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Juni 2006

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Streik der Metallarbeiter in Vigo, Spanien: die proletarische Kampfmethode

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Wir begrüßen den Kampf, den die Metallarbeiter von Vigo in Nordwest-Spanien seit dem 3. Mai führen, und möchten unsere Solidarität mit diesem Kampf ausdrücken. Die offiziellen Medien, die Internet-Seiten der Gewerkschaften und der so genannten „radikalen“ Gruppen bewahren fast völliges Schweigen über diesen Streik. Es ist wichtig, dass wir diese Erfahrung diskutieren, mit kritischem Geist die Lehren daraus ziehen und sie in der Praxis umsetzen, da alle Arbeiter von den gleichen Probleme betroffen sind: prekäre Arbeit, in zunehmendem Maße unerträgliche Arbeitsbedingungen, horrende Preise, Entlassungen, die Ankündigung von mehr Pensionskürzungen...

Geeinter Kampf gegen die „Arbeitsreform“

Zur gleichen Zeit, als das infernale Trio aus Regierung, Chefs und Gewerkschaften unter dem Vorwand des Kampfes gegen prekäre Arbeit eine neue „Arbeitsreform“ unterzeichnete - eine „Reform“, die es sogar günstiger macht , Leute zu entlassen, und die vorsieht, die Dauer von zeitweiligen Verträgen auf zwei Jahre festzulegen -, ist in Vigo ein massiver Kampf ausgebrochen. Sein zentrales Anliegen ist genau der Kampf gegen prekäre Arbeitsbedingungen, denn ca. 70% der Beschäftigten des Sektors der Metallindustrie von kleineren und mittleren Betriebe sind prekär beschäftigt.

Der wirkliche Kampf gegen die neue „Arbeitsreform“ kann nicht durch die zahlreichen Mobilisierungen oder Protestaktionen „radikaler“ Gewerkschaften geführt werden. Die einzige wirkungsvolle Weg des Kampfes gegen die Präkarisierung ist der direkte Kampf der Arbeiter: Streiks, die von den Arbeitern gemeinsam beschlossen werden. Streiks, die sich von einem Unternehmen zum anderen ausbreiten und daher die Kräfte vereinigen können, die für die Erhebung gegen die ständigen Angriffe des Kapitals notwendig sind.

Die Stärke der Versammlungen

Der Streik der Metallarbeiter in Vigo ist massiv gewesen und hat die öffentliche Straßenversammlung als seine Form der Organisation angenommen. Eine von den Arbeitern  beschlossene Versammlung sollte jenen geöffnet sein, die ihre Meinung ausdrücken wollen, ihre Unterstützung bekunden oder ihre Probleme oder Beschwerden vorbringen wollen. Mehr als 10.000 Arbeiter nahmen an den Treffen jeden Tag teil, um den Kampf zu organisieren, um zu entscheiden, welche Aktionen man aufnehmen sollte, um herauszufinden, zu welchen Betrieben man gehen soll, um die Arbeiter zur Solidarität aufzufordern und auch um zu hören, was über den Streik im Radio und in den Kommentaren der Leute gesagt wurde, und so weiter. Es ist bezeichnend, dass die Arbeiter in Vigo die gleichen Methoden wie die jüngste Bewegung der Studenten in Frankreich entwickelt haben. Dort waren die Versammlungen auch offen für Arbeiter, für Rentner und für die Eltern der Studenten. Und auch dort waren die Versammlungen die Lungen der Bewegung. Es ist auch bezeichnend, dass jetzt 2006 die Arbeiter von Vigo die Praxis des großen Streiks von 1972 wieder aufgenommen haben, als allgemeine Versammlungen der Stadt täglich stattfanden. Die Arbeiterklasse ist eine internationale und historische Klasse, und das ist ihre Stärke.

Die Stärke der Solidarität

Von Anfang an waren die Beschäftigten in Vigo bestrebt, die Solidarität anderer Arbeiter zu gewinnen, vor allem der großen Metallbetriebe, die besondere Tarifverträge haben und die daher „nicht betroffen“ sind. Es wurden große Delegationen zu den Schiffswerften, zur Automobilfabrik von Citroen und anderen Großbetrieben geschickt. Ab dem 4. Mai traten auf den Schiffswerften die Beschäftigten aus Solidarität einstimmig in den Streik. Der bürgerlichen Ideologie zufolge, die kalt und egoistisch ist, sollte sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Deshalb ist aus ihrer Sicht ein Solidaritätsstreik ein Irrsinn; aber vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ist die Solidarität die beste Antwort auf die heutigen und zukünftigen Angriffe. Angesichts der heutigen Situation kann jeder einzelne Teil der Arbeiter nur dann Druck ausüben und Stärke zeigen, wenn er auf den gemeinsamen Kampf der gesamten Klasse zählen kann.

Am 5. Mai umstellten ca. 15.000 Metaller das Citroen-Werk, um zu versuchen, die Beschäftigten des Werkes für die Beteiligung am Streik zu gewinnen. Aber die Belegschaft war gespalten - einige sprachen sich für die Beteiligung am Streik, andere für die Fortführung der Arbeit aus. Schlussendlich nahmen alle die Arbeit auf. Dennoch schien die Saat, die die massiven Delegationen unter den Beschäftigten der Citroen-Werke gepflanzt hatte, langsam aufzugehen, denn am 9. Mai kam es bei Citroen und in anderen Werken doch zu Arbeitsniederlegungen.

Solidarität und die Ausdehnung des Kampfes waren auch kraftvolle Eigenschaften der Studentenbewegung in Frankreich. Anfang April, als es in großen Unternehmen wie Snecma und Citroen aus Solidarität mit den Studenten zu spontanen Streiks kam, nahm die Regierung den CPE (Contrat de Première Embauche) zurück. Solidarität und die Ausdehnung des Kampfes dominierten außerdem den Generalstreik von ganz Vigo im Jahre 1971 und erlaubten es, die mörderische Hand von Francos Diktatur zu blockieren. Hier sehen wir wieder die internationale und historische Stärke der Arbeiterklasse.

Bewaffnete Unterdrückung: eine Politik der Bourgeoisie

Am 8. Mai zogen ca. 10.000 Arbeiter in einem Demonstrationszug nach der Vollversammlung auf der Straße zum Bahnhof, mit dem Ziel, Reisende über ihren Streik aufzuklären. Die Polizei griff daraufhin die Demonstranten von allen Seiten mit ungeheuerlicher Gewalttätigkeit an. Brutal erfolgten die Polizeiattacken. Die Demonstranten wurden auseinander getrieben; in kleinen Gruppen zersplittert, wurden sie weiter von den Polizeikräften gnadenlos angegriffen. Es gab zahlreiche Verletzte und 13 Verhaftungen.
Diese Repression spricht Bände und zeigt, was die so genannte "Demokratie" und ihre schönen Reden von "Verhandlungen", "Versammlungsfreiheit", "demokratischer Vertretung für alle" in Wirklichkeit bedeuten. Wenn die Arbeiter so kämpfen, wie es ihren Interessen und ihrer Situation angemessen ist, zögert das Kapital keinen Augenblick, seinen Repressionsapparat einzusetzen. Der zynische Meister des "Dialogs", der spanische Premierminister Zapatero, zeigte sein wahres Gesicht. Und er hatte zweifellos seine Lehrer! Sein sozialistischer Vorgänger Gonzales, der in den 1980ern und 90ern Ministerpräsident war, war verantwortlich für den Tod eines Arbeiters während des Kampfes in der Marine-Schiffswerft in Gijón (1984) und den eines Arbeiters während des Kampfes von Reinosa (1987). Ein anderes Beispiel ist der von Aznar häufig zitierte Rebuplikaner Azaña, der Präsident der 2. spanischen Republik in den frühen dreißiger Jahren war. Er gab während des Massakers von Casas Viejas 1933 den direkten Befehl, den Taglöhnern „in die Eingeweide zu schießen“.

Die Polizeirepression am Bahnhof von Vigo war ein Vorgeschmack auf die folgende Politik, die darin bestand, die Arbeiter in die Falle der erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Repressionskräften zu locken und dazu zu bringen, ihre massiven Aktionen (Massendemonstrationen, Vollversammlungen usw.) durch eine Verzettelung und Zerstreuung in Schlägereien mit den Staatskräften zu ersetzen. Die Polizei wollte die Arbeiter in sinnlose Gefechte verwickeln, damit sie die Sympathie anderer Arbeiter verlieren.
Es ist dieselbe Politik, die die Regierung gegen die Studentenbewegung eingesetzt hat: "Die Tiefe der Studentenbewegung zeigt sich auch in ihrer Fähigkeit, den Fallen der Bourgeoisie, u.a. durch Manipulation der "Vandalen", zu entgehen. Zu diesen Fallen, welche die Studenten in gewalttätigen Situationen aufreiben sollten, gehören die polizeiliche Besetzung der Sorbonne, die "Einkesselung" am Endpunkt der Demonstration vom 16. März, die polizeilichen Übergriffe vom 18. März, die Gewalt der "Vandalen" gegen die Demonstranten vom 23. März. Wenn auch eine kleine Minderheit der Studentenschaft - vor allem jene, die von anarchistischen Ideologien beeinflusst sind -, sich auf die Konfrontationen mit der Polizei eingelassen haben, so widersetzte sich dennoch die große Mehrheit einer Zersplitterung der Bewegung durch ständige Konfrontation mit den Repressionskräften." (Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühjahr 2006)
Die Arbeiter in Vigo sind massenweise auf die Straße gegangen, um ihre inhaftierten Kollegen zu befreien. Mehr als 10.000 Arbeiter versammelten sich am 9. Mai, um für ihre Freilassung zu demonstrieren, die dann auch zugestanden wurde.

Es ist aufschlussreich, dass die nationalen "Nachrichtenmedien" (El Pais, Mundo, TVE usw.) über diesen Kampf ein vollständiges Schweigen bewahrt haben und vor allem kein Wort zu den Vollversammlungen, den Massendemonstrationen, und der Solidarität gesagt haben. Und dann erfolgte in den Medien plötzlich der große Aufschrei über die gewalttätigen Zusammenstöße am 8. Mai. Die Botschaft, die wir vernehmen sollten, war klar: "Wenn man die Aufmerksamkeit erregen will, muss man gewalttätige Auseinandersetzungen verursachen". Es ist von höchstem Interesse für das Kapital, daß sich die Arbeiter in einer Serie fruchtloser Auseinandersetzungen verfangen und erschöpfen.

Verzögerungen und Manöver der Gewerkschaften

Schon vor langer Zeit haben die Gewerkschaften aufgehört, eine Waffe für das Proletariat zu sein, und sind ein Schutzschild für das Kapital geworden, wie wir es an den Beteiligungen an den „Arbeitsreformen“ von 1988, 1992, 1994, 1997 und 2006 erkennen können. Die drei Gewerkschaften (CCOO, UGT und CIG) haben sich dem Streik von Vigo angeschlossen, um nicht die Kontrolle über ihn zu verlieren und um ihn von innen auszuhöhlen und zu schwächen. So haben sie sich der Entsendung von Massendelegationen zu anderen Unternehmen widersetzt. Stattdessen riefen sie zu einem Generalstreik der Metallarbeiter für den 11. Mai auf. Jedoch haben die Arbeiter nicht gewartet, und vor allem haben sie nicht die Gewerkschaftsmethode des eintägigen Streiks akzeptiert. Sie haben echte Arbeitermethoden entwickelt: die Bildung von Massendelegationen, das Herstellen direkter Kontakte mit anderen Arbeitern, Kollektiv- und Massenaktionen.
Jedoch am 10. Mai, nach 20 Stunden Verhandlungen, erreichten die Gewerkschaften eine Abmachung, die, obwohl sie unklar ist, einen hinterhältigen Schlag gegen die Arbeiter darstellt und  einige ihrer Hauptforderungen unter den Tisch fallen lässt. Ein großer Teil der Arbeiter zeigte ihre Entrüstung, und die Abstimmung wurde bis auf den Morgen des 11.  Mai aufgeschoben.

Die Arbeiter müssen klare Lehren aus diesem Manöver ziehen: Wir können Verhandlungen nicht in den Händen der Gewerkschaften lassen. Verhandlungen müssen zur Gänze von der Versammlung gesteuert werden. Die Versammlung muss die verhandelnde Kommission ernennen und diese muss der Versammlung jeden Tag über ihre Tätigkeiten berichten. Dies  geschah in den Kämpfen der siebziger Jahre und wir müssen uns diese Praxis, die Gewerkschaften daran zu hindern, uns die Augen zu verbinden, wiederaneignen.

Perspektiven

 

Wir wissen nicht, wie sich der Kampf entwickeln wird. Trotzdem hat er uns bereits mit einer lebenswichtigen  Erfahrung bereichert. Das Kapital in der Krise gewährt kein Pardon. Seit mehr als 20 Jahren hat man in jedem Land schreckliche Herabsenkungen der Lebensbedingungen der Arbeiter und immer schlimmere Angriffe erlebt. Folglich müssen wir kämpfen, müssen wir die Stärke der Arbeiterklasse unterstreichen, und in Kämpfen wie in Vigo wurde uns eine grundlegende Lehre mitgegeben: die gewerkschaftlichen Methoden des Kampfes bringen uns nichts und sie erdrücken uns durch Demoralisierung und Ohnmacht. Die proletarischen Methoden des Kampfes, die wir in Vigo gesehen haben und die wir vorher in größerem und profunderem Ausmaß in der Studentenbewegung in Frankreich sahen, geben uns die Stärke und die Einheit, die wir benötigen. Wir müssen damit aufhören, Nummern in den Händen der Gewerkschaftsführer zu sein und müssen uns in eine Kraft verwandeln, die auf den Grundlagen der Einheit und der Solidarität denkt, entscheidet und kämpft.

Internationale Kommunistische Strömung 10.5.06

Zum Tod unserer Genossin Clara

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Unsere Genossin Clara ist am Samstag, den 15. April 2006, im Krankenhaus Tenon in Paris im Alter von 88 Jahren gestorben. Clara wurde am 8. Oktober 1917 in Paris geboren. Ihre Mutter, Rebecca, war russischer Herkunft. Sie war nach Frankreich gegangen, weil sie in ihrer Geburtsstadt, Simferopol auf der Krim, als Jüdin nicht Medizin studieren durfte. Schließlich wurde sie in Paris Krankenschwester. Bevor sie nach Frankreich kam, hatte sie in der Arbeiterbewegung mitgewirkt; so hatte sie sich an der Gründung der sozialdemokratischen Partei in Simferopol beteiligt. Der Vater Claras, Paul Geoffroy, war Facharbeiter, spezialisiert auf die Herstellung von Schmuckkoffern. Vor dem I. Weltkrieg war er Mitglied der CGT in der anarcho-syndikalistischen Bewegung; doch nach der russischen Revolution von 1917 näherte er sich der Kommunistischen Partei an.

So wurde Clara seit früher Kindheit in der Tradition der Arbeiterbewegung großgezogen. Zunächst trat sie im Alter von 15 Jahren der Kommunistischen Jugend (JC) bei. 1934 reiste sie mit ihrem Vater nach Moskau, um eine Schwester ihrer Mutter zu besuchen; die Mutter war gestorben, als Clara erst 12 Jahre alt war. Was sie in Russland sah, wie u.a. die Tatsache, dass die neuen Wohnungen für eine Minderheit von Privilegierten und nicht für die Arbeiter gebaut wurden, veranlasste sie dazu, sich viele Fragen über das "Vaterland des Sozialismus" zu stellen. Nach ihrer Rückkehr brach sie mit der Kommunistischen Jugend. Damals schon hatte sie zahlreiche Diskussionen mit unserem Genossen Marc Chirik geführt (den sie im Alter von 9 Jahren kennengelernt hatte, denn die Mutter Claras war die Freundin der Schwester der ersten Partnerin von Marc), obwohl ihr Vater gegen diese Diskussionen war, weil er der KP treu geblieben war und nicht mochte, dass seine Tochter Kontakt mit "Trotzkisten" hatte.

Marc war damals Mitglied der Italienischen Fraktion, und obwohl Clara ihr nicht angehörte, sympathisierte sie mit dieser Gruppe. Während des Krieges wurde Marc in die französische Armee eingezogen (obwohl er kein Franzose war und jahrelang nur im Besitz eines einzigen Identitätnachweises war - nämlich eines Ausweisungsbescheides, dessen Vollzugstermin alle zwei Wochen aufgeschoben wurde). Als die französische Armee ihr Debakel erfuhr, war er in Angouleme stationiert. Mit einem Genossen der Italienischen Fraktion in Belgien (der als Jude vor dem Vormarsch der Reichswehr geflüchtet war) war Clara aus Paris mit dem Fahrrad aufgebrochen, um Marc in Angouleme zu treffen. Bei ihrer Ankunft erfuhr sie, dass Marc (zusammen mit anderen Soldaten) von der Reichswehr verhaftet worden war. Diese hatte jedoch noch nicht erfahren, dass Marc Jude war. Clara konnte Marc (und einem anderem jüdischen Genossen) zur Flucht aus der Kaserne, in der er eingesperrt war, verhelfen, nachdem sie ihm Zivilkleidung besorgt hatte. Marc und Clara schafften es in die sog. "freie Zone", wo sie im September 1940 mit dem Fahrrad ankamen. In Marseille organisierte  Marc die Italienische Fraktion neu, die am Anfang des Krieges auseinandergefallen war.

Ohne formal Mitglied derselben zu sein, beteiligte sich Clara an der Arbeit der Fraktion und an deren Diskussionen, die schließlich die Neugründung der Italienischen Fraktion ermöglichten: Trotz der Gefahren, die von den deutschen Besatzungstruppen ausgingen, schafften sie politische Dokumente, die für die anderen Genossen der Italienischen Fraktion bestimmt waren, in andere Städte. Damals wirkte Clara auch bei der OSE mit, einer Hilfsorganisation für Kinder, die sich um jüdische Kinder kümmerte und sie vor der Gestapo versteckte.

Nach der "Befreiung" konnten Marc und Clara nur knapp dem Tod entrinnen. Denn die stalinistischen "Résistance"-Mitglieder verhafteten sie in Marseille und beschuldigten sie, Verräter, Komplizen der "boches" (Schimpfwort für die Deutschen) zu sein, weil sie bei ihnen bei einer Hausdurchsuchung Texte auf Deutsch gefunden hatten. In Wahrheit handelte es sich um deutsche Hefte eines Sprachkurses, den Marc und Clara von Voline (einem russischen Anarchisten, der sich an der Revolution 1917 beteiligt hatte) erhielten. Trotz der schrecklichen Armut, in der Voline lebte, weigerte er sich, materielle Hilfe anzunehmen. Erst als Marc und Clara ihn um diesen Deutschkurs baten, akzeptierte Voline wenigstens das Essen, das sie ihm dafür brachten. Während dieser Hausdurchsuchung fanden die Stalinisten auch internationalistische Flugblätter, die auf Französisch und Deutsch verfasst worden waren und sich an die Soldaten auf beiden Seiten der Front richteten.

Dank eines gaullistischen Offiziers, der das Gefängnis leitete und dessen Frau Clara während der gemeinsamen Arbeit in der OSE kennengelernt hatte, konnten Marc und Clara gerade noch den Mördern der KPF entkommen. Zunächst verhinderte dieser Offizier, dass die Stalinisten Marc und Clara ermordeten (die Résistance-Leute der KPF äußerten gegenüber Marc: "Stalin hat dich nicht erwischt, aber wir kriegen dich"). Da der gaullistische Offizier überrascht war, dass ein Jude angeblich "Kollaborateur" der Nazis sein soll, wollte er die politische Haltung von Marc und Clara "begreifen", die Propaganda zugunsten einer Verbrüderung der französischen und deutschen Soldaten betrieben hatten. Dieser Offizier merkte, dass ihre Vorgehensweise nichts mit irgendeinem "Verrat" zugunsten des Nazi-Regimes zu tun hatte. Deshalb holte er sie mit seinem eigenen Auto heimlich aus dem Gefängnis ab und riet ihnen, Marseille so schnell wie möglich zu verlassen, bevor die Stalinisten sie erwischten. Marc und Clara gingen damals nach Paris, wo sie andere Genossen (und Sympathisanten) der Italienischen und Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken vorfanden. Clara unterstützte die Arbeit der Kommunistischen Linken in Frankreich (der GCF - die FFGC hatte diesen Namen angenommen) bis 1952. Aufgrund der Gefahr eines neuen Weltkriegs fasste die GCF 1952 den Beschluss, dass einige ihrer Mitglieder Europa verlassen sollten, damit die Organisation am Leben blieb, falls dieser Kontinent durch einen Krieg verwüstet werden sollte. Marc reiste im Juni 1952 nach Venezuela. Clara schloss sich ihm im Januar 1953 an, nachdem er endlich eine ständige Arbeit in Venezuela gefunden hatte.

In Venezuela arbeitete Clara als Lehrerin. Mit einem Kollegen gründete sie 1955 in Caracas die Französische Schule, das Jean-Jacques Rousseau-Kolleg, in das anfangs nur zwölf Schüler gingen, hauptsächlich Mädchen, durften doch diese vor der Gründung des Kollegs die einzige französische Schule im Land nicht besuchen, da diese von Mönchen geleitet wurde. Bald wurde die Schule von mehr als 100 Schülern besucht. Clara war zu ihrer Direktorin geworden (und Marc zum Hausmeister, Gärtner und Schulbusfahrer). Einige ihrer Schüler, die von ihrer Konsequenz sowie ihren großen pädagogischen und menschlichen Fähigkeiten beeindruckt waren, sind mit Clara bis zu ihrem Tod in Kontakt geblieben. Einer ihrer ehemaligen Schüler, der sich in den USA niedergelassen hat, hat sie noch 2004 besucht.

Nach der Abreise Marcs und anderer Genossen aus Europa löste sich die GCF auf. Erst ab 1964 konnte Marc einen neuen kleinen Kern von sehr jungen Leuten bilden, die damals die Zeitschrift Internacionalismo in Venezuela herausgebrachten. Während dieser Zeit war Clara nicht direkt an den politischen Aktivitäten von Internacionalismo beteiligt, aber ihre Schule stellte die materiellen Grundlagen und war der Treffpunkt für die politischen Aktivitäten der Gruppe.

Im Mai 1968 ist Marc nach Frankreich gekommen, um sich an den sozialen Bewegungen zu beteiligen und wieder den Kontakt mit seinen ehemaligen Genossen der Kommunistischen Linken aufzunehmen. Während seines Aufenthaltes in Frankreich führte die Polizei in Venezuela eine Hausdurchsuchung im Jean-Jacques Rousseau-Kolleg durch. Dabei stieß sie auf das dort vorhandene politische Material. Das Kolleg wurde geschlossen und gar abgerissen. Clara war gezwungen, Venezuela überstürzt zu verlassen, um sich Marc anzuschließen. So ließen sich Marc und Clara erneut in Paris nieder. Ab 1968 wirkte Marc an der Arbeit der Gruppe "Révolution Internationale" mit, die sich in Toulouse gebildet hatte. Ab 1971 nahm Clara voll an den Aktivitäten von RI teil, die später Sektion der IKS in Frankreich wurde. Seitdem blieb sie eine treue Genossin unserer Organisation und beteiligte sich an allen Aktivitäten der IKS. Nach dem Tod von Marc im Dezember 1990 setzte sie ihre militanten Aktivitäten in unserer Organisation fort, der sie immer sehr verbunden blieb. Auch wenn sie sehr betroffen war durch den Austritt bestimmter alter Genossen, die bei der Gründung von RI oder gar von Internacionalismo mitgewirkt hatten, stellte die Desertierung dieser ehemaligen Mitglieder nie ihr Engagement für die IKS in Frage.

Bis zu ihrem letzten Atemzug wollte die Genossin trotz ihrer gesundheitlichen Probleme und ihres hohen Alters an den Aktivitäten der Organisation teilnehmen. Insbesondere zahlte sie mit einer großen Pünktlichkeit jeden Monat ihre Beiträge und verfolgte auch intensiv die Diskussionen, auch wenn sie nicht mehr aktiv an den Treffen teilnehmen konnte. Obwohl ihre Sehfähigkeit stark eingeschränkt war, las Clara noch so viel wie möglich Zeitung und interne Texte der IKS (wir druckten zu diesem Zweck Texte mit extra großem Schrifttyp). Jedes Mal, wenn ein Genosse sie besuchte, fragte sie nach dem Stand der Diskussionen und Aktivitäten der Organisation. Clara war eine Genossin, deren Sinn für Brüderlichkeit und Solidarität alle Genossen der IKS geprägt hat. Alle Genossen wurden stets sehr herzlich von ihr empfangen. Sie hielt auch enge Beziehungen mit alten Mitgliedern der Kommunistischen Linken aufrecht; und bei Krankheiten bewies sie stets eine große Solidarität mit den Betroffenen (wie im Falle Serge Bricianers, eines ehemaligen Mitglieds der GCF, oder im Falle Jean Malaquais, eines Sympathisanten der GCF, den sie kurz vor seinem Tod 1998 in Genf besuchte). Nach dem Tode Marcs gab sie den neuen Generationen von Militanten diese Tradition der Brüderlichkeit und Solidarität weiter, die ein Markenzeichen der früheren Arbeiterbewegung gewesen war. Mit großer Freude nahm sie wahr, wie diese Solidarität der Klasse, die Trägerin des Kommunismus ist, erneut eindrucksvoll in der Bewegung der Studenten in Frankreich wiederauflebte. Diese Bewegung hat Clara vor ihrem Tod mit Enthusiasmus aufgenommen.

Auf ihr körperliche Schwächung und die sehr belastenden gesundheitlichen Probleme hat sie mit bemerkenswerter Tapferkeit reagiert. Clara ist zu dem Zeitpunkt von uns gegangen, wo eine neue Generation die Tür zur Zukunft aufstößt. Clara gibt uns als eine Frau ein Beispiel dafür, wie man sein ganzes Leben an der Seite und innerhalb der Arbeiterklasse kämpft; sie zeichnete sich damit durch ihren außergewöhnlichen Mut aus (insbesondere als sie ihr Leben in den Jahren der Konterrevolution riskierte). Clara war eine Frau, die ihren Ideen und ihrem revolutionären Engagement bis zum Ende treu geblieben ist. Als die IKS von ihrem Tod erfuhr, haben die Sektionen (und einzelne Genossen) dem Zentralorgan der IKS eine Reihe von Kondolenzen geschickt, in denen ihre menschliche Wärme, ihre Hingabe an die  Sache des Proletariats und ihr  großer Mut während ihres gesamten Lebens gewürdigt wurden. Clara wurde auf dem Friedhof Ivry bestattet (auf dem gleichen Friedhof, auf dem am 31. Januar 1889 der Mann Clara Zetkins, Ossim, begraben wurde). Nach dem Begräbnis hat die IKS ein Treffen zur Würdigung der Genossin organisiert, an dem mehrere internationale Delegationen der IKS, zahlreiche Sympathisanten, die Clara persönlich kennengelernt hatten, sowie Mitglieder ihrer Familie teilgenommen haben. Wir möchten hiermit ihrem Sohn Marc, ihren Enkelkindern Miriam und Jan-Daniel unsere größte Solidarität und Sympathie zum Ausdruck bringen.

Nachfolgend veröffentlichen wir Auszüge aus dem Brief, den die IKS ihrem Sohn und seiner Familie geschickt hat.

IKS 25.04.2006

 

Die IKS an den Genossen Marc

Lieber Genosse Marc,

mit diesen wenigen Zeilen wollen wir Dir nach dem Tod Claras, Deiner Mutter und unserer Genossin zunächst unsere Solidarität und unsere Sympathie zum Ausdruck bringen. Wir wollen Dir damit auch unsere Anteilnahme zeigen, die all die Genossen unserer Organisation empfinden.

Die meisten von uns hatten Clara zunächst als die Partnerin von Marc, Deinem Vater, kennengelernt, der solch eine wichtige Rolle in dem Kampf der Arbeiterklasse, insbesondere während ihrer schwierigsten Phasen, und als Hauptinitiator der Gründung der IKS gespielt hat. Dies war schon ein ausreichender Grund für die Zuneigung und den Respekt für Clara: "Die Partnerin von Marc konnte nur ein sehr guter Mensch sein." Der Mut und die Würde, den sie beim Tod Deines Vaters zeigte, die gewaltige Liebe, die sie für ihn spürte, haben uns ihre große Charakterstärke bestätigt, die wir schon zuvor kennengelernt hatten und die sie bis zu ihrem letzten Tag auszeichnete. Auch aus diesem Grunde war Clara für die Mitglieder der IKS nicht nur die Partnerin Marcs; sie war weit mehr als das. Sie war eine Genossin, die bis zum Schluss ihren Überzeugungen treu blieb, die sich an all unseren Kämpfen beteiligt hat und die ungeachtet ihrer alters- und krankheitsbedingten Schwierigkeiten immer am Leben unserer Organisation teilhaben wollte. Alle Genossen waren beeindruckt von ihrem Lebensmut und die große geistige Klarheit bis zum Schluss ihres Lebens. Deshalb haben sich die Zuneigung und der Respekt, den jeder von uns ohnehin schon gegenüber ihr spürte, im Laufe der Jahre noch verstärkt.

Kurz vor seinem Tod hat uns Dein Vater von der gewaltigen Freude erzählt, die er über das Verschwinden des Stalinismus empfand, diesem Henker der Revolution und der Arbeiterklasse. Gleichzeitig verhehlte er nicht seine Sorgen vor den negativen Konsequenzen dieses Ereignisses für das Bewusstsein und den Kampf selbst. Weil Clara ihre revolutionären Überzeugungen aufrechterhalten hatte, haben diese in den letzten Tagen ihres Lebens noch einmal einen Auftrieb erhalten, als der Arbeiterkampf der neuen Generationen sich entfaltete. Für uns ist dies trotz unserer Trauer ein gewisser Trost.

Mit Clara verschwindet einer der letzten Menschen, der Zeuge und Handelnder dieser schrecklichen Jahre war, als die Revolutionäre auf eine Handvoll Leute geschrumpft waren, die weiterhin die internationalistischen Prinzipien des Proletariats verteidigten; ein Kampf, welcher insbesondere von den Mitgliedern der Italienischen Linken, der Holländischen Linken und der Gauche Communiste de France (GCF) geführt wurde und ohne den die IKS heute nicht existieren würde. Clara sprach manchmal von diesen Genossen; man spürte in ihren Worten die große Wertschätzung und die Zuneigung, die sie gegenüber diesen Genossen empfand. So war Clara nach dem Tod Deines Vaters weiterhin eine lebendige Verbindung mit dieser Generation von Kommunisten, auf die wir uns mit Stolz berufen. Diese Verbindung über die Person unserer Genossin Clara ist nun verloren gegangen (...) Wir möchten Dir nochmals, lieber Genosse Marc, unsere Solidarität bekunden, und wir bitten Dich, diese Solidarität Deinen Kindern und anderen Familienmitgliedern zu übermitteln.

IKS, 17.04.06

Ölprofite als Kriegserklärung: Ein Bluff!

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“Indem sie Hand anlegen an die irakischen Ölreserven wollen die USA sich von einer zu großen Abhängigkeit von Saudi-Arabien befreien.” Diese weitverbreitete und immer wiederholte Behauptung der bürgerlichen Presse hält aber einer Überprüfung der Zahlen nicht stand. Im Jahr 2000 haben die USA ungefähr 893 Mio. Tonnen Öl verbraucht, davon wurden aber nur 125 Mio. Tonnen aus dem Nahen Osten importiert. Der Anteil Saudi-Arabiens betrug dabei zwischen 5-8% des Verbrauchs. Damit kann man noch nicht von ‚Abhängigkeit‘ sprechen! Wenn man dagegen die Versorgung asiatischer Staaten untersucht (von Indien bis Japan), stellt man 73% Anteil des Öls aus dem Nahen Osten fest, allein bei Japan betrug er 95%!. Ohne Kommentar! In Europa beträgt der Anteil 25%, da die Versorgung mehr diversifiziert ist (Westafrika, Algerien und Nordsee). Wenn es um die globale Energieabhängigkeit (Öl+Gas+Kohle +Nuklear +Wasserkraftwerke) geht, deckt die US-Produktion ungefähr 82% ihres Verbrauchs; der verbleibende Anteil wird importiert. In Europa ist der Verbrauch nur zu 61% durch ‚einheimische‘ Produktion gedeckt; und in Japan liegt er gar nur bei 18%. Die GUS hat einen Überschuss (vor allem wegen der Gasvorkommen) und bei China ist der Anteil mehr oder weniger ausgeglichen (99%). „Das Ziel der USA ist die Verdoppelung der Ölproduktion des Iraks.” 2001 hat der Irak 118 Millionen Tonnen gefördert; bei einer Gesamtölförderung auf der Welt von 3566 Millionen Tonnen beträgt der Anteil Iraks nur 3.3%. Die Verdoppelung der irakischen Erdölförderung wird aber nicht die erwartete Umwälzung bringen. Darüber hinaus lassen die verfallenen irakischen Ölförderanlagen keine unmittelbare bedeutsame Steigerung der Fördermengen zu. Sicher sind die Ölreserven Iraks enorm: 15 Milliarden Tonnen, d.h. 11% der Weltölreserven (ein Sechstel der Ölreserven des gesamten Nahen Ostens). Man versteht unter bewiesenen Reserven die Menge Kohlenwasserstoffs, die unter den gegenwärtigen ökonomischen und technologischen Bedingungen mit ziemlicher Sicherheit zugänglich ist. Weltweit betragen diese Ölreserven 140 Milliarden Tonnen, damit sind beim gegenwärtigen Jahresverbrauch die Reserven für 42 Jahre sicher. Das heißt jedoch nicht, dass es über diesen Reservezeitraum hinaus kein Gas und Öl mehr geben wird. Denn jedes Jahr erhöhen sich die weltweiten Reserven um die Fördermengen neu entdeckter Ölfelder und förderbarer neuer Mengen, die bislang nicht zugänglich waren (Offshore-Förderung in großen Meerestiefen, in der Arktis usw.) Darüber hinaus können neue Fördertechniken die Produktivität noch um das Drei- bis Fünffache erhöhen. Deshalb muss man die wahrscheinlichen und möglichen Reserven mit berücksichtigen, so dass man von einer Menge von 400 Mrd. Tonnen sprechen kann – wodurch wiederum die Wichtigkeit des Iraks abnimmt. Es wäre natürlich absurd zu leugnen, dass es im Irak Öl gibt, aber nur nach angeblichen unmittelbaren ökonomischen Vorteilen zu suchen versperrt den Blick für die weltweiten strategischen Gesichtspunkte, die diese Region darstellt, insbesondere hinsichtlich der Kontrolle der Energieversorgung der möglichen Rivalen der USA. Wir haben schon auf die Wichtigkeit der strategischen Kontrolle des Balkans hingewiesen, obwohl es dort keine bedeutsamen Bodenschätze. Was sollte man gar zur kleinen Petersilieninsel sagen, um die sich Spanien und Marokko im Sommer letzten Jahres gestritten haben? Thierry

“Indem sie Hand anlegen an die irakischen Ölreserven wollen die USA sich von einer zu großen Abhängigkeit von Saudi-Arabien befreien.” Diese weitverbreitete und immer wiederholte Behauptung der bürgerlichen Presse hält aber einer Überprüfung der Zahlen nicht stand. Im Jahr 2000 haben die USA ungefähr 893 Mio. Tonnen Öl verbraucht, davon wurden aber nur 125 Mio. Tonnen aus dem Nahen Osten importiert. Der Anteil Saudi-Arabiens betrug dabei zwischen 5-8% des Verbrauchs. Damit kann man noch nicht von ‚Abhängigkeit‘ sprechen![1] Wenn man dagegen die Versorgung asiatischer Staaten untersucht (von Indien bis Japan), stellt man 73% Anteil des Öls aus dem Nahen Osten fest, allein bei Japan betrug er 95%!. Ohne Kommentar! In Europa beträgt der Anteil 25%, da die Versorgung mehr diversifiziert ist (Westafrika, Algerien und Nordsee). Wenn es um die globale Energieabhängigkeit (Öl+Gas+Kohle +Nuklear +Wasserkraftwerke) geht, deckt die US-Produktion ungefähr 82% ihres Verbrauchs; der verbleibende Anteil wird importiert. In Europa ist der Verbrauch nur zu 61% durch ‚einheimische‘ Produktion gedeckt; und in Japan liegt er gar nur bei 18%. Die GUS hat einen Überschuss (vor allem wegen der Gasvorkommen) und bei China ist der Anteil mehr oder weniger ausgeglichen (99%). „Das Ziel der USA ist die Verdoppelung der Ölproduktion des Iraks.” 2001 hat der Irak 118 Millionen Tonnen gefördert; bei einer Gesamtölförderung auf der Welt von 3566 Millionen Tonnen beträgt der Anteil Iraks nur 3.3%. Die Verdoppelung der irakischen Erdölförderung wird aber nicht die erwartete Umwälzung bringen. Darüber hinaus lassen die verfallenen irakischen Ölförderanlagen keine unmittelbare bedeutsame Steigerung der Fördermengen zu. Sicher sind die Ölreserven Iraks enorm: 15 Milliarden Tonnen, d.h. 11% der Weltölreserven (ein Sechstel der Ölreserven des gesamten Nahen Ostens). Man versteht unter bewiesenen Reserven die Menge Kohlenwasserstoffs, die unter den gegenwärtigen ökonomischen und technologischen Bedingungen mit ziemlicher Sicherheit zugänglich ist. Weltweit betragen diese Ölreserven 140 Milliarden Tonnen, damit sind beim gegenwärtigen Jahresverbrauch die Reserven für 42 Jahre sicher. Das heißt jedoch nicht, dass es über diesen Reservezeitraum hinaus kein Gas und Öl mehr geben wird. Denn jedes Jahr erhöhen sich die weltweiten Reserven um die Fördermengen neu entdeckter Ölfelder und förderbarer neuer Mengen, die bislang nicht zugänglich waren (Offshore-Förderung in großen Meerestiefen, in der Arktis usw.) Darüber hinaus können neue Fördertechniken die Produktivität noch um das Drei- bis Fünffache erhöhen. Deshalb muss man die wahrscheinlichen und möglichen Reserven mit berücksichtigen, so dass man von einer Menge von 400 Mrd. Tonnen sprechen kann – wodurch wiederum die Wichtigkeit des Iraks abnimmt. Es wäre natürlich absurd zu leugnen, dass es im Irak Öl gibt, aber nur nach angeblichen unmittelbaren ökonomischen Vorteilen zu suchen versperrt den Blick für die weltweiten strategischen Gesichtspunkte, die diese Region darstellt, insbesondere hinsichtlich der Kontrolle der Energieversorgung der möglichen Rivalen der USA. Wir haben schon auf die Wichtigkeit der strategischen Kontrolle des Balkans hingewiesen, obwohl es dort keine bedeutsamen Bodenschätze. Was sollte man gar zur kleinen Petersilieninsel sagen, um die sich Spanien und Marokko im Sommer letzten Jahres gestritten haben? Thierry

1. Alle Zahlen aus der Zeitschrift “Oil and Gaz Journal”

 


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