Anhang | Größe |
---|---|
![]() | 2.95 MB |
Zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 hat sich Deutschland vom ‚kranken Mann Europas‘ zum wirtschaftlichen Zugpferd des gesamten Kontinents entwickelt.“ So kommentierte das Zentralorgan der deutschen Bourgeoisie, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in seiner Online-Ausgabe vom 13. März dieses Jahres den 10. Jahrestag der Ankündigung des in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis dahin schlimmsten Angriffs gegen die abhängig Beschäftigten dieses Landes. Dieser Angriff, der im Grunde aus einer Reihe von Einzelattacken bestand, die als „Hartz I bis IV“ (benannt nach Peter Hartz, einem ehemaligen VW-Manager, der seinerzeit von Schröder, damaliger Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition, damit beauftragt wurde, die Einzelheiten dieser Angriffe auszuhecken) in die Annalen eingingen, veränderte die soziale Landschaft in Deutschland grundlegend. Er bedeutete das Ende der sog. „Sozialen Marktwirtschaft“, einst eines der Erfolgsgeheimnisse des „Wirtschaftswunders“ im Nachkriegsdeutschland, nun in den Augen der Herrschenden überflüssiger Ballast, den es schleunigst zu entsorgen galt.
Um sich ein Bild von dem Ausmaß dieser Angriffe zu machen, hilft vielleicht ein Blick zurück auf den status ante quo, auf die ersten 40 Jahre der Bundesrepublik Deutschlands, als der Kalte Krieg noch seinen Schatten warf und die SPD, als sie noch mit der FDP die sozialliberale Koalition bildete, es sich noch leisten konnte, mit dem „Modell Deutschland“ hausieren zu gehen. Ohne den Blick zurück zu verklären, gehörte der Lebensstandard der westdeutschen Arbeiterklasse bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zweifellos zu den höchsten in der gesamten Welt. Dies drückte sich zum einen in einer wachsenden Kaufkraft von „Otto Normalverbraucher“, die weit über die reinen Reproduktionskosten hinausging, und zum anderen in hohen Sozialstandards aus, die für ein relativ engmaschiges soziales Sicherungsnetz, aber auch für die Aufblähung der staatlichen und unternehmerischen Sozialausgaben (Renten-, Arbeitslosen-, Krankenversicherung, etc.) sorgten.
Das Phänomen des Wohlfahrtsstaates, das den gängigen marxistischen Vorstellungen von der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse doch so offensichtlich zu widersprechen schien, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen zwang der durch den blutigen Aderlass des Zweiten Weltkrieges bewirkte massive Mangel an Arbeitskräften die Unternehmen in den Zeiten des „Wirtschaftswunders“ zu erheblichen Lohnzugeständnissen. Trotz der Integration des Millionenheers der Vertriebenen in die bundesrepublikanische Wirtschaft war die Arbeitskraft insbesondere in den 1960er Jahren, den Jahren der Vollbeschäftigung, ein rares Gut, das es auch durch entsprechende Sozialleistungen wie die sog. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder die Arbeitslosenunterstützung (die bis in die 1970er Jahre fast 90 Prozent des Lohns betrug) zu hegen und zu pflegen galt. Zum anderen übte die Tatsache, dass Deutschland ein Frontstaat im Kalten Krieg war, einen nicht unerheblichen Druck auf die Herrschenden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aus, ihre Bevölkerung durch sozialpolitische Wohltaten „bei der Stange zu halten“.
Ab Ende der 1960er Jahre, das Ende der Wiederaufbauperiode wurde eingeläutet, begannen allmählich die Grundlagen des vielbesungenen Wohlfahrtstaates wegzubrechen. Die Krise, wenngleich anfangs in noch recht moderaten Ausmaßen, führte mit ihren Folgeerscheinungen wie der Massenarbeitslosigkeit zu einer Überbelastung der Sozialkassen; und die Hochlohnpolitik des Wohlfahrtstaates mündete letztendlich in Inflation. Doch während in Großbritannien und den USA diesen „Jahren der Illusion“, wie wir die 1970er Jahre charakterisierten, mit dem Machtantritt der erst kürzlich verstorbenen Margareth Thatcher in Großbritannien und von Ronald Reagan in den USA in den 80ern die „Jahre der Wahrheit“ folgten, blieb in der Bundesrepublik im Wesentlichen alles beim Alten. Sicherlich war die politische Klasse auch in Deutschland nicht untätig; da und dort wurde an den Stellschrauben des Sozialstaates zum Schaden der Arbeiterklasse gedreht. Doch schon in den achtziger Jahren häuften sich die Stimmen, die sich eine weitergehende „Reformierung“ des Sozialstaates oder gar gleich sein Ende wünschten. Gerne verwiesen diese Meinungsmacher dabei auf ausländische Stimmen, die den „unflexiblen“, „starren“ deutschen Arbeitsmarkt kritisierten, weil er nach dieser Lesart ausländischen Investoren den Eintritt in den deutschen Markt erschwerte, wenn nicht gar verunmöglichte. Doch die christlich-liberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl, die 1982 mit dem Versprechen einer „geistig-moralischen Wende“ angetreten war, erwies sich als außerstande, zum großen Schlag gegen die Arbeiterklasse auszuholen. Die starken „Sozialausschüsse der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft“ in der CDU, aber vor allem die Furcht der Konservativen vor gesellschaftlichen Widerständen ließ die Koalition vor allzu starken Einschnitten in den Wohlfahrtsstaat zurückschrecken.
Es gilt als sicher, dass die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl nach zwei Legislaturperioden abgewählt worden wäre, wenn es im November 1989 nicht zum Fall der Berliner Mauer gekommen wäre. Denn während Kohls Rolle bei der „Wiedervereinigung“ in politischer Hinsicht ein Glücksfall für den deutschen Imperialismus war, erwies sie sich in ökonomischen Belangen als ein Desaster für die deutsche Bourgeoisie. Zwei Legislativperioden lang, von 1990 bis 1998, verharrte die Wirtschafts-und Sozialpolitik praktisch im Stillstand, mit verheerenden Folgen. Dank der immensen Wiedervereinigungskosten, die auch dadurch zustande kamen, dass das westdeutsche Sozialsystem quasi eins zu eins auf das wieder angeschlossene Ostdeutschland übertragen wurde, rutschte Deutschland vom Geberland in den Rang eines Schuldnerstaates, der sich auf den internationalen Finanzmärkten Kapital leihen musste. Neben den Kommunen und Arbeitsämtern ächzten auch die Unternehmen unter den hohen Lohnnebenkosten (Arbeitslosen-, Kranken-, Sozialversicherungsbeiträge sowie – neu hinzukommend – der sog. Solidaritätszuschlag), mit der Folge, dass nach der anfänglichen Wiedervereinigungseuphorie das Wachstum der deutschen Wirtschaft in den Keller ging. Mitte der 1990er Jahre nahm der Zustand der deutschen Wirtschaft solch besorgniserregende Züge an, dass die ganze Welt von Deutschland als den „kranken Mann Europas“ sprach.
Die Bundestagswahlen Ende 1998 waren eine Gelegenheit für die deutsche Bourgeoisie und ihre politische Klasse, die Notbremse zu ziehen und die Kohl-Regierung nach 16 Jahren endlich in die Wüste zu schicken. Dabei konnte sie auf eine Partei zurückgreifen, die in der Geschichte bereits mehrfach bewiesen hat, dass sie bis hin zur Selbstverleugnung bereit ist, das gesamtkapitalistische Interesse gegen partikularistische Einzelinteressen wie auch gegen umstürzlerische Bestrebungen zu verteidigen – die SPD. Und so wie der SPD-Politiker Gustav Noske mit den Worten: „Einer muss ja den Bluthund machen“ zur blutigen Niederschlagung des Aufstands der Berliner ArbeiterInnen im Januar 1919 angetreten war, so selbstverständlich schritt auch Gerhard Schröder zur Tat, nachdem seine rot-grüne Koalition im November 1998 ihre Regierungsgeschäfte antrat. Seine Koalition machte sich gleich in zweierlei Hinsicht um die Interessen der deutschen Bourgeoisie verdient: In ihrer ersten Amtszeit gelang es ihr ohne größere Blessuren, mit dem ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach dem II.Weltkrieg (im Rahmen des NATO-Einsatzes gegen Serbien 1999) den teils selbst auferlegten, teils von außen aufgezwungenen antibellizistischen Bann zu brechen. Das Gesellenstück allerdings gelang dieser Koalition nach ihrer Wiederwahl 2003 unter Federführung der SPD – die „Agenda 2010“. Es war aus Sicht der Herrschenden eine Meisterleistung, wie sie nur die alte „Tante“ SPD zustandebringen konnte, wenngleich um den Preis eines unerhörten Verlustes ihrer Reputation unter den Stammwählern, von dem sie sich bis heute noch nicht erholt hat.
Der massivste Angriff gegen die Arbeiterklasse in Deutschland nach dem Krieg, unter dessen Namen „Agenda 2010“ die eingangs erwähnten Hartz-Gesetze und –regelungen zusammengefasst wurden, erfolgte auf mehreren Ebenen. Hier in aller Kürze die Kernpunkte. Es wurde:
- die bis dahin geltende Zumutbarkeitsregelung pulverisiert, die es Arbeitslosen gestattete, Arbeitsangebote des Arbeitsamtes abzulehnen, die unterhalb ihrer Qualifikation waren;
- die sog. Flexibilisierung der Arbeit massiv ausgeweitet, und zwar in Gestalt prekärer, unterbezahlter Arbeitsplätze (Zeitarbeit, Ich-AG, 400 Euro-Jobs, etc.);
- die sog. Parität zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten bei der Finanzierung der Sozialbeiträge zuungunsten Letzterer aufgehoben;
- die staatliche Hilfe für Arbeitslose massiv eingeschränkt, indem Arbeitslose nur noch ein Jahr lang Arbeitslosenunterstützung beziehen und die Sozialhilfe mit der sog. Arbeitslosenhilfe (Hartz IV oder ALG2) zusammengelegt wurde.
Die Auswirkungen der Agenda 2010 waren dramatisch und bestimmen bis heute das gesellschaftliche Geschehen. Dabei profitieren Unternehmen, Banken, Versicherungsträger und nicht zuletzt der Staat in vielfältiger Weise von der Agenda 2010, nachdem deren anfängliche handwerkliche Fehler behoben worden waren. Vor allem die Kombination aus Flexiblisierung und Verbilligung eines Teils der Arbeitskräfte hat sich dabei schon jetzt als überaus vorteilhaft für Wirtschaft und Staat in Deutschland herausgestellt. Als 2008 Lehman Brothers kollabierte und die Weltwirtschaft in eine tiefe Rezession stürzte, konnte die deutsche Bourgeoisie auf zwei Instrumente zurükgreifen, um die Folgen dieser weltweiten Rezession im Vergleich zu ihren Kontrahenten auf dem Weltmarkt relativ gut abzufedern. Neben der Kurzarbeit handelte es sich dabei um ein Mittel, das Marx einst die „industrielle Reservearmee“ nannte: das Heer der Arbeitslosen, aus dem das Kapital schöpft, um Produktionsspitzen zu kompensieren. Denn mit der Abschaffung der Umzumutbarkeitsklausel und der massiven Kürzung der Arbeitslosenunterstützung waren die Grundlagen für den enormen Ausbau der Zeitarbeitsbranche gelegt worden, die mit Löhnen knapp oberhalb von Hartz IV eine wachsende Schar von ArbeiterInnen köderten. Insbesondere die Automobilindustrie bediente sich dieses Mittels, um in den Nullerjahren die Nachfragespitzen abzudecken und – nach der Lehman-Pleite – die entstandenen Überkapazitäten ohne größere Unkosten und Widerstände abzubauen, indem zigtausende von ZeitarbeiterInnen von einem Tag auf den anderen entlassen wurden.
Die Entwertung der Arbeitskraft hat aber besonders im sog. Dienstleistungsbereich in Deutschland Einzug gehalten. Einzelhandel, Gastronomie, Callcenter, der Pflege- und Sozialbereich, das Reinigungsgewerbe – alle Bereiche, in denen das konstante Kapital, sprich: die menschliche Arbeitskraft, anders als im produzierenden Gewerbe, noch die Hauptrolle spielt, erlebte in den vergangenen zehn Jahren einen dramatischen Einbruch in den Löhnen. Deutschland gehört mittlerweile zu den Ländern mit der stärksten Zunahme der Niedriglohnarbeit auf der Welt. Diese Politik hat ein Ausmaß angenommen, dass sie die Rivalen Deutschlands auf den Plan rief. Bereits im März 2010 kritisierte die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde ungewöhnlich scharf die Politik des „Lohndumpings“ in Deutschland, die das Gleichgewicht in der Europäischen Union zu gefährden drohe. In der Tat haben beispielsweise Einzelhandelsketten wie Aldi, Plus, Metro, etc. ihre Expansion in alle Welt, aber besonders in Europa aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Überausbeutung ihrer einheimischen Beschäftigten finanziert. Minijobs, 400 Euro-Jobs, sog. Werkverträge, etc. haben die Kernbelegschaften der Supermärkte marginalisiert und einen erheblichen Druck auf ihre Löhne ausgeübt.
Neben dem Privatkapital waren die öffentlichen Kassen die Hauptnutznießer der Agenda 2010. Nach dem finanziellen Aderlass der „Wiedervereinigung“, der die deutsche Bourgeoisie dazu genötigt hatte, die von ihr selbst durchgesetzten Stabilitätskriterien von Maastricht aufzuweichen, sorgten die drastischen Streichungen in den staatlichen Sozialausgaben (immer noch der größte Einzeletat der Bundesregierung) und steigende Beschäftigungszahlen in den vergangenen zehn Jahren für eine deutliche Entlastung der öffentlichen Etats. Die Neuverschuldung geht stetig zurück; bereits in den nächsten zwei Jahren soll die Netto-Neuverschuldung des deutschen Staates auf Null reduziert werden.
„Dass Deutschland heute wirtschaftlich so viel besser dasteht als die Mehrzahl der EU-Partner, ist ein Ergebnis der Agenda 2010. Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass (…) Deutschland heute weitaus wettbewerbsfähiger als vor 2003.“ (Heinrich August Winkler, Historiker, in einem Interview mit dem Berliner TAGESSPIEGEL) Natürlich ist die neuerliche Verschärfung der Weltwirtschaftskrise in Gestalt der Immobilien- und Schuldenkrise nicht spurlos an der deutschen Wirtschaft vorübergegangen. Auch deutschen Banken drohte die Insolvenz, auch hierzulande fielen die Wachstumszahlen nach dem Ausbruch der Lehman-Pleite auf ein historisches Tief. Deutschland ist mitnichten eine Insel der Seligen im kapitalistischen Krisengewitter, aber in gewisser Weise ist der deutsche Kapitalismus auch ein Krisengewinner, der von dem Umstand profitiert, dass sich seine Konkurrenten, insbesondere seine europäischen Rivalen, als noch anfälliger gegenüber den Folgen der Krise erwiesen haben. Deutschland ist stark, weil die anderen schwach sind. Seine derzeitige Stärke bezieht der deutsche Imperialismus aus dem Versäumnis seiner Rivalen, ihre Volkswirtschaften ähnlich wetterfest zu gestalten, wie dies in Deutschland vor zehn Jahren mit der Agenda 2010 geschah.
Damit kein falscher Zungenschlag entsteht: Deutschland ist keinesfalls auf dem Sprung zu einem imperialistischen Blockführer. Genausowenig wie China ist der deutsche Imperialismus in der Lage, die US-amerikanische Supermacht ernsthaft herauszufordern. Doch die deutsche Bourgeoisie denkt langfristig oder vielmehr: sie praktiziert notgedrungen eine Politik der kleinen Schritte. So strebt sie derzeit die Einführung einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik nach deutschen Maßstäben an, die – geht es nach den Vorstellungen der deutschen Europa-Politiker - ein erster wichtiger Baustein beim Aufbau der sog. Politischen Union sein soll. Und die Ironie der Geschichte will es, dass ausgerechnet die Agenda 2010, die seinerzeit auch von den Rivalen Deutschlands aus Sorge um den miserablen Zustand der deutschen Volkswirtschaft begrüßt worden war, nun der deutschen Bourgeoisie bei diesem Unterfangen den notwendigen Rückenwind verschafft hat.
Hauptleidtragender der Agenda 2010 ist die Arbeiterklasse in Deutschland. Es wäre falsch verstandener Alarmismus, würde man behaupten, dass die Lage der heutigen Arbeiterklasse in Deutschland jener von 1929 gleicht, als die erste Weltwirtschaftskrise unsere Großeltern von einem Tag auf den anderen in tiefstes Elend stürzte. Und dennoch erleben wir nun schon seit Jahren eine schleichend um sich greifende Verelendung eines großen Teils der hiesigen Arbeiterklasse, sind wir Zeuge einer Zweiteilung des Arbeitsmarktes, wenn nicht gar einer Spaltung der Arbeiterklase in Deutschland.
Auf der einen Seite haben wir das so genannte „Prekariat“, das rasch anwächst. Über ein Viertel aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Deutschland ist heute bereits prekärer Natur. Das Phänomen der workingpoor, d.h. jener Teile unserer Klasse, deren Einkommen nicht reicht, um ihre Regenerationskosten zu begleichen, hat dramatisch zugenommen; immer mehr ArbeiterInnen müssen ihren buchstäblichen Hungerlohn mit zusätzlichen Unterstützungszahlungen im Rahmen des sog. Arbeitslosengeldes II aufstocken. So lebt in Berlin mehr als die Hälfte der Bevölkerung völlig oder teilweise von Hartz IV. Nicht zuletzt sind es die Kinder, die an den Folgen der Armut leiden: Mehr als 2,5 Millionen Kinder in Deutschland gelten als arm; sie gehen mit knurrendem Magen in die Schule und sind von allen kostenträchtigen Unternehmungen (Klassenfahrten, Bildungsunterstützung, Vereine, etc.) ausgeschlossen. Darüber hinaus rollt in ein paar Jahren noch ein weiteres Problem auf die Gesellschaft zu, denn die prekär Beschäftigten von heute sind die Armutsrentner von morgen; ihnen droht eine Mindestrente von ein paar Hundert Euro – zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben.
Auf der anderen Seite gibt es die sog. Kernbelegschaften, deren Zahl immer mehr schrumpft: die festangestellten, hoch qualifizierten und spezialisierten, nach Tarif bezahlten Arbeitskräfte in Industrie und Handwerk. Neben dem „Privileg“ der Festanstellung kommt dieser Teil unserer Klasse auch in den Genuss tariflicher und außertariflicher Sonderzahlungen, wie die vierstelligen Sondervergütungen in der deutschen Automobilindustrie in den vergangenen Jahren. Doch der Schein trügt. Auch über diesem Teil der Beschäftigten schwebt das Damoklesschwert von Hartz IV, nicht nur als Drohung im Falle der Unbotmäßigkeit gegenüber dem Brötchengeber, sondern auch ganz konkret als permanenter Druck auf Löhne und Gehälter. Denn die paar Extrazahlungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass seit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die tariflichen Reallöhne der Kernbelegschaften kontinuierlich gesunken sind.
Angesichts der Brutalität der Angriffe und verglichen damit, wie sich noch vor rund 30 Jahren die Beschäftigten schon gegen weitaus harmlosere Attacken seitens des Kapitals zur Wehr gesetzt hatten, nahmen sich die Proteste der Klasse gegen die Agenda 2010 wie ein laues Lüftchen aus. Nachdem es anfangs, nach der Verabschiedung der Hartz IV-Gesetze, wenigstens noch zu der einen oder anderen Großdemonstration (vor allem in Berlin) mit mehr als 100.000 Teilnehmern gekommen war, versandeten die Proteste anschließend schnell bzw. gerieten (wie die sog. Montagsdemonstrationen) in die Fänge von linksextremistischen Sektierern wie der MLPD. So stellt sich die Frage: Haben die Lohn- und Gehaltsabhängigen dieses Landes den Kampf bereits verloren, noch ehe er richtig begonnen hat? Wir denken, dass dem nicht so ist. Was wir allerdings auch konstatieren müssen, ist, dass es den Herrschenden in Deutschland bislang vortrefflich gelungen ist, die Arbeiterklasse in Deutschland mittels des uralten Herrschaftsprinzips des „Teile und herrsche“ in einem Zustand der vorläufigen Lähmung zu versetzen. Indem sie über die „Asozialität“ der so genannten Unterschichten deliriert und gleichzeitig die Besserverdienenden auf nicht nachvollziehbare Weise dem wie auch immer gearteten „neuen Mittelstand“ zurechnet, hat sie für eine gewisse Entfremdung zwischen beiden Bereichen der Arbeiterklasse gesorgt. So kam es bisher zu keinerlei nennenswerter Solidarisierung seitens der Kernbelegschaften mit den prekär beschäftigten KollegInnen; und unter Letzteren gab es, sofern sie sich nicht willig ihrem Schicksal beugten, gelegentlich die Neigung, im festangestellten Kollegen den Sündenbock für ihre katastrophale Lage zu sehen. Darüber hinaus herrscht in weiten Teilen unserer Klasse angesichts der Elendsbilder aus Griechenland und anderswo das Gefühl vor, man sei hierzulande noch einmal davongekommen. Daher gelte es, die Füße stillzuhalten, damit uns nicht das gleiche Los erwischt wie unserer griechischen, zypriotischen, portugiesischen und spanischen Klassenbrüdern und –schwestern. Diese Illusion wird auch noch durch den Umstand verstärkt, dass immer mehr junge Spanier und Griechen ihre Zukunft auf dem deutschen Arbeitsmarkt suchen, und von der ernüchternden Erkenntnis unterfüttert, dass die Abwehrkämpfe der griechischen Beschäftigten allem Anschein nach bisher ins Leere gelaufen sind, dass ihr Widerstand offenkundig nichts an ihrer elenden Lage verändert hat, jedenfalls nicht zum Guten.
Jedoch kann dieser Zustand, wie schon gesagt, nur vorläufiger Natur sein. Krise und Konkurrenzdruck zwingen das Kapital in Deutschland dazu, die Kernbelegschaften immer weiter zu schröpfen und ihre Lebens-und Arbeitsbedingungen jener der prekär Beschäftigten anzupassen – und beide zusammen Zug um Zug denselben Bedingungen auszusetzen, wie sie derzeit bereits in Südeuropa herrschen. Die Nivellierung des Lebensstandards nach unten wird so letztendlich dafür sorgen, dass zusammengeführt wird, was zusammengehört: „Unterschichten“ wie Kernbelegschaften oder der „neue Mittelstand“ sind alles Bestandteile ein-und derselben Gesellschaftsklasse, die nur vereint diesem kapitalistischen Jammertal ein Ende bereiten kann, vorausgesetzt, sie beschränken ihren Kampf nicht mehr allein auf die letztendlich vergebliche Verteidigung ihrer Positionen innerhalb des Systems, sondern machen sich auch eine Perspektive zu eigen, die über die kaputte und kaputt machende kapitalistische Gesellschaft hinausreicht.
Was ist laut Christophe Darmangeat schließlich die Rolle und die Situation der Frauen in der primitiven Gesellschaft? Wir können hier nicht die gesamte Argumentation wiedergeben, die in seinem Buch enthalten ist und die sich durch solide Kenntnisse der Ethnographie und bemerkenswerte Beispiele auszeichnet. Wir werden uns stattdessen auf eine Zusammenfassung seiner Schlussfolgerungen beschränken.
Eine erste Feststellung, die einleuchtend erscheint, es in der Realität aber nicht ist, lautet, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung eine universelle Konstante in der menschlichen Gesellschaft bis zum Erscheinen des Kapitalismus ist. Der Kapitalismus bleibe eine fundamental patriarchalische Gesellschaft, die auf der Ausbeutung basiert (welche die sexuelle Ausbeutung, die Sexindustrie als eine der profitabelsten Industrie in der neueren Zeit mit beinhaltet). Nichtsdestotrotz habe der Kapitalismus durch die offene Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft und durch die Entwicklung einer Maschinerie (so dass die Körperkraft nicht mehr eine wichtige Rolle im Arbeitsprozess spielt) die Arbeitsteilung zwischen der „maskulinen“ und der „femininen“ Rolle in der gesellschaftlichen Arbeit zerstört. Auf diese Weise habe er das Fundament für eine wirkliche Befreiung der Frauen in der kommunustischen Gesellschaft gelegt.[2]
Die Lage der Frauen unterscheidet sich in den unterschiedlichen primitiven Gesellschaften, die Anthropologen zu untersuchen in der Lage waren, enorm: In einigen Fällen leiden Frauen unter einer Unterdrückung, die mehr als einen flüchtigen Vergleich mit der Klassenunterdrückung standhält, während sie in anderen nicht nur eine gesellschaftliche Wertschätzung genießen, sondern auch ganz real gesellschaftliche Macht ausüben. Wo solche Macht existiert, basiert sie auf den Eigentumsrechten über die Produktion, die durch das religiöse und rituelle Leben der Gesellschaft verstärkt werden: Um nur ein Beispiel zu nennen, berichtet uns Bronislaw Malinowski (in Argonauten des westlichen Pazifik), dass die Frauen der Trobriand-Inseln nicht nur das Monopol auf die Arbeit des Gartenbaus (von größter Bedeutung für die Inselwirtschaft) hatten, sondern auch auf verschiedene Formen der Magie, einschließlich jener, die als die gefährlichsten anerkannt sind)[3].
Während jedoch die geschlechtliche Arbeitsteilung von einem Volk und einer Existenzweise zum/zur nächsten sehr unterschiedliche Situationen umfassen kann, gibt es eine Regel, die fast ohne Ausnahme angewandt wird: Überall sind es die Männer, die das Recht haben, Waffen zu tragen, und die daher ein Monopol auf die Kriegführung haben. Infolgedessen haben sie ein Monopol auf die „äußeren Beziehungen“. Als sich die gesellschaftliche Ungleichheit zu entwickeln begann, zunächst mit der Lagerhaltung von Lebensmitteln, dann, in der Jungsteinzeit, mit der voll entfalteten Landwirtschaft und dem Aufkommen des Privateigentums und der gesellschaftlichen Klassen, erlaubte es ihre spezifische Situation den Männern, Stück für Stück die Totalität des Gesellschaftslebens zu dominieren. In diesem Sinn lag Engels zweifellos richtig, wenn er in Ursprung der Familie… sagte: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“.[4] Dennoch sollte man tunlichst vermeiden, die Dinge schmeatisch zu betrachten, da selbst die ersten Zivilisationen in dieser Hinsicht alles andere als homogen waren. Eine Vergleichsstudie etlicher früher Zivilisationen[5] weist auf ein breites Spektrum hin: Während die Lage der Frauen in mittelamerikanischen und Inkagesellschaften wenig beneidenswert war, besaßen beispielsweise unter den Yoruba in Afrika die Frauen nicht nur Eigentum und übten ein Monopol auf bestimmte Produkte aus, sie betrieben auch einen ausgedehnten Handel auf eigene Rechnung und konnten selbst diplomatische und militärische Expeditionen anführen.
Bisher beschränkten wir uns mit Darmangeat auf den Bereich von Untersuchungen „historisch bekannter“ primitiver Gesellschaften (in dem Sinn, dass sie von den schriftkundigen Gesellschaften, von der antiken Welt bis zur modernen Anthropologie, beschrieben worden waren). Dies kann uns allenfalls etwas über die Lebensumstände seit der Erfindung der Schrift vor ungefähr 6000 Jahren verraten. Doch was können wir über die 200.000 Jahre des anatomisch modernen Menschen sagen, die dem vorausgingen? Wie sollen wir den entscheidenden Augenblick verstehen, als die Natur der Kultur als determinierender Hauptfaktor im menschlichen Verhalten Platz machte, und wie sind genetische und kulturelle Elemente in der menschlichen Gesellschaft miteinander verwoben? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine rein empirische Betrachtung bekannter Gesellschaften völlig unzureichend.
Einer der auffälligsten Aspekte in der Untersuchung früher Zivilisationen (s.o.) ist, dass, wie unterschiedlich auch immer das Bild ist, das sie von den Lebensbedingungen der Frauen zeichnen, sie alle Legenden enthalten, die sich auf Frauen als Häuptlinge beziehen, welche gelegentlich mit Göttinnen identifiziert werden. Alle von ihnen haben im Laufe der Zeit einen Niedergang in der Lage der Frauen erlebt. Man ist versucht, ein allgemeines Gesetz hierin zu erblicken: Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto größer war die gesellschaftliche Autorität, die die Frauen besaßen.
Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn wir noch primitivere Gesellschaft untersuchen. Auf jedem Kontinent finden wir ähnliche oder gar identische Mythen: Einst besaßen die Frauen Macht, doch seither haben die Männer ihnen diese Macht entrissen, und nun sind sie es, die herrschen. Überall wird die Macht der Frauen mit dem mächtigsten Zauber von allen in Verbindung gebracht: dem Zauber, der auf dem Monatszyklus der Frauen und ihrem Menstruationsblut basiert, was bis zu Ritualen reicht, in denen Männer die Menstruation imitieren.[6]
Was können wir aus dieser allgegenwärtigen Realität schließen? Können wir daraus den Schluss ziehen, dass sie eine historische Realität repräsentiert und dass einst eine Gesellschaft existierte, in der Frauen eine führende, wenn nicht gar notwendigerweise eine herrschende Rolle innehielten?
Für Darmangeat ist die Antwort unmissverständlich und negativ: „… der Gedanke, dass Mythen, die von der Vergangenheit berichten, von einer wirklichen Vergangenheit, wenn auch deformiert, erzählen, ist eine äußerst kühne, um nicht zu sagen: haltlose Hypothese“ (S. 167). Mythen „erzählen Geschichten, die nur in Bezug auf die gegenwärtige Realität eine Bedeutung haben und die die Funktion haben, Letztere zu rechtfertigen. Die Vergangenheit, von der sie sprechen, wird allein dafür erfunden, um dieses Ziel zu erfüllen“ (S. 173).
Dieses Argument ist in zweierlei Hinsicht problematisch.
Das erste Problem ist, dass Darmangeat ein Marxist zu sein behauptet, der bei der Aktualisierung seiner Schlussfolgerungen der Methode von Engels treu geblieben sei. Doch auch wenn Engels‘Ursprünge der Familie… sich ausgiebig auf Lewis Morgan stützt, pflichtet er auch dem Werk des Schweizer Juristen Bachofen große Bedeutung bei, der der erste war, der die Mythologie als eine Grundlage zum Verständnis der Geschlechterbeziehungen in der fernen Vergangenheit benutzte. Laut Darmangeat ist Engels „überaus vorsichtig bei seiner Rezeption von Bachofens Matriarchats-Theorie (…) obgleich er sich zurückhält bei der Kritik an der Theorie des Schweizer Juristen, unterstützt er sie nur sehr eingeschränkt. Es gibt nichts Überraschendes hier: In Anbetracht seiner eigenen Analyse der Gründe für die Vorherrschaft des einen Geschlechts über das andere konnte Engels kaum akzeptieren, dass vor der Entwicklung von Privateigentum der Vorherrschaft der Männer über die Frauen die Vorherrschaft der Frauen über die Männer vorausging; er stellte sich die prähistorischen Geschlechterbeziehungen vielmehr als eine bestimmte Form der Gleichheit vor“ (S. 150f.).
Engels mag durchaus vorsichtig gewesen sein, was Bachofens Schlussfolgerungen anbelangte, aber er hatte keine Bedenken, was Bachofens Methode anging, die die mythologische Analyse nutzte, um die historische Wirklichkeit zu enthüllen: In seinem Vorwort zur 4. Ausgabe vonUrsprung der Familie… (mit anderen Worten: nachdem er eine Menge Zeit hatte, sein Werk neu zu strukturieren, einschließlich einiger notwendiger Korrekturen) griff Engels Bachofens Analyse des Orest-Mythos (insbesondere die Version des griechischen Tragikers Aescyklus) auf und schloss mit dem Kommentar: „Diese neue, aber entschieden richtige Deutung der ‚Oresteia‘ ist eine der schönsten und besten Stellen im ganzen Buch (…) er, zuerst, hat die Phrase von einem unbekannten Urzustand mit regellosem Geschlechtsverkehr ersetzt durch den Nachweis, daß die altklassische Literatur uns Spuren in Menge aufzeigt, wonach vor der Einzelehe in der Tat bei Griechen und Asiaten ein Zustand existiert hat, worin nicht nur ein Mann mit mehreren Frauen, sondern eine Frau mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrte, ohne gegen die Sitte zu verstoßen (…) Diese Sätze hat Bachofen zwar nicht in dieser Klarheit ausgesprochen – das verhinderte seine mystische Anschauung. Aber er hat sie bewiesen, und das bedeutete 1861 eine vollständige Revolution.“
Dies bringt uns zur zweiten Frage: Wie sollten Mythen erklärt werden? Mythen sind Bestandteil der materiellen Realität wie andere Phänomene auch; sie sind daher von dieser Realität auch bestimmt. Darmangeat schlägt zwei mögliche Determinanten vor: Entweder handelt es sich bei ihnen schlicht und einfach um „Geschichten“, die von Männern erfunden wurden, um ihre Herrschaft über die Frauen zu rechtfertigen, oder sie sind irrational. „In der Vorgeschichte und auch lange Zeit danach waren natürliche oder gesellschaftliche Phänomene universell und unvermeidlich durch ein magisch-religiöses Prisma interpretiert. Dies bedeutet nicht, dass das rationale Denken nicht existierte; es bedeutet, dass es selbst, als es präsent war, in einem bestimmten Umfang stets mit einem irrationalen Diskurs kombiniert war: Die beiden wurden nicht als unterschiedlich, noch weniger als miteinander unvereinbar wahrgenommen“ (S. 319). Was kann dem noch hinzugefügt werden? All diese Mythen, die sich rund um die geheimnisvollen Mächte ranken, welche vom Menstruationsblut und dem Mond übertragen werden, gar nicht zu reden von der ursprünglichen Macht der Frauen, sind bloß „irrational“ und somit außerhalb des Bereichs der wissenschaftlichen Erklärung. Darmangeat ist bestenfalls bereit zu akzeptieren, dass Mythen das Bedürfnis des menschlichen Geistes nach Kohärenz befriedigen müssen[7]; doch wenn dies der Fall ist, dann müssen wir - es sei denn, wir akzeptieren eine rein idealistische Erklärung im ursprünglichen Sinn des Wortes – eine andere Frage beantworten: Woher kommt dieses Bedürfnis? Für Lévi-Strauss konnte die Quelle des bemerkenswerten Gleichklangs der Mythen der primitiven Gesellschaften in beiden Amerikas nur in der angeborenen Struktur des menschlichen Geistes gefunden werden, weswegen seinem Werk und seiner Theorie der Name „Strukturalismus“ angehängt wurde.[8] Darmangeats „Bedürfnis nach Kohärenz“ sieht wie ein schwacher Abglanz des Strukturalismus von Lévi-Strauss aus.
Dies lässt uns in zwei bedeutenden Punkten ohne jegliche Erklärung dastehen: Warum nehmen Mythen die Form an, die sie haben, und wie können wir ihre Universalität erklären?
Wenn sie nichts anderes als „Geschichten“ sind, die erfunden wurden, um die männliche Vorherrschaft zu rechtfertigen, warum sind solch unwahrscheinlichen Geschichten erfunden worden? Wenn wir die Bibel nehmen, so gibt uns das Buch Mose‘ eine vollkommen logische Erklärung für die männliche Vorherrschaft: Gott schuf den Mann zuerst! Logisch, solange wir bereit sind, die unwahrscheinliche Vorstellung, die Jahr für Jahr widerlegt wird, zu akzeptieren, dass die Frau aus dem Leib des Mannes kam. Warum wird dann ein Mythos erfunden, der nicht nur behauptet, dass Frauen einst Macht ausgeübt hatten, sondern auch von der Forderung begleitet wird, dass die Männer mit diesen Riten fortfahren, die mit dieser Macht assoziiert sind, bis zu dem Punkt einer eingebildeten männlichen Menstruation? Diese Praxis, die in Jäger-Sammler-Gesellschaften in der ganzen Welt, wo die männliche Vorherrschaft mächtig ist, bezeugt ist, besteht darin, dass Männer in bestimmten wichtigen Ritualen ihren eigenen Blutfluss erzeugen, indem sie in einer bewussten Imitation der Monatsblutung ihre Mitglieder malträtieren und insbesondere den Penis beschneiden.
Wäre diese Art von Ritual auf ein Volk oder auf eine Gruppe von Völkern beschränkt, könnte man akzeptieren, dass dies nichts als eine zufällige und „irrationale“ Erfindung ist. Doch wenn wir es überall auf der Welt verbreitet finden, auf jedem Kontinent, dann müssen wir, wenn wir dem historischen Materialismus treu bleiben wollen, seine gesellschaftlichen Determinanten suchen.
Auf jeden Fall erscheint es uns vom materialistischen Standpunkt aus notwendig zu sein, die Mythen und Rituale, die die Gesellschaft strukturieren, als Wissensquellen ernstzunehmen, eine Sache, an der Darmangeat scheiterte.
Wir können Darmangeats Ansichten wie folgt zusammenfassen: Im Ursprung der Unterdrückung der Frauen stand die geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Männern systematisch die Großwildjagd und den Gebrauch von Waffen überließ. Wie interessant sein Werk auch sein mag, es lässt unserer Ansicht nach zwei Fragen unbeantwortet.
Es scheint eindeutig genug, dass mit der Entstehung der Klassengesellschaft, die notwendig auf Ausbeutung und damit auf Unterdrückung beruhte, das Waffenmonopol nahezu eine selbstgenügsame Erklärung für die männliche Vorherrschaft in ihr ist (zumindest langfristig; der Gesamtprozess ist zweifellos komplexer). Gleichermaßen erscheint es a priori plausibel, davon auszugehen, dass - zeitgleich mit dem Aufkommen der sozialen Ungleichheiten, aber noch vor dem Auftritt der Klassengesellschaft, die den Namen verdient - das Waffenmonopol eine Rolle bei der Herausbildung der männlichen Vorherrschaft spielte.
Fortsetzung folgt...
Wir veröffentlichen hier die Übersetzung einer Erklärung einer Gruppe von ArbeiterInnen in Alicante im Südosten Spaniens, die „empörten Pro-Versammlungs-ArbeiterInnen“ („Pro-Versammlung“ daher, weil sie die Notwendigkeit von Generalversammlungen vertreten, um die Kontrolle über die Kämpfe auszuüben). Sie wurde als Antwort auf die Appelle zu 24-stündigen „Generalstreiks“ herausgegeben (für den 31. Oktober von der CGT, einer Abspaltung von der CNT, die sich selbst anarcho-syndikalistisch nennt, aber faktisch als kleine „radikale“ Gewerkschaft wirkt, und für den 14. November von fünf anderen Gewerkschaften ausgerufen, angeführt von den stalinistischen Arbeiterkommissionen und der sozialistischen UGT, den beiden größten Gewerkschaften). Die Genossen dieser Gruppe, die in den letzten zwei, drei Jahren aktiv gewesen waren, prangern diese Gewerkschaftsparaden an, die allein dazu dienen, die ArbeiterInnen zu demoralisieren, und eine Ergänzung zu den wiederholten Schlägen der Rajoy-Regierung sind. Doch sie belassen es nicht dabei. Sie stellen eine Perspektive vor: den Kampf für den Massenstreik, die umfassenste Tendenz in der Klassenbewegung des vergangenen Jahrhunderts, wie dies jeder bedeutende proletarische Kampf seit 1905 in Russland deutlich veranschaulicht hat.
Es ist völlig falsch zu argumentieren, dass es keine Alternative zu den demobilisierenden Mobilisationen gibt, die von den Gewerkschaften organisiert werden. Wir denken, dass andere Gruppen und Kollektive dem Beispiel der Genossen von Alicante folgen und eine Diskussion über die wahre Alternative zur gewerkschaftlichen Sackgasse beginnen sollten. In Großbritannien spucken die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (NUT, Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten, etc.) angesichts der brutalen Attacken der Regierungskoalition große Töne und versprechen uns Aktionstage und gar einen eintägigen Generalstreik. Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Art von „Aktionen“ schlimmer als nur nutzlos sind; sie sind ein Sicherheitsventil für die wachsende Wut, wo doch das wirkliche Bedürfnis der ArbeiterInnen darin besteht, ihre Unzufriedenheit in einer selbst-organisierten, vereinheitlichenden Bewegung zu fokussieren, die die gesamte Gesellschaftsordnung herausfordern kann. IKS
Gegen 24- stündige „Aktionstage:
Den Massenstreik!
Wie kann eine 24-stündige Arbeitseinstellung Streik genannt werden? Und eine noch wichtigere Frage ist: Wie kann ein 24-stündiger „Aktionstag“ den Kampf der Arbeiterklasse voranbringen?
Unsere politische Position basiert auf dem Internationalismus und auf dem Bedürfnis nach proletarischer Autonomie: Für uns muss jede Aktion von bewussten Minderheiten dazu dienen, das Bewusstsein, die Einheit und die Selbstorganisation der Arbeiterklasse weiterzuentwickeln.
Es gab in letzter Zeit einen Haufen Mobilisierungen und viele Anstrengungen des Proletariats, sich selbst zu organisieren. Im Mai 2011 begann symbolisch eine neue Periode der Mobilisierungen. Dies war der Beginn einer Antwort auf die immer brutaleren Angriffe gegen den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung. Doch es gibt keinen gradlinigen Fortschritt. Es war eine Periode gewesen, die von diversen Momenten geprägt war. Es gab einen großen Drang zur Selbstorganisation in Generalversammlungen, selbst in Bewegungen, die sehr embryonal und oft diffus waren. Doch dann kehrten die Gewerkschaften und die linken Organisationen auf die Bühne zurück, wobei sie von einer Ermattung und einem Rückgang in der Massenmobilisierung profitierten, und führten die Mobilisierungen auf ausgetretene Pfade: Mobilisierungen, die gut kontrolliert, alles andere als einig, partikularistisch und demotivierend sind, nichts gewinnen und die Teilnehmer ermüdet und isoliert zurücklassen. Angesichts all dessen denken wir, dass die Nicht-Beteiligung der Mehrheit der ArbeiterInnen an Mobilisierungen, die sie als fremd gegenüber ihren Interessen betrachten, vollkommen logisch ist. Und es ist ganz normal, dass wir uns nun in einem Denkprozess befinden.
Wir müssen reflektieren, begreifen, was geschehen ist, und nach einem Weg suchen, der zu unserer Selbstorganisation führt, ein Weg, der nicht von irgendeiner „aufgeklärten“ Elite oder durch irgendeine Art von konditioniertem Reflex entdeckt wird.
Der einzige Streik, den wir als effektiv erachten, den wir für notwendig halten, muss von den ArbeiterInnen selbst ausgerufen und auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt werden, muss die Kontrolle über den gesamten öffentlichen Raum ausüben, alles besetzen, neue Arten der gesellschaftlichen Verhältnisse und neue Formen der Kommunikation schaffen. Diese Art von Streik stoppt nicht das Leben, er beginnt es von neuem; dies ist der Massenstreik, der sich durch das vergangene Jahrhundert hinweg in einer Reihe von Gelegenheiten manifestiert hatte, auch wenn all unsere Gegner (all die Bourgeoisien, ob privater oder staatlicher Art) alles Mögliche angestellt hatten, ihn der Vergessenheit zu auszuliefern, ganz einfach deshalb, weil ein Streik, der die wahre Stärke des Proletariats zeigt, sie mit Furcht erfüllt.
Ein wirklicher Streik ist eine massive, tiefgehende Bewegung, die sich selbst nicht auf eintägige Arbeitseinstellungen beschränkt. Er ist die grundlegende Waffe der Arbeiterklasse, das Mittel für die Klasse, Kontrolle über ihr eigenes Leben auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erlangen, mit der wir es zu schaffen haben, alle Aspekte einer menschlichen Gesellschaft auszudrücken, die sie anstrebt. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht etwas ist, das von irgendjemanden ausgerufen werden kann, so gut seine Absichten auch sein mögen; es ist Teil des Prozesses, durch den die ArbeiterInnen sich ihrer selbst bewusst werden. Die Frage ist nicht, ob der Streik 24 Stunden, 48 Stunden oder unbegrenzt andauert. Sein radikaler Charakter ist nicht eine Zeitfrage. Es geht vielmehr darum, Bestandteil der wirklichen Bewegung der Arbeiterklasse zu sein, der ArbeiterInnen, die ihren eigenen Kampf organisieren und lenken.
Der Massenstreik ist das Resultat einer Periode im Kapitalismus, der Periode, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Rosa Luxemburg war die erste Revolutionärin, die dies am klarsten begriff, indem sie ihr Verständnis auf die Grundlage der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnen in Russland 1905 stellte. Der Massenstreik ist „eine historische Erscheinung (…), die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt“ („Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“).
Der Massenstreik ist nichts Zufälliges; er ist nicht das Ergebnis einer Propaganda oder von Vorausplanungen, er kann nicht willkürlich zustandegebracht werden. Er ist vielmehr das Produkt einer bestimmten Periode in der Evolution der Widersprüche des Kapitalismus.
Die ökonomischen Bedingungen hinter dem Massenstreik sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern besitzen eine internationale Dimension. Es sind die historischen Umstände, die solch eine Form des Kampfes hervorrufen, der eine Grundvoraussetzung für die proletarische Revolution ist. Kurz, der Massenstreik ist nichts Geringeres als „eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse ergibt“ (ebenda).
Dieses „gegenwärtige Stadium“ besteht in der Tatsache, dass der Kapitalismus die letzten Jahre seiner Prosperität erlebte. Die Entwicklung interimperialistischer Konflikte und die Drohung des Weltkrieges, das Ende jeglicher nachhaltigen Verbesserung in den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse – mit einem Wort, die wachsende Bedrohung, die die Arbeiterklasse für den Kapitalismus darstellte, waren die neuen historischen Umstände, die den Ausbruch des Massenstreiks begleiteten.
Der Massenstreik war das Produkt veränderter Lebensbedingungen auf einer historischen Ebene – was wir nun als das Ende des Aufstiegs des Kapitalismus und den Beginn seiner Niedergangsepoche erleben.
Zu jener Zeit gab es bereits mächtige Zusammenballungen der Arbeiterklasse in den fortentwickelten kapitalistischen Ländern, erfahren im kollektiven Kampf und mit Lebens- und Arbeitsbedingungen, die sich überall anglichen. Infolge der ökonomischen Entwicklung wurde auch die Bourgeoisie immer verdichteter; sie identifizierte sich immer mehr mit dem Staatsapparat. Wie das Proletariat hatten auch die Kapitalisten gelernt, wie sie sich zusammentun können, um sich mit ihrem Klassenfeind auseinanderzusetzen. Die ökonomischen Umstände erschwerten es den ArbeiterInnen immer mehr, Reformen auf der ökonomischen Ebene zu erlangen, während gleichzeitig der Ruin der bürgerlichen Demokratie es dem Proletariat immer schwerer machte, seine Errungenschaften durch parlamentarische Aktivitäten zu konsolidieren. So war der politische wie auch der ökonomische Kontext des Massenstreiks nicht der des russischen Absolutismus, sondern die nahende Dekadenz der bürgerlichen Herrschaft in allen Ländern.
Der Kapitalismus hat auf der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Ebene die Fundamente für gewaltige globale Klassenkonfrontationen gelegt.
Das Ziel der Gewerkschaften (die Erzielung von Verbesserungen innerhalb des Systems) ist im dekadenten Kapitalismus immer schwieriger zu verwirklichen. In dieser Epoche tritt das Proletariat nicht mit der sicheren Perspektive in den Kampf, reale Verbesserungen zu erringen. Die Streiks und die wichtigsten Bewegungen von heute können auf dem Wege der Verbesserungen nur wenig gewinnen.
Infolgedessen ist die Rolle der Gewerkschaften, ökonomische Verbesserungen innerhalb des System zu erlangen, verschwunden. Es gibt weitere revolutionäre Auswirkungen aus der Infragestellung der Gewerkschaften durch den Massenstreik:
1) Der Massenstreik kann nicht im Voraus geplant werden: Er ergibt sich ohne einen vorgefassten Plan, ohne einen Satz von Methoden für die proletarischen Massen. Die Gewerkschaften, ihrer permanenten Organisation ergeben, um ihre Bankkonten und Mitgliederlisten besorgt, können nicht einmal damit beginnen, die Aufgabe der Organisierung des Massenstreiks wahrzunehmen, der sich in und für den Kampf herausbildet.
2) Die Gewerkschaften haben die ArbeiterInnen und ihre Interessen in all die unterschiedlichen Industriebranchen aufgespalten, während der Massenstreik „zusammen(fließt) aus einzelnen Punkten, (…) aus anderen Anlässen, in anderen Formen“ und somit dazu tendiert, alle Spaltungen im Proletariat zu überwinden.
3) Die Gewerkschaften organisieren lediglich eine Minderheit der Arbeiterklasse, während der Massenstreik all die unterschiedlichen Schichten der Klasse, gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche Arbeiter in seinen Bannkreis zieht.
Der Kampf ist mit der Realität verbunden, in der er sich entfaltet: Man kann ihn nicht von ihr trennen. Seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts hat die Auszehrung der vor-kapitalistischen Märkte das unersättliche Streben des Kapitals nach Vermehrung gebremst und damit eine permanente Krise, ein permanentes gesellschaftliches Desaster (Kriege und ein nie dagewesenes Elend) provoziert.
Die Periode seit Ende der 1960er Jahre war der Höhepunkt der permanenten Krise des Kapitalismus gewesen: die Unmöglichkeit für das System zu expandieren, die Beschleunigung der interimperialistischen Antagonismen, deren Konsequenzen die gesamte menschliche Zivilisation in Gefahr bringen.
Überall hat der Staat mit seinem beeindruckenden Repressionsapparat die Interessenn der Bourgeoisie in Obhut genommen. Sie sieht sich einer Arbeiterklasse gegenüber, die, obwohl im Verhältnis zur restlichen Gesellschaft seit den 1900er Jahren zahlenmäßig schwächer, immer noch hoch konzentriert ist und deren Lebensbedingungen sich in allen Ländern auf einem beispiellosen Niveau angeglichen haben. Auf politischer Ebene ist der Ruin der bürgerlichen Demokratie so unübersehbar, dass sie kaum ihre wahre Rolle als Nebelwand für den Terror des kapitalistischen Staates verbergen kann.
Die Bedingungen des Massenstreiks entsprechen der objektiven Lage des Klassenkampfes von heute, da die Merkmale der gegenwärtigen Periode am schärfsten die Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung über das vergangene Jahrhundert hinweg ausdrücken.
Die Massenstreiks der ersten Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren eine Antwort auf das Ende der Periode des kapitalistischen Aufstiegs und den Beginn der Bedingungen, die die Dekadenz des Kapitalismus kennzeichen. Diese Bedingungen sind heute völlig klar und chronisch geworden. Der objektive Drang zum Massenstreik ist heute tausendmal stärker.
Die „allgemeinen Resultate der internationalen kapitalistischen Entwicklung“, die das historische Aufkommen des Massenstreiks bedingt haben, haben seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aufgehört zu reifen.
Wie können wir die Entwicklung des Massenstreiks, die internationale Selbstorganisation und Vereinigung des Proletariats fördern? Unser Beitrag kann lediglich der Beitrag einer bewussten Sektion der Arbeiterklasse sein – nicht mehr oder nicht weniger.
Eine der Formen dieses Beitrags besteht darin, fehlerhafte Formen der Aktivitäten zu kritisieren, die eine Barriere gegen die Selbstorganisation und der Vertiefung des Bewusstseins sind. Trotz der besten Absichten ihrer Mitstreiter sind Aktivismus, Basisgewerkschaftstum und Linksextremismus… Bestandteil dieser Barrieren, die die ArbeiterInnen niederreißen müssen, um ihre Klassenautonomie zu erlangen.
Ein weiterer Beitrag besteht darin, zum Nachdenken zu ermuntern, zur Klärung dessen, was wir durchlebt haben. Doch es bedeutet auch, für die Ausweitung realer Kämpfe, ihre Koordination, die Verbreitung von Information über sie sowie für das Zusammenkommen und die Organisation der Revolutionäre zu arbeiten. Es bedeutet vor allem die Wiederbelebung der Erinnerung an unsere Kämpfe und ihre wichtigsten Waffen wie den Massenstreik.
Empörte, selbstorganisierte Pro-Versammlungs-ArbeiterInnen
für eine Arbeiterklasse und eine anti-kapitalistische 15-M (1)
(1) 15-M bezieht sich auf die Bewegung, die im Mai 2011 begann.
Die Zahl der Toten nach dem Zusammensturz des Fabrikgebäudes an der Rana Plaza in Dhaka ist mittlerweile auf über 1000 gestiegen. Weitere acht Menschen sind in einem Feuer im Bezirk Mirpurn in derselben Stadt umgekommen – die Anzahl der Toten wäre sicherlich noch höher ausgefallen, wenn das Feuer tagsüber ausgebrochen wäre, so wie es im vergangenen November in Tazreen-Bekleidungsfabrik geschah, wo 112 ArbeiterInnen starben. (1)
Diese „Unfälle“ sind nichts Anderes als industrieller Mord. Es wird nicht einmal verheimlicht, dass es eine totale Missachtung der Sicherheit der ArbeiterInnen in der Bekleidungsindustrie von Bangladesh gibt, die für Elendslöhne und unter entsetzlichen Bedingungen schuften. Doch dies ist keineswegs ein Exzess einiger weniger skrupelloser Arbeitgeber. Es ist in die eigentliche Struktur der Weltwirtschaft eingemeißelt. Von der Verbilligung der Arbeitskosten profitieren nicht nur die örtlichen Gangster, denen die Fabriken gehören, sondern auch die großen internationalen Bekleidungskonzerne wie Primark, die ihre Profite auf dem Rücken der BilliglohnarbeiterInnen angehäuft haben, die sie in der „Dritten Welt“ finden.
Darüber hinaus stellt das Kapital trotz aller angeblicher Reformen und Fortschritte in der Industrieproduktion im „Westen“ den Profit über das menschliche Leben. Fast zeitgleich mit dem Terroranschlag auf die Besuchermassen des Bostoner Marathons wurde eine Düngemittelfabrik in West in der Nähe von Waco/Texas in einer gewaltigen Explosion zerstört; sie riss 14 Menschen in den Tod, 200 Menschen wurden verletzt, und fünf Häuserblöcke dem Erdboden gleichgemacht. Zunächst wurde dies als ein Unfall dargestellt. Kurz darauf wurde ein Rettungssanitäter, der am Unglücksort war, wegen des Verdacht festgenommen, die Explosion verursacht zu haben. Doch was auch immer wahr ist, die Explosion in West enthüllt die abgrundtiefe Unverantwortlichkeit der kapitalistischen Produktion, lag diese Fabrik, die ein derart hoch explosives Material beherbergte, doch in der Nähe eines Altersheimes, einer Schule und einer Reihe von Wohngebäuden. Es erinnert an die Explosion einer Düngemittelfabrik in Toulouse Anfang der Nullerjahre, wo 28 ArbeiterInnen und ein Kind getötet worden waren. 10.500 weitere Menschen wurden verletzt, ein Viertel von ihnen schwer. Total, dem der Betrieb gehörte, wurde in den folgenden Verfahren von aller Verantwortung freigesprochen. Wir können auch auf die Standortwahl des Kernkraftwerks von Fukushima hinweisen, das in einem Gebiet, welches höchst anfällig für Erdbeben und Tsunamis ist, und viel zu nahe an Wohngebieten liegt…
Angewidert von den jüngsten Berichten aus Bangladesh, sendete uns ein Sympathisant diese Bemerkungen über unser Diskussionsforum. Wir können nur sagen, dass sein Zorn völlig gerechtfertigt ist:
„… die Situation in Bangladesh nimmt groteske Züge an, mit entsetzlichen Katastrophen – industriellem Mord -, die sich mit erschreckender Regelmäßigkeit ereignen. Warum plagt sich überhaupt jemand in Bangladesh damit ab, zur Arbeit zu gehen? Werden sie doch weiß gott kaum bezahlt! Also warum? Die Antwort ist natürlich, dass wir im Kapitalismus alle selbst den lächerlichsten und winzigsten Geldbetrag benötigen, den die Bourgeoisie erübrigen kann – Löhne: ‚ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk‘ oder so ein Mist – nur um Tag für Tag arbeiten zu gehen. Wir leben von Almosen, die wir unter teils lebensgefährlichen Begleitumständen aus den Kapitalisten gepresst haben. Und die Bedrohungen müssen nicht alle physischer Art sein (Feuer und Gebäudeeinstürze oder vergiftete, verschmutzte Umwelt), sie können auch psychologischer Art sein und entsetzliches Elend und Unglück bewirken. Oh, wie dankbar wir der Bourgeoisie, ihrer Generosität und Menschenliebe, ihrer endlosen Sorge um den Planeten und der Friedensherrschaft weltweit sein sollten! Wo wären wir ohne sie? Wie kann es uns ohne sie gelingen, ihre halsabschneiderische Produktionsweise unserer Existenz aufzuzwingen, nur damit sie ihren Profit machen können? Und ihre barbarischen Kriege kämpfen! Wenn man nicht von einem zusammenbrechenden, schlecht gebauten Gebäude erschlagen wird oder darin verbrennt, gibt es immer noch die Möglichkeit des langsamen Todes durch radioaktive Tsunamis, der plötzlichen Auslöschung durch ferngelenkte Bomben, Raketen oder Drohnen, der entsetzlichen und quälenden Eliminierung via Chemiewaffen oder der abrupten Auslöschung durch die Hand eines Scharfschützen der einen oder anderen sich permanent bekriegenden Banden, offizielle oder andere.
Die Bourgeoisie hat nicht nur den ‚industriellen Mord‘ erfunden, sie hat darüber hinaus den Massenmord in eine Industrie verwandelt. Es ist die einzige Sache, worin sie gut ist.“
Amos 11.5.13
Im ersten Teil dieses Artikels [9] sind wir auf die in verschiedenen mündlichen und schriftlichen Beiträgen debattierte Frage des Klassencharakters der Gewerkschaften eingegangen. Wir sind dabei zum Schluss gekommen, dass die Position, die von einem nicht eindeutig bürgerlichen, sondern ambivalenten Charakter der Gewerkschaften in der heutigen Zeit spricht, letztlich mindestens in Teilen den Schein aufrecht erhält, den diese so genannten Arbeiterorganisationen über ihr eigenes Wesen erwecken wollen. Wir kommen nun zum zweiten Punkt, welcher der Klärung bedarf: Läuft die Position der IKS, die den Gewerkschaften in der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg einen bürgerlichen, staatskapitalistischen Klassencharakter zuweist und von Gewerkschaftsmanövern gegen die Arbeiterklasse spricht, auf eine Verschwörungstheorie hinaus?
Schauen wir uns diese Kritik an. Entzündet hat sich der Widerspruch an einem Wort – dem „Manöver“ der Gewerkschaften. Die IKS verwendet den Begriff des Manövers seit langem in der Intervention. So schrieben wir beispielsweise Ende 2004 nach dem damaligen Opel-Streik in Bochum: „Dass die Arbeit nach sechs Tagen in Bochum wieder aufgenommen wurde, obwohl die Hauptforderung der Streikenden nicht erfüllt wurde, haben diverse 'kritische Gewerkschaftler' mit dem Manöver der IG Metall- und Betriebsratsleitung während der Abstimmung vom 20. Oktober erklärt. Natürlich war die Formulierung der Alternative, worüber die Streikenden abzustimmen hatten - entweder Streikbruch und Verhandlungen oder Fortsetzung des Streiks ohne Verhandlungen - ein typisches Beispiel eines gewerkschaftlichen Manövers gegen die Arbeiter. Eine endlose Fortsetzung eines bereits isolierten Streiks wurde nämlich als einzige Alternative zum Streikabbruch hingestellt. Dabei wurden die entscheidenden Fragen ausgeblendet, nämlich: Erstens, wie kann man am wirksamsten den Forderungen der Arbeiter Nachdruck verleihen? Zweitens, wer soll verhandeln, die Gewerkschaften und der Betriebsrat oder die Vollversammlung, die gewählten Delegierten der Arbeiter selbst?“[1]
Die neuere Gewerkschaftsdebatte auf dem undergrounddogs-Forum hat sich an der von uns vertretenen Meinung entfacht, dass die Ferieninitiative der Gewerkschaftsverbandes Travailsuisse im Frühjahr 2012 in der Schweiz „ein regelrechtes Manöver der Gewerkschaften ist, damit die Angestellten und Arbeiter nicht andere, wirkungsvollere Massnahmen gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen sich überlegen. Pressluft rauslassen, die sich angestaut hat, das ist die Funktion solcher Initiativen“[2].
Darauf gab es mehrere Antworten, die dieser Position eine Verschwörungstheorie unterstellten. Beispielsweise O.B.M.F.: „Was den Punkt 'Manöver der Gewerkschaften' betrifft (…) ich will nicht behaupten, dass es solche Manöver in der Geschichte nie gegeben hat oder dass es sie heute nicht geben würde. Aber einfach zu sagen, es sei eines gewesen, weil es doch zu diesen oder zu jenen Punkten passt, überzeugt doch niemanden. Das ist doch genau das, was diese Verschwörungsparanoiker auch die ganze Zeit machen. Es geht doch darum sich klarzumachen, was die Gewerkschaften sind und warum sie so handeln, wie sie es tun und warum die Arbeiter ihnen in den entscheidenden Momenten folgen. Das hat viel weniger mit Irreführungen durch Gewerkschaften zu tun, als damit dass es ein Kapitalismusimmanentes Interesse der Klasse tatsächlich gibt, welches die Gewerkschaft ihnen nicht erst unterjubeln muss. Sie muss es nur organisieren. Das ist das Problem und es ist viel tiefer, als ein blosser Beschiss.“
Oder Muoit: „Du hingegen gehst an die Sache mit einem bereits feststehenden und der Realität meines Erachtens äusserlichen Schablone heran: Die Gewerkschaften vertreten nie die Interessen der in ihnen organisierten – oder in diesem Falle sogar fast allen – Arbeiter, sondern sie sind bürgerliche Organe, entsprechend muss das ein Manöver gegen die Klasse sein. Um so was überhaupt denkmöglich zu machen, müsste man sich aber auch mal erklären, wie es zu so was in deiner Theorie kommen soll: Da bleibt dann nicht viel mehr übrig, als die Ansicht, die Gewerkschaftsführer hätten das als Manöver geplant und das – bei allem Respekt – ist zumindest nahe an der Verschwörungstheorie gebaut.“
Dabei wurde in der Debatte nicht genauer umschrieben, was mit Verschwörungstheorie gemeint sei. Aber man kann sich den Kern der Kritik wohl so vorstellen: Es geht um die Idee, dass die so genannten Manöver in einem mehr oder weniger begrenzten Kreis von Verschwörern im Geheimen bewusst geplant und umgesetzt würden. Offenbar spielt in dieser Auseinandersetzung das Argument des Bewusstseins eine wichtige Rolle. Konkret: Mit welchem Bewusstsein handeln die Gewerkschaften (vertreten und handelnd durch ihre Organe, die Gewerkschaftsfunktionäre), wenn sie etwas tun oder unterlassen, was den allgemeinen und langfristigen Zielen der Arbeiter_innenklasse widerspricht?
Eines sei vorab klargestellt: Wenn wir von „Manövern der Gewerkschaften“ sprechen, meinen wir nicht, dass ihre Repräsentanten sich über ihr Handeln in einem grösseren Zusammenhang Rechenschaft ablegen, geschweige denn, dass sie stets bewusst (und versteckt vor der Öffentlichkeit) einen Plan aushecken würden, wie sie die Interessen der Arbeiter_innen am effektivsten hintertreiben können. Und trotzdem behaupten wir, dass die Gewerkschaften in der Regel so handeln, dass tatsächlich die langfristigen Klasseninteressen des Proletariats wirksam hintergangen werden, so dass sich zur Beschreibung des äusseren Ablaufs der Dinge der Begriff des Manövers förmlich aufdrängt.
Wie kommt aber dieses "Manöver" zustande? Aus unserer Sicht sind es nicht ideelle, sondern ganz materielle Gründe, nicht weil sich die Gewerkschaftsspitzen und ihre Funktionäre einen von A bis Z ausgedachten Plan zurechtlegten und bewusst ein Manöver inszenierten, sondern weil sie ihrer Funktion gemäss handeln. In Anlehnung an Marx könnte man über diese „Handlanger des Kapitals“ sagen, dass auch sie das tun, was sie ihrem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sind: Sie sollen den Arbeitern und Arbeiterinnen Lösungsvorschläge zur „Verbesserung“ des Kapitalismus unterbreiten. Ist das denn etwas Anderes als Sabotage der Revolution! Mit welchem Bewusstsein die Gewerkschafter agieren, spielt für das Gelingen des Manövers zunächst keine Rolle. Es wird Gewerkschafter geben, die als alte Linke ziemlich bewusst ans Werk gehen. Andere haben keine Ahnung, was sie tun; schon der Vater war Gewerkschafter und der Grossvater auch – das macht man einfach so. Dabei sollte auf rein empirischer Ebene festgehalten werden, dass in offenen Kampfsituationen ein Manöver der Gewerkschaftsspitzen oft, wie im Kampf von 2004 bei Opel in Bochum, selbst von Gewerkschaftsmitgliedern als solches bezeichnet wird.
In dieser Diskussion darf nicht vergessen gehen, welches Abbild die kapitalistischen Verhältnisse im Bewusstsein der Menschen typischerweise produzieren. Im Kapitalismus stehen die Menschen in verdinglichten (über den Warenaustausch vermittelten) Beziehungen mit allen anderen, ohne dass sie die Gesamtheit dieser Verhältnisse bestimmen (oder auch nur durchschauen) würden. Die Menschen sind in ihren Handlungen durch diese materiellen Verhältnisse geprägt, nicht durch die ideellen Vorstellungen, die sie sich davon machen, auch wenn es ihnen genau umgekehrt erscheint – ein „Irrtum“, der „vom ideologischen Standpunkt aus um so leichter zu begehen“ war, „als jene Herrschaft der Verhältnisse (…) in dem Bewusstsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint“ (Marx, Grundrisse).
Auf der Grundlage, dass unbeherrschbare gesellschaftliche Verhältnisse falsche, d.h. ideologische Vorstellungen bei den Betroffenen hervorrufen, dürfte das Bewusstsein über die eigene Rolle bei einem Gewerkschaftsfunktionär oder selbst beim ganzen Gewerkschaftsapparat nur ausnahmsweise klar und dem Gegenstand angemessen sein. Der herrschenden Ideologie unterworfen, sitzen auch die Gewerkschaftskader dem Schein der falschen Verhältnisse auf: Sie meinen zu einem guten Teil tatsächlich, dass sie die Arbeiterinteressen verträten und wirksam gegen die kapitalistische Ausbeutung kämpften. Worum es hier also geht, ist die Frage, welchen Bewusstseinsgrad die Akteure, die die Intervention der Gewerkschaften bestimmen und tragen, bei ihren Handlungen haben. Von einer Verschwörung oder einem Komplott spricht man dann, wenn sich die massgebenden Leute miteinander bewusst über ihre Ziele und Mittel verständigen und auf eine Strategie einigen. Dass dies geschehen kann, gibt auch O.B.M.F. zu; dass es aber bei dem, was wir Manöver der Gewerkschaften nennen, in jedem Fall eine Verständigung über die langfristigen Ziele gebe, behaupten auch wir nicht. Was ist aber die Fortsetzung des Gedankens von O.B.M.F.? Manchmal gibt es bewusste Manöver und manchmal nicht? Sollten wir nicht vielmehr die Frage nach den Bewegungsgesetzen und Triebkräften hinter den allfälligen Manövern beantworten?
Meines Erachtens gibt es dabei mindestens zwei Aspekte, die genauer zu betrachten sind: Der erste Gesichtspunkt betrifft den subjektiven Standpunkt der Akteure, konkret der Gewerkschaftsfunktionäre. Sie vertreten, was auch Eiszeit in ihrem Beitrag in Kosmoprolet Nr. 3 konstatiert und kritisiert, u.a. Werte bzw. Inhalte wie: Spaltung der Klasse in Nationen, Souveränität des Nationalstaats, Herrschaft der bürgerlichen Demokratie, Verteidigung des Gewaltmonopols des kapitalistischen Staates usw. Wer so ausgerüstet in das Geschäft des „gewerkschaftlichen Kampfes“ steigt, kann doch nicht anders als, im Grossen und Ganzen gesehen, den proletarischen Interessen diametral entgegenstehen. Wenn es in einem Kampf der Arbeiter_innen um Selbstorganisation gehen könnte, ruft jener Demokrat: „Gewerkschaftliche Repräsentation!“ Wenn die bürgerliche Staatsordnung gefährdet ist, eilt er seinem Programm gemäss genau dieser Ordnung zu Hilfe. Dass die Spitzen der deutschen Politik offen über die gelungene Arbeitsteilung bei der Durchsetzung der Agenda 2010 reden können und Stoiber dem Linken Schröder zu den erfolgreichen Massnahmen/Angriffen gratuliert, die er als Rechter aufgrund drohender Volksproteste nicht hätte umsetzen können, ist ein Gradmesser für das Bewusstsein der herrschenden Klasse über ihre Strategien.[4]
Und hier ist der zweite Aspekt angesprochen, die Funktionsweise der herrschenden Klasse im Kapitalismus. Uns scheint, dass die Position, die in dieser Diskussion gegen uns den Bann ausspricht, die Gefährlichkeit des Gegners unterschätzt. Im Artikel „Marxismus und Verschwörungstheorien“ haben wir versucht, aufzuzeigen, dass das Phänomen der Verschwörungstheorien im Kapitalismus kein zufälliges ist. Vielmehr sind auch sie ein ideologischer Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse. Die Bourgeoisie ist eine herrschende Klasse, die selber in Nationen gespalten und von ständigen Rivalitäten geprägt ist. Die Verschwörung gehörte von Anfang an zum Arsenal ihres ihrer Funktionsweise. Niccolò Machiavelli (1469-1527) ist der Pate dieses Kindes - des Machiavellismus. Obwohl auch die Bourgeoisie nicht über den gesellschaftlichen Verhältnissen steht und insofern die von Widersprüchen zerrissene kapitalistische Produktionsweise nicht wirklich beherrschen kann, gehört die Verschwörung zu den von ihr verwendeten Mitteln und ist die verschwörerische Sicht auf die Welt Teil ihrer Ideologie – ein falsches Bewusstsein, das aber ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion entspricht.
Die durchaus bestehende Fähigkeit und Bereitschaft zur Verschwörung zeigt sich bei der Bourgeoisie insbesondere in angespannten Zeiten, wenn das Proletariat zur Gefahr für die herrschende Ordnung wird. Beispiele:
- In der Novemberrevolution 1918 in Deutschland vereinbarten Friedrich Ebert als SPD-Vorsitzender und Mitglied des Rates der Volksbeauftragten und General Wilhelm Groener als Chef der Obersten Heeresleitung ein gemeinsames Vorgehen gegen linksradikale Gruppierungen (Ebert-Groener-Pakt, auch "Pakt mit den alten Mächten"). Die SPD war zuständig für die Legitimation der Regierung gegenüber der Arbeiterklasse, während gleichzeitig die Militärs die Bildung der Freikorps zur brutalen Niederschlagung der revolutionären Arbeiter_innen vorbereiteten. Die Fortsetzung der Geschichte ist bekannt.
- Als im Mai 1968 in Frankreich der bis damals grösste Streik in der Geschichte ausbrach, setzten sich (einmal mehr) Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung zusammen. „Es war offensichtlich, dass die Bourgeoisie Angst hatte. Der Premierminister Pompidou leitete die Verhandlungen. Am Sonntagmorgen traf er den Chef der CGT, Séguy, eine Stunde lang unter vier Augen. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frankreich brauchten Zeit, um ohne Zeugen die Bedingungen für die Wiederherstellung der Ordnung zu besprechen (…)“[5] Es kam dabei auch zu einem Geheimtreffen auf einem Dachboden zwischen dem damaligen Minister für soziale Angelegenheiten, Jacques Chirac, und der Nummer 2 bei der CGT, Krasucki. Wenn das kein Komplott ist!
O.B.M.F. hat sicher recht, wenn er sagt, dass das Problem tiefer ist „als ein blosser Beschiss“. Für das Gelingen eines Manövers spielt es – wie oben beschrieben – zunächst gar keine Rolle, ob ihre Protagonisten arglistig oder naiv ehrlich handeln. Einig sind wir uns auch in der Feststellung, dass die Bourgeoisie zu eigentlichen verschwörerischen Manövern fähig und bereit ist. Dabei spielen heute die Gewerkschaften eine kaum ersetzbare Rolle, was v.a. dort deutlich wird, wo die Gewerkschaften gerade nicht mehr den Schein der Unabhängigkeit gegenüber dem Staat (z.B. in den stalinistischen Ordnungen) haben. Doch über die Fähigkeit und Bereitschaft der herrschenden Klasse zum geplanten Manöver hinaus darf ihre Neigung, ihre spontane Tendenz dazu, nicht übersehen werden. Im Gegensatz zum Proletariat hat die im Kapitalismus das Kommando ausübende Klasse (mit all ihren bewussten oder unbewussten Agenten) kein Interesse an Ehrlichkeit, Offenheit, Debatte – sie hat kein Interesse an der Wahrheit.
Wir können uns gut vorstellen, dass die eingangs erwähnten Kritiker unserer Position zur Ferieninitiative über weite Strecken mit unseren Argumenten einverstanden sind – und trotzdem finden, dass diese Initiative von Travailsuisse kein Manöver gewesen sei, weil die fehlende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse ein solches schlicht unnötig mache. Dabei muss man wohl zwischen tatsächlicher Kampfbereitschaft und wachsender Wut unter den Arbeiter_innen unterscheiden. Jene ist ein kollektiver Prozess, diese eine Vorstufe dazu, die zunächst individuell und noch nicht als gemeinsame Stimmung wahrgenommen wird. Schon in diesem Stadium gibt es für die Schützer der herrschenden Ordnung (z.B. die Gewerkschaften) eine Tendenz zum Manöver, um „Dampf abzulassen“. Denn die Wut ist eine Voraussetzung der Entwicklung der Kampfbereitschaft – und je früher ein solcher Prozess verhindert oder gebremst werden kann, desto besser fürs System. Wenn schon eine Ferieninitiative reicht, um etwas Dampf abzulassen (bzw. die demokratischen Illusionen zu stärken), umso stabiler die Ausbeutungsordnung. Wenn dieses Mittel nicht reicht, dann hilft vielleicht ein gewerkschaftlich kontrollierter Streik. Insofern ist die Analyse der verschiedenen Manöver des Bourgeoisie (von den fies geplanten bis zu den sich spontan ergebenden) ein Spiegel der Auseinandersetzung zwischen den Klassen und kann helfen, das Kräfteverhältnis möglichst differenziert einzuschätzen.
Maluco, 29.03.13
(leicht gekürzte Fassung des auf unserer Homepage veröffentlichten Originalartikels)
Neuer Rhythmus der IKS-Presse
"Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. (…) Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande."
So drückte sich Marx 1848 im Kommunistischen Manifest aus. Der Kapitalismus hat schließlich länger überlebt, als Marx dies voraussah, aber der Klassenkampf ist mehr denn je auf der ganzen Welt ebenso eine Tatsache. Da, wo die Arbeiter_innen von 1848 auf Eisenbahnen zählten, die natürlich nicht dazu geschaffen worden waren, um ihnen das Leben zu erleichtern, setzen die Arbeiter_innen und Revolutionäre von 2013 je länger je mehr auf das Internet, um ihre Ideen zu verbreiten und – so hoffen wir – nach und nach diese „immer weiter um sich greifende Vereinigung“ zu schmieden, von der Marx sprach. Das Internet hat unsere Arbeitsweise und vor allem unsere Kommunikationsweise von Grund auf verändert.
Als die IKS 1975 gegründet wurde, gab es das Internet natürlich noch nicht. Die Ideen wurden mit dem Mittel der gedruckten Presse weiter verbreitet, in Hunderten von kleinen radikalen Buchläden aufgelegt, die damals in der Dynamik nach dem Mai 68 und den folgenden Kämpfen auf der ganzen Welt aus dem Boden sprossen. Und die Korrespondenz wurde gepflegt auf dem Weg des (oft von Hand) geschriebenen Briefes, den die Post beförderte.
Heute sind die Verhältnisse ganz anders: Das Papier ist durch die elektronischen Medien ersetzt worden, und während die Buchläden ein günstiger Ort des Vertriebs unserer gedruckten Presse in der Welt waren, so verkaufen wir sie heute im Wesentlichen an Demonstrationen und bei Kämpfen am Arbeitsplatz.
Darüber hinaus haben wir uns mit der Presse seit der Gründung der IKS darum bemüht, zur Entwicklung einer internationalistischen Perspektive in der Arbeiterklasse beizutragen, indem wir uns auf Artikel stützten, die in verschiedenen Ländern Gültigkeit hatten. Heutzutage verfolgen wir immer noch dasselbe Ziel, aber die elektronischen Medien mit ihrer hohen Geschwindigkeit der Datenübertragung erlaubt es den Sektionen der IKS, enger zusammen zu arbeiten (vor allem dort, wo die Sprache die gleiche ist), und wir nutzen die neuen Möglichkeiten, um unsere weltweite Einheit in der Presse noch zu verstärken.
Diese Faktoren haben es uns nahe gelegt, über unsere Presse und über den Stellenwert der digitalen Publikationen beziehungsweise der gedruckten Presse im Rahmen unserer internationalen Intervention nachzudenken. Wir sind davon überzeugt, dass die gedruckte Presse ein wesentlicher Teil unserer Interventionsmittel bleibt. Mit ihr können wir direkt in laufende Kämpfe eingreifen. Aber die gedruckte Presse spielt nicht mehr die genau gleiche Rolle wie in der Vergangenheit und muss deshalb flexibler werden, sich an eine veränderte Lage anpassen können.
Da wir nur begrenzte Kräfte haben, sind wir zum Schluss gelangt, dass eine Verstärkung und Anpassung unserer Webseite eine Verringerung der Arbeit im Zusammenhang mit der gedruckten Presse voraussetzt: Eine der ersten Folgen dieser Neuorientierung der Pressearbeit wird deshalb sein, dass die gedruckten Publikationen weniger häufig erscheinen, insbesondere einige unserer Zeitungen. So werden unsere Zeitungen in Großbritannien (World Revolution) und in Frankreich (Révolution internationale) in Zukunft nur noch alle zwei Monate heraus kommen.
Abgesehen davon werden unsere Leser_innen sicher bemerkt haben, dass 2012 die Sommerausgabe der International Review (in englischer, französischer und spanischer Sprache) nicht erschienen ist. Wir möchten uns dafür entschuldigen. Wie ist dies zu erklären, wenn doch – wie wir sonst sagen – die geschichtlichen Notwendigkeiten des Kampfes der Arbeiterklasse von den Revolutionären eine erhöhte Anstrengung der Intervention auf theoretischer und historischer Ebene verlangen? Es hat sich in der Tat herausgestellt, dass unsere begrenzten Kräfte es uns nicht erlauben, gleichzeitig alle Aufgaben im Zusammenhang mit den Publikationen zu erfüllen, die nebst der Internationalen Revue auch noch die Broschüren und Bücher umfassen, deren Herausgabe uns eine bedeutende Arbeit abverlangt. Wir stehen erst am Anfang unserer Diskussion über die Pressearbeit, und wir wissen noch nicht genau, wie wir uns hinsichtlich des Rhythmus der Herausgabe der Internationalen Revue schließlich entscheiden werden.
Wir gehen davon aus, dass im laufenden Jahr neue Änderungen sich ergeben werden, insbesondere was die Struktur der Webseite betrifft. Wir möchten unsere Leser_innen in diese Aufgabe einbeziehen, weshalb wir bald einen Fragebogen auf die Webseite stellen werden, damit ihr eure Meinung dazu abgeben könnt. In der Zwischenzeit sind wir offen für eure Vorschläge, die ihr schon auf den Diskussionsforen einbringen könnt.
Das hier Gesagte bezieht sich natürlich nur auf die geographischen Gebiete, wo der Zugang zum Internet selbstverständlich geworden ist. Es gibt aber Regionen, wo der fehlende oder erschwerte Zugang bedeutet, dass die gedruckte Presse weiterhin die gleiche Rolle spielen muss wie bisher. Dies ist insbesondere in Indien und in Lateinamerika der Fall, wo wir mit unseren Sektionen in Indien, Mexiko, Venezuela, Peru und Ecuador schauen werden, wie wir am besten unsere Presse an die jeweiligen Bedingungen anpassen können.
IKS, 18. Januar 2013
Der Krieg und die Massaker an der Bevölkerung in Syrien (mehr als 100.000 Tote, ca. 165 Tote täglich) führen den ganzen Horror und die Barbarei eines dahinsiechenden Systems vor Augen. Sie zeigen das ganze Drama, vor dem Millionen von ArbeiterInnen stehen, die in den sich zuspitzenden Konfrontationen zwischen verschiedenen bürgerlichen Cliquen aufgerieben werden. Diese Zusammenstöße werden wiederum von ausländischen imperialistischen Mächten mit angefacht.
Da die Menschen als Geiseln genommen werden, können sie keinen ausreichenden Widerpart und erst recht keine eigene Perspektive entwickeln. Leider bedeutet dies, dass in einem wachsenden Teil des Nahen Ostens und Afrikas die ausgebeutete Jugend oft von dem einen oder anderen Feindeslager vereinnahmt wird. Die Folge: sie wird als Kanonenfutter verheizt.
Im Gegensatz dazu versuchen derzeit Hunderttausende Proletarier in der Türkei wie in Brasilien, sich zu organisieren und eigenständig zu kämpfen. In beiden Fällen haben sie eine gewaltige Solidaritäts- und Protestwelle ausgelöst. Was besonders auffällt, ist die Tatsache, dass sich die junge Generation sowohl in der Türkei als auch in Brasilien auf die Bewegung der Indignados in Spanien beruft und stark von ihr inspiriert wird. Gleichzeitig werden beide Bewegungen mit der gleichen brutalen Repression konfrontiert: Sowohl die rückständige, islamistisch geprägte Regierung in der Türkei als auch die von der Linken geführte Regierung in Brasilien geht brutal gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Dabei behauptet die « radikale » und « fortschrittliche » Linke in Brasilien, die als eine Variante des in Südamerika weit verbreiteten berühmten « Sozialismus des 21. Jahrhunderts » auftritt, aus Brasilien ein Schwellenland zu machen und die Mehrheit der Bevölkerung aus ihrer Armut zu führen. Auch wenn die Erhöhung der Fahrpreise im Nahverkehr als Sprengstoff der Bewegung wirkte und deren gemeinsamer Nenner darstellte, beschränkt sich die Bewegung in Brasilien keinesfalls auf ausschließlich ökonomische Forderungen. Trotz des spektakulären Kniefalls der Regierung, die aufgrund des Drucks diesen Angriff rückgängig machen musste (wie es 2006 in Anbetracht der massiven Mobilisierung der jungen Proletarier die französische Regierung auch tun musste, als sie den CPE (Ersteinstellungsvertrag) durchboxen wollte), reicht der Rückzug der Regierung nicht aus, um die einmal in Bewegung geratenen Massen aufzuhalten. Diese Bewegung bringt in Wirklichkeit eine viel tieferliegende Unzufriedenheit zum Ausdruck. Die Geschehnisse in der Türkei sind noch aufschlussreicher. Die dortige Bewegung stellt einerseits eine Kontinuität mit den Arbeiterkämpfen von Tekel 2008 dar, die seinerzeit ansatzweise ein Potenzial an Kampfbereitschaft und Solidarität zum Ausdruck brachten, das über die von den Herrschenden betriebene Spaltung zwischen den Bevölkerungsgruppen hinwegging. Andererseits kommt in der Bewegung, vor allem unter den jungen Arbeitergenerationen an ihrer Spitze, die Ablehnung der unerträglichen kulturellen und ideologischen Unterdrückung und anderer Zwangsmaßnahmen zum Ausdruck. Die obskuren moralischen und autoritären Werte, die durch die pro-islamische Erdogan-Regierung verkörpert werden, die provozierende Haltung Erdogans, die zu einer Radikalisierung und Ausdehnung der Bewegung infolge der Repression geführt hat, verstärkt das Bestrebungen nach Würde noch mehr.
Trotz des Gewichtes der Gewalt und des gesellschaftlichen Zerfalls und mehr noch als beim Arabischen Frühling, der relativ leicht durch die Religiösen wieder eingedämmt werden konnte, sind die Proteste der jungen Proletarier in Europa, die von eine Reihe von Arbeiterkämpfen in den großen Industriezentren des Landes mit angetrieben und durch die laizistische Erfahrung seit Mustafa Kemal beeinflusst wurden, Teil einer tiefgreifenden Dynamik, die sich in Kontinuität mit den Kämpfen der Indignados, der Occupy-Bewegung und letztendlich mit dem Mai 1968 befindet. Hier liegen die tieferen Wurzeln einer Bewegung, die sich gegen eine Welt der Armut, der ideologischen Unterdrückung und Ausbeutung richtet. Auch die Bewegung in Brasilien hat sich gegen diese Art von Staatsreligion und nationale Einheit in Gestalt des « Fußballgotts » gerichtet. Denn es wurde laut und heftig gegen die gewaltigen Staatsausgaben zur Vorbereitung der WM in Brasilien protestiert.
Die Bewegung wird von einer jungen, kämpferischen Generation getragen, von Arbeiterkindern, die weniger als die Generation ihrer Eltern von der Bürde der Niederlagen, des Stalinismus und der Konterrevolution im Allgemeinen gefesselt ist. Diese Jugend reagiert und ruft zu Massenversammlungen oder zu Mobilisierung mit Hilfe von Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken wie Twitter auf. Von den Favelas im Norden Rios und den gigantischen Kundgebungen in allen Großstädten Brasiliiens über den Taksim-Platz und den Versammlungen in den Parks von Istanbul und anderswo in der Türkei bis zu den Kundgebungen der StudentInnen in Chile - sie alle streben nach einer anderen Art von gesellschaftlichen Verhältnissen, Verhältnisse, in denen die Menschen nicht mehr verachtet und wie Vieh behandelt werden.
Diese Bewegungen kündigen eine neue Zeit an. Sie spiegeln tiefgreifende Regungen wider, um aus der Resignation auszubrechen und die Logik der Konkurrenz zu überwinden, die das herausragende Merkmal des Kapitalismus ist. Sie entwickeln sich auf dem gleichen Boden wie die Bewegungen in den Ländern im historischen Herzen des Kapitalismus, wo sich die Lebensbedingungen zwar auch verschlechtert haben, es der Arbeiterklasse noch nicht gelungen ist, den Weg zu massiven Kämpfen zurückzufinden. Zum Großteil ist dies darauf zurückzuführen, dass sie einer sehr erfahrenen und gut organisierten herrschenden Klasse gegenübersteht. Aber schon jetzt richten sich die Blicke der Protestierenden in der Türkei und in Brasilien auf die Arbeiterklasse in den zentralen Ländern, insbesondere Europas, denn in Europa ist die Arbeiterklasse immer noch zahlenmäßig am stärksten gebündelt, verfügt über die meiste Erfahrung über die Fallen und tückischen Verschleierungen (wie die Demokratie oder die « freien » Gewerkschaften), die vom Klassenfeind ständig gegen sie eingesetzt werden.
Die Kampfmethoden, die sie potenziell entfalten könnte, wie selbständige und massenhafte Vollversammlungen, sind wirksame Waffen der gesamten Arbeiterklasse weltweit. Die Zukunft der ganzen Menschheit hängt davon ab, ob es gelingt, diese Waffen überall zum Einsatz zu bringen. Wim, 26.6.2013.
Eine Welle von Protesten gegen die Fahrpreiserhöhungen des Nahverkehrs erschüttert gegenwärtig die großen Städte Brasiliens. Insbesondere São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre, Goiânia, Aracaju und Natal. Bei den Protesten kamen bislang Jugendliche, Studenten, Schüler und viele Beschäftigte und “Freiberufler”, zusammen, die gegen die Preiserhöhungen ankämpfen. Bislang waren die Fahrpreise bei schlechter Qualität des Nahverkehrs schon sehr hoch, die jüngste Preiserhöhung bedeutet einen weiteren Einschnitt in die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung.
Die brasilianische Bourgeoisie, mit der PT (Partei der Arbeit) und ihren Verbündeten an der Spitze, behauptete, alles läge im Bereich der Norm. Dabei sieht die Wirklichkeit ganz anders aus, denn die Mehrheit der Bevölkerung leidet unter der Inflation. Die bisherigen Geldspritzen zur Ankurbelung des Konsums, damit das Abrutschen der Wirtschaft in die Rezession vermieden wird, ändern daran nichts. In ihrem Spielraum eingeengt, ist die einzige Alternative beim Kampf gegen die Inflation aus der Sicht der Herrschenden die Erhöhung der Zinsen und die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben im Bereich Gesundheitswesen, Erziehung, Sozialhilfe, wodurch die Lebensbedingungen für die Menschen, die von diesen Zahlungen abhängig sind, noch schlechter werden.
In den letzten Jahren haben viele Streiks gegen die Lohnsenkungen und die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen sowie gegen die Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen stattgefunden. Aber in den meisten Fällen waren diese Streiks isoliert worden durch den Sperrring, den die mit der Regierung (welche von der PT dominiert wird) verbundenen Gewerkschaften gelegt hatten. Die Unzufriedenheit konnte eingedämmt werden, damit der “soziale Frieden” nicht auf Kosten der Volkswirtschaft angekratzt wurde. Vor diesem Hintergrund begannen die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen in São Paulo und den anderen Landesteilen: überall verlangt die Regierung mehr Opfer von den Beschäftigten zur Unterstützung der Volkswirtschaft, d.h. des nationalen Kapitals.
Zweifelsohne zeugen die Beispiele der Bewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern ausgebrochen sind und an denen sich viele Jugendliche beteiligt hatten, davon dass der Kapitalismus der Menschheit keine andere Alternative anzubieten hat als ein unmenschliches Dasein. Deshalb hat die jüngste Protestwelle in der Türkei auch bei den Protesten in Brasilien gegen die Fahrpreiserhöhungen ein solch großes Echo gehabt. Die brasilianische Jugend hat gezeigt, dass sie die Gesetze des Opferbringens, welche die herrschende Klasse durchboxen will, nicht hinnehmen möchte und stattdessen bereit ist, sich den Kämpfen anzuschließen, die in den letzten Jahren die Welt erschüttert haben – wie die Kämpfe der Jugend gegen den CPE in Frankreich 2006, der Jugend und der Arbeiterklasse insgesamt in Griechenland, Ägypten, Nordafrika, der Indignados in Spanien, der “Occupy”-Bewegung in den USA und in Großbritannien.
Ermutigt durch die Erfolge der Proteste in Porto Alegre und Goiânia, wo die Herrschenden mit brutaler Repression reagiert hatten, aber nicht dazu in der Lage waren, die Fahrpreiserhöhungen durchzusetzen, begannen die Proteste am 6. Juni in São Paulo. Dazu aufgerufen hatte die Bewegung für “kostenlosen Nahverkehr” (MPL, Movimento Passe Livre), eine Gruppe, die im Wesentlichen von jungen Student/innen getragen wird, welche von den Positionen der Linken und Anarchisten beeinflusst werden. Sehr schnell schlossen sich viele Leute dieser Gruppe an, so dass sie gegenwärtig ca. 2-5000 Mitglieder zählt. Weitere Proteste folgten am 7. und 11. und 13. Juni. Von Anfang an gingen die Herrschenden mit brutaler Repression vor, viele Teilnehmer wurden verhaftet und viele Jugendliche verletzt. Wir begrüßen den Mut und die Kampfbereitschaft der Protestierenden, sowie die große Sympathie, mit welcher die Bevölkerung ihnen gegenüber von Anfang an reagierte, so dass selbst die Organisatoren überrascht waren.
Die herrschende Klasse reagierte auf diese Kundgebungen mit einer Welle von Gewalt in einem Ausmaß, wie es die Geschichte dieser Bewegungen bislang noch nicht erlebt hatte. Die Medien haben dem Rückendeckung gegeben, indem sie über Vandalen und rücksichtslose, unverantwortliche Protestierende schimpften. Dabei ragte ein hochrangiger Staatsanwalt heraus, Rogério Zagallo, welcher der Polizei öffentlich empfahl, mit Schlagstöcken vorzugehen und dass diese auch vor dem Gebrauch von Schusswaffen nicht zurückschrecken sollte: „Seit zwei Stunden versuche ich nach Hause zu kommen, aber eine Bande von revoltierenden Affen blockiert die Haltestellen Faria Lima und Marginal Pinheiros. Könnte jemand die Sondereingreiftruppen informieren (Schocktruppen, Eliteeinheit der Militärpolizei), dass dieses Gebiet in meinen Zuständigkeitsbereich fällt, und wenn sie diese Hundesöhne töten, werde ich die polizeilichen Untersuchungen leiten. (…). Wie schön waren die Zeiten, als wir solche Angelegenheiten mit Gummiknüppeln regeln konnten, indem wir diesen Schuften eins auf die Rübe gegeben haben.“
Darüber hinaus hat eine Reihe von Politikern, die unterschiedlichen Parteien angehören, wie der Staatsgouverneur Geraldo Alckmin der PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens) und der PT-Bürgermeister von São Paulo die polizeiliche Repression heftig verteidigt und die Bewegung verurteilt. Solche gemeinsamen Stimmen sind nicht häufig zu vernehmen, da das übliche Spiel der Herrschenden darin besteht, sich jeweils gegenseitig die Verantwortung für die Probleme in die Schuhe zu schieben, vor denen die jeweils an der Regierung befindliche Fraktion der Herrschenden steht.
Als Reaktion auf die wachsende Repression und die irreführende Berichterstattung durch die meisten Medien haben sich noch mehr Leute an den Protesten beteiligt: ca. 20.000 am 13. Juni. Die Repression gegen die Demo war noch heftiger, 232 Leute wurden verhaftet, viele verletzt.
Es fällt auf, dass eine neue Generation von Journalisten in Erscheinung getreten ist. Obwohl sie in der Minderheit sind, haben sie eindeutig ihre Solidarität bekundet und über die Polizeigewalt berichtet, gleichzeitig wurden viele von ihnen selbst Zielscheibe polizeilicher Repression. Weil sie sich dessen bewusst sind, dass die Schlagzeilen und Leitartikel der großen Medien meistens manipulierend berichten, ist es diesen Journalisten gewissermaßen gelungen, das gewaltsame Vorgehen der Jugendlichen als Selbstverteidigung darzustellen. Und manchmal waren die Verwüstungen hauptsächlich von Regierungs- und Justizbüros ein Ausdruck der ungebremsten Empörung über den Staat. Aber daneben waren auch Provokateure am Werk, welche die Polizei üblicherweise in solchen Demos einsetzt.
Nachdem die Manipulationen immer deutlicher zutage traten und damit die offiziellen Berichterstattungen durch staatliche Quellen, die Medien und die Polizei sich als Lügen herausgestellt haben, welche eine legitime Bewegung demoralisieren und kriminalisieren sollten, bewirkte diese eine noch größere Mobilisierung der Demonstranten und einen noch größere Unterstützung in der Bevölkerung. Deshalb muss man den großen Beitrag der Leute hervorheben, die in den sozialen Netzwerken aktiv für die Bewegung mobilisiert haben oder mit ihr sympathisieren. Aus Angst, dass die Bewegung unkontrollierbar werde, haben einige Teile der Herrschenden angefangen, einen anderen Ton anzuschlagen. Nach einer Woche des Schweigens und Vertuschens haben die großen Medienunternehmen in ihren Zeitungen und Fernsehsendungen langsam angefangen, von „Polizeiexzessen“ zu reden. Und einige Politiker haben diese „Exzesse“ ebenso kritisiert und Untersuchungen angekündigt.
Die Gewalt der Herrschenden, die mittels des Staates ausgeübt wird, egal ob dieser eine „demokratische“ oder „radikale“ Maske auflegt, stützt sich auf den totalitären Terror der Herrschenden gegen die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Wenn mit dem „demokratischen“ Staat diese Gewalt nicht so offen in Erscheinung tritt wie in den Diktaturen und mehr verdeckt ausgeübt wird, so dass die Ausgebeuteten ihre Lage als Ausgebeutete hinnehmen und sich mit den Verhältnissen zufrieden geben, bedeutet dies nicht, dass der Staat auf die verschiedensten und modernsten physischen Unterdrückungsmethoden verzichtet, wenn die Lage es erfordert. Es überrascht also nicht, wenn die Polizei so gewaltsam gegen die Bewegung vorgeht. Aber wie die Geschichte gezeigt hat; wer das Feuer gelegt hat, kann es nachher nicht mehr löschen. Die verschärfte Repression hat eine noch größere Solidarisierung in ganz Brasilien zur Folge gehabt, ja sogar international, auch wenn dies zahlenmäßig noch sehr beschränkt ist. Solidaritätskundgebungen außerhalb Brasiliens sind schon geplant. Hauptsächlich werden diese von „Auslandsbrasilianern“ organisiert. Man muss betonen, dass die Polizeigewalt dem Wesen des Staates entspricht und kein Einzelfall oder nur ein ‚Exzess‘ irgendeines Imponiergehabes der Polizei ist, wie es die bürgerlichen Medien und die dem System verbundenen Behörden gerne darstellen. Deshalb haben wir es hier nicht mit einem Versagen der „Führer“ zu tun und es nützt überhaupt nichts, „Gerechtigkeit zu verlangen“ oder ein „umsichtigeres Vorgehen der Polizei. Um die Repression aufzuhalten und den Staat zurückdrängen zu können, gibt es kein anderes Mittel als die Ausdehnung der Bewegung auf immer größere Teile der Arbeiterklasse. Zu diesem Zweck können wir uns nicht an den Staat wenden und ihn anbetteln. Die gesamte Arbeiterklasse muss die Repression anprangern und sich gegen die Preissteigerungen wenden. Ebenfalls muss man dazu aufrufen, dass sich immer mehr an dem Kampf gegen Präkarisierung und Repression beteiligen.
Die Kundgebungen, die noch lange nicht abflauen, haben sich auf ganz Brasilien ausgedehnt. Bei der Eröffnungsfeier des Confed Cup wurde die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff und der FIFA-Präsident Joseph Blatter beim Eröffnungsspiel Brasilien-Japan ausgepfiffen. Die beiden konnten nicht verheimlichen, wie sauer sie über diese Buhrufe waren und verkürzten deshalb ihre Reden. Vor dem Stadion beteiligten sich auch ca. 1200 Personen bei Protesten aus Solidarität mit der Bewegung gegen die Fahrpreiserhöhungen. Auch hier ging die Polizei wieder gewalttätig vor und verletzte 27 Personen und verhaftete 16 Teilnehmer. Um die Repression noch weiter zu verstärken, verbot der Staat jegliche Proteste in der Nähe der Stadien während des Confed Cups, unter dem Vorwand, den Ruf dieser Sportveranstaltung nicht zu schädigen und den Verkehr nicht zu behindern.
Diese Bewegung konnte sich so stark landesweit ausdehnen, weil sie von jungen Studenten und Schülern getragen wird, die gegen die Fahrpreiserhöhungen protestiert haben. Aber man muss berücksichtigen, dass sie mittel- und langfristig das Ziel verfolgt, die Einführung des kostenlosen Nahverkehrs für die ganze Bevölkerung zu verhandeln, der vom Staat zur Verfügung gestellt wird. Aber genau hier liegt die Grenze der Hauptforderung, da es in der kapitalistisch regierten Gesellschaft keinen allgemein kostenlosen Nahverkehr geben kann. Um dies durchzusetzen, müssten die herrschende Klasse und ihr Staat die Ausbeutung der Arbeiterklasse noch mehr verschärfen – z.B. durch Steuererhöhungen usw. Deshalb muss man darauf achten, dass der Kampf nicht mit der Perspektive von unmöglichen Reformen geführt wird, sondern immer mit dem Ziel, dass der Staat seine Entscheidungen rückgängig macht. Gegenwärtig scheinen die Perspektiven der Bewegung über die einfachen Forderungen der Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen hinauszugehen. Jetzt schon sind Demos und Kundgebungen in Dutzenden von brasilianischen Städten in der nächsten Woche vorgesehen.
Die Bewegung muss sich vor den linken Kräften des Kapitals hüten, die auf die Vereinnahmung der Demonstrationen spezialisiert sind, um sie dann in Sackgassen zu führen wie z.B. die Forderung, dass die Gerichte ihre Probleme lösen....
Damit die Bewegung sich entfaltet, muss man Räume schaffen, wo die Teilnehmer zusammen kommen können, um sich gegenseitig zuzuhören, ihre Standpunkte auszutauschen und zu debattieren. All das geht nur durch die Organisierung von Vollversammlungen, die allen offenstehen müssen, wo jeder Teilnehmer das Wort ergreifen darf. Darüber hinaus müssen die Beschäftigten dazu aufgerufen werden, sich an diesen Versammlungen und Protesten zu beteiligen, denn auch sie sind natürlich von den Preiserhöhungen betroffen.
Die sich in Brasilien entfaltende Protestbewegung ist eine schallende Ohrfeige für die Kampagne der Herrschenden in Brasilien, die mit Unterstützung der Herrschenden auf der ganzen Welt behaupten, Brasilien sei ein „Schwellenland“, das dabei sei, die Armut zu überwinden und eine eigenständige Entwicklung durchlaufe. Diese Kampagne wurde vor allem von dem früheren Präsidenten Lula mit getragen, der weltweit den Ruf genießt, dass er angeblich Millionen Brasilianer aus der Armut geführt habe, während in Wirklichkeit sein großes Verdienst für das Kapital darin besteht, dass er unter der Bevölkerung, insbesondere unter den Ärmsten Krümel verteilt hat, um damit die Illusionen aufrechtzuerhalten und die Prekarisierung der Arbeiterklasse in Brasilien zu verschärfen.
Gegenüber der Weltwirtschaftskrise und den daraus entstehenden Angriffen gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats gibt es keinen anderen Weg als den Kampf gegen den Kapitalismus.
Revolução Internacional (Internationale Kommunistische Strömung). 16.6.2013.
(P.S. Nachdem dieser Artikel verfasst wurde, kam es den darauf folgenden Tagen in ganz Brasilien wieder zu massenhaften Protesten mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern – wir werden weiter auf die Entwicklung eingehen).
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/WR_177.pdf
[2] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/10-jahre-agenda-2010
[3] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/spanien
[4] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/erklarung-einer-arbeitergruppe-alicante
[5] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/zum-generalstreik
[6] https://de.internationalism.org/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse
[7] https://de.internationalism.org/tag/2/40/das-klassenbewusstsein
[8] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/fabrikkatastrophe-bangladesh
[9] https://de.internationalism.org/Welt176_gewerkschaftenzwiespaeltig0113
[10] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gewerkschaftsdebatte
[11] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/sind-die-gewerkschaften-verschworer
[12] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/protestbewegungen-brasilien
[13] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/turkei-die-einzige-wahl-sozialismus-oder-barbarei
[14] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/sud-und-mittelamerika
[15] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/proteste-brasilien
[16] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/fahrpreiserhohungen-brasilien
[17] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/confed-cup-proteste