unbewohnbar zu machen. Der dekadente Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts zehrt nur noch von seiner eigenen Substanz. Oder anders ausgedrückt: er befindet sich mitten in einem Prozess der Kannibalisierung. So wie er auf der ökonomischen Ebene seit Jahrzehnten nur mittels astronomischer Schulden überleben kann und dabei die Zukunft der Menschheit buchstäblich ruiniert, so opfert er die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit auf dem Altar des kurzfristigen Profits. Kurzum: die Gegenwart des Kapitalismus bedroht die Zukunft der Menschheit.

Ökologie, Klassenkampf und Kommunismus

Was haben die Frage der Emanzipation der Frau und die Frage des Umweltschutzes gemeinsam? Beide sind Schlüsselfragen für die Menschheit im Allgemeinen und für die Arbeiterklasse im Besonderen. Die Befreiung der Frau, dem ersten Opfer von Unterdrückung und Ausbeutung in der Menschheitsgeschichte, ist gewissermaßen das Synonym für den Kommunismus, die klassenlose Gesellschaft; der Schutz der natürlichen Umwelt, die Aussöhnung des Menschen mit seiner äußeren Natur kann erst allgegenwärtige Realität werden, wenn Ausbeutung und Unterdrückung überwunden sind und somit der Entfremdung des Menschen vom Mitmenschen, aber auch von der natürlichen Umwelt ein Ende gesetzt ist. Dennoch ist weder die Frauenbewegung noch die Umweltschutzbewegung der Schlüssel zur Überwindung des Status quo. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ein-Punkt-Bewegungen sind, die sich mit Symptomen statt mit ihren Ursachen auseinandersetzen. Die Aktivisten dieser Bewegungen ignorieren, dass diese Ursachen in erster Linie in der spezifischen kapitalistischen Produktionsweise zu suchen sind. Und nicht in den bösen Absichten ihrer Protagonisten.

Die natürliche Umwelt wird nicht durch Appelle an den „guten Willen“ der kapitalistischen Regimes vor ihrer Zerstörung beschützt, sondern allein durch die Ersetzung dieser räuberischen Wirtschaftsweise durch ein nachhaltigeres Wirtschaften nicht nur mit den natürlichen, sondern auch mit den menschlichen Ressourcen. Dass dies aber nur auf dem Weg einer Revolution an Haupt und Gliedern unserer Zivilisation geschehen kann, versteht sich von selbst. Die Umweltfrage kann nur im Rahmen der sozialen Frage gelöst werden oder gar nicht. Während Umweltschutzbewegungen, so militant sie sich auch gebärden mögen, in ihrer Limitiertheit unweigerlich in die reformistische Spur geraten, lauert in jedem Streik der Arbeiterklasse, das hat bereits der preußische Innenminister Puttkamer erkannt, „die Hydra der Revolution“. Das mag in Jahren der sozialen Grabesruhe etwas anmaßend klingen, bewahrheitet sich in Krisenzeiten, wie sie heute herrschen, allerdings umso mehr. Eine Wirtschafts- und Finanzkrise, wie sie die Welt seit einigen Jahren in Atem hält, ist weitaus brisanter, rückt sie doch das Verhältnis zwischen den beiden großen Gesellschaftsklassen, Bourgeoisie und Proletariat, gewissermaßen wieder gerade: hier eine dünne Schicht von Superreichen, Spitzenmanagern, Bankern und alteingesessenen Familienclans, die sich an und in der Krise noch eine goldene Nase „verdient“ haben, dort die große Mehrheit der Bevölkerung, die die Zeche für die Schuldenkrise zahlt und sich zunehmend einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sieht. Nie war die Wut und die Empörung „der da unten“ gegen „die da oben“ größer. Der Gesellschaftsvertrag, der in den Jahrzehnten des Wohlfahrtstaates zwischen Arbeit und Kapital in aller Munde war, gehört der Vergangenheit an. Alle Zeichen stehen auf Radikalisierung des Klassenkampfes weltweit. Mit den Massenbewegungen in Nordafrika, Spanien, Griechenland, Chile und anderswo ist der Anfang gemacht. Ungeachtet all ihrer Illusionen über die bürgerliche Demokratie, ungeachtet auch der Tatsache, dass sich diese Bewegungen noch im Rahmen von Klassen übergreifenden Volksaufständen abspielen – die Massenversammlungen auf dem Tahirplatz in Kairo, auf den Plätzen Madrids und Barcelonas lassen erahnen, welche Kraft und Kreativität der künftige Arbeiterkampf entfalten kann, sobald er auf dem ureigenen Terrain der Arbeiterklasse geführt wird. Während sich die Scharmützel der Umweltaktivisten von Greenpeace & Co. in Blockaden, spektakulären Einzelaktionen, Menschenketten, Kampagnenpolitik erschöpfen und in der Borniertheit des Ein-Punkt-Ziels verlieren, schöpft der Kampf der Arbeiterklasse seine Kraft aus dem Massenversammlungen, in denen alles, aber auch wirklich alles auf den Prüfstand gestellt wird, aus der autonomen und kollektiven Organisation der Bewegung und vor allem aus seiner tendenziellen Neigung, die Grundfeste des kapitalistischen Regimes und die Logik des Kapitals in Frage zu stellen. In einem Satz: der ausschließlich ökologisch orientierte Kampf der Umweltaktivisten muss zwangsläufig in der Sackgasse des bürgerlichen Reformismus enden, wofür die Entwicklung der grünen Parteien beispielhaft steht; der Klassenkampf der Arbeiterklasse dagegen birgt die Perspektive in sich, das Tor zu einer neuen, klassenlosen Gesellschaft zu öffnen: dem Kommunismus, der allein eine endgültige Aufhebung der Spaltung des Menschen von seinen „äußeren Natur“ bewirken kann.

Doch ebenso wenig wie der Weg der Menschheit automatisch zum Kommunismus führt, ist der Kommunismus als Option eine ewige Gewissheit, eine historische Wahrheit, die sich stets und unveränderlich einstellt, gleichgültig, wann es der Arbeiterklasse gelingt, den Kapitalismus zu stürzen.

Aus ihrer Auseinandersetzung mit den utopischen Sozialisten (Saint-Simon, Owen, Fourier u.a.), die letztlich an der Frage scheiterten, wann aus der moralischen Notwendigkeit des Sozialismus eine materielle Möglichkeit wird, zogen Marx und Engels eine ganz wichtige Schlussfolgerung: „… wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte (…) Die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen (…) hat also zur Voraussetzung eine Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist.“[5] In der Tat konnten sich die utopischen Sozialisten nie von dem Dilemma befreien, zwischen den beiden Polen Freiheit und (materielle) Gleichheit wählen zu müssen. Die Welt war zu ihren Lebzeiten noch von vor-kapitalistischen Gesellschaftsformen dominiert, die von unterentwickelten Produktivkräften und einem allseitigen Mangel gekennzeichnet waren. Erst der moderne Kapitalismus, so erkannten Marx und Engels, schuf mit seinen modernen Produktivkräften, die assoziierte Arbeit, den Wissenschaften und der modernen Technologie die Mittel zur endgültigen Überwindung des Mangels. Die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer Massenproduktion machte aus der Notwendigkeit des Kommunismus erst eine reale Möglichkeit, da Letzterer nur auf der Grundlage des Überflusses existieren kann.

Doch nun, rund hundert Jahre nach dem Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase, drohen alle Errungenschaften dieser Produktionsweise im Kampf gegen den existenziellen Mangel sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Je länger dieses System noch dahinvegetiert, desto größer ist die Gefahr, dass es der Menschheit ein Erbe hinterlässt, das den Kommunismus zu einer Unmöglichkeit macht. Denn was wir derzeit erleben, ist eine rapide, nahezu exponentielle Einschränkung des natürlichen Lebensraums des Menschen. Fangen wir mit der Entwaldung an: mehr als die Hälfte aller ursprünglich vorhandenen Wälder der Welt sind bereits verschwunden; geht die Abholzung der Regenwälder im heutigen Tempo weiter, so ist damit zu rechnen, dass in den nächsten fünfzig Jahren ein weiteres Viertel der noch existierenden Waldgebiete abgeholzt sein wird. Nehmen wir die Bodenerosion: mehr als eine Milliarde Menschen oder ein Drittel aller landwirtschaftlich nutzbaren Gebiete der Welt sind von ihr betroffen; die Folgen sind Versalzung der Böden[6], Desertifikation und Staubstürme[7]. Oder die Überfischung der Weltmeere: „Einer Prognose zufolge droht ein Rückgang der Fänge um 90% gegenüber dem jeweiligen Höchststand aller derzeit kommerziell genutzten Fischarten, sollte die Befischung unverändert fortgesetzt werden. Laut Zahlen der Food and Agriculture Organization (FAO) waren 2005 drei Viertel der weltweiten Bestände überfischt oder bis an die Grenzen der Regenerationsfähigkeit ausgebeutet. Bei rund einem Viertel der Bestände ist eine Steigerung der Fänge noch möglich. Zu Beginn der Überwachung des globalen Fischbestandes im Jahre 1974 betrug dieser Anteil noch 40%.“[8]i Vergessen wir auch nicht die chemische und radioaktive Verseuchung ganzer Regionen, die unabsehbare Zeit unbewohnbar bleiben; ganz zu schweigen von den Hinterlassenschaften des atomaren Zeitalters, die noch viele tausend Jahre vor sich hin strahlen werden und deren Entsorgung nach wie vor völlig ungeklärt ist.

Dies alles vor dem Hintergrund der globalen Erwärmung der Atmosphäre betrachtet, bleibt nur noch die Feststellung, dass die Menschheit am Scheideweg steht. Namhafte Wissenschaftler räumen der Menschheit nicht mehr viel Zeit ein. Falls in den nächsten zwanzig Jahren kein entscheidender globaler Kurswechsel stattfindet, werden die Folgen der menschengemachten Klimaveränderung aller Voraussicht nach so gravierend sein, dass sie kaum mehr beherrschbar sind. Mit anderen Worten: die Arbeiterklasse hat nicht mehr allzu lange Zeit, diese völlig unverantwortliche bürgerliche Klasse endlich in die Wüste zu schicken, bevor diese noch mehr Unheil anrichtet und den Rubikon überschreitet. Ihr zu Hilfe kommt dabei der Umstand, dass die Umweltkatastrophe einhergeht mit der weiteren Verschärfung der Weltwirtschaftskrise mit ihren verheerenden Folgen für die Arbeiterhaushalte. Nichts erschüttert das Vertrauen der ArbeiterInnen in dieses System so sehr wie die Unfähigkeit der Herrschenden, für ihr Auskommen zu sorgen, und sei es noch so bescheiden. Sie ist der Antrieb für die Beherrschten, nach eigenen Lösungen Ausschau zu halten, der Motor des Bewusstseinsprozesses, an dessen Ende ein revolutionäres Klassenbewusstsein stehen könnte, sofern die Revolutionäre dieser Welt ihren Beitrag leisten.

„Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirgs so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, daß sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wußten nicht, daß sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen)

 



[1] So wurde ein Großteil der Wälder auf der Osterinsel vermutlich für den Transport der riesigen Statuen zu ihrem Standort abgeholzt. Allein die schiere Zahl der auf der Insel aufgefundenen Statuen lässt vermuten, dass zwischen den Häuptlingen der verschiedenen Stämme ein regelrechtes „Wettrüsten“ um den Bau der größten und meisten Götzenstatuen stattgefunden hat.

[2] Mit dem Begriff der „Großen Transformation“ nehmen die Autoren Bezug auf den ungarisch-österreichischen Wirtschaftstheoretiker Karl Polanyi, der in seinem Hauptwerk The Great Transformation die These vertrat, dass – um es in den Worten der Autoren zu sagen – „die Stabilisierung und Akzeptanz der ‚modernen Industriegesellschaften‘ erst durch die Einbettung der ungesteuerten Marktdynamiken und Innovationspro­zesse in Rechtsstaat, Demokratie und wohlfahrtsstaat­liche Arrangements gelang“.

[3] Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19, S. 214f.

[4] So weigert sich die politische Klasse in Deutschland beharrlich, ein Tempolimit auf den Autobahnen einzuführen, und wehrte sich vehement und erfolgreich gegen eine Sonderbesteuerung PS-starker Kfz durch die EU – alles im Interesse der deutschen Autoproduzenten.

[5] Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19, S. 225.

[6] „Heute sind bereits neun Prozent aller gerodeten Landflächen Australiens davon betroffen, und wenn man die derzeitige Entwicklung fortschreibt, wird der Anteil nach Berechnungen auf etwa 25 Prozent ansteigen.“ (aus: J. Diamond, Kollaps, S. 497)

[7] „Von 300 n. Chr. bis 1950 suchten Staubstürme durchschnittlich alle 31 Jahre einmal Nordwestchina heim; von 1950 bis 1990 betrug der Abstand durchschnittlich nur 20 Monate; und seit 1990 ereignen sie sich fast jedes Jahr. Am 5. Mai 1993 kamen in einem gewaltigen Staubsturm ungefähr 100 Menschen um.“ (aus: J. Diamond, Kollaps, S. 456)

[8] „Überfischung der Meere“, Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Ökologie [23]
  • Umweltzerstörung [24]
  • Ökologie Kapitalismus [25]

Krieg in Libyen: Eine internationalistische Haltung der KRAS

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Wir veröffentlichen hier die Stellungnahme der KRAS, der Sektion der IAA in Russland, gegen den Krieg in Libyen. Die IKS begrüßt den Internationalismus, welcher in dieser Stellungnahme klar zum Ausdruck kommt. Dies ist nicht überraschend, da die KRAS in der Vergangenheit immer wieder eine klar internationalistische Haltung eingenommen hatte: im Jahr 2008 gegen den Krieg in Georgien und zuvor in den 1990er Jahren gegen den Krieg in Tschetschenien, wo sie jeweils jegliche Unterstützung für irgendeine bürgerliche Kriegspartei abgelehnt hatte. Was wir mit der KRAS gemeinsam haben und für uns gewichtig zählt, ist die Tatsache, dass eine Organisation wie die KRAS in der wohl wichtigsten Frage für die Arbeiterklasse, dem imperialistischen Krieg, vorbehaltlos im Lager der internationalen Arbeiterklasse steht.

Wenn der Krieg zwischen dem russischen und georgischen Staat, ein Krieg zwischen einer Großmacht und einem Zwerg, offen als Konfrontation zwischen zwei imperialistischen Gangstern erkennbar war, so ist der imperialistische Charakter des Krieges in Libyen getarnt hinter der Lüge einer „humanitären“ Intervention. Die Regierungen der Länder, welche seit Wochen mit massiven Bombardierungen gegen das brutale und irrationale Regime von Gaddafi auftreten, benützen und verdrehen die Sympathien in der Arbeiterklasse für die Aufstände in Nordafrika. Ihren Krieg geben sie aus als „Unterstützung des demokratischen Hoffnungsschimmers gegen die kapitalistischen Diktatoren“, die vor allem in der jungen Generation im Maghreb vorhanden sind. Nichts ist verlogener als das, so wie es die Stellungnahme der KRAS auch klar aufzeigt! Wir möchten dennoch zwei kurze Bemerkungen machen, vor allem um die Diskussion innerhalb der Arbeiterklasse anzuregen:

1.  Wir teilen die Auffassung der KRAS, dass sich in Ländern Nordafrikas wie Tunesien und Ägypten keine „proletarischen Revolutionen“ abgespielt haben, im Gegensatz zum dem, was gegen Ende des Ersten Weltkrieges der Fall war, als sich in Russland das Proletariat als Klasse formieren konnte und die Macht übernahm. Die Situation in Ägypten zum Beispiel, in der bürgerlichen Presse als große „Revolution für die Demokratie“ präsentiert, zeigt deutlich, wie die herrschende Klasse ihre Macht mit einer geschickten Strategie des zum Teufel Jagens des Mubarak-Clans sicherte und ein Regime mit demokratischerem Antlitz installierte. Dennoch glauben wir, dass, auch wenn die Arbeiterklasse in diesen Ländern noch stark von Illusionen in die Demokratie, den Nationalismus und selbst die Religion gefangen ist, sie in der vergangenen Zeit eine wichtige Kampferfahrung gemacht hat, welche einen historischen Wert hat auf dem Weg hin zum revolutionären Bewusstsein. Die Kampfmethoden der Arbeiterklasse hatten einen Einfluss auf die sozialen Revolten in der arabischen Welt: die Tendenz zur Selbstorganisierung, Besetzung zentraler Plätze, um sich zu versammeln und sich massiv zu organisieren, Organisierung gegen Diebe und die Polizei, Zurückweisen von unnötiger Gewalt und Anstrengungen, religiöse und andere Spaltungen zu überwinden, Verbrüderungen mit den einfachen Soldaten… „Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse auf eine lange Tradition von Kämpfen schauen kann und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat, indem sie eine Reihe von Kämpfen begann, die – wie jene von 2006-07 – als „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese Kämpfe enthielten viele der wichtigsten Merkmale des Massenstreiks: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die kompromisslose Ablehnung der staatlichen Gewerkschaften, gewisse Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Formulieren von politischen und ökonomischen Forderungen. Hier erkennt man in Ansätzen die Fähigkeit der Arbeiterklasse, als Tribüne, als Dreh– und Angelpunkt für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten“.[1] Auf der Basis von politischen Schwächen, den demokratischen und nationalistischen Illusionen, entwickelte sich die besondere Situation in Libyen von einem ursprünglichen Aufstand der Bevölkerung gegen das Regime von Gaddafi hin zu einem Krieg zwischen verschiedenen bürgerlichen Cliquen um die Kontrolle des libyschen Staates. Die blutigen imperialistischen Aktionen der Großmächte stiegen in dieses Szenario ein. Diese Verwandlung in einen Krieg zwischen verschiedenen bürgerlichen Lagern war möglich, weil die Arbeiterklasse in Libyen sehr schwach ist. Mehrheitlich aus Arbeitsimmigranten zusammengesetzt, ergriff diese die Flucht vor Massakern, weil sie sich schwer in einer Bewegung mit nationalistischem Inhalt wiederkennen konnte. Das Beispiel Libyens zeigt tragisch die Notwendigkeit für die  Arbeiterklasse auf, sich bei sozialen Revolten ins Zentrum zu stellen: ihre Zersetzung erklärt weitgehend die Entwicklung der Situation in Libyen.      

2. Die Stellungnahme der KRAS ruft die ArbeiterInnen Europas und in den USA dazu auf, gegen diesen „humanitären“ Krieg aufzutreten. Dieser Aufruf ist grundsätzlich absolut richtig, denn nur die Arbeiterklasse der in Libyen kriegführenden Länder kann die blutige Schlächterei stoppen. Aber im Moment müssen wir feststellen, dass diese Möglichkeit (leider!) nicht unmittelbar besteht. Auch wenn es Anzeichen von Protesten gegen die Intervention der NATO gibt, so bleiben diese sehr minoritär. In Frankreich zum Beispiel, der wohl offensivsten imperialistischen Großmacht in diesem Krieg, werden die Bombardierungen kaum in Frage gestellt. Der Krieg wird auch durch die Linke des Kapitals klar verteidigt. Es fällt der herrschenden Klasse momentan leicht, ihren Krieg unter dem Deckmantel der Solidarität mit den Unterdrückten des Gaddafi-Regimes zu verkaufen.

IKS, Juli 2010



Nieder mit dem neuen Krieg in Nordafrika!

Stellungnahme der КRАS, Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation in der russischen Region

https://www.aitrus.info/node/1399 [26]

Die „humanitäre“ Intervention der NATO-Mächte in Libyen, die dazu aufruft, eine der beiden Seiten im Bürgerkrieg dieses Landes militärisch zu unterstützten, hat wieder einmal bewiesen: In den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens finden keine „Revolutionen“ statt. Vielmehr tobt dort ein hartnäckiger und grausamer Kampf um Macht, Gewinne, Einfluss sowie die Kontrolle über die Erdölressourcen und die strategischen Gebiete.

Die tiefe Unzufriedenheit sowie die sozialen und wirtschaftlichen Proteste der arbeitenden Massen der Region, Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise (mit ihren Angriffen auf die Lebensbedingungen der Arbeiter, dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Vertiefung des Elends, der Ausbreitung der prekären Beschäftigung), werden von den oppositionellen politischen Gruppen benützt, um Staatsstreiche durchzuführen, um die Tyrannei korrupter, seniler Diktatoren zu stürzen und selbst ihren Platz einzunehmen. Indem die unzufriedenen Teile der herrschenden Klasse Arbeitslose, Arbeiter und Arme als Kanonenfutter mobilisieren, lenken sie von deren sozialen und ökonomischen Forderungen ab und versprechen ihnen „Demokratie“ und „Veränderung“. Tatsächlich wird die Machtergreifung durch diesen bunten Block von „Hinterbänklern“ der herrschenden Elite, von Liberalen und religiösen Fundamentalisten keine Veränderungen zum Besseren bringen. Wir wissen sehr wohl, wozu der Sieg der Liberalen führt: zu neuen Privatisierungen, der Vertiefung des marktwirtschaftlichen Chaos, dem Auftauchen der nächsten Milliardäre und der weiteren Verstärkung des Elends, der Qualen und der Leiden der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Der Triumph religiöser Fundamentalisten würde die Verstärkung der kirchlichen Reaktion, der schonungslosen Unterdrückung der Frauen und der Minderheiten und unvermeidlich die Vorbereitung zu einem neuen arabisch-israelischen Krieg bedeuten, dessen Lasten wieder auf die Schultern der arbeitenden Massen gelegt würden. Aber sogar im „idealen“ Fall der Errichtung von repräsentativ-demokratischen Regimes in den nordafrikanischen und nahöstlichen Ländern würde das werktätige Volk nichts gewinnen. Der Arbeiter, der bereit ist, sein Leben für die „Demokratie“ zu riskieren, gleicht dem Sklaven, der schwört, für sein „Recht“ zu sterben, den eigenen Herrn zu wählen. Die repräsentative Demokratie ist keinen Tropfen menschlichen Blutes wert.

Seit dem Beginn des Machtkampfes in der Region haben die europäischen Nato-Staaten und die USA je länger je mehr Partei für die politischen Gruppen der Opposition ergriffen, da immer offensichtlicher geworden ist, dass der Sieg dieser Kräfte und die Durchsetzung des „demokratischen“ Modells der politischen Herrschaft ihnen neue Vorteile und Privilegien bringen wird. Indem sie die „Demokratie“ in Tunesien und Ägypten unterstützen, hoffen sie, dort ihren Einfluss zu festigen, ihre „investierenden“ Kapitalisten von der Korruption der Diktatoren zu befreien und an der künftigen Privatisierung des Eigentums der bisher herrschenden Clans teilzunehmen. Sie unterstützen die liberale, monarchistische und religiös-fundamentalistische Opposition in Libyen, die im Bündnis von ehemaligen höchsten Beamten des Gaddafi-Regimes auftritt, und rechnen damit, sich die Kontrolle über die reichen Erdölvorräte zu sichern. Seite an Seite mit ihnen schreiten in diesem Kampf um Einfluss in der Region auch einige arabische Staaten, die eigene Ambitionen haben.

Und wieder einmal legen die Mächte mit Bomben und Beschießungen los, um das Leben der Leute zu „retten“, und „befreien“ die Menschen von den Diktaturen, indem sie sie töten. Die Regierungen der westeuropäischen Länder und der USA sind verlogen und heuchlerisch: Gestern noch halfen sie den Diktatoren, sie ließen sich von ihnen umarmen und verkauften ihnen Waffen. Heute raten sie den Diktatoren, „auf die Forderungen des Volkes zu hören“ und abzutreten, aber gleichzeitig unterdrücken sie, ohne zu zögern, die Proteste der Bevölkerung in ihren eigenen Ländern und ignorieren ihre Forderungen vollständig. Wenn die überwiegende Mehrheit der Bewohner Frankreichs oder Großbritanniens, Griechenlands oder Spaniens, Portugals oder Irlands erklärt, dass sie nicht bereit ist, die staatliche Hilfe für die Banken und die Unternehmen zu bezahlen, und fordert, die harten Sparmaßnahmen und die antisozialen Rentenreformen zurück zu nehmen, so antworten ihr die Herrschenden, dass in der Demokratie „nicht die Straße regiert“.   

Die „humanitäre“ Intervention gibt den Herrschenden Westeuropas und der USA die vorzügliche Gelegenheit, die unterjochte Bevölkerung in ihren Ländern von den Folgen der Krise abzulenken. Unter den Parolen eines „kurzen und siegreichen Kriegs“ für „die Rettung der Menschen und der Demokratie“ werden die europäischen und nordamerikanischen Arbeiter aufgefordert, die antisoziale Politik der Regierungen und der Kapitalisten zu vergessen und stattdessen stolz zu sein  auf ihre „menschlichen“ und „rechtmäßigen“ Regierenden, die „ein heiliges Bündnis“ mit den Unterdrückten eingegangen sind.

Wir rufen die Arbeiter und Arbeiterinnen der ganzen Welt auf, auf den „demokratischen“ und „humanitären“ Betrug nicht hereinzufallen und gegen die neue Eskalation der kapitalistischen Barbarei in Nordafrika und im Nahen Osten entschlossen aufzutreten. Wenn wir unsere Stimme genügend erheben und den Unterdrückten und Werktätigen der Region über alle Entfernungen und sprachlichen Grenzen hinweg zurufen könnten, würden wir sie auffordern, zu den ursprünglichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Forderungen und Themen ihres Protestes zurückzukehren, zu rebellieren, zu den Demonstration herauszukommen und gegen die niedrigen Gehälter, die Teuerung und die Arbeitslosigkeit, für die soziale Befreiung zu streiken - aber sich nicht auf politische Spiele, auf den Kampf um die Macht der verschiedenen Gruppierungen der herrschenden Klassen einlassen.

Wir rufen die Arbeiter und Arbeiterinnen Europas und Amerikas auf, auf die Straße zu gehen zum Protest gegen den neuen „humanitären“ Krieg im Interesse der Machthaber und der Kapitalisten. Wir wenden uns an die Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation mit der Bitte, die internationalistische und antimilitaristische Agitation zu verstärken und als Initiatoren von kriegsfeindlichen Demonstrationen und Streiks aufzutreten.

Nieder mit dem Krieg!

Nieder mit allen Staaten und Armeen!

Keinen Tropfen Blut weder für die Diktaturen noch die Demokratien!

Nein zu den Regierungen und den „Oppositionen“!

Für die Solidarität mit dem Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen für die soziale Befreiung!

Er lebe die allgemeine Arbeiterselbstverwaltung!  

KRAS-IAA

 



[1] Siehe Internationale Revue Nr. 47: "Was ist los in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten?"

Aktuelles und Laufendes: 

  • Lybien: KRAS Stellungnahme zu Lybien [27]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationalistischer Anarchismus [28]

Waffenlieferungen und Hungerhilfe

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Als die geplante Panzerlieferung an Saudi-Arabien in den Medien publik wurde, schrie die parlamentarische Opposition – von Linkspartei über Grüne bis SPD - auf, der Panzerverkauf verletze die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung und den Standpunkt der EU. Ähnliche Töne bei der Verkündung des geplanten Verkaufs von Patrouillenbooten an Angola.

 

Auch wenn die parlamentarische Opposition noch so lauthals „Skandal“ brüllt, Tatsache ist, die zahlreichen Rüstungsexporte aus deutschen Waffenschmieden sind ein Eckpfeiler der deutschen Erfolgsstory als Exportvizeweltmeister.  Zwar liegen deutsche Waffenexporteure noch weit hinter den USA und Russland zurück, die  einen Weltmarkanteil von 30% bzw. 23% halten, aber  Deutschland hat sich in der Zwischenzeit zum drittgrößten Waffenexporteur weltweit gemausert. Deutsche Rüstungsexporteure haben ihren Weltmarktanteil von 7% auf 11% steigern können. Wie nicht anders bei einem High-Tech-Exporteur zu erwarten, gehören hochentwickelte Waffensysteme zu den Bestsellern deutscher Waffenexporteure. Die Lieferung von Schiffen und U-Booten (z.B. an Israel, Griechenland, Türkei) macht fast die Hälfte aller Exporte aus, auch Flugzeuge wie Eurofighter sind sehr begehrt; man hofft an Indien 126 Eurofighter im Wert von 8-10 Mrd. zu verkaufen. Und während Deutschland an das bankrotte Griechenland z.B. 200 Panzerhaubitzen verkaufte, rüstete es gleichzeitig den Erzrivalen Türkei auf. Allein die Türkei nahm ca. 10% deutscher Waffenlieferungen ab. Der Deal mit Saudi-Arabien soll zwischen 1.7 und 2 Milliarden Euro einbringen. Waffenverkäufe gehören zum Kerngeschäft aller Industrieländer, wenn nicht gar zu deren Hauptgeschäft wie im Falle der USA oder Russland. Natürlich geht es nicht nur um kommerzielle Interessen der Waffenlobby, sondern auch um militärstrategische und politisch-soziale Aspekte. Der Deal mit Saudi-Arabien betrifft ein Land, dessen Arsenale zwar jetzt schon randvoll sind, das aber als wichtiger Gegenpol gegen die Regionalmacht Iran gestärkt werden soll. Zwar galt Saudi-Arabien jahrelang als zentraler arabischer Kontrahent Israels, längst haben sich aber die Konfrontationslinien verlagert; die Auseinandersetzungen mit dem Iran rücken stärker in den Vordergrund. Bislang hat Riad auch schon 72 Eurofighter erworben, so dass die Panzerlieferungen nicht das erste große Rüstungsgeschäft mit den Saudis sind.

Die Bundespolizei bildet saudi-arabische Grenzschützer aus, die Bezahlung der Beamten läuft über den privaten deutsch-französischen Rüstungskonzern EADS, der über eine Tochterfirma umfangreiche Technologie zur Grenzsicherung (Stacheldrahtzäune, Überwachungseinrichtungen usw.) lieferte.

Gleichzeitig gilt das Regime der Saudis als Bollwerk gegen soziale Erhebungen im arabischen Raum. Der Leopard 2A7+ ist speziell für den Kampf im bebauten Gelände konstruiert und daher besonders für die Niederschlagung von Aufständen geeignet. Wie entschlossen die Saudis sind, ihre Truppen als Killerkommandos loszuschicken, bewies deren Rolle bei der Niederschlagung der Opposition in Bahrain. Während deutsche Politiker in den Medien so tun, als ob sie den „arabischen Frühling“ unterstützten, stärkt das deutsche Kapital in Wirklichkeit all den Kräften den Rücken, die sich nicht davor scheuen, Panzer, Heckenschützen, Scharfschützen usw. gegen Aufständische einzusetzen, wie immer wieder in Ägypten, Syrien geschehen.

Wenn nun die Bundesregierung von der Opposition kritisiert wird, dass die Entscheidung geheim im Bundessicherheitsrat getroffen wurde, dabei die Rüstungsexportrichtlinien missachtet würden usw., tut man so, als ob der Verkauf von Waffen an und die Unterstützung (z.B.  Beratung und Ausbildung von Polizeikräften) von  „demokratischen“ Regimes moralisch „sauberer“, „unanfechtbar“ wären.

Dass der deutsche Imperialismus an den verschiedensten Fronten immer mehr mitmischt und sich auf noch mehr Auslandseinsätze vorbereitet, zeigen nicht nur die jüngsten Äußerungen des Verteidigungsministers, der anlässlich der ruhenden Wehrpflicht noch mehr Auslandseinsätze vorhersagte, sondern auch das 1.5 Milliarden teure neue Gebäude des Bundesnachrichtendienstes, der zuletzt aufgrund der Pressemeldung über den Diebstahl von Bauplänen, im Blickpunk der Öffentlichkeit geriet..

 

Kanonen statt Hungerhilfe.

 

Nicht weniger aufschlussreich war in diesem Zusammenhang die jüngste Reise von Merkel nach Afrika.

 

UNO und NGO haben Alarm geschlagen wegen der sich ausbreitenden Hungernot in Ostafrika. „Rund zwölf Millionen Menschen brauchen wegen der Dürre am Horn von Afrika laut Uno schnell Hilfe. Es hat dort so wenig geregnet wie seit fast 60 Jahren nicht mehr. Durch den ausbleibenden Regen sind in der Region nämlich die Getreidepreise explodiert, in Somalia ist Hirse so teuer wie noch nie - im vergangenen Jahr stieg der Preis um 240 Prozent. In Äthiopien ist der Maispreis in die Höhe geschnellt. Die bewaffneten Konflikte im Süden Somalias verschärfen die Dürre-Katastrophe zusätzlich. Viele Menschen trauen sich aus Angst vor Milizen-Angriffen kaum noch, ihre Felder zu bestellen. Auch Nomaden können in viele Gebiete nicht mehr mit ihren Tieren ziehen, weil dort Bürgerkrieg herrscht. Häufig treiben die bewaffneten Milizen Schutzgelder ein. URL:

www.spiegel.de/politik/ausland/duerre-in-ostafrika-wie-es-zur-jahrhundertkatastrophe-kam-a-774114.html [29], 13.07.2011.

So ist in Kenia das größte Flüchtlingslager der Welt - Dadaab - mit ca. 400.000 Menschen entstanden, wo diese um ihr Überleben kämpfen.

Mitten in diesem Inferno wurde jüngst ein neuer Staat ausgerufen, Südsudan, der schon jetzt als einer der ärmsten Staaten der Welt gilt und wegen seiner Rohstoffvorkommen zur bevorzugten Zielscheibe imperialistischer  Ambitionen mehrerer Staaten geworden ist. In dieser Region, die alle Plagen des niedergehenden Kapitalismus aufweist –

auseinanderbrechende Staaten („failed-states“), explodierende Lebensmittelpreise, völlig verarmte Fischer und Bauern, (von denen einige versuchen, sich als moderne Seeräuber durchzuschlagen während ein bedeutende Teil der Minderjährige als Kindersoldaten sich verdingen müssen), die massive Zunahme von Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Dies alles hat zur Folge, dass nun nach der Dürre nahezu ein Dutzend Millionen Menschen vom Hunger bedroht sind. In Anbetracht von dieser Katastrophe hat nun die  Bundeskanzlerin des Exportweltmeisters und drittgrößten Rüstungslieferanten Deutschland doch ihr wohltätiges Herz gespürt und dem weltweitgrößten Flüchtlingslager Dadaab EINE Million Euro, (nein, kein Irrtum,  nicht eine Milliarde) Dollar versprochen (mittlerweile ist das Erbarmen etwas größer geworden und man hat auf 5 Millionen aufgestockt). Und ein paar Stunden später saß sie schon im Flugzeug nach Angola, um dort weitere Rüstungsgüter in Form von Patrouillenbooten zu verkaufen.

Solch ein Verhalten deckt nicht nur den Zynismus und die ganze Menschenverachtung des deutschen Kapitals wie überhaupt des Kapitals auf, sondern es entblößt auch den abgrundtiefen Interessensgegensatz, den die herrschende Klasse der ganzen Welt vom Rest der Menschheit trennt.

Denn während die Regierenden vor dem Hintergrund von immer häufigeren Truppeneinsätzen an immer weiter entfernten Kriegsschauplätzen Milliarden verpulvern, um Militärtransportflugzeuge zum Transport von Truppen und Kriegsgerät zu bauen und Tankflugzeuge zum Auftanken von Bombern in Auftrag geben, während zum Beispiel der Einsatz eines Eurofighters pro Stunde 74.000 Euro kostet, während man Milliarden in Rettungspakete für Banken und Firmen steckt, wirft man den Hungernden der Welt ein paar Brosamen hin und verkauft gleichzeitig den Herrschern vor Ort oder in der Region Waffen aller Art. Und wenn dann die Flüchtlinge es wagen sollten, zu versuchen, sich unter Lebensgefahr nach Europa durchzuschlagen, um hier einen miserablen bezahlten Job zu ergattern, dann ist eine der dringendsten Sorgen, die Festung Europa weiter auszubauen. Denn eines der ersten Abkommen, das mit der neuen Übergangsregierung in Libyen geschlossen wurde, war die weitere Verriegelung und Rückführung von Flüchtlingen.

Hier über eine  „Verletzung der Waffenexportregelungen“ oder eine Missachtung des Parlaments zu jammern, wie es die Opposition in Deutschland tut, ist die reinste Augenwischerei. Denn es handelt sich um keinen parlamentarischen Skandal, sondern um die alltägliche Fratze eines vor Blut triefenden Systems. 

17.7.2011

P.s.

Dass die Hungerkatastrophe durch neue Trends mit verschärft wurde, die die Bauernbevölkerung vor Ort (ob Vieh hütende Nomaden oder ‚ortsansässige‘ Bauern) vertreibt und in eine noch größere Misere stürzt, zeigen folgende  Beispiele: „In Äthiopien scheint die drohende Katastrophe hingegen nicht nur dem Wetter geschuldet zu sein, sondern auch dem Bestreben der äthiopischen Regierung, Landwirtschaft im industriellen Maßstab anzusiedeln. Große Flächen, die ursprünglich als Ausweichflächen für die Viehherden der Nomaden dienten, sind inzwischen an indische, chinesische und südkoreanische Agrarkonzerne verpachtet worden. Die äthiopische Regierung setzt eigenen Angaben zufolge lieber auf moderne Industrie als auf pastorale Tradition.“ (FAZ, 14.07.2011) „Seit mehreren Jahren versuchen alle arabischen Regimes, ihre Versorgung mit Grundnahrungsmitteln so weit wie möglich vom Weltmarkt abzukoppeln, indem sie über Staatsfonds riesige Ländereien in Afrika und Zentralasien aufkaufen. (…) In Reaktion auf die Aufstandsbewegung kaufte die Militärregierung (Ägyptens) große Flächen im Nordsudan, die sie ägyptischen Firmen zur Bearbeitung übergab.“ (Wildcat, Sommer 2011, S. 66). 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Hungersnot Afrika [30]
  • Waffenlieferung Angola [31]
  • Waffenlieferung Saudi-Arabien [32]
  • Welthungerhilfe [33]
  • Entwicklungshilfe [34]

Zu den Büchern von Stéphane Hessel „Empört euch!“ und „Engagiert euch!“

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Sich empören, ja – über die kapitalistische Ausbeutung!

Die Schriften „Empört euch!“ und „Engagiert euch!“ des Schriftstellers, Lyrikers und französischen Diplomaten Stéphane Hessel sind wahre Bestseller. Jetzt schon sind sie zu einem Bezugspunkt für all jene geworden, die über die Ungerechtigkeit in der Welt nachdenken. Die Bewegung der sozialen Wut, die in der jüngsten Zeit über Spanien hinweg gerollt ist (und  in einem geringeren Maße auch in anderen europäischen Ländern zu sehen ist), hat sich sogar die „Empörten“ genannt und dabei ausdrücklich Bezug genommen auf sein erstes Buch (1).

„Empört euch“! ist eine ca. 30 Seiten umfassende Schrift.  Der Text wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, millionenfach auf der ganzen Welt zu einem Spottpreis verkauft, um eine möglichst große Verbreitung zu finden.  Seine Veröffentlichung war von Anfang an sehr erfolgreich. Aus gutem Grund, denn sein Titel ist allein schon ein Aufschrei gegen die Barbarei dieser Welt. Er entspricht voll und ganz dem weit verbreiteten Gefühl, das sich immer mehr unter den Unterdrückten ausbreitet und ausgelöst wird durch den Horror, den Armut und Krieg auf der ganzen Welt hervorrufen, die als immer unausstehlicher und widerwärtiger angesehen werden. Der „arabische Frühling“ in Tunesien und Ägypten und die Bewegung der „Empörten“ belegen dies.

Von welcher Gesellschaft träumt Stéphane Hessel? [1]

Stéphane Hessel ist 93 Jahre alt und hat noch die Energie, seine Empörung über diese ungerechte Welt zum Ausdruck zu bringen. Als solches kann dies nur Bewunderung und Sympathie hervorrufen. Aber die Frage steht im Raum, für welche Welt wir aus seiner Sicht schlussendlich kämpfen sollen?

Schon am Anfang seines Buches plädiert Stéphane Hessel für die Prinzipien und Werte, die den Nationalen Widerstandsrat (CNR) [2] Ende des 2. Weltkriegs dazu veranlassten, ein Wirtschaftsprogramm zu verfassen. Auf die Frage, ob diese Maßnahmen noch immer aktuell seien, antwortet Hessel:

“Natürlich haben sich die Dinge während der letzten 65 Jahre entwickelt. Heute stehen wir nicht vor den gleichen Herausforderungen wie die zur Zeit der Résistance. Das damals von uns vorgeschlagene Programm ist heute in der Form nicht mehr gültig, dem gegenüber dürfen wir nicht die Augen verschließen. Aber die Werte, für die wir damals eingetreten sind, sind die gleichen; wir müssen sie weiter hochhalten. Es sind die Werte der Republik und der Demokratie. Man kann die jeweiligen Regierungen anhand dieser Werte überprüfen. Im Programm des Widerstandsrates vertrat man eine gewisse Vision, und diese Vision bleibt heute weiterhin gültig. Sich dem Diktat des Profits und des Geldes entgegenzustellen, sich über das Nebeneinander einer extremen Armut und eines arroganten Reichtums zu empören, wirtschaftlichlich feudale Verhältnisse zu verwerfen, die Notwendigkeit einer wirklich unabhängigen Presse zu betonen, soziale Sicherheit in all ihren Formen sicherzustellen – eine ganze Reihe dieser Werte und Errungenschaften, für die wir damals eingetreten sind, sind heute bedroht. Viele der jüngst beschlossenen Maßnahmen schockieren meine Kameraden aus der Zeit der Résistance – denn sie richten sich gegen unsere Grundwerte. Ich glaube, man muss sich empören, insbesondere die Jugend. Und Widerstand leisten!“ [3]. Aber wer ist für diese Verhältnisse verantwortlich? „Dies scheint nur möglich, weil die von der Résistance bekämpfte Macht des Geldes niemals so groß, so anmaßend und egoistisch war wie heute und bis in die höchsten Ränge des Staates hinein, über eigene Interessensvertreter verfügt. Die inzwischen privatisierten Banken kümmern sich nur noch um ihre Dividenden und die ausufernden Einkommen ihrer leitenden Manager, nicht aber um das Gemeinwohl. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird ständig größer und das Streben nach Geld und Einfluss gewinnt immer mehr an Bedeutung.“ [4] Hessel zufolge müsse die Demokratie das Handeln der Führer leiten, weil die Demokratie im Gegensatz zum Egoismus der Finanzwelt und Banker sich mehr um die Interessen der Allgemeinheit kümmere: „Wir sagen ihnen: „nehmt es auf Euch, empört Euch!“ Die Verantwortlichen der Politik, Wirtschaft, die Intellektuellen und die Gesamtheit der Gesellschaft dürfen nicht klein beigeben, sich auch nicht beeindrucken lassen durch die aktuelle internationale Diktatur der Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie bedrohen. [5] Dies ist also das hochheilige Interesse der Allgemeinheit, das Politiker, Wirtschaftsführer und Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner, Prekäre vereint… Mit anderen Worten, die Demokratie des Stéphane Hessel ist ein Mythos; sie täuscht einen Zustand vor, in dem sich Ausbeuter und Ausgebeutete wie durch ein Wunder auf Augenhöhe begegnen, in dem sie angeblich über die gleichen „Rechten und Pflichten“ verfügen und als Bürger die gleichen demokratischen Interessen gegen die Diktatur der Finanzmagnaten vertreten. Und wohin führt das Ganze? Welche Seite sollen wir  aus seiner Sicht unterstützen?

„Indem wir heute überlegen, schreiben, uns demokratisch an der Wahl der Regierungen beteiligen, kann man hoffen, die Dinge auf eine kluge Art voranzutreiben…, kurzum mit einer langfristigen Sicht. [6]. Und welche Seite sollen wir  aus seiner Sicht unterstützen? „Ich betrachte mich noch immer als Sozialisten, d.h. so wie ich diesen Begriff sehe, mit einem Bewusstsein der sozialen Ungerechtigkeit. Aber die Sozialisten müssen Anregungen erhalten. Ich habe die Hoffnung, dass eine mutige, wenn nötig „freche“ Linke entsteht, die ihr Gewicht in die Waagschale wirft und eine Vision von der Freiheit der Bürger vertritt. Ich halte es auch für wichtig, dass Vertreter der Grünen in den Institutionen tätig sind, damit die Idee des Umweltschutzes Fortschritte macht.“ [7]. Letztendlich führt aus Hessels Sicht unsere Empörung dazu, dass wir alle einen Slogan übernehmen, den wir schon kennen, nämlich: “Wir sollen wählen gehen“. Wir sollen für ein neues Alternativprogramm stimmen (das als eine weitere Schrift erscheinen wird), das vom Nationalen Widerstandsrat inspiriert wurde und alle möglichen Leute zusammenfasst: radikale Linke, Globalisierungsgegner, Gewerkschafter usw., d.h. Parteien und Organisationen, denen das allgemeine Interesse des Kapitals sehr am Herzen liegt.  Glücklicherweise haben all die unzähligen Jugendlichen in Portugal und Spanien, an die sich Hessel besonders wendet, nicht auf all diese linksorientierten Reden gehört und sind den Urnen ferngeblieben. Schließlich hatten sie genügend Gelegenheiten gehabt, sozialistische Regierungen in ihrem Land am Werk zu sehen. Sie haben mit eigenen Augen wahrnehmen können, zu welch drastischen Sparmaßnahmen die sozialistischen Parteien in der Lage sind, die sie zudem noch auf ganz demokratische Weise verabschiedet haben (was übrigens auch auf Griechenland zutrifft). Und sie haben Erfahrung gemacht mit den Schlagstöcken der demokratischen Polizei der demokratischen, sozialistischen Regierung Zapateros.

Trotz alledem besteht Hessel weiterhin auf der Unterstützung dieser Parteien und erklärt:  “Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die junge Generation? Wir müssen die Werte ernst nehmen, auf die sie ihr Vertrauen oder ihr Misstrauen in Regierenden stützen – das sind die Werte der Demokratie, mit Hilfe derer man Einfluss nehmen kann auf die Entscheidungsträger.“ [8] Welchen Einfluss kann diese junge Generation auf die demokratischen Staaten ausüben, die ihnen so viel Elend aufzwingen? Vielleicht könnte man einen unbeliebt gewordenen Minister ersetzen - und dann? Was würde sich dadurch wirklich ändern? Nichts! Auf alle Länder trifft dasselbe zu: Gleichgültig, ob rechte oder linke Regierungen an der Macht sind (oder auch linkextreme wie in Südamerika), der Graben zwischen der großen Mehrheit der Bevölkerung, die sich mit einer allgemeinen Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen konfrontiert sieht, und einem bürgerlich-demokratischen Staatsapparat, der eine rigorose Sparpolitik betreibt, um den Bankrott der Wirtschaft zu vermeiden, wird immer tiefer. Es gibt keinen anderen Weg. Hinter der demokratischen Maske des Staates verbirgt sich immer die Diktatur des Kapitals.

Den Kapitalismus nicht berühren!

“Meine Generation hat eine richtige Allergie entwickelt gegenüber der Idee der Weltrevolution. Ein wenig, weil wir mit ihr geboren wurden. Ich wurde 1917 geboren, dem Jahr der Russischen Revolution, das ist ein Merkmal meiner Persönlichkeit. Ich habe das Gefühl entwickelt, vielleicht zu unrecht, dass wir nicht mit gewalttätigen, revolutionären Aktionen die bestehenden Institutionen umstürzen können; so kann man die Geschichte nicht vorantreiben“ [9]. Und etwas später fährt Hessel fort: „In allen Gesellschaften gibt es eine latente Gewalt, die zügellos zum Vorschein kommen kann. Dies war der Fall bei den Kämpfen der kolonialen Befreiung. Man muss sich bewusst sein, dass Revolten, zum Beispiel Arbeiterrevolten, noch möglich sind. Aber dies ist wenig wahrscheinlich in Anbetracht der fortgeschrittenen Globalisierung der Wirtschaft. Das Genre Germinal ist ein wenig überholt.“ [10].

Das ist also der Appell, den Hessel an die junge Generation richtet: Schlagt euch die Ideen einer Weltrevolution, des Klassenkampfes aus dem Kopf! All das gehört der Vergangenheit an. Versucht eher die Funktionsweise des Systems zu verbessern. Wie? Hier kommt Hessel mit einem „genialen und innovierenden“ Vorschlag, der seit mehr als einem Jahrhundert von allen linken Parteien vorgetragen wird: der Schaffung eines Wirtschafts- und Sozialrates, in dem die mächtigsten Staaten der Erde zusammenkommen, eine Art globales Steuerungsgremium. Dieses globale Gremium der Welt solle dabei das Ziel verfolgen, die Wirtschaft zu regulieren, um Krisen zu vermeiden und eine effektive Kontrolle über alle großen Finanzinstitutionen auszuüben, die profit- und machtgeil sind. Erinnern wir uns daran, dass der Völkerbund, der später in die UNO überging, nach dem 1. Weltkrieg mit fast gleicher offizieller Begründung geschaffen wurde. Sie lautete, den Rückfall in den Krieg mit Hilfe eines internationalen Organismus vermeiden, der die Interessen der verschiedenen Nationen miteinander versöhnt. Das Ergebnis? Der 2. Weltkrieg und … 14 Tage Frieden auf der Welt seit 1950. Tatsächlich ist die Welt in untereinander rivalisierende Nationen gespalten; sie führen ständig einen gnadenlosen Handelskrieg gegeneinander, wenn nötig auch mit Waffen. All diese „steuernden Weltorganismen“ (Welthandelsorganisation, Internationaler Währungsfond, UNO, Nato usw.) sind nur räuberische Organisationen, innerhalb derer sich die Staaten unerbittlich bekämpfen. Aber dies einzugestehen will Stéphane Hessel unbedingt vermeiden, denn dann müsste er die Notwendigkeit eines neuen Weltsystems, einer internationalen Revolution einräumen.

Lieber schickt er die Jugend in eine Sackgasse, anstatt ihr einen Ausweg zu weisen, der sie zu einer zu radikalen Infragestellung dieses Ausbeutungssystems führen würde. Stattdessen ermutigt er sie, Druck auf die jeweiligen Staaten auszuüben, damit diese eine neue Politik innerhalb des neuen Sozial- und Wirtschaftssicherheitsrates betreiben. Aus seiner Sicht reichte eine massive Einmischung der bürgerlichen Gesellschaft, eine umfangreiche Mobilisierung der Bürger aus, um die Entscheidungen der Staaten zu beeinflussen. Dieses Engagement müsse auch mit einer größeren Beteiligung der Jugend an den Nicht-Regierungsorganisationen und anderen Organismen dieser Art einhergehen, denn es gäbe eine Menge Herausforderungen und somit viele Kämpfe zu führen: ökologische, soziale, antirassistische, pazifistische und der Kampf für eine solidarische Wirtschaft…  In Wirklichkeit bietet uns Hessel den gleichen alten reformistischen Brei an. Mit einigen wohl ausgewählten Ingredienzen (eine Bürgerbeteiligung der Bevölkerung, intelligente Wahlbeteiligungen usw.) könne der Kapitalismus aufhören, das zu sein, was er ist, nämlich ein Ausbeutungssystem, und er könne menschlicher, sozialer werden.

Reform oder Revolution?

„Die Geschichte besteht aus einer Reihe aufeinanderfolgender, heftiger Erschütterungen als Preis dieser Herausforderung. Die Gesellschaftsgeschichte schreitet voran, und am Ende, nachdem der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat, erreichen wir den demokratischen Staat in seiner Vollendung“,sagt uns Hessel in Indignez-vous!. Es stimmt, die Menschheit steht vor großen Herausforderungen: Sie muss die Lösung für all diese Probleme finden, oder sie wird verschwinden. Im Mittelpunkt dieser Frage steht die Notwendigkeit der Umwälzung der Gesellschaft. Aber welche Umwälzung? Kann man den Kapitalismus reformieren, oder muss man ihn zerstören, um eine neue Gesellschaft aufzubauen?

Den Kapitalismus reformieren zu wollen ist ein Irrweg. Dies tun zu wollen heißt, sich seinen Regeln, seinen Gesetzen zu unterwerfen, die Widersprüche zu akzeptieren, die die Menschheit ins Elend, in den Krieg, ins Chaos, in die Barbarei stürzen. Das kapitalistische System ist ein Ausbeutungssystem, aber kann Ausbeutung menschlich gestaltet werden? Kann ein System menschlich werden, dessen einziges Ziel darin besteht, einer Klasse die größtmögliche Anhäufung von Reichtümern zu ermöglichen, indem Profit auf Kosten von Millionen Beschäftigten erwirtschaftet wird? Und wenn die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten sich zuspitzt, die Wirtschaftskrise immer härter zuschlägt, bezahlt die Arbeiterklasse dafür den Preis: Massenarbeitslosigkeit, Ausdehnung von prekären Verhältnissen, grenzenlose Ausbeutung am Arbeitsplatz, Lohnsenkungen usw. Dabei sind alle Mittel vorhanden, damit die Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen und eine klassenlose Gesellschaft aufbauen, d.h. ohne Ungerechtigkeit, ohne kriegerische Barbarei, durch Abschaffung der Nationalstaaten und Landesgrenzen. Nur die Arbeiterklasse kann die Perspektive solch einer Gesellschaft umsetzen. Dieser Keim ist übrigens schon in der Bewegung der „Empörten“ vorhanden: die gegenseitige Hilfe, man teilt untereinander, zeigt Solidarität und Hingabe, ist froh, zusammen zu sein. Die beeindruckende Bewegung, die man in Spanien beobachten konnte, ist kein Strohfeuer; sie kündigt weitere Kämpfe überall auf der Welt an. Kämpfe, in denen die Arbeiterklasse immer massiver auf den Plan treten und die anderen unterdrückten Schichten mit sich reißen wird. Diese Kämpfe werden sich immer deutlicher gegen das unmenschliche kapitalistische System richten; aus ihnen wird ein größeres Bewusstsein hervorgehen, dass es notwendig ist, die Gesellschaft zu ändern, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Antoine 2.7.2011,

1. Stéphane Hessel ist in Spanien ziemlich bekannt, mindestens so gut wie in Frankreich. Er lebt dort und ist mit Jose Luis Sampedro befreundet, einem spanischen Schriftsteller und Ökonom, der vor allem auch Initiator von „Democracia Real Ya“ ist. Jose Luis Sampedro hat eine Broschüre veröffentlicht, die von seinem Kompagnon inspiriert wurde, er schrieb auch für die spanische Ausgabe von „Empört euch!“ ein Vorwort.

2. Der CNR ist für Stéphane Hessel der historische Referenzpunkt, ein Beispiel, dem man folgen soll. Wir wollen später auf diese Frage zurückkommen.

3. Indignez-Vous !, S. 15.

4. Idem, S. 11.

5. Idem, S. 12.

6. Engagez-vous !, S. 16.

7. Idem, S. 43 et 44.

8. Engagez vous !, S. 22.

9. Idem, S. 20.

10. Idem, S. 21.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Empört Euch [35]
  • Engagiert Euch [36]

Leute: 

  • Stephane Hessel [37]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/2149/weltrevolution-nr-167

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