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März 2007

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AIRBUS, TELEKOM, BAYER: Die Notwendigkeit der internationalen Arbeitersolidarität

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Am Mittwoch, den 28. Februar kündigte der Airbus-Konzern den Abbau von 10.000 Arbeitsplätzen binnen vier Jahren in Europa an, davon 4.300 Stellen in Frankreich, 3.700 in Deutschland, 1.600 in Großbritannien und 400 in Spanien. Betroffen davon werden je zur Hälfte Zeitarbeiter und Festangestellte sein. Die Werke St. Nazaire in Frankreich und Varel und Laupheim in Deutschland sollen verkauft, Nordenham als „Joint Venture“ geführt werden. In mehreren französischen Werken reagierte man auf das „Power 8“ getaufte „Sparprogramm“ mit Arbeitsniederlegungen. In Varel, Laupheim und Nordenham fanden ebenfalls sofort Proteststreiks statt, welche meistenteils bis zum darauf folgenden Montag andauerten. Obwohl die Konzernleitung sichtlich bemüht war, den Eindruck zu erwecken, dass die Zukunft der wichtigsten, sich in städtischen Ballungsräumen befindenden deutschen Standorte – Hamburg und Bremen –gesichert sei, fanden auch dort erste Arbeitsniederlegungen statt. Dies geschah teilweise als Reaktion auf den auch dort vorgesehenen Stellenabbau (1.000 Jobs in Hamburg, 900 in Bremen stehen zur Disposition) und teilweise aus Solidarität mit den noch härter betroffenen Belegschaften. Überall war von den betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter zu hören, dass die Beschäftigten der verschiedenen Standorte im In- und Ausland unbedingt zusammenstehen und verhindern müssen, dass die Belegschaften gegen einander ausgespielt werden.

Am Mittwoch, den 28. Februar kündigte der Airbus-Konzern den Abbau von 10.000 Arbeitsplätzen binnen vier Jahren in Europa an, davon 4.300 Stellen in Frankreich, 3.700 in Deutschland, 1.600 in Großbritannien und 400 in Spanien. Betroffen davon werden je zur Hälfte Zeitarbeiter und Festangestellte sein. Die Werke St. Nazaire in Frankreich und Varel und Laupheim in Deutschland sollen verkauft, Nordenham als „Joint Venture“ geführt werden. In mehreren französischen Werken reagierte man auf das „Power 8“ getaufte „Sparprogramm“ mit Arbeitsniederlegungen. In Varel, Laupheim und Nordenham fanden ebenfalls sofort Proteststreiks statt, welche meistenteils bis zum darauf folgenden Montag andauerten. Obwohl die Konzernleitung sichtlich bemüht war, den Eindruck zu erwecken, dass die Zukunft der wichtigsten, sich in städtischen Ballungsräumen befindenden deutschen Standorte – Hamburg und Bremen –gesichert sei, fanden auch dort erste Arbeitsniederlegungen statt. Diese geschahen teilweise als Reaktion auf den auch dort vorgesehenen Stellenabbau (1.000 Jobs in Hamburg, 900 in Bremen stehen zur Disposition) und teilweise aus Solidarität mit den noch härter betroffenen Belegschaften. Überall war von den betroffenen Arbeiterinnen und Arbeitern zu hören, dass die Beschäftigten der verschiedenen Standorte im In- und Ausland unbedingt zusammenstehen und verhindern müssen, dass die Belegschaften gegen einander ausgespielt werden.

An eben diesem 28. Januar legten 12.000 Telekom-Beschäftigte gleichfalls die Arbeit nieder und zogen protestierend vor die Konzernzentrale in Bonn. Sie reagierten damit auf die Ankündigung des Managements, 50.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Konzern auszugliedern, was zunächst bedeutet: für deutlich weniger Geld vier Stunden die Woche mehr arbeiten zu müssen.  Inzwischen will die ‚Wirtschaftswoche‘ erfahren haben, dass nicht 50.000 sondern 85.000 Opfer dieses „Outsourcing“ werden sollen.

 

 

Genau zwei Tage später, am 2. März, demonstrierten aufgebrachte Arbeiterinnen und Arbeiter vor der Schering-Zentrale in Berlin. Ihr Protest galt dem soeben angekündigten Abbau von 6.100 Stellen weltweit. Betroffen sind Standorte in den USA, Japan, Kanada, Südamerika, dem asiatisch-pazifischen Raum sowie in Deutschland vornehmlich der Sitz der Bayer Schering Pharma AG mit 1.200 Stellen.

 

 

Mit diesen Aktionen bewiesen die Betroffenen wieder einmal die urwüchsige Klugheit der kollektiv in Bewegung geratenen Arbeiterklasse. Indem sie die falschen Alternativen - passives Hinnehmen oder  kopflos und isoliert bis zum bitteren Ende streiken - vermieden, setzten die Betroffenen ein erstes aber deutliches Signal, mit den Plänen des Kapitals nicht einverstanden zu sein und sie nicht hinnehmen zu wollen. Dabei rückte die Frage der Solidarität unvermeidlich in den Mittelpunkt des Arbeiterkampfes. Mit ihrer Betonung des Zusammenhalts aller Airbus-Beschäftigten in Europa, mit den Solidaritätsaktionen in Hamburg und Bremen knüpfen die Betroffenen an die besten Traditionen der Arbeiterbewegung wieder an, wie das beispielsweise vor drei Jahren bei Mercedes geschah, als das Werk Bremen aus Solidarität mit den angegriffenen Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart mitstreikte.

 

 

 

 

Der Verlust der Illusionen

 

So die ersten Reaktionen der Arbeiter. Und wie reagiert die Politik, wie  reagieren die Regierungen dieser Welt auf diese neue Welle der Massenentlassungen und der „Präkarisierung“? Sie reagieren mit Sympathiebekundungen gegenüber den Betroffenen sowie mit Zusicherungen, helfen zu wollen. Warum plötzlich diese „Sympathie“ der Regierenden, die sich sonst gnadenlos zeigen, wenn es darum geht, die Lasten der kapitalistischen Wirtschaftskrise auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuwälzen? Von Sympathie war jedenfalls wenig zu spüren, als es darum ging, Hartz IV, die Rente mit 67, die „Lockerung“ des Kündigungsschutzes oder den erbarmungslosen Lohnabbau durchzusetzen. Die Herrschenden kennen keine Sympathie mit der Klasse, von deren Ausbeutung sie leben. Sie sind aber jetzt aufgeschreckt, da die neuen Massenentlassungen im Herzen der modernen Industrie sowie die Reaktionen der Betroffenen die kommenden sozialen Explosionen ankündigen. Eigentlich wollte die Große Koalition am 28. Februar triumphal die Senkung der offiziellen Arbeitslosenzahlen um 826.000 gegenüber dem Vorjahr ankündigen und feiern lassen. Die Hiobsbotschaften  von Airbus, Telekom und dann Bayer, aber auch die von China ausgehende Panik an den Weltbörsen haben Union und SPD einen Strich durch die Rechnung gemacht. Von der immer krasser werdenden Retouchierung der Erwerbslosenstatistiken abgesehen, fragen sich immer mehr Menschen zu recht, was das für neue Jobs sein sollen, die entstehen, während (mit einer Ausnahme) sämtliche in Deutschland börsennotierten Unternehmen im vergangenen Jahr kräftig Arbeitsplätze abgebaut haben (Mercedes z.B. in aller Stille 15.000). Es handelt sich offensichtlich um Arbeit zu Hungerlöhnen, das, was man „working poor“ nennt.

 

 

Die Herrschenden sind also alarmiert und wollen kein Öl ins Feuer gießen. Sie sind nicht weniger besorgt als der Betriebsratsvorsitzende von Opel in Bochum, der die aufkommenden Spekulationen darüber, dass General Motors erneut in Erwägung zieht, ein Werk in Europa – entweder Bochum oder Antwerpen – zu schließen, Anfang März so kommentierte: „wer dies tue, riskiere es, einen Krieg auszulösen“. Dabei meinte er einen Klassenkrieg. Dieser Krieg wird zwar nicht so schnell kommen. Aber die ersten Vorgeplänkel dazu finden jetzt schon statt.

 

 

Sie gehen einher mit dem Verlust der Illusionen der Lohnabhängigen in die Möglichkeit, Verbesserungen innerhalb dieses Systems zu erzielen. Statt dessen merken sie, dass sie ihren jetzigen Lebensstandard im Kapitalismus nicht mehr halten können. Dies gilt um so mehr, da derzeit sogar solche Firmen ihre Belegschaften massiv angreifen, die noch satte Profite erzielen (wie die Telekom) oder volle Auftragsbücher zu verzeichnen haben (wie bei Airbus). So wird das alte Märchen zunehmend der Lächerlichkeit preisgegeben, demzufolge es sich lohne, sich als Arbeiter für die Interessen des Kapitals zu opfern, da es den Arbeitern gut gehe, wenn es „ihren“ Firmen gut geht. Stattdessen wird der Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital immer unübersehbarer.

 

 

 

 


Auffallend an den Äußerungen der Demonstrierenden bei Airbus oder Telekom war die Beschäftigung mit der Zukunft, mit der (mangelnden) Perspektive der kommenden Generation, also mit der Frage, in welcher Welt unsere Kinder leben werden. Es handelt sich um erste Ansätze, die Frage einer Alternative zum Kapitalismus wieder aufzuwerfen.

 

 

Was die Entlassungen derzeit v.a. bei Airbus außerdem verdeutlichen, ist dass die Arbeiter aller Länder vor denselben Problemen stehen. Seit Jahren will uns die bürgerliche Propaganda weiß machen, dass es der arbeitenden Bevölkerung verschiedener europäischer Nachbarstaaten besser gehe als „hierzulande“, da dort die Wirtschaft –sprich der Kapitalismus – besser funktioniere. Auch hier macht die Realität dieser Propaganda den Ausbeutern einen Strich durch die Rechnung. Brisant bei Airbus ist nicht zuletzt die sich abzeichnende Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse in Frankreich und Deutschland gleichzeitig frontal angegriffen wird. Brisant nicht nur, weil der moderne Kapitalismus in den letzten 150 Jahren die Arbeiter Frankreichs und Deutschlands in drei mörderischen Kriegen gegeneinander gehetzt hat, sondern auch, weil die Arbeiterbewegung dieser beiden Länder in der Geschichte immer wieder imstande war, von einander zu lernen und durch ihre Kämpfe den Arbeitern aller Länder ein Signal zu geben. Aber auch die jüngste Ankündigung Daimler-Chryslers, Tausende von Stellen v.a. in den USA abzubauen, hilft zu verdeutlichen, dass es weltweit eine Arbeiterklasse gibt, der ein einziger Gegner gegenübersteht.

 

 

 

 

 

 

 

Die Gewerkschaften: Speerspitzen der kapitalistischen Konkurrenz

 

Und wie reagieren die Gewerkschaften? Sie haben angekündigt, um jeden Arbeitsplatz und um jeden Standort kämpfen zu wollen. Diesen „Kampf um jeden Arbeitsplatz“ kann man natürlich nur als Floskel auffassen, wenn man bedenkt, welch millionenfache Arbeitsplatzvernichtung gerade die Gewerkschaften in der Vergangenheit mit unterschrieben und auch durchgesetzt haben. Dabei haben sie oft genug vorauseilend ihre eigenen „Sparpläne“ vorgelegt, welche nicht selten über die der Unternehmen hinausgingen und noch raffinierter die Betroffenen unter einander spalteten.

Sie taten und tun dies nicht in erster Linie aus Bösartigkeit, oder weil sie korrumpiert sind, sondern weil sie als bekennende Verteidiger des Kapitalismus die Konkurrenz bejahen. Die Konkurrenz aber ist das Grundprinzip des Kapitalismus, während die Solidarität das Grundprinzip des Arbeiterkampfes bildet. Diese beiden Dinge lassen sich niemals vereinbaren. Dies macht derzeit z.B. die Haltung der französischen Gewerkschaften gegenüber der Lage bei Airbus deutlich. Sie quittierten die Nachricht von den „Power 8“ Plänen des Konzerns mit einem Aufschrei gegen „den Ausverkauf der französischen Industrie“. Seitdem hetzen sie gegen „die Deutschen“, die angeblich bei Airbus „die Franzosen“ über den Tisch gezogen haben.

 

 

Was ist aber mit der IG Metall (IGM) in Deutschland? Redet sie nicht der „internationalen Solidarität“ das Wort? War es nicht die IGM, welche als erste zu einem europaweiten Aktionstag bei Airbus (Mitte März) aufgerufen hat? Diese wohlfeilen Phrasen der internationalen Solidarität stehen den deutschen Gewerkschaften schlecht zu Gesicht. Auch sie kennen sich bestens aus, wenn es darum geht, sich der nationalistischen Hetze zu bedienen. Jedoch bietet die augenblickliche Lage in Deutschland, mit der Gleichzeitigkeit der Angriffe in verschiedenen Branchen, wenig Gelegenheit dazu. Oder sollen die Franzosen auch noch für die Misere bei der Telekom oder bei Bayer herhalten? So übernimmt die IGM in einer Art urwüchsigen Arbeitsteilung den Part des „internationalistischen“ Verteidigers des europäischen Airbuskonzerns insgesamt: Gegenüber der Konkurrenz von Boeing aus Amerika. Das verspricht eine „gehobenere“, transatlantische Art, die Arbeiter verschiedener Länder gegeneinander aufzuhetzen. Dabei verteidigt diese Gewerkschaft damit durchaus die ureigenen Interessen des deutschen Kapitals. Denn Deutschland allein ist nicht imstande, gegenüber der amerikanischen Konkurrenz eine eigene Flugzeugindustrie zu unterhalten. Die Interessen des deutschen Kapitals verlangen somit eine Mäßigung der inner-europäischen Konkurrenz innerhalb des Airbuskonzerns, um Boeing die Stirn bieten zu können. Das titulieren sie dann „Solidarität aller europäischen Standorte“. Die Gewerkschaften sind immer dabei, wenn es darum geht, den jeweiligen Betrieb, Konzern oder die Nation gegen andere zu verteidigen. Einen besonderen Eifer entfalten sie allerdings dann, wenn es um die Verteidigung der strategischen Interessen des eigenen Nationalstaats geht. Bei Airbus beispielsweise geht es auch und gerade um militärische Fragen, um den neuen, riesigen europäischen Militärtransporter, um die Satellitentechnologie des EADS Konzerns usw. Da ist die IG Metall sehr engagiert. Nicht weniger engagiert zeigt sich die Gewerkschaft Verdi gegenüber der Deutschen Telekom. Jahrelang hat Verdi die Monopolstellung bzw. die Restprivilegien des einstigen Staatskonzerns erbittert verteidigt – angeblich im Interesse der Beschäftigten. Dabei sprechen die jetzt vom neuen Konzernchef Obermann vorgelegten Zahlen eine deutliche Sprache: Verluste im Inland, Gewinne im Ausland. Was bedeutet das? Jahrelang durfte die Telekom mittels überhöhter Inlandspreise spektakuläre Einkäufe im Ausland finanzieren, um zum „global player“ aufzusteigen. Von wegen: "im Interesse der Beschäftigten", deren Arbeitsplätze immer wieder zehntausendfach abgebaut wurden! Es ging stattdessen um die Positionierung des deutschen Kapitals im strategisch wichtigen Telekommunikationsbereich, welcher für die kapitalistische Wirtschaft ebenso zentral ist wie fürs Militär. Jetzt, wo dieses Ziel mehr oder weniger erreicht ist, kann das deutsche Kapital es sich leisten, dem Druck der Europäischen Union (sprich der europäischen Konkurrenz!) nachzugeben und mehr Konkurrenz im Inland zuzulassen. Dies liegt sogar im Interesse des deutschen Kapitals, denn langfristig bedeuten überhöhte Telekommunikationspreise einen Standortnachteil. Wie vorher das Erlangen der Konkurrenzfähigkeit im Ausland, erfordert nun die Konkurrenzfähigkeit im Inland neue Opfer der Beschäftigten! Nachdem Verdi zuvor die Kolleginnen und Kollegen bei der Telekom eine 34h Woche mitsamt 8%igen Lohneinbußen aufzubürden half, sollen sie nun wieder vier Stunden mehr, und zwar gratis, arbeiten!

 

 

Man könnte viele andere solche Beispiele nennen, etwa die deutsche Energiewirtschaft, die letztens wieder von sich reden machte im Rahmen des Vorziehens der Bergbauschließungen an der Ruhr und an der Saar. Diese Konzerne haben jahrelang mit Unterstützung der Gewerkschaft eine Art Monopolstellung in Deutschland bewahren können und damit viel Kapital angehäuft, mit dem man nun versucht, die Energiewirtschaft anderer Staaten, wie z.B. Spanien, unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es geht dabei um mehr als nur das Erzielen von Gewinnen. Denn wer die Energiewirtschaft anderer Staaten kontrolliert, kann diese Staaten auch erpressen, wie die jüngsten Konflikte Russlands mit der Ukraine und zuletzt Weißrussland wieder gezeigt haben. Es ist selbstredend, dass nicht nur der deutsche, sondern dass alle Staaten nach diesem Gesetz des Dschungels gegeneinander verfahren.

 

 

Kein Wunder also, wenn der Airbus-Chef Gallois seinen „Power 8“ Masterplan nicht als starres Schema vorstellte, sondern als Richtlinie, welche zusammen mit den Gewerkschaften „schöpferisch“ konkretisiert werden soll. Man zählt auf die Gewerkschaften vor Ort, die die Verhältnisse bestens kennen und für das in-Schach-Halten der Arbeiterklasse zuständig sind. Sie sollen dafür sorgen, dass der Widerstand der Arbeiter versandet, lokal abgekapselt und isoliert wird. Und die Gewerkschaften haben sofort ihre verantwortungsvolle Mitarbeit angekündigt. Sie werden umso „konstruktiver“ mitarbeiten, da es nicht nur um das Wohl des Konzerns, sondern um das des Vaterlandes geht. Sie werden gegebenenfalls auch nicht zögern, die Arbeiter gegeneinander in einen imperialistischen Krieg zu hetzen, so wie sie es bereits im Ersten Weltkrieg getan haben.

 

 

 

 

Das Problem des „Missmanagements“

 

Was die Krise bei Airbus betrifft, beeilte sich Bundeskanzlerin Merkel, den Gewerkschaften beizupflichten, die von Missmanagement sprechen gegenüber der Konzernleitung, welche den „schwachen Dollar“ als Hauptursache der Misere ausgemacht haben wollen. Das ist eine alte Leier. Wenn immer eine Firma ins Wanken gerät, sollen die Arbeiter denken, das liege nicht am kapitalistischen System sondern daran, dass man nicht kapitalistisch genug sei.

 

 

Jetzt sehen sich die Verteidiger des Systems allerdings bei ihren Klagen über Missmanagement gezwungen, ein wenig mehr zu verallgemeinern. Auf einmal gibt es drei Spitzenkonzerne, die unter dieser Krankheit leiden. Was schlagen sie uns also vor? Eine bessere Ausbildung für Manager? Schön. Es gibt gute und schlechte Manager. Die Firmen mit „gutem“ Management haben einen Konkurrenzvorteil gegenüber den schlecht geführten. Was wäre aber, wenn es nur noch gute Manager gäbe? Das Problem der Eliminierung der weniger konkurrenzfähigen Firmen und damit des permanenten Drucks, Stellen abzubauen und die Löhne zu drücken, würde wohl kaum verschwinden – deren Ursache nicht im „Missmanagement“ sondern in der kapitalistischen Konkurrenz liegt.

 

 

Oder wollen die Gewerkschaften beim Management der Konzerne mehr mitmischen, um dadurch deren Leitung aufzubessern? Dies ist seit Jahrzehnten längst geschehen! Die Gewerkschaften haben alle Entscheidungen bei Airbus oder der Telekom mitgetragen, die sie nun als „Missmanagement“ abkanzeln!

 

 

 

 

Die Notwendigkeit der internationalen Solidarität

 

Bei Airbus sehen sich die Arbeiter mit den beiden derzeitig hauptsächlichen Denkrichtungen der Bourgeoisie konfrontiert. Die Konzernleitung unter Gallois stellt den Typus der neoliberalen Globalisierer dar, welche die Firma als international operierendes Unternehmen ohne Rücksicht auf die politischen Interessen der beteiligten Nationalstaaten führen möchte. Das ist natürlich eine Utopie. Denn Airbus ist überhaupt erst als staatliches Geschöpf entstanden, als eine Willensbekundung bestimmter europäischer Staaten. Aber selbst wenn das realistisch wäre, was würde es der Arbeiterklasse anderes bescheren als das, was ohnehin angekündigt worden ist?

 

 

Die zweite, mehr protektionistisch ausgerichtete, die Rolle des Nationalstaates betonende Richtung wird auch heute wieder vornehmlich von der Politik und von den Gewerkschaften hochgehalten. Aber auch die Ideologie der „Globalisierungsgegner“ wie ATTAC steht dieser Sichtweise nah. Sie fordern die Nationalstaaten dazu auf, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung gegenüber den „Multis“ zu wahren. Das bedeutet aber, dass diese Richtung offen die nationale Konkurrenz befürwortet. Nebenbei bemerkt: einer der Gründe, weshalb Airbus trotz voller Auftragsbücher in die Krise rutschte, war, weil etliche Aufträge aufgrund nicht passender Teile (z.B. zu kurze oder zu dicke Kabel!) nicht rechtzeitig ausgeführt werden konnten! Diese unglaubliche Inkompetenz, ebenso wie das unsinnige hin- und her Transportieren von Teilen durch halb Europa, ist u.a. ein klassisches Produkt der „Einmischung der Nationalstaaten zugunsten der arbeitenden Bevölkerung“!

 

 

Die neoliberale und die nationalstaatliche Richtung sind in Wahrheit keine Gegensätze und erst recht keine Alternativen, sondern stellen zwei Seiten ein- und derselben Medaille dar. Kapitalismus bedeutet Weltwirtschaft und zugleich Konkurrenz der Nationalstaaten. Die soeben erwähnten Ideologien betonen lediglich mehr die eine oder andere Seite dieses im Kapitalismus unlösbaren Widerspruchs.

 

 

Wir brauchen unbedingt eine Weltwirtschaft. Denn kein einziges der großen Probleme der Menschheit kann heute anders als auf Weltebene gelöst werden. Aber die kapitalistische Konkurrenz, die Produktion für den Markt, die Lohnarbeit – einst eine unentbehrliche Stachel, um die noch unterentwickelten Produktivkräfte der Menschheit zur Entfaltung zu bringen – brauchen wir längst nicht mehr. Sie sind vielmehr zu einer riesigen Fessel der Entwicklung von Wirtschaft und Kultur geworden.

 

 

Die objektive Lage selbst wirft die Systemfrage auf und damit die Frage des Internationalismus. Nur die Arbeiterklasse ist international. Die Lohnsklaven bei Airbus müssen auf der Hut sein, dürfen sich nicht ausspielen lassen, nicht nur zwischen den einzelnen Airbus-Standorten, sondern auch zwischen Airbus und Boeing, zwischen Europa und Amerika (und China usw.). Das Kapital mit seiner Konkurrenz ist weltweit. Die Arbeiterklasse muss ihren Kampf aufnehmen. Das Wesen dieses Kampfes liegt in der Aufhebung der Konkurrenz unter den Arbeitern, in der Führung des Kampfes in allen Ländern im Zeichen der internationalen Solidarität.

 

 

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

 

 

IKS. 5. März 2007.

 

 

Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern er steht auf der Tagesordnung der Geschichte

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Der nachfolgende Artikel ist der 3. Teil der Zusammenfassung unserer bisher in der International Review erschienen Artikelserie zum Thema Kommunismus. Die ersten beiden Teile erscheinen im Laufe des Jahres 2007 auf unserer Webseite und in der Internationalen Revue auf Deutsch.

Die Lehren der Niederlage begreifen, die Vision der Zukunft aufrechterhalten

Im ersten Teil unserer Zusammenfassung des 2. Bandes untersuchten wir, wie das kommunistische Programm durch die großen Fortschritte bereichert wurde, die die Arbeiterbewegung während der Welle revolutionärer Kämpfe gemacht hatte, welche durch den I. Weltkrieg hervorgerufen worden war. In diesem zweiten Teil werden wir untersuchen, wie die Revolutionäre sich darum bemühten, den Rückfluss und die Niederlage der revolutionären Welle zu begreifen. Wir werden dabei aufzeigen, dass diese Phase auch eine Quelle unschätzbar wichtiger Lehren für die zukünftigen Revolutionen darstellt.

Kommunismus: Die Menschheit tritt in ihre wirkliche Geschichte ein (3)

Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern er steht auf der Tagesordnung der Geschichte

(Zusammenfassung Teil II)

Der nachfolgende Artikel ist der 3. Teil der Zusammenfassung unserer bisher in der International Review erschienen Artikelserie zum Thema Kommunismus. Die ersten beiden Teile erscheinen im Laufe des Jahres 2007 auf unserer Webseite und in der Internationalen Revue auf Deutsch.

Die Lehren der Niederlage begreifen, die Vision der Zukunft aufrechterhalten

Im ersten Teil unserer Zusammenfassung des 2. Bandes untersuchten wir, wie das kommunistische Programm durch die großen Fortschritte bereichert wurde, die die Arbeiterbewegung während der Welle revolutionärer Kämpfe gemacht hatte, welche durch den I. Weltkrieg hervorgerufen worden war. In diesem zweiten Teil werden wir untersuchen, wie die Revolutionäre sich darum bemühten, den Rückfluss und die Niederlage der revolutionären Welle zu begreifen. Wir werden dabei aufzeigen, dass diese Phase auch eine Quelle unschätzbar wichtiger Lehren für die zukünftigen Revolutionen darstellt.

Die Revolution kritisiert ihre Fehler (Teil 1)

Da die Russische Revolution, wie Rosa Luxemburg sagte, „die allererste Erfahrung der Diktatur des Proletariats in der Geschichte der Welt ist“, muss folglich jeder Versuch, den Weg zu einer künftigen Revolution zu bahnen, auf die Lehren zurückgreifen, die aus dieser Erfahrung hervorgingen. Eingedenk der Tatsache, dass die proletarische Bewegung nur Schaden erleiden kann, wenn sie versucht, vor der Wirklichkeit zu fliehen, gingen die Bemühungen, diese Lehren zu begreifen, auf die ersten Tage der Revolution selbst zurück, auch wenn es mehrere Jahre schmerzhafter Erfahrungen und ebenso quälender Überlegungen brauchte, um das Erbe der Russischen Revolution umfassend zu begreifen.

Die Vorlage zur Analyse der Fehler der Revolution wurde von Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre „Zur Russischen Revolution“ geliefert, die sie 1918 im Gefängnis niederschrieb. Luxemburgs Ausgangspunkt war die grundsätzliche Solidarität mit der Sowjetmacht und der bolschwistischen Partei. Sie erkannte, dass die Schwierigkeiten, vor denen beide standen, zuallererst das Ergebnis der Isolation der russischen Bastion waren und dass sie nur überwunden werden konnten, wenn das Weltproletariat – insbesondere das deutsche Proletariat – seine Verantwortung übernahm und das Urteil der Geschichte über den Kapitalismus vollstreckte.

Innerhalb dieses Rahmens kritisierte Luxemburg die Bolschewiki in drei Bereichen:

-          in der Landfrage: Auch wenn sie anerkannte, dass die bolschwistische Parole: „Das Land den Bauern“ taktisch notwendig war, um die Bauernmassen für die Sache der Revolution zu gewinnen, war Luxemburg der Auffassung, dass die Bolschewiki ihre eigenen Schwierigkeiten noch vergrößerten, als sie die Aufteilung des Landes in Parzellen formalisierten. Aber auch wenn Luxemburg richtig vorhersah, dass dieser Prozess schlussendlich eine konservative Schicht von kleinen Landbesitzern hervorbringen würde, war ebenso klar, dass die Kollektivierung des Bodens als solche keine Garantie für eine Bewegung hin zum Sozialismus war, solange die Revolution isoliert blieb.

-          in der nationalen Frage: Luxemburgs Kritik an der Parole der nationalen Selbstbestimmung (die von Pjatakow und anderen innerhalb der bolschwistischen Partei vertreten wurde) wurde durch die späteren Erfahrungen vollauf bestätigt. In Wirklichkeit kann „nationale“ Selbstbestimmung nur „Selbstbestimmung“ für die Bourgeoisie bedeuten. Doch in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution entschieden sich all die Länder (d.h. die Bourgeoisien), die von der Sowjetmacht in die „nationale Unabhängigkeit“ entlassen worden waren, dafür, sich den großen imperialistischen Mächten und deren Kampf gegen die Russische Revolution anzuschließen. Das Proletariat konnte die nationalen Befindlichkeiten der Arbeiter der „unterdrückten“ Nationen nicht ignorieren; doch diese hätten für die revolutionäre Sache nur gewonnen werden können, wenn man an ihre Klassenbedürfnisse und nicht an ihre nationalistischen Illusionen  appelliert hätte.

-          in der Frage der „Demokratie“ und „Diktatur“: In Luxemburgs Auffassungen zu diesen Fragen gibt es zutiefst widersprüchliche Aussagen. Auf der einen Seite meinte sie, dass sich die Abschaffung der Konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki negativ auf das Leben der Revolution auswirken werde. Damit legte sie eine seltsame Nostalgie für überholte Formen der bürgerlichen Demokratie an den Tag. Auf der anderen Seite rief das Spartakusprogramm, das kurze Zeit später verfasst wurde, zur Ersetzung der alten parlamentarischen Versammlungen durch Kongresse der Arbeiterräte auf, was darauf hinweist, dass sich Rosa Luxemburgs Auffassungen zu dieser Frage schnell weiterentwickelt hatten. Doch Luxemburgs Kritik an der Tendenz der Bolschewiki, die Redefreiheit in der Arbeiterbewegung einzuschränken, war sehr wohl begründet. Diese gegen andere Gruppen der Arbeiterklasse und gegen andere Parteien getroffenen Maßnahmen sowie die Umwandlung der Sowjets in ausführende Organe des von der bolschwistischen Partei angeführten Staates erwiesen sich in der Tat als negativ für das Überleben und die Integrität der proletarischen Diktatur.

In Russland selbst kam es bereits 1918 zu ersten Reaktionen gegen die Gefahr der Kursabweichung der Partei. Ihr  Zentrum (zumindest unter den Strömungen des revolutionären Marxismus) war die linkskommunistische Tendenz in der bolschwistischen Partei. Diese Tendenz war hauptsächlich wegen ihres Widerstandes gegen den Brest-Litowsker Vertrag bekannt geworden, von dem sie fürchtete, dass er nicht nur zur Aufgabe von Teilen des Landes, sondern auch zur Aufgabe der Prinzipien selbst führen würde. Doch auf der Ebene der Prinzipien ist ein Vergleich zwischen Brest-Litowsk und dem vier Jahre später abgeschlossenen Rapallo-Vertrag unzulässig. Ersterer wurde in aller Offenheit verhandelt; es gab keinen Versuch der Verschleierung der brutalen Folgen des Vertrages. Letzterer dagegen wurde geheim ausgehandelt und führte de facto zu einem Bündnis zwischen dem deutschen Imperialismus und dem sowjetischen Staat. Zudem fußte, wie Bilan später unterstrich,  die Position, die von Bucharin und anderen Linkskommunisten zugunsten eines „revolutionären“ Krieges vertreten wurde, auf einer ernsthaften Konfusion: auf der Vorstellung, dass die Revolution hauptsächlich durch militärische Mittel in der einen oder anderen Form ausgedehnt werden könne, während sie in Wirklichkeit die Arbeiter der ganzen Welt nur durch den Einsatz von im Wesentlichen politischen Mitteln (wie die Bildung der Kommunistischen Internationale 1919) für sich gewinnen kann.

Nützlicher für das Verständnis der Lehren aus der Revolution waren die ersten Debatten zwischen Lenin und der Linken über den Staatskapitalismus. Lenin trat dafür ein, die deutschen Waffenstillstandsbedingungen zu akzeptieren, um so der Sowjetmacht die dringend benötigte „Atempause“ zu verschaffen, in der sie ein Mindestmaß an gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Leben wieder aufbauen sollte.

Die Divergenzen kreisten um zwei Fragen:

-          um die Frage der in diesem Prozess verwendeten Mittel: Lenin, dessen besonderes Anliegen der Kampf um Produktivität und Effizienz gegen das erdrückende Gewicht der russischen Rückständigkeit war, plädierte für strenge Maßnahmen wie die Übernahme des Taylor-Systems und die Ein-Mann-Führung der Betriebe, während die Linke darauf beharrte, dass solche Methoden für die Selbsterziehung und die Selbstaktivierung des Proletariats schädlich seien. Ähnliche Debatten entbrannten in der Frage, in welchem Maße die Prinzipien der Kommune auf die Rote Armee angewandt werden sollen.

-          um die Gefahr des Staatskapitalismus: Aus Lenins Sicht war der Staatskapitalismus ein Schritt vorwärts, weil die russische Wirtschaft zuvor fragmentiert gewesen und in einem halb-mittelalterlichen Zustand verharrt geblieben sei. Dies stand in Einklang mit der Auffassung, dass der große Schub staatskapitalistischer Entwicklung in den entwickelten Ländern nach dem 1. Weltkrieg in einem gewissen Sinne eine Vorbereitung für die sozialistische Umwälzung sei. Die Linken wiederum neigten dazu, die dem Staatskapitalismus innewohnende Bedrohung für die Arbeitermacht zu sehen, und warnten vor der Gefahr, dass die Partei durch den Prozess bürokratischer Staatskontrolle vereinnahmt und sich letztendlich gegen die Interessen des Proletariats wenden werde.

Die Kritik der Linken am Staatskapitalismus steckte sicherlich erst in ihren Anfängen und enthielt viele Konfusionen. Sie neigte dazu, die Hauptgefahr im Kleinbürgertum zu lokalisieren; und sie war sich auch im Unklaren darüber, dass die Staatsbürokratie selbst die Rolle einer neuen Bourgeoisie spielen könnte. Auch hegten die Linken Illusionen über die Möglichkeit einer echten sozialistischen Umwälzung innerhalb russischer Grenzen. Doch Lenin irrte, als er im Staatskapitalismus etwas anderes als die Negation des Kommunismus erblickte. Auch mit ihrer Warnung vor der Entwicklung in Russland sollten die Linken Recht behalten; ihre Vorhersagen sollten sich als geradezu prophetisch erweisen.

2) „1921 – Das Proletariat und der Übergangsstaat“

(International Review, Nr. 100)

Trotz der großen Differenzen innerhalb der bolschwistischen Partei wegen des Kurses der Revolution und insbesondere wegen der Richtung, den der sowjetische Staat einschlug, bewirkte die Notwendigkeit der Einheit in Anbetracht der unmittelbaren Bedrohung durch die Konterrevolution, dass diese Differenzen in gewisser Weise eingedämmt wurden. Das Gleiche kann man hinsichtlich der Spannungen in der russischen Gesellschaft insgesamt sagen: Trotz der schrecklichen Bedingungen für die Arbeiter und Bauern während der Bürgerkriegszeit wurde der wachsende Konflikt zwischen den materiellen Interessen und den politischen und ökonomischen Forderungen des neuen Staatsapparates durch den Kampf gegen die weiße Konterrevolution unter Kontrolle gehalten. Doch mit dem Sieg im Bürgerkrieg war der Deckel entfernt worden. Und mit der zunehmenden Isolation der Revolution infolge einer Reihe von entscheidenden Niederlagen des Proletariats in Europa trat der Konflikt erneut als zentraler Widerspruch des „Übergangsregimes“ hervor.

Innerhalb der Partei kam das grundlegende Problem, vor dem die Revolution stand, durch die Debatte über die Gewerkschaftsfrage ans Tageslicht, die auf dem 10. Parteikongress im März 1921 stattfand. Diese Debatte drehte sich hauptsächlich um drei verschiedene Positionen, obgleich es zwischen ihnen und um sie selbst herum viele unterschiedliche Schattierungen gab:

-          die Position Trotzkis: Nachdem er die Rote Armee trotz oft überwältigender Schwierigkeiten zum Sieg gegen die Weißen Armeen geführt hatte, war Trotzki zu einem glühenden Verfechter militärischer Methoden geworden. Er wollte sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens angewandt sehen, insbesondere im Arbeitsleben. Da der Staat, der diese Methoden anwende, ein „Arbeiterstaat“ sei, meinte er, könne es keine Interessenkonflikte zwischen der Arbeiterklasse und den Forderungen des Staates geben. Er ging sogar so weit, die Zwangsarbeit als historisch fortschrittliche Möglichkeit zu theoretisieren. In diesem Zusammenhang empfahl er, dass die Gewerkschaften offen als Organe der Arbeitsdisziplin  zugunsten des Arbeiterstaates handeln sollten. Gleichzeitig begann Trotzki, eine ausdrückliche theoretische Rechtfertigung des Begriffs der Diktatur der Kommunistischen Partei und des Roten Terrors zu entwickeln.

 -         die Position der Arbeiteropposition um Kollontai, Schljapnikow und andere: Aus der Sicht Kollontais hatte der Sowjetstaat einen heterogenen Charakter, und er war höchst zugänglich für den Einfluss nicht-proletarischer Kräfte wie Bürokraten und Bauern. Für die schöpferische Arbeit, die bei dem Aufbau der russischen Wirtschaft zu leisten sei, sei es deshalb nötig, dass diese von spezifischen Organen der Arbeiter geleitet würden, wofür aus der Sicht der Arbeiteropposition die Industriegewerkschaften in Frage kamen. Ihr zufolge konnte die Arbeiterklasse mit Hilfe der Industriegewerkschaften die Kontrolle der Produktion aufrechterhalten und entscheidende Schritte zum Kommunismus einleiten. Diese Strömung brachte eine proletarische Reaktion gegenüber der wachsenden Bürokratisierung des Sowjetstaates zum Ausdruck, aber sie litt auch an einer ernsthaften Schwäche. Ihre Befürwortung der Industriegewerkschaften als der beste Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse bedeutete einen Rückschritt im Verständnis der Rolle der Arbeiterräte, die in der neuen revolutionären Epoche als das Instrument des Proletariats zur Leitung nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen Lebens entstanden waren. Und gleichzeitig kam mit den Illusionen der Opposition über die Möglichkeit der Errichtung neuer kommunistischer Verhältnisse in Russland eine erhebliche Unterschätzung der negativen Auswirkungen der Isolation der Revolution zum Ausdruck. 1921 war die Isolation fast total.

-          die Position Lenins: Lenin wehrte sich vehement gegen die Exzesse Trotzkis in dieser Debatte. Er wandte sich gegen den Sophismus, demzufolge es auf unmittelbarer Ebene keinen Interessenkonflikt zwischen Staat und Arbeiterklasse geben könne, da es sich bei diesem Staat um einen Arbeiterstaat handle. Zwar behauptete Lenin einst, dass der Arbeiterstaat faktisch ein „Arbeiter- und Bauernstaat“ sei, aber er räumte auch ein, dass es sich dabei um einen bürokratisch sehr deformierten Staat handle. In solch einer Lage müsse die Arbeiterklasse immer noch ihre materiellen Interessen verteidigen können, wenn notwendig, auch gegen den Staat. Die Gewerkschaften sollten deshalb nicht nur als Organe der Arbeitsdisziplin, sondern auch als Organe der proletarischen Selbstverteidigung betrachtet werden. Gleichzeitig verwarf Lenin die Position der Arbeiteropposition als eine Konzession gegenüber dem Anarcho-Syndikalismus.

Rückblickend können wir sagen, dass die Grundlagen dieser Debatte mit großen Schwächen behaftet waren. Zunächst war es kein Zufall, dass die Gewerkschaften so widerstandslos bereit waren, zu Organen der Arbeitsdisziplin im Interesse des Staates zu werden. Diese Richtung wurde durch die neuen Bedingungen der kapitalistischen Dekadenz aufgezwungen. Nicht die Gewerkschaften, sondern die Organe, mit denen die Klasse auf diese neue Zeit reagiert hatte – Fabrikkomitees, Räte usw. –, hatten zur Aufgabe, die Autonomie der Arbeiterklasse zu verteidigen. Gleichzeitig waren all die Strömungen, die sich an dieser Debatte beteiligten, mehr oder weniger der Idee verbunden, dass die Diktatur des Proletariats durch die Kommunistische Partei ausgeübt werden sollte.

Doch die Debatte zeigte bei aller Konfusion den Versuch zu begreifen, was geschieht, wenn die Staatsmacht, die von der Revolution geschaffen wurde, anfängt, der Kontrolle des Proletariats zu entgleiten und sich gegen die Interessen des Proletariats zu richten. Dieses Problem sollte noch dramatischer durch den Kronstädter Aufstand illustriert werden, der während des 10. Kongresses der Partei nach einer Reihe von Arbeiterkämpfen in Petrograd ausbrach.

Die Führung der Bolschewiki prangerte die Rebellion anfangs als eine reine Verschwörung der Weißen Garden an. Später legte sie die Betonung auf ihren kleinbürgerlichen Charakter, aber die Niederschlagung der Revolte wurde mit dem Argument gerechtfertigt, dass sie sowohl geographisch wie auch politisch der Konterrevolution den Weg bereitet habe. Und dennoch war Lenin gezwungen einzugestehen, dass die Revolte eine Warnung vor einer weiteren Fortsetzung der Zwangsarbeitsmethoden der kriegskommunistischen Phase bedeutete und eine Art „Normalisierung“ der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse anmahnte. Doch hinsichtlich der Auffassung, dass die Verteidigung der proletarischen Macht in Russland die ausschließliche Rolle der bolschwistischen Partei sei, gab es keinen Kompromiss. Diese Auffassung wurde von vielen russischen Linkskommunisten geteilt. Auf dem 10. Kongress zählten Mitglieder der oppositionellen Gruppen zu den ersten Freiwilligen für den Angriff auf die Kronstädter Garnison. Sogar die KAPD in Deutschland leugnete, dass sie die Rebellen unterstützte. Auch Viktor Serge verteidigte schweren Herzens die Niederschlagung der Revolte als das geringere der beiden Übel, da die Alternative der Sturz der Bolschewiki und der Aufstieg einer neuen weißen Tyrannei sei.

Dennoch gab es innerhalb des revolutionären Lagers diesbzüglich auch Meinungsverschiedenheiten. Da gab es natürlich die Anarchisten, die schon viele richtige Kritiken an den Exzessen der Tscheka und der Unterdrückung der Organisationen der Arbeiterklasse geübt hatten. Doch der Anarchismus bietet wenige nützliche Lehren aus dieser Erfahrung, da aus seiner Sicht die Reaktion der Bolschewiki auf die Revolte von Anfang an dem Wesen einer jeden marxistischen Partei entsprach.

In Kronstadt selbst schlossen sich jedoch auch viele Bolschewiki auf der Grundlage der ursprünglichen Ideale des Oktober 1917 dem Aufstand an: für die Sowjetmacht und die Weltrevolution. Der Linkskommunist Miasnikow verweigerte die Unterstützung derjenigen, die sich am Angriff auf die Garnison beteiligt hatten. Er ahnte die katastrophalen Ergebnisse, die die Niederschlagung der Arbeiterrevolte durch den „Arbeiterstaat“ verurachen würde. Damals war dies noch eine Ahnung. Erst in den 1930er Jahren, als die Italienischen Linkskommunisten sich mit der Frage befassten, konnten mit größter Klarheit die Lehren daraus gezogen werden. Die Italienische Linke, die die Revolte als ohne Zweifel proletarisch bezeichnete, meinte, dass die Ausübung von Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse aus Prinzip abgelehnt werden müsse; dass die Arbeiterklasse über Mittel zu ihrer eigenen Verteidigung gegen den Übergangsstaat verfügen müsse, der aufgrund seines Wesens Gefahr laufe, ein Anziehungspunkt für die Kräfte der Konterrevolution zu werden, und dass die Kommunistische Partei sich nicht mit dem Staatsapparat  vermischen dürfe, sondern ihre Unabhängigkeit ihm gegenüber bewahren müsse. Die Italienische Linke stellte die Prinzipien über den Schein der Zweckmäßigkeit. Deshalb war sie auch der Auffassung, dass es besser gewesen wäre, Kronstadt zu verlieren, als die Macht zu behalten, da dadurch die grundlegenden Ziele der Revolution untergraben worden seien.

1921 stand die Partei vor einem historischen Dilemma: die Macht zu behalten und zu einem Träger der Konterrevolution zu werden oder in die Opposition zu gehen und in den Reihen der Arbeiterklasse tätig zu werden. Indes war die Verschmelzung zwischen Partei und Staat schon zu weit fortgeschritten, als dass die Partei in ihrer Gesamtheit den letztgenannten Weg hätte einschlagen können. Daher stand konkret die Arbeit einer linken Fraktion an, die innerhalb und außerhalb der Partei tätig werden musste, um sich der zunehmenden Degeneration zu widersetzen. Das Fraktionsverbot innerhalb der Partei nach dem 10. Kongress bedeutete, dass diese Aufgabe zunehmend außerhalb der Partei und schließlich gegen die bestehende Partei angegangen werden musste.

3) „1922-23: Die kommunistischen Fraktionen gegen die ansteigende Konterrevolution“ (International Review Nr. 101)

Die Konzessionen an die Bauernschaft – für Lenin waren sie eine unumgängliche Notwendigkeit, die durch den Kronstädter Aufstand um so dringender geworden waren -  fanden ihren Ausdruck in der Neuen Ökonomischen Politik. Diese wurde als ein zeitweiliger Rückzug angesehen, der es der vom Krieg zerrissenen proletarischen Macht erlauben werde, ihre in Schutt und Asche liegende Wirtschaft wieder aufzubauen, um sich so als Bastion der Weltrevolution am Leben zu halten. In der Praxis jedoch führte der Versuch, die Isolation des Sowjetstaates zu durchbrechen, zu grundlegenden Konzessionen in Grundsatzfragen, nicht nur bezüglich des Handels mit kapitalistischen Mächten (was als solches kein Bruch der Prinzipien war), sondern auch bezüglich geheimer militärischer Bündnisse, wie der Rapallo-Vertrag mit Deutschland. Und neben diesen militärischen Bündnissen entstanden unnatürliche politische Allianzen mit Kräften der Sozialdemokratie, die zuvor als der linke Flügel der Bourgeoisie entlarvt worden waren. Dies war die Politik der „Einheitsfront“, die vom 3. Kongress der Komintern verabschiedet worden war.

Lenin hatte bereits 1918 behauptet, dass der Staatskapitalismus für ein rückständiges Land wie Russland einen Schritt vorwärts bedeute; 1922 behauptete er ferner, dass der Staatskapitalismus dem Proletariat nützen könne, solange er von einem „proletarischen Staat“ geleitet werde. Gleichzeitig jedoch musste er einräumen, dass der Staat - weit entfernt davon der Staat zu sein, den man in der Revolution geerbt hatte - dabei war, alles zu lenken, aber nicht in die Richtung, die er einschlagen sollte, sondern zurück zu einer bürgerlichen Restaurierung.

Lenin erkannte schnell, dass die Kommunistische Partei selbst zutiefst von diesem Prozess der Regression erfasst worden war. Zunächst führte er das Problem hauptsächlich auf die unteren Schichten von kulturlosen Bürokraten zurück, die begonnen hatten, massenhaft in die Partei einzudringen. Aber in seinen letzten Lebensjahren wurde ihm auf schmerzhafte Weise klar, dass der Fäulnisprozess bis in die höchsten Ebenen der Partei vorgedrungen war. Wie Trotzki hervorhob, konzentrierte sich Lenins letzter Kampf hauptsächlich auf Stalin und den aufkommenden Stalinismus. Im Gefängnis des Staates eingesperrt, war Lenin jedoch unfähig, mehr als nur administrative Maßnahmen zur Eindämmung der aufkommenden Bürokratie vorzuschlagen. Hätte er länger gelebt, wäre er sicher dazu gedrängt worden, eine oppositionellere Haltung einzunehmen; so aber musste der Kampf gegen die aufsteigende Konterrevolution jetzt von anderen übernommen werden.

1923 brach die erste Wirtschaftskrise in der Phase der NEP aus. Für die Arbeiterklasse hieß dies Lohnkürzungen und Stellenstreichungen sowie eine Welle von spontanen Streiks. Innerhalb der Partei rief sie Konflikte und Debatten hervor; auch brachte sie neue Oppositionsgruppen hervor. Ihr erster expliziter Ausdruck war die Plattform der 46, der auch Prominente wie Trotzki (er wurde damals schon zunehmend von dem herrschenden Triumvirat Stalin, Kamenew und Sinowjew kritisiert) und Mitglieder der Gruppe Demokratischer Zentralismus angehörten. Die Plattform kritisierte die Bereitschaft, die NEP als adäquaten Weg zum Sozialismus zu betrachten; sie forderte mehr statt weniger zentrale Planung. Wichtiger noch - sie warnte vor der zunehmenden Erdrosselung des Parteilebens. 

Gleichzeitig distanzierte sich die Plattform von den radikaleren oppositionellen Gruppen, die damals entstanden waren. Die wichtigste unter ihnen war die Arbeitergruppe Miasnikows, die an den Streiks in den Industriezentren beteiligt war. Obwohl sie als eine verständliche, aber „morbide“ Reaktion gegen die aufkommende Bürokratie angesehen wurde, war das Manifest der Arbeitergruppe in Wirklichkeit ein Ausdruck der Ernsthaftigkeit der russischen Kommunistischen Linken:

- Die Schwierigkeiten des Sowjetregimes erklärten sie mit der Isolation und der fehlgeschlagenen Ausdehnung der Revolution.

- Ihre Kritik an der opportunistischen Politik der Einheitsfront war hellsichtig; sie bekräftigte ihre ursprüngliche Analyse, dass die sozialdemokratischen Parteien Verteidiger des Kapitalismus seien.

- Sie warnten vor den Gefahren des Aufkommens einer neuen kapitalistischen Oligarchie und riefen zur Erneuerung der Sowjets und der Fabrikkomitees auf.

- Gleichzeitig waren sie äußerst vorsichtig bei der Einschätzung der Charakteristiken des Sowjetregimes und der bolschwistischen Partei. Im Gegensatz zu Bogdanows Gruppe Arbeiterwahrheit wollten sie nichts mit der Idee zu tun haben, dass die Revolution oder die bolschwistische Partei von Anfang an bürgerlich gewesen sei.  Sie begriffen ihre Rolle im Wesentlichen als die einer linken Fraktion, die innerhalb und außerhalb der Partei für ihre Wiederaufrichtung kämpfte.

Die Linkskommunisten waren deshalb die theoretische Avantgarde im Kampf gegen die Konterrevolution in Russland. Die Tatsache, dass Trotzki 1923 eine offen oppositionelle Haltung eingenommen hatte, war in Anbetracht seines Rufs als Führer des Oktoberaufstandes von großer Bedeutung. Jedoch zeichnete sich im Vergleich zu den kompromisslosen Positionen der Arbeitergruppe Trotzkis Opposition gegen den Stalinismus durch eine zögerliche und zentristische Herangehensweise aus:

-          Trotzki verpasste eine Reihe von Gelegenheiten, einen offenen Kampf gegen den Stalinismus  zu führen; insbesondere zögerte er, Lenins „Testament“ zu benutzen, um Stalin anzuprangern und ihn aus der Parteiführung zu drängen.

-          Er neigte dazu, während vieler Debatten innerhalb des bolschwistischen Zentralorgans zu schweigen.

Diese Schwächen sind vor allem auf Charakterfragen zurückzuführen. Trotzki war kein durchtriebener Intrigant wie Stalin, er besaß keine umfassenden persönlichen Ambitionen. Aber es gab noch tieferliegende, politische Gründe für Trotzkis Unfähigkeit, seine Kritik so weit wie die radikalen Schlussfolgerungen der Kommunistischen Linken zu entwickeln.

-          Trotzki hatte nie verstanden, dass Stalin und seine Fraktion keine verirrte, fehlgeleitete zentristische Tendenz innerhalb der Arbeiterbewegung darstellten, sondern die Speerspitze einer bürgerlichen Konterrevolution.

-          Trotzkis eigener Werdegang als eine Person im Mittelpunkt des Sowjetregimes erschwerte es ihm, sich von dem Prozess des Niedergangs zu lösen. Ein tief in der Partei verwurzelter „Parteipatriotismus“ erschwerte es zudem Trotzki und anderen Oppositionellen anzuerkennen, dass die Partei sich irren kann.

4) „1924-28: Der Triumph des stalinistischen Staatskapitalismus“

(International Review Nr. 102)

1927 hatte Trotzki akzeptiert, dass die Gefahr einer bürgerlichen Restaurierung in Russland bestand – eine Art schleichende Konterrevolution ohne den förmlichen Sturz des bolschwistischen Regimes. Aber er unterschätzte sehr stark, bis zu welchem Punkt dieser Prozess schon gereift war, ja dass er nahezu abgeschlossen war.

- Es war für ihn sehr schwer zu begreifen, dass er selbst in großem Maße am Niedergangsprozess beteiligt war (durch die Politik der Militarisierung der Arbeit, der Niederschlagung Kronstadts usw.).

- Während er begriff, dass die Probleme, vor denen die Sowjetunion stand, ein Ergebnis der Isolierung und des Rückzugs der internationalen Revolution waren, verstand Trotzki nicht das Ausmaß der Niederlage, die die Arbeiterklasse im Begriff war zu erleiden. Vor allem aber erkannte er nicht, dass die Sowjetunion schon dabei war, sich in das imperialistische Weltsystem einzugliedern.

- Trotzki glaubte, dass der russische „Thermidor“ durch einen Sieg jener Kräfte erfolgen würde, die auf eine Rückkehr des Privateigentums (NEP-Leute, Kulaken, die Rechte um Bucharin) drängten. Der Stalinismus wurde als eine Art Zentrismus, nicht als eine Speerspitze der staatskapitalistischen Konterrevolution definiert.

Die ökonomischen Theorien der linken Opposition um Trotzki erschwerten die Erkenntnis, dass der „Sowjetstaat“ selbst zum direkten Träger der Konterrevolution geworden war, ohne dass es eine Rückkehr zum klassischen Privateigentum gegeben hatte. Die Bedeutung der Erklärung Stalins vom „Sozialismus in einem Land“ wurde sehr spät und nie vollständig begriffen. Durch den Tod Lenins und die offensichtliche Stagnation der Weltrevolution mutiger geworden, vollzog Stalin mit dieser Erklärung einen offenen Bruch mit dem Internationalismus und verpflichtete sich, Russland zu einer imperialistischen Weltmacht aufzubauen. Dies stand im völligen Gegensatz zum Bolschewismus des Jahres 1917, der betont hatte, dass der Sozialismus nur das Ergebnis einer erfolgreichen Weltrevolution sein kann. Aber je mehr die Bolschewiki an der Verwaltung des Staates und der Wirtschaft in Russland beteiligt und durch sie absorbiert wurden, um so mehr neigten sie dazu, die Verwirklichung des Sozialismus auch in einem isolierten und rückständigen Land zu theoretisieren. So wurde die Debatte über die NEP beispielsweise aus diesem Blickwinkel betrachtet: Die Rechte argumentierte, dass der Sozialismus durch das Wirken der Marktkräfte eingeführt werden könne, wohingegen die Linke die Rolle der Planwirtschaft und der Schwerindustrie betonte. Preobrashenski, der Haupttheoretiker der linken Opposition in ökonomischen Fragen, sprach von der Überwindung des kapitalistischen Wertgesetzes durch ein Monopol im Außenhandel und der Akkumulation im staatlichen Sektor. Man nannte dies gar „primitive sozialistische Akkumulation“.

Die Theorie der primitiven sozialistischen Akkumulation verwechselte fälschlicherweise das Wachstum der Industrie mit den Interessen der Arbeiterklasse und des Sozialismus. In Wirklichkeit war ein Industriewachstum in Russland nur durch die wachsende Ausbeutung der Arbeiterklasse möglich. Kurzum, primitive sozialistische Akkumulation konnte nur heißen: Akkumulation von Kapital. Deshalb warnte die Italienische Linke zum Beispiel vor jeder Tendenz, industrielles Wachstum oder die Verstaatlichung von Industrien als eine fortschrittliche, zum Sozialismus weisende Maßnahme zu betrachten.

Nach dem Auseinanderbrechen des herrschenden Triumvirates wurde der Kampf gegen die Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ von der Gruppe um Sinowjew aufgenommen. Dies führte zur Bildung der Vereinigten Opposition 1926, die anfangs auch die Demokratischen Zentralisten umfasste. Obwohl man sich formell dem Verbot der Bildung von Fraktionen unterwarf, war die neue Opposition zunehmend gezwungen, ihre Kritik am Regime auf die unteren Ränge der Partei und sogar direkt auf die Arbeiter auszudehnen. Dabei stieß sie auf Drohungen, Beleidigungen, erfundene Beschuldigungen,  Repression und Ausschluss. Dennoch war sie noch immer nicht in der Lage, das Wesen dessen, wogegen sie kämpften, zu begreifen. Stalin machte sich ihren Wunsch nach Versöhnung innerhalb der Partei zunutze, indem er sie zwang, auf jede so genannte Fraktionsaktivität zu verzichten. Die Gruppe um Sinowjew und einige Anhänger Trotzkis kapitulierten sofort. Und als Stalin 1928 seine „Linkswende“ und eine zügige Industrialisierungspolitik verkündete, nahmen viele Trotzkisten, Preobrashenksi eingeschlossen, an, dass Stalin doch noch ihre Positionen übernommen habe.

Gleichzeitig jedoch gerieten jene Mitglieder der Opposition unter den wachsenden Einfluss der Linkskommunisten, denen es besser gelungen war zu begreifen, dass die Konterrevolution schon eingetreten war. Die Demokratischen Zentralisten zum Beispiel, die zwar noch Hoffnungen auf eine radikale Reform des Sowjetregimes hegten, waren sich weitaus klarer darüber, dass die verstaatliche Industrie nicht mit dem Sozialismus gleichzusetzen war, dass die Verschmelzung zwischen Staat und Partei zur Liquidierung der Partei führte und dass die Außenpolitik des Sowjetregimes sich zunehmend gegen die internationalen Interessen des Proletariats richtete. Nach dem massenhaften Ausschluss der Opposition 1927 entwickelten die Linkskommunisten mehr und mehr die Auffassung, dass Regime und Partei nicht mehr reformierbar waren. Die Reste der Miasnikow-Gruppe spielten eine Schlüsselrolle bei der nun einsetzenden Radikalisierung. Doch im Verlauf der nächsten Jahre sollten die lebhaften Debatten über das Wesen des Regimes vor allem in Stalins Gefängnissen geführt werden.

5) „Die Lösung des russischen Rätsels: 1926-36“

(International Review Nr. 105)

In Anbetracht des Ausmaßes der Niederlage verlagerte sich jetzt der Schwerpunkt der Bemühungen, das Wesen des stalinistischen Regimes zu begreifen, nach Westeuropa. In dem Maße, wie die Kommunistischen Parteien „bolschewisiert“, d.h. in leicht beeinflussbare Instrumente der russischen Außenpolitik verwandelt wurden, entstand in ihren Reihen eine Vielzahl von Oppositionsgruppen, die sich jedoch schnell von der Partei abspalteten oder ausgeschlossen wurden.

In Deutschland umfassten diese Gruppen manchmal Tausende von Mitgliedern, wenngleich ihre Mitgliederzahlen schnell schrumpften. Die KAPD existierte noch und intervenierte gegenüber diesen Gruppen. Eine der bekanntesten war die Gruppe um Karl Korsch; die Korrespondenz zwischen ihm und Bordiga in Italien verdeutlicht viele der Probleme, vor denen die Revolutionäre damals standen.

Eines der Merkmale der Deutschen Linken – ein Faktor, der zu ihrem organisatorischen Zerfall mit beitrug – war die Tendenz, voreilige Schlüsse über das Wesen des neuen Systems in Russland zu ziehen. Während sie dessen kapitalistisches Wesen erkannten, waren sie oft nicht in der Lage, die Hauptfrage zu beantworten: Wie kann sich eine proletarische Macht in ihr Gegenteil verkehren? Oft bestand ihre Antwort in der Leugnung, dass diese jemals proletarisch gewesen war. Man behauptete, dass die Oktoberrevolution nichts anderes als eine bürgerliche Revolution und die Bolschewiki nichts als eine Partei der Intelligentsia gewesen seien.

Bordigas Antwort verkörperte die eher geduldigere Methode der Italienischen Linken. Sie war gegen den überstürzten Versuch des Aufbaus einer Organisation ohne eine gesunde programmatische Grundlage. Bordiga unterstützte die Notwendigkeit einer umfassenden und tiefgreifenden Diskussion der Lage, die viele neue Fragen aufgeworfen hatte. Dies war die einzige Grundlage einer substanziellen Umgruppierung. Gleichzeitig weigerte er sich, den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution in Frage zu stellen. Statt dessen betonte er, dass die Frage, vor der die revolutionäre Bewegung stünde, laute: Wie konnte eine isolierte, auf ein Land beschränkte proletarische Macht in einen solchen Prozess der inneren Degeneration geraten?

Mit dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland verlagerte sich erneut der geographische Schwerpunkt der Diskussionen – dieses Mal nach Frankreich, wo eine Reihe von Oppositionsgruppen 1933 eine Konferenz in Paris abhielt, um über das Wesen des Regimes in Russland zu diskutieren. Es beteiligten sich auch die „offiziellen“ Anhänger Trotzkis, doch die meisten Gruppen standen eher links, wie auch die Exilgruppe der Italienischen Linken. In der Konferenz tauchten viele Theorien über den Charakter des Regimes auf, von denen viele sich stark widersprachen: dass es sich um einen Klassensystem neuen Typs handelte, welches man nicht mehr unterstützen dürfe; dass es sich um ein Klassensystem neuen Typs handelte, welches man dennoch weiter unterstützen müsse; dass es ein proletarisches Regime geblieben sei, welches man aber nicht mehr verteidigen dürfe… All dies spiegelte die großen Schwierigkeiten der Revolutionäre wider zu begreifen, in welche Richtung sich die Sowjetunion entwickelte und was dies bedeutete. Aber es zeigte auch, dass die „orthodoxe“ trotzkistische Position – wonach die UdSSR trotz ihrer Entartung ein Arbeiterstaat bleibe und gegen den Imperialismus verteidigt werden müsse – von verschiedenen Seiten angegriffen wurde.

Größtenteils aufgrund dieses Drucks seitens der Linken schrieb Trotzki 1936 seine berühmte Analyse der russischen Revolution: „Die verratene Revolution“.

Dieses Buch belegt, dass Trotzki, obwohl er zunehmend dem Opportunismus anheimfiel, ein Marxist geblieben war. So zertrümmerte er schlagfertig die Behauptung des Stalinismus, die UdSSR sei ein Paradies für die Arbeiter. Sich auf die Aussage Lenins stützend, dass der Übergangsstaat „ein bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie“ ist, lieferte er wichtige Erkenntnisse über das Wesen dieses Staates und seine von ihm für das Proletariat ausgehende Gefahr. Trotzki kam damals sogar zur Schlussfolgerung, dass die alte bolschwistische Partei tot sei und die Bürokratie nicht mehr reformiert werden könne, sondern mit Gewalt gestürzt werden müsse. Doch das Buch hat eine fundamentale Schwäche – es wendet sich ausdrücklich gegen die Auffassung, dass die UdSSR eine Form des Staatskapitalismus war. Trotzki verteidigte hartnäckig die These, dass die  staatlichen Eigentumsformen ein Beleg für den proletarischen Charakter des russischen Staates seien. Während er theoretisch eingestand, dass es in der kapitalistischen Niedergangsphase eine Tendenz zum Staatskapitalismus gibt, lehnte er die Idee ab, dass die stalinistische Bürokratie eine neue herrschende Klasse sei, denn sie besitze keine Aktien und könne ihr Eigentum nicht weiter vererben. Damit reduzierte er das Kapital auf eine juristische Form, anstatt es als ein im Wesentlichen unpersönliches gesellschaftliches Verhältnis zu betrachten.

Und was die Idee angeht, dass die UdSSR immer noch ein Arbeiterstaat sei,  obgleich er selbst eingestehen musste, dass die Arbeiterklasse als solche von der politischen Macht völlig ausgeschlossen war,  so brachte dies ein mangelndes, oberflächliches Verständnis des Wesens der proletarischen Revolution zum Vorschein. Die proletarische Revolution ist die erste Revolution in der Geschichte, die das Werk einer eigentumslosen Klasse ist; eine Klasse, die nicht über ihre eigenen Wirtschaftsformen verfügt und die ihre Befreiung nur erreichen kann, wenn sie in der Lage ist, ihre politische Macht als einen Hebel zu benutzen, um die „spontanen“ Gesetze der Wirtschaft unter die bewusste Kontrolle der Menschen zu bringen. 

Vor allem aber zwang Trotzkis Charakterisierung der UdSSR seine Bewegung dazu, in der ganzen Welt den Stalinismus radikal zu verteidigen. Dies ging deutlich aus Trotzkis Argument hervor, wonach das schnelle Industriewachstum unter Stalin – das sich auf eine schreckliche Ausbeutung der Arbeiterklasse stützte und Teil der Vorbereitungen der Kriegswirtschaft im Hinblick auf eine neue imperialistische Aufteilung der Welt war – ein Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus sei. Es wurde auch offenkundig angesichts Trotzkis entschlossener Unterstützung der russischen Außenpolitik und der kompromisslosen Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Angriffe zu einer Zeit, als der russische Staat selbst zu einem aktiven Mitspieler auf der imperialistischen Weltbühne geworden war. Diese Analyse barg den Keim für den Verrat der Trotzkisten am Internationalismus im II. Weltkrieg in sich.

Trotzkis Buch gab der Idee Auftrieb, dass die Frage der Sowjetunion noch nicht endgültig geklärt sei und dass dies nur entscheidende historische Ereignisse wie ein Weltkrieg regeln könnten. In seinen letzten Schriften, in denen er sich möglicherweise der Risse in seiner Theorie des „Arbeiterstaates“ bewusst wurde, aber noch zögerte anzuerkennen, dass die UdSSR ein kapitalistisches Gebilde war, begann er darüber zu spekulieren, dass, wenn der Stalinismus eine neue Form der Klassenherrschaft darstellte, die weder kapitalistisch noch sozialistisch wäre, der Marxismus seine Glaubwürdigkeit verloren hätte. Trotzki selbst wurde ermordet, bevor er sich dazu äußern konnte,  ob der Krieg in der Tat das „russische Rätsel“  gelöst hatte. Doch nur diejenigen unter seinen Gefolgsleuten, welche dem Weg folgten, den die Kommunistische Linke eingeschlagen hatte, und die Analyse des Staatskapitalismus übernahmen (wie Stinas in Griechenland, Munis in Spanien und Trotzkis Frau Natalia),  blieben dem proletarischen Internationalismus während und nach dem II. Weltkrieg treu.

6) „Das russische Rätsel und die Italienische Kommunistische

Linke 1933-46“ (International Review Nr. 106)

Die Kommunistische Linke fand ihren klarsten Ausdruck unter jenen Teilen des Weltproletariats, die den Kapitalismus in der revolutionären Welle am stärksten herausgefordert hatten. Neben Russland waren dies das deutsche und italienische Proletariat; folglich waren die Deutsche und Italienische Kommunistische Linke die theoretische Avantgarde der internationalen Kommunistischen Linken.

Als es darum ging, das Wesen des Regimes zu begreifen, das auf den Trümmern der Niederlage in Russland entstanden war, bewies die Deutsche Linke mit ihrer Fähigkeit,  Schlussfolgerungen zu ziehen, eine gewisse Frühreife. Sie erkannte nicht nur, dass das stalinistische System eine Spielart des Staatskapitalismus war; sie entwickelte auch wichtige Einsichten in den Staatskapitalismus als eine universelle Tendenz des krisengeschüttelten Kapitalismus. Dennoch waren diese Erkenntnisse zu oft mit der Neigung verbunden, die Solidarität mit der Oktoberrevolution aufzukündigen und den Bolschewismus als Speerspitze einer bürgerlichen Revolution zu bezeichnen. In dieser Auffassung spiegelte sich die Überstürzung wider, in der die deutsche Linke die Notwendigkeit einer proletarischen Partei aufgab und die Rolle der revolutionären Organisation unterschätzte.

Die Italienische Linke dagegen brauchte lange, um das Wesen der UdSSR klar zu begreifen, aber sie ging an die Frage mit größerer Vorsicht und Stringenz heran. Ihre grundlegenden Prämissen waren:

- Sie hielt an der Überzeugung fest, dass der Rote Oktober eine proletarische Revolution gewesen war.

- Da der Weltkapitalismus ein im Niedergang befindliches System war, stand die bürgerliche Revolution nirgendwo mehr auf der Tagesordnung.

- Vor allem durfte es keinen Kompromiss beim proletarischen Internationalismus geben, der eine totale Ablehnung der Auffassung vom „Sozialismus in einem Lande“ bedeutete. 

Trotz dieser soliden Grundlagen war die Auffassung der Italienischen Linken über das Wesen der UdSSR in den 1930er Jahren sehr widersprüchlich. Oberflächlich betrachtet, teilten sie mit Trotzki die Auffassung, dass die UdSSR ein proletarischer Staat sei, da er staatliche Eigentumsformen aufrechthalte. Die stalinistische Bürokratie wurde eher als eine parasitäre Kaste denn als eine eigenständige Ausbeuterklasse bezeichnet.

Aber der tief verwurzelte Internationalismus der Italienischen Linken zog eine scharfe Trennungslinie zu den Trotzkisten, deren Position, die Verteidigung des degenerierten Arbeiterstaates, sie in die Fänge des imperialistischen Krieges trieb, in ihre Teilnahme an ihm. Die theoretische Zeitschrift der Italienischen Linken, Bilan, erschien ab 1933. Nach anfänglichem Zögern überzeugten die Ereignisse jener Zeit (Hitlers Machtergreifung, die Unterstützung der französischen Wiederbewaffnung, Russlands Beitritt zum Völkerbund, der Krieg in Spanien) Bilan, dass, auch wenn die UdSSR proletarisch blieb, sie dennoch nun eine konterrevolutionäre Rolle auf der ganzen Welt spielte. Deshalb verlangten die internationalen Interessen der Arbeiterklasse, dass die Revolutionäre ihre Solidarität mit diesem Staat verweigerten.

Diese Analyse war mit Bilan’s Erkenntnis verbunden, dass das Proletariat eine historische Niederlage erlitten hatte und die Welt sich auf einen neuen imperialistischen Krieg hinzubewegte.  Bilan sagte mit bestechender Genauigkeit voraus, dass die UdSSR sich letztendlich mit dem einen oder anderen in der Bildung befindlichen Block verbünden werde. Damit lehnte sie die Auffassung Trotzkis ab, derzufolge die UdSSR grundsätzlich feindlich gegenüber dem Weltkapital eingestellt sei und die imperialistischen Mächte zum Zusammenschluss gegen sie gezwungen seien.

Im Gegenteil, Bilan meinte, dass trotz des Überlebens der „kollektivierten“ Eigentumsformen die Arbeiterklasse in der UdSSR einer rücksichtslosen kapitalistischen Ausbeutung unterworfen sei. Die beschleunigte Industrialisierung, die als „Aufbau des Sozialismus“ tituliert wurde, bedeutete nichts anderes als den Aufbau einer Kriegswirtschaft, welche es der UdSSR ermöglichen sollte,  sich an der nächsten imperialistischen Aufteilung der Beute zu beteiligen. Deshalb lehnte Bilan Trotzkis Lobpreisungen der Industrialisierung in der UdSSR ab.

Bilan war sich des Weiteren bewusst darüber, dass es auch in den westlichen Ländern eine wachsende Tendenz zum Staatskapitalismus gab,  ob er nun in Gestalt des Faschismus oder des demokratischen „New Deal“ auftrat. Dennoch zögerte Bilan, den letzten Schritt  zu machen - anzuerkennen, dass die stalinistische Bürokratie tatsächlich eine Staatsbourgeoisie war. Statt sie als Verkörperung einer neuen kapitalistischen Klasse zu betrachten, sah man sie als „Vertreter des Weltkapitals“.

Nachdem die Auffassung vom „proletarischen Staat“ mit den Ereignissen in der realen Welt immer mehr in Konflikt geraten war, begann eine Minderheit von Genossen in der Fraktion die ganze Theorie in Frage zu stellen. Und es war kein Zufall, dass diese Minderheit am besten dafür gerüstet war, die anfängliche Verwirrung zu überstehen, die der Kriegsausbruch in der Fraktion ausgelöst hatte. Diese war zuvor durch die revisionistische Theorie der „Kriegswirtschaft“ in eine Sackgasse geführt worden - eine Theorie, derzufolge kein Weltkrieg stattfinden werde.

Es war immer als selbstverständlich angesehen worden, dass die russische Frage so oder so durch den Ausbruch des Krieges gelöst werden würde. Und für die klarsten Teile der Italienischen Linken lieferte die Beteiligung der UdSSR am imperialistischen Räuberkrieg den letzten Beweis.  Die kohärentesten Argumente für die Position, dass die UdSSR imperialistisch und kapitalistisch sei, wurden von jenen Genossen entwickelt, die die Arbeit Bilan‘s in der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken und, nach dem Krieg, in der Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs) fortsetzten. Durch die Integration der wertvollsten  Erkenntnisse der Deutschen Linken - ohne dabei rätekommunistischen Verleumdungen der Oktoberrevolution auf dem Leim zu gehen - zeigte diese Strömung auf, warum der Kapitalismus in seiner Niedergangsphase hauptsächlich die Form des Staatskapitalismus annahm. Was Russland anbetraf, so wurden die letzten Reste einer „juristischen“ Definition  des Kapitalismus über Bord geworfen. Es wurde die grundlegende marxistische Auffassung bekräftigt, dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis ist, das von einem zentralisierten Staat genauso wie von einer Gruppe von Privatkapitalisten ausgeübt werden kann. Und es wurde die notwendige Schlussfolgerung bezüglich der proletarischen Herangehensweise gegenüber der Übergangsperiode gezogen. Die Fortentwicklung zum Kommunismus kann nicht daran gemessen werden, in welchem Maße der staatliche Bereich wächst – denn damit ist die große Gefahr einer Rückkehr des Kapitalismus verbunden –, sondern in der Tendenz, dass lebendige Arbeit tote Arbeit beherrscht und dass die Produktion für den Mehrwert durch eine Produktion ersetzt wird, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse abzielt.

6)       „Die Debatte über die ‚proletarische Kultur’ im

revolutionären Russland“

 

(International Review, Nr. 109)

Entgegen der zunehmend oberflächlichen Herangehensweise an das Problem der Kultur im bürgerlichen Denken, die dazu neigt, die Kultur auf die unmittelbarsten Ausdrücke bestimmter Länder bzw. ethnischer Gruppen oder gar auf den Status vorübergehender gesellschaftlicher Verhaltensweisen zu reduzieren, stellt der Marxismus die Frage in ihrem umfassensten und tiefsten historischen Zusammenhang: die grundlegenden Charakteristiken der Menschheit und ihrer Entstehung aus der Natur im Rahmen der großen Zyklen aufeinander folgender Produktionsformen, die die Geschichte der Menschheit kennzeichnen.

Die proletarische Revolution in Russland, die so viele reichhaltige Lehren hinsichtlich der politischen und ökonomischen Ziele der Arbeiterklasse enthält, war auch auf dem Gebiet der Kunst und Kultur von einer kurzen, aber mächtigen Explosion der Kreativität geprägt – in der Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik und Literatur, in der praktischen Organisierung des Alltagslebens auf gemeinschaftlicher Grundlage, in den Humanwissenschaften wie die Psychologie und so weiter. Gleichzeitig wurde die allgemeine Frage des Übergangs der Menschheit von der bürgerlichen Kultur zu einer  höheren, kommunistischen Kultur aufgeworfen.

Eine der Hauptdiskussionen unter den russischen Revolutionären kreiste um die Frage, ob dieser Übergang zur Entwicklung einer spezifischen proletarischen Kultur führen werde. Da auch frühere Kulturen aufs Engste mit den Ansichten der herrschenden Klasse verbunden waren, schienen manche zu meinen, dass die Arbeiterklasse, sobald sie zur herrschenden Klasse geworden ist, ihre eigene Kultur schaffen werde, die im Gegensatz zur Kultur der alten, ausbeutenden Klasse stehen werde. Dies war jedenfalls die Meinung der „Proletkult“-Bewegung, die in den ersten Jahren nach der Revolution über eine große Anhängerschaft verfügte.

In einer dem „Proletkult“-Kongress von 1920 vorgelegten Resolution schien selbst Lenin diese Idee einer besonderen proletarischen Kultur zu akzeptieren. Gleichzeitig kritisierte er gewisse Aspekte der „Proletkult“-Bewegung: ihre philisterhafte „Arbeitertümelei“, die dazu führte, die Arbeiterklasse in ihrem Ist-Zustand zu idealisieren, statt ihren Soll-Zustand anzustreben, und ihr Hang zur bilderstürmerischen Ablehnung der früheren kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Lenin misstraute der Gruppe „Proletkult“ auch wegen ihrer Tendenz, als eine eigenständige Partei mit eigenem Organisationsapparat und eigenem Programm aufzutreten. So empfahl Lenin in seiner Resolution, dass die Orientierung der Kulturarbeit im Sowjetregime unter der direkten Leitung des Staates stehen sollte. Doch im Grunde lag Lenins Hauptinteresse in Kulturfragen woanders. Aus seiner Sicht hatte die Kulturfrage weniger mit der grandiosen Fragestellung zu tun, ob es eine neue proletarische Kultur in Sowjetrussland geben kann, als vielmehr mit dem Problem, die gewaltige kulturelle Rückständigkeit der russischen Massen zu überwinden, unter denen mittelalterliche Sichtweisen und der Aberglaube noch ein großes Gewicht hatten. Lenin war sich des niedrigen kulturellen Entwicklungsstandes der Massen bewusst; er wusste, dass dies ein Nährboden für die Ausbreitung der Geißel der Bürokratie im Sowjetstaat werden kann. Die Anhebung des kulturellen Niveaus der Massen war für Lenin ein Mittel zur Bekämpfung dieser Geißel und zur Verstärkung der Fähigkeit der Massen, die politische Macht in den Händen zu behalten.

Trotzki dagegen entwickelte eine tiefergehende Kritik der „Proletkult“-Bewegung. Aus seiner Sicht, die er in einem Kapitel seines Buches „Literatur und Revolution“ darstellte, war der Begriff proletarische Kultur als solche schon eine unzutreffende Bezeichnung. Als ausbeutende Klasse, die ihre ökonomische Macht über eine ganze Zeit lang innerhalb des Rahmens des alten Feudalsystems aufbauen konnte,  konnte die Bourgeoisie auch eine eigene, spezifische Kultur entfalten. Dies trifft auf das Proletariat nicht zu, das als eine ausgebeutete Klasse nicht über die materiellen Grundlagen für die Entwicklung einer eigenen Kultur innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verfügt. Es stimmt, dass das Proletariat während der Übergangsperiode zum Kommunismus zur herrschenden Klasse werden muss, doch handelt es sich dabei lediglich um eine vorübergehende politische Diktatur, deren Endziel nicht darin besteht, die Existenz des Proletariat als solches unbegrenzt aufrechtzuerhalten, sondern darin, das Proletariat in der neuen menschlichen Gemeinschaft aufzulösen. Die Kultur dieser neuen Gemeinschaft wird die erste wirklich menschliche Kultur sein, die alle früheren kulturellen Fortschritte, die die Gattung Mensch erzielt hat, integrieren wird.

Trotzki verfasste sein Buch „Literatur und Revolution“ im Jahr 1924. Es war ein wichtiges Werkzeug in Trotzkis Kampf gegen den emporkommenden Stalinismus. Nachdem „Proletkult“ durch die Befürwortung der Eigeninitiative der Arbeiter anfangs ein wichtiges Sammelbecken für die linken Gruppen gewesen war, die sich gegen das Aufblähen der sowjetischen Bürokratie stellten, neigten seine Nachfolger später dazu, sich mit der Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ zu identifizieren. Aus ihrer Sicht schien dies in Einklang mit der Auffassung zu stehen, dass eine „neue“ Kultur in der Sowjetunion bereits im Aufbau war. Trotzkis Schriften zur Kultur zeigten auf, dass solche Ansprüche haltlos waren. Er wandte sich auch heftig gegen die Verwandlung der Kunst in eine Staatspropaganda. Stattdessen propagierte er eine „anarchistische“ Politik auf dem Gebiet der Kultur, die von niemand verordnet werden dürfe, weder von der Partei noch vom Staat.

7)       „Trotzki und die Kultur des Kommunismus“

(International Review Nr. 111 )

Trotzki entwickelt seine Auffassung über die kommunistische Kultur der Zukunft im letzten Kapitel seines Buchs „Literatur und Revolution“. Er wiederholt zunächst seine Ablehnung des Begriffs „proletarische Kultur“ als Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Kunst und Arbeiterklasse in der Übergangsperiode. Stattdessen schlägt er eine Unterscheidung zwischen revolutionärer und sozialistischer Kunst vor. Die erste hebt sich vor allem durch ihren Gegensatz zur bestehenden Gesellschaft hervor. Trotzki meinte gar, dass sie tendenziell von einem „gewissen gesellschaftlichen Hass“ geprägt sein wird. Er warf auch die Frage auf, welche Kunst-„Schule“ einer revolutionären Periode am offensten gegenüber eingestellt sein wird. Er benutzte den Begriff „Realismus“ zur Beschreibung dieses Phänomens Aber dies hieß in seiner Sicht nicht die geisttötende Unterwerfung der Kunst unter die Staatspropaganda, die von der stalinistischen Schule des „sozialistischen Realismus“ betrieben wurde. Ebenso wenig bedeutete dies, dass Trotzki blind gegenüber der Möglichkeit einer Eingliederung der Errungenschaften von Kunstformen war, die nicht direkt mit der revolutionären Bewegung verbunden waren oder sich gar durch eine verzweifelte Flucht vor der Realität auszeichneten.

Sozialistische Kunst würde Trotzki zufolge von höheren und positiveren Emotionen durchdrungen sein, die in einer Gesellschaft aufblühen werden, die sich auf Solidarität stützt. Gleichzeitig verwarf Trotzki die Idee, dass in einer Gesellschaft, die Klassenspaltungen und andere Quellen von Unterdrückung und Angst überwunden hat, die Kunst steril werden könnte. Im Gegenteil, sie werde dazu neigen, alle Aspekte des Alltaglebens mit einer schöpferischen und harmonischen Energie zu durchdringen. Und da Menschen in einer kommunistischen Gesellschaft immer noch mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens – vor allem Liebe und Tod – konfrontiert sein werden, wird es immer noch Raum für die tragischen Dimensionen der Kunst geben. Hier stimmte Trotzki völlig überein mit der Herangehensweise von Marx an die Frage der Kunst in den Grundrissen, in denen er erklärte, warum die Kunst früherer menschlicher Epochen nicht ihren Charme für uns verlieren werde. Denn die Kunst könne nicht auf die politischen Aspekte des menschlichen Lebens reduziert werden und auch nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einer spezifischen Epoche in der Geschichte, sondern spiegele die grundlegenden Bedürfnisse und Bestrebungen des menschlichen Wesens wider.

Und die Kunst der Zukunft werde auch nicht monolithisch sein. Im Gegenteil, Trotzki fasste sogar die Möglichkeit einer Bildung von „Parteien“ ins Auge, die für oder gegen besondere Herangehensweisen in der Kunst oder bei Projekten plädierten, mit anderen Worten: eine lebendige und fortdauernde Debatte unter frei assoziierten gesellschaftlichen Produzenten.

In der zukünftigen Gesellschaft werde die Kunst in der Herstellung von Gütern, im Städtebau und in der Landschaftsgestaltung integriert sein.  Weil sie nicht mehr der Bereich von Spezialisten sind wird, wird die Kunst, wie Bordiga es nannte, ein „Plan zum Leben für die menschliche Gattung“ werden; sie wird die Fähigkeiten der Menschen ausdrücken, eine Welt zu errichten, die „im Einklang steht mit den Gesetzen der Schönheit“, wie Marx schrieb.

Bei der Landschaftsgestaltung werden die Menschen in Zukunft nicht versuchen, eine längst verlorengegangene ländliche Idylle wiederherzustellen. Die kommunistische Zukunft wird sich auf die fortschrittlichsten Entdeckungen der Wissenschaft und der Technologie stützen. Deshalb wird die Stadt und nicht so sehr das Dorf die Kerneinheit der Zukunft bilden. Doch Trotzki lehnte nicht die Befürwortung einer neuen Harmonie zwischen Stadt und Land und damit eines Endes der gewaltigen, überbevölkerten Megastädte ab, die zu solch einer zerstörerischen Wirklichkeit im dekadenten Kapitalismus geworden sind. Das wird durch Trotzkis Idee deutlich, dass z.B. Tiger und Dschungel von den künftigen Generationen geschützt  und in Frieden gelassen werden.

Schließlich wagte Trotzki das Bild der Menschen in einer späteren, weit entfernten kommunistischen Gesellschaft zu umreißen. Diese Menschen werden nicht mehr beherrscht werden durch blinde Natur- und gesellschaftliche Kräfte. Da die Menschheit nicht mehr durch die Todesangst beherrscht wird, wird sie den Instinkten des Lebens freie Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Die Männer und Frauen der Zukunft werden mit Anmut und Präzision vorgehen, sie werden die Gesetze der Schönheit bei der „Arbeit, beim Gehen und im Spiel“ befolgen. Der Durchschnittsmensch wird sich auf das „Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx erheben“. Darüber hinaus werde die Menschheit bei der Erkundung und Beherrschung der Tiefen des Unbewussten nicht nur wirklich menschlich werden, sondern sie werde in einem gewissen Sinne auch zu einer neuen Gattung übergehen:

 „Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig zu machen, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewussten vorzudringen und sich auf eine Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen“.

Dies ist sicherlich einer der kühnsten Versuche seitens eines kommunistischen Revolutionärs, die mögliche Zukunft der Menschen zu beschreiben. Da er sich dabei fest auf das wirkliche Potenzial der Menschheit und auf die proletarische Weltrevolution als ihre unabdingbare Vorbedingung stützte, kann seine Auffassung nicht als ein Rückgriff auf den utopischen Sozialismus verworfen werden. Gleichzeitig gelang es ihm, die inspiriertesten Spekulationen der alten Utopisten auf eine solidere Grundlage zu stellen. Dies ist der Kommunismus als ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten.

CDW      (International Review, Nr. 126)

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Dritte Internationale [1]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [2]

Die verlustreichen Spekulationsgeschäfte der Gewerkschaftsbank in Österreich

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Anmerkung der Redaktion von Weltrevolution:

Wir bedanken uns ganz herzlich bei der Gruppe Internationalistische Kommunisten aus Österreich, welche den nachstehenden – wie wir finden hochinteressanten – Artikel verfasst und uns zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

 

Wie eng die heutigen Gewerkschaften mit dem Kapitalismus verbandelt sind, nicht nur durch ihre staatstragende Haltung, durch ihr stetes Eintreten für die Stabilität des nationalen Kapitalismus und für sozialen Frieden, sondern auch finanziell, hat die jüngste Entwicklung in Österreich offenbart – die desaströse Entwicklung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und der in seinem Eigentum befindlichen Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG) (der „Gewerkschaftsbank“). Erst 2006 kam nämlich ans Tageslicht, dass der Gewerkschaftspräsident und der ÖGB-Finanzchef, beide SPÖ-Mitglieder, einige Jahre zuvor das gesamte Vermögen des ÖGB, darunter auch den sogenannten Streikfonds, verpfändet hatten, um die BAWAG zu retten, die in hochriskanten Spekulationsgeschäften in den USA – den „Karibik-Geschäften“ - große Verluste eingefahren hatte. Es war eine einsame Entscheidung der beiden Gewerkschaftsbosse gewesen. Sie hatten niemanden sonst im ÖGB, nicht einmal ihre KollegInnen aus den höchsten Gewerkschaftsgremien, geschweige denn die 1,3 Millionen Mitglieder in die Sache eingeweiht bzw. ihre Zustimmung zu einer solchen Verwendung der angesammelten Mitgliederbeiträge eingeholt. Sowohl die verlustreichen Spekulationsgeschäfte des BAWAG-Vorstands als auch die Entscheidung der beiden Spitzengewerkschafter waren jahrelang geheim gehalten worden. Erst 2006 erfuhr die Öffentlichkeit über den fließenden Zusammenhang von internationalen Finanzmärkten und dem Firmenimperium des ÖGB inklusive Streikfonds.

 

 

 

Anmerkung der Redaktion von Weltrevolution:

Wir bedanken uns ganz herzlich bei der Gruppe Internationalistische Kommunisten aus Österreich, welche den nachstehenden – wie wir finden hochinteressanten – Artikel verfasst und uns zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

 

Wie eng die heutigen Gewerkschaften mit dem Kapitalismus verbandelt sind, nicht nur durch ihre staatstragende Haltung, durch ihr stetes Eintreten für die Stabilität des nationalen Kapitalismus und für sozialen Frieden, sondern auch finanziell, hat die jüngste Entwicklung in Österreich offenbart – die desaströse Entwicklung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und der in seinem Eigentum befindlichen Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG) (der „Gewerkschaftsbank“). Erst 2006 kam nämlich ans Tageslicht, dass der Gewerkschaftspräsident und der ÖGB-Finanzchef, beide SPÖ-Mitglieder, einige Jahre zuvor das gesamte Vermögen des ÖGB, darunter auch den sogenannten Streikfonds, verpfändet hatten, um die BAWAG zu retten, die in hochriskanten Spekulationsgeschäften in den USA – den „Karibik-Geschäften“ - große Verluste eingefahren hatte. Es war eine einsame Entscheidung der beiden Gewerkschaftsbosse gewesen. Sie hatten niemanden sonst im ÖGB, nicht einmal ihre KollegInnen aus den höchsten Gewerkschaftsgremien, geschweige denn die 1,3 Millionen Mitglieder in die Sache eingeweiht bzw. ihre Zustimmung zu einer solchen Verwendung der angesammelten Mitgliederbeiträge eingeholt. Sowohl die verlustreichen Spekulationsgeschäfte des BAWAG-Vorstands als auch die Entscheidung der beiden Spitzengewerkschafter waren jahrelang geheim gehalten worden. Erst 2006 erfuhr die Öffentlichkeit über den fließenden Zusammenhang von internationalen Finanzmärkten und dem Firmenimperium des ÖGB inklusive Streikfonds.

Dazu ist anzumerken, dass der ÖGB in dem ganzen halben Jahrhundert nach 1945 die Sozialpartnerschaft und den absoluten sozialen Friedens als Credo gepredigt hatte und sich in vielen Situationen erfolgreich als Streikvermeider hervortat, gewerkschaftsintern auch mit dem Argument, ein Streik koste die Mitglieder mehr (Zahlung von Streikgeldern) als er an Erfolgen bringen würde. Der ÖGB rühmte sich stets, wesentlich daran mitzuwirken, dass in Österreich die Streikzeit pro Beschäftigtem und Jahr nur in Streiksekunden zu messen sei. (Die einzigen größeren Streiks waren der eintägige branchenübergreifende Streik gegen die Pensionsreform und ein 3-tägiger Eisenbahnerstreik 2003 gewesen.) Als es um die Abdeckung von Finanzverlusten der ÖGB-eigenen Bank ging, gingen die zwei Gewerkschaftsbosse plötzlich sehr großzügig mit dem sagenumwitterten „Streikfonds“ um, dessen Ausmaß stets als Betriebsgeheimnis, von dem kein Mitglied erfahren durfte, gehandhabt wurde („der Gegner darf nicht über unsere Reserven im Streikfall Bescheid wissen, das würde ihm Vorteile verschaffen“).

 

Die verlustreichen Geschäfte der BAWAG und die Krise des ÖGB

Im März 2006 kam also zutage, dass sich bei der im Eigentum des ÖGB befindlichen Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG), der viertgrößten Bank Österreichs, nach riskanten Finanzspekulationen in den USA während der 90er-Jahre (sogenannte „Karibik-Geschäfte“) Verluste von 1,9 Milliarden Euro angesammelt hatten, die die Bank anschließend, seit 2000, durch ein Geflecht von Stiftungen, Tochtergesellschaften und Scheinfirmen zu verstecken und abzubauen versucht hatte. Nach einem neuerlichen Großverlust im Oktober 2005 war das Debakel aber nicht mehr zu verbergen. Für die Verluste musste nun der Gewerkschaftsbund als Eigentümer der Bank gerade stehen. Zuerst operierte die BAWAG am Rande des Konkurses - tausende Kunden hoben nach dem Publikwerden des Finanzdesasters 2006 ihre Sparguthaben ab und die Regierung musste eine Rettungsaktion unternehmen, „damit der Finanzplatz Österreich keinen größeren Schaden nehme“ -, dann, nach der Übertragung der Verluste auf den Gewerkschaftsbund, befand sich die Gewerkschaft in dieser misslichen Situation. Die Schulden betrugen fast das Zwanzigfache der jährlichen Einnahmen aus Mitgliederbeiträgen (über 2 Milliarden Euro). Für längere Zeit war ein Konkurs des ÖGB im Bereich des Möglichen, ganz abgesehen vom moralischen Imageschaden bei den Gewerkschaftsmitgliedern und den nicht im ÖGB organisierten Teilen der Arbeiterklasse bzw. der Öffentlichkeit.

Dieses Desaster von ÖGB und BAWAG, die in Österreich beide der „sozialdemokratischen Reichshälfte“ zugeordnet werden, wirbelte in Österreich viel Staub auf und dominierte die österreichische Innenpolitik im Jahr vor den Nationalratswahlen (= Pendant zu den deutschen Bundestagswahlen) im Oktober 2006, fand aber im Ausland, etwa in Deutschland, in den Medien kaum Beachtung. Das Debakel kratzte stark am Image der SPÖ und lieferte der regierenden ÖVP (Schwesterpartei der CDU) willkommene Munition im Wahlkampf („Die Roten können nicht wirtschaften“). Eine nach den Jahren der Rechtskoalition schon als sicher geltende „rot“-grüne Mehrheit kam bei den Wahlen nicht mehr zustande, wenngleich es auch der SPÖ gelang, kurz vor den Wahlen aus dem Tief wieder herauszukommen und die ÖVP doch noch knapp zu überrunden.

 

Die Verluste sind nicht mehr zu verheimlichen – der BAWAG-ÖGB-Skandal 2005/06

Die Verluste der BAWAG kamen an die Öffentlichkeit, nachdem der BAWAG-Vorstand, Jahre nach den eigentlichen „Karibik-Geschäften“, im Oktober 2005 einen Blitzkredit von 350 Millionen Euro an einen amerikanischen Geschäftspartner, das Wertpapierhaus Refco, schon am Tag nach der Kreditvergabe als verloren vermelden musste. Denn der BAWAG-Vorstand in Wien war nicht darüber informiert gewesen, dass Refco zur Zeit der Kreditvergabe schon auf dem Weg in den Konkurs war.

Ein paar Monate später, im März 2006, nach einer weiteren Kalamität, musste auf einer öffentlich zugänglichen Vorstandssitzung des neuen BAWAG-Vorstandes (der alte Vorstand war in der Zwischenzeit abgelöst worden) der Finanzchef des ÖGB und gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzende der BAWAG, Günter Weninger, zugeben, dass er fast als Einziger im ÖGB von den Spekulationsgeschäften und Verlusten der BAWAG gewusst und im Jahr 2000 eine unbegrenzte Haftung des ÖGB für die Verluste der Bank abgegeben hatte. Es war dies „der offizielle Beginn vom Ende der alten Gewerkschaftsbank, die völlige Entzauberung des ÖGB als Bankeigentümer – und die an Harakiri grenzende Selbst-Demontage von Bawag-Kontrollor Weninger. Er sollte in den folgenden Minuten aufhören, die viel zitierte „graue Eminenz des ÖGB“, der „mächtige ÖGB-Finanzchef“ zu sein; er stülpte sich stattdessen coram publico in die Rolle eines der Hauptdarsteller der Causae BAWAG und ÖGB.“ (1)

Außer Weninger war nur der ÖGB-Präsidenten Verzetnitsch informiert, die beiden bewahrten all die Jahre absolutes Stillschweigen gegenüber dem „Rest“ des ÖGB und auch gegenüber den Finanzbehörden. Sie hielten sich an das Schweigegebot, das der Chef der BAWAG, Helmut Elsner, der die „Karibik-Geschäfte“ betrieben hatte, nach einem Totalverlust im Jahr 1998 dem restlichen Bankvorstand auferlegt hatte. Seine Lösung nach den Verlusten damals: „Stillschweigen nach allen Seiten“ - gegenüber der behördlichen Finanzmarktaufsicht, den Eigentümern (ÖGB und Bayerische Landesbank) und selbstverständlich den Medien bewahren, um die Bank nicht ins Gerede zu bringen und dadurch am Ende erst recht einen Run der Kunden auf die Bank und damit den Konkurs der Bank auszulösen. Als einzige Eigentümervertreter waren – mit Verzögerung – die zwei obersten Gewerkschafter, Verzetnitsch und Weninger, in die Sache eingeweiht, weil man sie für die Haftung, ohne die man im Jahr 2000 keine Bilanz mehr hätte erstellen können, brauchte.

 

Diese Vorgänge warfen ein grelles Licht auf die hierarchische Entscheidungsstruktur des ÖGB, die offenbar so weit getrieben wurde, dass zwei Spitzenfunktionäre über das gesamte Gewerkschaftsvermögen entscheiden konnten. (Tatsächlich ist vereinsintern der ÖGB-Finanzchef allein für die Finanzen der ÖGB-Stiftung, wo sich ein großer Teil des Vermögens befindet, zeichnungsberechtigt, die Mitglieder haben absolut keine Verfügungsgewalt über die Verwendung ihrer Beiträge bzw. des sogenannten Streikfonds). Es stellte sich nun außerdem heraus, dass der Streikfonds in einer Stiftung angelegt war und diese nichts anderes war als das Aktienkapital des ÖGB an der BAWAG (Aussage von Weninger in einer Pressekonferenz am 24. März 2006 in Wien), also im Streikfall gar nicht so schnell flüssig zu machen gewesen wäre.

Den zwei ÖGB-Obersten wurde gewerkschaftsintern und auch sonst vor allem auch vorgeworfen, sie hätten als Eigentümervertreter den Generaldirektor der Bank, Helmut Elsner, vorbehaltlos schalten und walten lassen. Auch daran, dass der Generaldirektor vor drei Jahren trotz der angerichteten Megaverluste, die der ÖGB nun zu tragen hatte, mit ungeschmälerten Abfindungs- und Pensionsansprüchen in Pension gehen konnte, hatten die beiden obersten Gewerkschafter, die über den BAWAG-Aufsichtsrat in solche Entscheidungen involviert waren, nichts auszusetzen gehabt. Sie hinterließen einen finanziellen wie moralischen Scherbenhaufen und mussten im April 2006 zurücktreten. Außerdem wurde der Gewerkschaftspräsident, Verzetnitsch, vom seinem Nachfolger als Angestellter des ÖGB fristlos entlassen.

Ein in den bürgerlichen Medien breit getretener Stein des Anstoßes war es auch, dass Elsner (Direktor der BAWAG) und ÖGB-Präsident Verzetnitsch in luxuriösen Penthäusern auf dem Dach des BAWAG-Gebäudes residierten, die ihnen von der BAWAG zu Spottpreisen, einem Bruchteil ihres eigentlichen Werts, verkauft worden waren bzw. vermietet wurden.

Wie bereits eingangs festgestellt, wäre es verfehlt, die ganze Entwicklung als bloßen Betriebsunfall anzusehen. Nein, wenn ein Gewerkschaftsbund die viertgrößte Bank eines Landes besitzt, die sich obendrein in einem großen Umfang auf höchst riskante Finanzgeschäfte einlässt, und die so genannten Streikgelder nichts anderes als das Aktienpaket an eben dieser Bank sind, so zeigt dies die tiefgreifende institutionelle und finanzielle Verquickung eines nationalen Gewerkschaftsbundes mit dem Finanzkapitalismus, welche die das kapitalistische System stützende Praxis der Gewerkschaften bei der Unterordnung der Arbeiter unter die Kapitalinteressen begleitet und zementiert.

 

Der ÖGB inszeniert einen Reformprozess

Der ÖGB befand sich also im Jahr 2006 in einer doppelten Krise - einer finanziellen wie moralischen. 40.000 Mitglieder traten aus dem ÖGB aus, dessen Mitgliederzahl bereits seit 1985 von 1,6 Millionen auf 1,3 Millionen abgenommen hatte (ein Rückgang des „gewerkschaftlichen Organisationsgrades“ der Beschäftigten von 55 auf 40 %). Ein bürgerlicher Kommentator meinte (vermutlich etwas voreilig): „Der Österreichische Gewerkschaftsbund in seiner bisherigen Form ist tot. Hingerichtet durch die Spekulationsgeschäfte der BAWAG und die Übernahme ihrer Schulden.“ (2) Der ÖGB stand unter Druck. Neben der Bereinigung der finanziellen Situation musste die moralische Glaubwürdigkeit der Gewerkschaft wiederhergestellt werden. Die Zauberworte des ÖGB-Vorstands: „Reform“ und „Totalerneuerung“.

Man beschloss, sich von der Bank zu trennen – der Verkaufserlös sollte es dem ÖGB ermöglichen, sich von den Schulden zu befreien. Außerdem fährt der Vorstand nun unter dem Motto „Schlank und effizient“ einen rigoroser Sparkurs, muss man doch in Zukunft auf die Einnahmen aus den Dividenden der BAWAG (rund ein Drittel der Einnahmen) verzichten und noch verbliebene Schulden abdecken: Das Gebäude der Gewerkschaftszentrale und sonstige Gebäude und Liegenschaften werden verkauft, Personal abgebaut, die Betriebspensionen der Gewerkschaftsangestellten gegen eine einmalige Abfindung gestrichen.

Ansonsten wird ein Reformprozess inszeniert. Der neue ÖGB-Präsident klapperte das ganze Jahr 2006 hindurch einen Betrieb nach dem anderen ab und verkündete den „Reformwillen“, auf Regionalkonferenzen wurden Reformvorschläge ausgearbeitet, im Jänner 2007 fand ein „Reformkongress“ statt. Doch dazu weiter unten.

 

 

2) Die Geschichte des BAWAG-ÖGB-Desasters

 

Die Karibikgeschäfte der BAWAG 1998-2000 – die Verluste des Herrn Flöttl …

Die Gewerkschaftsproblematik ist die eine Seite der Angelegenheit. Die andere sind die spekulativen „Karibikgeschäfte“ und die Krise der Bank selbst, welche am Schluss auf die Gewerkschaft durchschlugen. Die gewerkschaftseigene BAWAG war 1922 als „Arbeiterbank“ gegründet worden, ihr Geschäftsfeld waren Konten, Sparbücher und Kredite (häufig sogenannte „Betriebsratskredite“) für kleine Kunden und Sparer – Gewerkschaftsmitglieder, Arbeiter, Angestellte. Sie agierte lange Zeit sehr konventionell.

Anfang der 90er-Jahre, im Sog der rapiden Ausdehnung der globalen Finanzmärkte und Kapitalspekulation, begann sich auch der BAWAG-Vorstand spekulativen Finanzgeschäften in den USA zuzuwenden, die höhere Gewinne versprachen. Der Vorstandsvorsitzende Walter Flöttl beauftragte seinen Sohn damit - Wolfgang Flöttl, der nach Wirtschaftsstudien in Wien und Harvard als Investmentbanker in New York tätig war und mehrere Investmentgesellschaften (mit Sitz in verschiedenen Steueroasen der Karibik) gegründet hatte. Er war in kurzer Zeit mit Wertpapierspekulationen zu großem Vermögen gekommen. Der Vater und Bankdirektor in Wien beauftragte ihn bald mit der spekulativen Veranlagung von BAWAG-Geldern. „In Wien war man vom blühenden Handel mit Derivaten und anderen komplexen Finanzprodukten noch weit entfernt. Erst recht in der Gewerkschaftsbank…. Doch unbemerkt von der Öffentlichkeit begannen sich alte Gewerkschaftswelt und neue Finanzwelt miteinander zu verbinden. Die Verknüpfer hießen Flöttl – Walter und Wolfgang.“ (3)

Wolfgang Flöttl legte das von der BAWAG in Form von Krediten erhaltene Geld riskant in Währungs- und Zinsswaps (Termingeschäften mit Dollar-Yen-Kursen und japanischen Zinsentwicklungen) sowie Bonds an, außerdem in PIPE-Geschäften an. Gemanagt wurden diese Geschäfte von seinen eigenen Investmentgesellschaften – er agierte wie ein ausgelagerter Portfolio-Manager der BAWAG. Für die Veranlagung gründete Flöttl im Einverständnis mit dem BAWAG-Vorstand eine Vielzahl von Stiftungen bzw. Briefkastenfirmen, die er selbst kontrollierte, stets mit Sitz in der Karibik – Anguilla, Cayman Islands – oder in Liechtenstein. So kam ein Firmengeflecht zustande mit Namen wie Global Arbitrage, Stretegic Arbitrage, Financial Arbitrage, Narrow Investment, Felixton Ltd., Ophelia Ltd., Glen Star, Hapenney Ltd, Benson Stiftung, Treval Stiftung, Biamo Foundation, Huntington Investment Ltd., Madison Capital Holdings Ltd. Columbia Investment Ltd., West End International Investments Ltd. usw.

Anfangs waren die Geschäfte gewinnbringend, doch in den Jahren 1998, 1999 und 2000 machte Flöttl dreimal hintereinander Totalverlust, d.h. das gesamte Geld war verloren, jeweils zwischen 500 und 700 Millionen Dollar. Flöttl setzte innerhalb kurzer Zeit 1,9 Milliarden Dollar in den karibischen Sand. Einmal (1998) war ein Bankencrash an der Wall Street dazwischen gekommen (einer der größten Hedgefonds, „Long Term Capital“, mit 4 Milliarden Dollar Eigenkapital (!), machte bankrott), wodurch der Dollar gegenüber dem Yen plötzlich fiel statt weiter zu steigen, worauf Flöttl spekuliert hatte. Ein andermal (2000) hatte Flöttl das gesamte Geld in japanischen Zinsswaps angelegt und spekulierte auf eine bestimmte Zinsentwicklung des Yen. Die unerwartete Änderung der japanischen Geldmengenpolitik und damit der Zinsentwicklung im Zuge der Asienkrise führte abermals zum Totalverlust.

Nach dem ersten Verlust hatte der BAWAG-Vorstand (unter dem neuen Chef Helmut Elsner) Flöttl erneut Geld gegeben, damit er die Verluste wieder wettmache. Nach dem nächsten Verlust nochmals dasselbe. Flöttl spekulierte jedes Mal noch riskanter, setzte den Hebel bzw. Leverage-Effekt der Derivate (Verhältnis von Einsatz und möglichem Gewinn oder Verlust ausgehend vom Basiswert des Produkts, auf dessen Wertentwicklung spekuliert wird) jedes Mal höher an, um die vergangenen Verluste wieder auszugleichen.

Ein weiterer Verlust ergab sich durch die Schließung eines Großcasinos in Jericho, an der die BAWAG maßgeblich beteiligt war, aufgrund der Ereignisse der zweiten Intifada.

 

… und ihre Vertuschung

Aufgrund der angehäuften Verluste (netto circa 1,6, Milliarden Dollar oder 1,3 Milliarden Euro) konnte die BAWAG (Eigenkapital: 3,3 Milliarden Euro) 2000 keine Bilanz mehr erstellen. Der Vorstand unter Generaldirektor Helmut Elsner fürchtete, ein Öffentlichwerden der Verluste und der bisher geheim betriebenen Karibik-Geschäfte würde einen Run der Kunden auf die Bank auslösen und die Bank womöglich in den Konkurs treiben. Also beschloss man, die Verluste nicht in der Bilanz auszuweisen, sondern durch Scheingeschäfte mit extra für diesen Zweck gegründeten Stiftungen und Briefkastenfirmen zu verstecken und in den folgenden Jahren durch Gegenrechnung gegen laufende Gewinne und Aufwertungen von Beteiligungen sukzessive abzubauen. Statt die ursprünglichen Kredite der BAWAG an die Flöttl-Firmen als verloren auszuweisen, wurden sie als rückgeführt verzeichnet, die BAWAG verkaufte diesen Firmen die Verluste (als Schuldverschreibungen) und stattete sie mit neuen Krediten aus, mit denen sie eben diese zurückzahlen sollten. Die Verluste konnten somit in der Bilanz als werthaltige Forderungen ausgewiesen werden.

Manchmal waren die Konstruktionen komplizierter, um die Sache besser zu tarnen. Es wurden z.B. BAWAG-eigene Stiftungen zwischen den Flöttl-Firmen und der BAWAG zwischengeschaltet, und zwischen ihnen, den Flöttl-Firmen und der BAWAG konstruierte man Finanztransaktionen der verschiedensten Art. Die BAWAG verkaufte etwa in einem Fall uneinbringliche Flöttl-Bonds (in der Höhe von 550 Millionen Dollar) an eine neu gegründete Stiftung (Liquid Opportunity Plus Fund) und kaufte im Gegenzug in mehreren Tranchen Anteile dieses Fonds zum selben Wert. Natürlich wurde dabei auch nicht auf Aktennotizen vergessen, die für spätere Bankprüfungen gedacht waren und die diese Scheinwelt glaubhaft machen sollten- samt Erfindung von Zahlungsterminen, Namen von Managern usw.

Die interne wie die behördliche Kontrolle wurden damit hinters Licht geführt, der Komplex Karibik-Geschäfte war sozusagen eine Bank in der Bank. Später wurde aber auch kritisiert, die dem Finanzministerium unterstehende Finanzmarktaufsicht hätte versagt. Teils hatte sie sich austricksen lassen, teils wurden warnende Berichte vom Finanzministerium ignoriert.

Den restlichen Vorstand verpflichtete Generaldirektor Elsner, wie schon oben dargestellt, nach allen Seiten Stillschweigen zu bewahren“ – gegenüber den Eigentümern (ÖGB und damals auch noch Bayerische Landesbank), bankintern, gegenüber dem Aufsichtsrat sowie gegenüber der Öffentlichkeit. Nur der Aufsichtsratsvorsitzende, der ÖGB-Finanzchef Weninger, wurde – stark verspätet – dann doch noch informiert. Dieser gab die bekannte unlimitierte Garantie des ÖGB für die BAWAG-Verluste ab. In der Haftung war der Streikfonds enthalten. Informiert wurde außer dem inzwischen zurückgetretenen ÖGB-Präsidenten Verzetnitsch, der an der Haftung nichts auszusetzen hatte, niemand. Die entsprechenden ÖGB-Gremien wurden umgangen. Die beiden ÖGB-Bosse rechtfertigten sich später, nach dem Auffliegen der Sache, damit, dass ohne diese Haftung die Bank und damit tausende Arbeitsplätze und die Bankeinlagen von über 1 Million Kunden gefährdet gewesen wären.

Unter dem Dach der ÖGB-Garantien konnte die Bank tatsächlich die Schulden in den folgenden Jahren stark verringern.

 

Der ÖGB bekommt die BAWAG-Schulden umgehängt

Später fusionierte die BAWAG mit der Postsparkasse (P.S.K.). Dabei wurden die Schulden aufgrund einer speziellen Konstruktion auf den ÖGB übertragen. D.h., die Schulden wurden in der „alten BAWAG“ zurückgelassen, die nicht mehr als Bank operierte, sondern als bloße Hülle bzw. Finanzholding zurückblieb, während die Eigenmittel in die neue Bank BAWAG P.S.K. wanderten. Diese rechtliche Umgründung wurde in einer Aufsichtsratssitzung von einem ÖGB-Funktionär mit unterschrieben, der die Bedeutung dieser Transaktion für den ÖGB (Schuldenübernahme in Milliardenhöhe) nicht erkennen konnte, da er vom damaligen allein informierten ÖGB-Präsidenten Verzetnitsch nicht über die BAWAG-Schulden in Kenntnis gesetzt worden war – ein gewerkschaftsinterner Skandal für sich!

 

Weitere Summen in den Sand gesetzt – das Refco-Debakel

Das Pech war, dass die BAWAG im gleichen Jahr einen neuen Riesenverlust baute, der dann das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Wie oben dargestellt, überwies der BAWAG-Vorstand im Oktober 2005 einen Blitzkredit von 430 Millionen Dollar (oder 350 Milliarden Euro) (!) an den britisch-amerikanischen Investmentbanker Philipp Bennett bzw. dessen Refco Group Holding, ohne zu wissen, dass dieser Philipp Bennett bereits insolvent war. Tags zuvor war Bennett der Zutritt zur Firmenzentrale des US-Wertpapierhauses Refco, deren Chef er war, verweigert worden, nachdem bekannt geworden war, dass er durch Jahre hindurch Verluste aus anderweitigen Spekulationsgeschäften, die er in der Russland- und Asienkrise erlebt hatte, in seiner Firma Refco Group Holding, einer Tochter von Refco, versteckt hatte. Drei Tage später wurde der Handel mit Refco-Aktien an der Wall Street ausgesetzt, die Firma ging in Konkurs – mit 48 Milliarden Dollar (!) die viertgrößte Pleite in der US-Geschichte. Bennett wurde festgenommen, ihm wird Bilanzfälschung, Betrug, illegale Bereicherung vorgeworfen. Der BAWAG-Kredit war aber verloren.

Die BAWAG ihrerseits hatte schon längere Zeit mit Refco zu tun, sie hatten sich aus den Flöttl-Geschäften ergeben. Vorübergehend hatte sie über eine ÖGB-Stiftung in Liechtenstein 10 % der Aktien von Refco gehalten.

Nun begann der bürgerliche Staat - die Aufsichtsbehörden und die Justiz - die internationalen Geschäfte der BAWAG zu durchforsten. Dabei flogen die geheim gehaltenen Verluste aus den Karibik-Geschäften auf, es wurde klar, dass alle internen Kontrollen und die Bankenaufsicht versagt hatten. Der BAWAG-ÖGB-Skandal war perfekt. (Wenn Spekulationsgeschäfte die Gewinne steigern, werden sie allerseits gut geheißen, sobald sie aber schief gehen, sind die Akteure Verbrecher und ist das Ganze ein Skandal.)

Die finanziellen Transaktionen sind ein so undurchschaubares Gewirr, dass natürlich leicht Geld abgezweigt werden hätte können. Auch dahin gehend wird ermittelt. „Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass ein erfahrener Portfoliomanager wie Wolfgang Flöttl über Jahre hindurch jedes ihm anvertraute Geld in einen Totalverlust führt.“ (4)

Der BAWAG-Vorstand trat zurück, Strafverfahren wegen Bilanzfälschung, Betrug, Untreue laufen. Und das ÖGB-Führungsduo Verzetnitsch-Weninger musste die Erteilung der unbeschränkten Haftung des ÖGB für die BAWAG zugeben und trat ebenfalls zurück, Verzetnitsch wurde von seinem Nachfolger zusätzlich aus dem ÖGB geschmissen.

 

Sammelklage aus den USA, die Bank gerät ins Strudeln

Im Frühjahr 2006 drohte der BAWAG neues Ungemach aus den USA in der Refco-Affäre – zusätzlich zum Kreditschaden. Vom Refco-Konkurs betroffene Refco-Wertpapierbesitzer und -Gläubiger drohten mit einer Sammelklage, sie warfen der BAWAG Beihilfe zum Bilanzbetrug bei Refco vor. Der neue BAWAG-Vorstand wies das zurück und erreichte einen Vergleich, um einen jahrelangen Rechtsstreit vor amerikanischen Gerichten zu vermeiden: Die BAWAG erklärte sich bereit, 700 Mio. Dollar zu zahlen. Das Refco-Debakel (Kreditverlust, Sammelklage usw.) kostete die BAWAG 1,3 Milliarden Dollar (ca. 1 Milliarde Euro). Auch diesen Verlust sollte später die Gewerkschaft übernehmen.

Inzwischen setzte ein Run auf die BAWAG ein, täglich hoben Kunden hoben ihre Ersparnisse ab, die Bank kam ins Trudeln.

 

Rettungsaktion der Regierung

Die rechte Bundesregierung Schüssel schnürte ein Rettungspaket für die „rote“ Bank, um „den Finanzplatz Österreich nicht zu gefährden.“. Sie gab eine limitierte Staatshaftung für die Bank und veranlasste die anderen österreichischen Großbanken, der BAWAG Geld zur Verfügung zu stellen.

Das Rettungspaket verpflichtete gleichzeitig den Eigentümer ÖGB, für die gesamten Verluste der BAWAG aufzukommen und zu diesem Zweck Liegenschaften, Firmen, Beteiligungen zu verkaufen. Erst wenn all das nicht ausreichen sollte, sollte die Staatshaftung schlagend werden. Der ÖGB stand geschwächt da und musste gegenüber dem Staat bzw. der Nationalbank seine Vermögensverhältnisse offen legen, auch den Streikfond, aus dem in der Vergangenheit immer so ein Geheimnis gemacht worden war, auch gegenüber den Mitgliedern.

Der ÖGB ist über die BAWAG und direkt tatsächlich an einer Reihe von Unternehmen beteiligt, z.B. an der Nationalbank (20 %), an der Bausparkasse (7 %), an den Österreichischen Lotterien (34 %) und am privaten TV-Kanal ATV, der vorwiegend Müll sendet (42 %), er ist Alleinaktionär (via BAWAG) an der easy bank, der Österreichischen Verkehrskreditbank, der Sparda Bank und der slowenischen Istrobanka und besitzt Immobiliengesellschaften.

Nachdem der ÖGB die Schulden der BAWAG übernommen hatten, stand ihrem Verkauf nichts mehr im Wege. Den Zuschlag bekam just ein amerikanischer Hedgefonds (Cerberus), er zahlte über 2 Milliarden. Der Erlös machte den ÖGB schuldenfrei. Aber er war um eine Bank ärmer, und es war das Ende der BAWAG als Gewerkschaftsbank – sehr zum Missfallen des sozialdemokratischen Bankklientels und mancher Gewerkschafter.

 

3) Der ÖGB versucht die Krise zu bewältigen – der

„Reformprozess“

Das BAWAG-Debakel ließ, wie oben angedeutet, in den Gewerkschaften den Ruf nach Reform des ÖGB aufkommen. Viele GewerkschafterInnen sahen in der fundamentalen aktuellen Krise die historische Chance gekommen, den ÖGB, der sich durch wenig Mitbestimmung der Mitglieder auszeichnete, zu reformieren und „demokratisieren“. Es bildete sich eine innergewerkschaftliche Plattform für Gewerkschaftsreform - „Zeichen setzen“. Der Ruf nach Reform kam von Vertrauensleuten in den Betrieben, verstärkt von bestimmten Fraktionen (linken „Unabhängige Gewerkschafter“, teilweise sozialdemokratische Gewerkschafter), aber auch aus dem Apparat selbst, der im Zusammenhang mit dem BAWAG-Desaster aufgescheucht war. Es sollte unter anderem die enge Verbindung von Gewerkschaft und Parteien gelöst werden, die in der Vergangenheit zu Mehrfachfunktionen (Gewerkschaftsfunktion, Parteifunktion, Abgeordneter in Parlament, Landtag oder Gemeinderat) und dadurch zu „Interessenskollisionen“ und häufig zur bloßen Nachvollziehung von Parteibeschlüssen in Gewerkschaftsgremien statt einer „ehrlichen Interessensvertretung“ geführt hätten. Unter der Devise „Für einen starken und demokratischen ÖGB“ bildeten sich die folgenden Forderungen heraus:

 

  • Trennung von Parteipolitik und Gewerkschaft, stärkere „Unabhängigkeit“ der Gewerkschaft von den Parteien - die Spitzengewerkschafter sollen in Hinkunft kein Mandat mehr in gesetzgebenden Körperschaften ausüben dürfen

  • Demokratisierung – direkte Wahl aller Leitungsgremien der Teilgewerkschaften durch die Mitglieder, Urabstimmungen in wichtigen Angelegenheiten (z.B. Gehaltsabschlüssen), mehr Mitgliederbefragungen, Einführung von regelmäßigen regionalen Versammlungen der gewählten GewerkschaftsvertreterInnen, deren Rolle gegenüber den Leitungsgremien und dem Apparat verstärkt werden soll, Recht von Betriebsräten, die Bearbeitung von Themen zu initiieren, regionale Gewerkschaftshearings, verbesserte Kommunikation zwischen Führung und Basis usw.

  • stärkeres Bemühen des ÖGB um die Bedürfnisse bisher vernachlässigter „Zielgruppen“ (prekär bzw. atypisch Beschäftigte, Scheinselbstständige, Arbeitslose, Frauen in schlecht bezahlten Teilzeitjobs, Angehörige von Sozialberufen, MigrantInnen), um neue Mitglieder zu gewinnen

  • mehr Frauen in den Leitungsgremien (Frauenquoten)

  • Einkommensobergrenzen für Spitzenfunktionäre, da die bisherigen Spitzengagen samt üppigen Pensionsregelegungen und Doppelbezügen aufgrund Mehrfachfunktionen die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaft bei den ArbeiterInnen beeinträchtigt und zu einer „Entfremdung von der Basis“ geführt hätte. (Es wurde als Obergrenze 4500,- Euro netto gefordert, beschlossen wurden schließlich 5800,- netto)

 

Projektgruppen zu einzelnen Themenbereichen arbeiteten Reformvorschläge aus. In ein paar Dutzend Regionalkonferenzen ließ man die daran teilnehmenden Betriebsräte und einfachen Mitglieder Reformvorschläge ausarbeiten. Allerdings waren diese Regionalkonferenzen vom Gewerkschaftsapparat gelenkt, auch wenn Kritik aufkam. So wurden gewisse Fragestellungen und Forderungen von den Konferenzleitern von vornherein ausgesiebt, und die ausgearbeiteten Vorschläge wurden nicht abgestimmt und standen am Schluss der Konferenzen als unverbindliche Appelle im Raum. Es stand in den Sternen, was der die Fäden ziehende Apparat damit dann anfing.

Die Vorschläge der Projektgruppen wurden anschließend in einen langwierigen organisatorischen Prozess geschickt, sie wurden in einer Klausur der leitenden Gremien modifiziert und dann in einem „Reformkongress“ beschlossen. Nun arbeiten Umsetzungsgruppen an der Implementierung der beschlossenen Veränderungen in den gewerkschaftlichen Alltag. Wie zu erwarten, hat der Apparat die Kontrolle behalten. Die Maßnahme, die am ehesten den Willen der Gewerkschaftsführung durchkreuzen könnte – die Einführung von Urabstimmungen -, wird nun nochmals 2 Jahre lang von einer Umsetzungsgruppe diskutiert und zunächst einem Testlauf unterworfen. Erst danach wird sie eventuell (!) verbindlich beschlossen – vermutlich aber nicht, da sich bis dahin der Reformzwang wieder verlaufen haben wird.

 

Desinteresse der Mitglieder

Auffallend war das Desinteresse der Mitglieder des ÖGB, der Arbeiter und Angestellten, am Reformprozess. Nur relativ wenige Mitglieder beteiligten sich. Den Leuten ist es entweder egal oder sie sehen keine große Möglichkeit der Änderung. Den Reformkatalog der Plattform „Zeichen setzen“ unterzeichneten gerade einmal 6200 Mitglieder (0,5 % aller Mitglieder). Den von der ÖGB-Spitze an die Mitglieder versandten Fragebogen, in dem diese ihre Präferenzen für verschiedene vorgefertigte Reformvorschläge ankreuzen konnten, sandten nur 58.000 Mitglieder (4 % aller Mitglieder) zurück. (Die Auswertung der Ergebnisse des Fragebogens war übrigens erst nach dem Vorliegen der Ergebnisse der Projektgruppen fertig und fand gar keine Berücksichtigung mehr, das zeigt den Alibicharakter!) An den Regionalkonferenzen nahmen österreichweit vielleicht 3000 Personen teil (ebenfalls im Promillebereich der Mitglieder).

Vor ein paar Jahren hatten sich noch weit mehr Mitglieder an einer Mitgliederbefragung beteiligt, in der die ÖGB-Führung die Mitglieder befragte, ob sie sich grundsätzlich im Falle von Konflikten mit Arbeitgebern oder Regierung an Kampfaktionen inklusive Streiks beteiligen würden. (Damals waren die Erwartungen der ÖGB-Führung übertroffen worden, und die Umsetzung von manchen Ergebnissen wurde fallengelassen.)

Alle diese Versuche, die Gewerkschaft zu reformieren, ändern nichts an der grundsätzlichen Rolle des ÖGB und der Gewerkschaften überhaupt, die bestehende kapitalistische Ordnung zu verteidigen, die Anliegen der Lohnabhängigen nur innerhalb des Rahmens der kapitalistischen gelten zu lassen und die ArbeiterInnen vom direkten Kampf für ihre Interessen abzuhalten. Die Reform zielt darauf ab, den ÖGB durch symbolische Akte (Reforminszenierung) und die Beseitigung der gröbsten „Missstände“ (Beseitigung von Mehrfachfunktionen bei den hohen Funktionären, Herstellung eines Minimums von Mitsprache der VertreterInnen an der Basis, Ansprache neuer „Zielgruppen“) aus seiner Glaubwürdigkeitskrise zu holen und in die Lage zu versetzen, seine oben beschriebenen Aufgaben weiterhin wahrzunehmen. Wie der Präsident des Wirtschaftsbundes, einer Interessensorganisation der Unternehmer, letztes Jahr sagte: „Wir brauchen eine starke Gewerkschaft.“

Es ist eine Illusion, wie etwa die trotzkistischen Gruppen (z.B. Arbeitsgruppe Marxismus AGM oder Antifaschistische Linke) zu glauben, man könne die Funktion der Gewerkschaft, die man für grundsätzlich verteidigenswert hält, ändern und einen „demokratischen und klassenkämpferischen ÖGB“ erreichen, der nicht von den sozialdemokratischen und christdemokratischen Funktionären bzw. dem Apparat, sondern von den KollegInnen in den Betrieben kontrolliert wird. Die Funktion der Gewerkschaften ist fest in die bürgerliche Gesellschaft eingeschrieben. Die ArbeiterInnen können sich nur durch einen unmittelbaren Kampf, der außerhalb der Kontrolle des ÖGB bzw. der Gewerkschaften ist, gegen kapitalistische Angriffe zur Wehr setzen und zusammenschließen. Die Gewerkschaft sabotiert und zersplittert diesen Kampf, egal, wie „demokratisch“ sie ist oder wie viel die obersten Funktionäre verdienen.

 

Gruppe Internationalistische Kommunisten (GIK), Österreich

Postfach 96, A-6845 Hohenems, Österreich

__________

 

1 Standard, 17.6. 2006, S.2

2 Herbert Langsner, in: FORMAT, Juni 2006

3 Richard Schneider: Das Syndikat der Totengräber. Eine Dokumentation über die

Hinrichtung des roten Bankenriesen BAWAG und seines Eigentümers ÖGB. Wien 2006.

S.26)

4 Prüfbericht der Nationalbank, zit. In NEWS, Juni 2006, zit. in: Richard Schneider, S.49

 

 

 

Geographisch: 

  • Österreich [3]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [4]

Flugblatt der IKS - AIRBUS: Wenn wir heute die Opfer hinnehmen, werden die Herrschenden morgen noch härter zuschlagen!

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Nach wochenlangen Verrenkungen seitens der Airbus-Spitze und nach einem Treffen zwischen Chirac-Merkel ist das Fallbeil niedergegangen : 10.000 Stellenstreichungen in Europa, Schließung oder Verkauf mehrerer Standorte.

Die Geschäftsleitung beteuert : «Es wird keine harten Entlassungen geben », « Alles wird über Frühpensionierungen und freiwillige Kündigungen geregelt ». 

Keine Entlassungen bei Airbus, aber hier handelt es sich nur um die Hälfte der Betroffenen. Die 5.000 Zeitarbeiter oder Beschäftigten der Zulieferer müssen woanders Arbeit suchen. Und die Airbus-Beschäftigten wissen selbst, was für sie « freiwilliges Ausscheiden » bedeutet: ständiges Mobbing durch die Vorgesetzen, um die Mitarbeiter heraus zu ekeln. Insgesamt wird es dabei noch mehr Arbeitslose vor allem unter den arbeitssuchenden Jugendlichen geben. Und für diejenigen, die ihren Job behalten, heißt dies – ein noch schlimmerer Arbeitsrhythmus, Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich und sogar noch weniger.

Nach wochenlangen Verrenkungen seitens der Airbus-Spitze und nach einem Treffen zwischen Chirac-Merkel ist das Fallbeil niedergegangen: 10.000 Stellenstreichungen in Europa, Schließung oder Verkauf mehrerer Standorte. Die Geschäftsleitung beteuert: «Es wird keine harten Entlassungen geben», «Alles wird über Frühpensionierungen und freiwillige Kündigungen geregelt». Keine Entlassungen bei Airbus, aber hier handelt es sich nur um die Hälfte der Betroffenen. Die 5.000 Zeitarbeiter oder Beschäftigten der Zulieferer müssen woanders Arbeit suchen. Und die Airbus-Beschäftigten wissen selbst, was für sie «freiwilliges Ausscheiden» bedeutet: ständiges Mobbing durch die Vorgesetzen, um die Mitarbeiter heraus zu ekeln. Insgesamt wird es dabei noch mehr Arbeitslose vor allem unter den arbeitssuchenden Jugendlichen geben. Und für diejenigen, die ihren Job behalten, heißt dies – ein noch schlimmerer Arbeitsrhythmus, Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich etc.  

Wie die Bourgeoisie und die Gewerkschaften die Krise bei Airbus erklären

 

Um die Krise bei Airbus und die damit verbundenen Maßnahmen zu erklären, lenkt jeder auf seine Art von den wahren Ursachen ab. Gallois, Vorstandsvorsitzender von Airbus, zufolge, ist hauptsächlich der starke Euro schuld. Die Airbus-Flugzeuge seien daher zu teuer im Vergleich zu den von Boeing produzierten. Die Gewerkschaften wiederum sehen die Ursache allen Übels im schlechten Management oder in der Raffgier der Aktionäre. Für die Arbeitgeber jedoch ist der Staat der Schuldige, der sich zu sehr in die Industriepolitik eingemischt habe, denn dies sei auch gar nicht seine Aufgabe. Man müsse die Privatinvestoren alleine zurecht kommen lassen. Aber die linken Parteien nun werfen dem Staat vehement vor, seine Rolle als Aktionär nicht wahrgenommen zu haben. Für die französische Presse ist ganz klar der deutsche Staat schuld, denn der habe sich die besten Brocken in diesem Deal erhascht. Für die deutsche Presse wiederum  – mit der herrschenden Klasse auf ihrer Seite – ist es schwierig, dieses Argument ebenso nun der französischen Regierung vorzuwerfen, schließlich sind bei Bayer-Schering 6.100 Stellenstreichungen vorgesehen und dafür kann man dann wohl doch kaum Frankreich den schwarzen Peter zuschieben. Und bei Deutsche Telekom ist die Auslagerung von 50.000 Stellen vorgesehen, was nur der Vorbereitung späterer Entlassungen dient, sobald die Beschäftigten auf eine Vielzahl kleinerer Betriebe verteilt sind. Diejenigen, die bei der Telekom ihren Arbeitsplatz behalten, müssen ohne Lohnausgleich länger arbeiten. Mit Hilfe der Medien versucht die deutsche Bourgeoisie daher eher, die Beschäftigten zu beschwichtigen und behauptet, es hätte noch viel schlimmer kommen können, zudem habe es die Franzosen am härtesten getroffen. Der gleiche Ton ist in der spanischen Presse zu vernehmen: Für uns ist es nicht so schlimm gekommen, weil wir wettbewerbsfähiger sind. Und als Beilage bei diesen nationalistischen Tönen werden die Deutschen und Franzosen beschuldigt, jeweils in ihrer Ecke ihr eigenes Süppchen zu kochen, ohne die Spanier zu konsultieren. Was die britische Presse betrifft, wird die ganze Sache eher diskret behandelt, denn just in diesem Moment sollen Hunderttausende Beschäftigte im Gesundheitswesen eine Einfrierung ihrer ohnehin schon niedrigen Löhne hinnehmen. Was schlagen uns diejenigen vor, die die Entscheidungen von Airbus verwerfen?  Für die deutschen Gewerkschaften sind die Schwierigkeiten von Airbus lediglich ein Beispiel unter vielen für das schlechte Management der Arbeitgeber (so auch bei Deutsche Telekom und Bayer-Schering). Daher fordern sie mehr Mitbestimmung bei den Entscheidungsprozessen, obwohl sie praktisch schon über die Hälfte der Stimmen in den Aufsichtsräten verfügen und bereits bei allen Entscheidungen bei Airbus oder in anderen Firmen beteiligt wurden. In diesem Zusammenhang schlagen sie vor, dass die zur „Aufrechterhaltung der Zukunft von Airbus“ erforderlichen Maßnahmen vor Ort, in den Betrieben, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern diskutiert werden. Die französischen Gewerkschaften wiederum prangern auch das schlechte Management der gegenwärtigen Geschäftsleitung an und schlagen vor, dass der Staat sich mehr an der Verwaltung von Airbus beteilige. Dieser Vorschlag wird ebenfalls vom gegenwärtigen Premierminister und den Kandidaten der Rechten und des Zentrums bei den nächsten Präsidentenwahlen, Sarkozy und Bayrou unterstützt.  Die sozialistische Präsidentschaftskandidatin, Ségolène Royal, befürwortet zudem, dass die französischen Regionen Kapitalanteile erwerben und beim Management von Airbus einsteigen. Dies wäre also die gleiche Praxis, wie sie bereits in den Bundesländern Deutschlands gehandhabt wird, die schon Anteile von Airbus erworben haben. Man kann sehen, wohin dies geführt hat!  

 

Wir dürfen uns durch die kapitalistische Konkurrenz nicht spalten lassen!

 

 

 

Bei einigen dieser Erklärungen mag ein Körnchen Wahrheit dran sein. Es stimmt, dass der starke Euro eine Hürde für den Verkauf von in Europa hergestellten Flugzeugen gegenüber der Konkurrenz von Boeing ist. Es stimmt, dass es Managementprobleme bei Airbus gibt. Es stimmt insbesondere, dass die Konkurrenz zwischen dem deutschen und französischen Staat die Sache nicht leichter macht. Jeder mag bis zu einem gewissen Maße recht haben, aber sie alle verbreiten die gleiche Lüge: Die Arbeiter, die heute für die Schwierigkeiten von Airbus aufkommen sollen, hätten die gleichen Interessen wie ihre Arbeitgeber. Kurzum – sie sollten sich alle dem Ziel unterwerfen, auf das alle Anstrengungen bei Airbus ausgerichtet sind – die Konkurrenzfähigkeit von Airbus gegenüber Boeing zu unterstützen. Genau dasselbe sagen die amerikanischen Unternehmer ihren Beschäftigten; und aus demselben Grunde mussten diese in den letzten Jahren Zehntausende von Stellenstreichungen hinnehmen. Letztendlich laufen alle Aussagen der «Verantwortlichen», ob Regierung, Arbeitgeber oder Gewerkschaften, darauf hinaus, dass die amerikanischen Arbeiter die Gegner der europäischen Arbeiter seien, genau so wie die französischen, deutschen, englischen und spanischen Arbeiter auch jeweils untereinander Gegner seien. Im gegenwärtigen Handelskrieg wollen alle Teile der Kapitalistenklasse die Arbeiter der verschiedenen Länder gegeneinander hetzen, genau so wie sie es in den militärischen Kriegen tun. Sie sagen uns immer wieder, dass die kapitalistischen Staaten in Konkurrenz zueinander stehen – und dies trifft natürlich zu. Die Kriege des 20. Jahrhunderts aber beweisen, dass die Arbeiter am meisten im Konkurrenzkampf der kapitalistischen Nationen untereinander zu verlieren haben, und dass sie kein Interesse daran haben, sich den Befehlen und den Interessen ihrer jeweiligen nationalen Bourgeoisie zu unterwerfen. Der Logik des Kapitalismus zufolge müssen die Arbeiter Europas und Amerikas immer mehr Opfer bringen. Wenn Airbus gegenüber Boeing wieder rentabel wird, werden die Beschäftigten bei Boeing neuen Angriffen ausgesetzt (jetzt schon sind 7000 Stellenstreichungen bei Boeing geplant), und dann werden im Gegenzug wieder die europäischen Beschäftigten erpresst. Jedes Zurückweichen der Arbeiter vor den Forderungen der Kapitalisten führt nur dazu, dass überall neue, noch heftigere Angriffe gegen die Arbeiter beschlossen werden. Daher bleibt dem Kapitalismus keine andere Wahl, denn das System steckt tief in einer unüberwindbaren Krise –und die einzige „Lösung“, die dem System übrig bleibt, sind immer mehr Stellenstreichungen und eine immer schrecklichere Ausbeutung der Arbeiter, die gegenwärtig noch das „Glück“ haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten.

 

Eine einzige Lösung : Einheit und Solidarität der ganzen Arbeiterklasse!

 

 

 

Den von den Sparmaßnahmen bei Airbus-Betroffenen bleibt heute nichts anderes übrig als zu kämpfen. In den Airbus-Werken haben sie dies sofort verstanden: Gleich nach der Verkündung der Firmenpläne haben mehr als 1000 Beschäftigte in Laupheim spontan die Arbeit niedergelegt, während gleichzeitig in Meault, in der Picardie, die Arbeit niedergelegt wurde. Erst nachdem die Gewerkschaften meldeten, dass das Werk nicht verkauft werden würde, haben die Arbeiter in Meault wieder die Arbeit aufgenommen. Aber die Zusage der Gewerkschaften war eine Lüge. Doch die Airbus-Beschäftigten sind nicht die einzig Betroffenen. Alle Ausgebeuteten müssen sich solidarisch fühlen gegenüber den Angriffen, denen heute die Beschäftigten des Flugzeugbaus ausgesetzt sind, denn morgen werden die gleichen Angriffe auf die Beschäftigten der Automobilindustrie, der Telekom, der Chemie und aller anderen Bereiche niederprasseln. Überall müssen die Arbeiter in souveränen Vollversammlungen zusammenkommen, in denen sie über die Ziele und die Mittel des Kampfes diskutieren und entscheiden können. Ihr Kampf ist nicht nur eine Angelegenheit der Arbeiter selbst. Nicht die Kandidaten bei den Präsidentenwahlen werden für die Beschäftigten handeln, denn ihre Versprechungen werden – sobald sie an der Macht sind – vergessen sein. Auch die Gewerkschaften verteidigen die Arbeiter nicht. Denn die sorgen nur für die Spaltung der Arbeiter, sei es in den Betrieben, sei es innerhalb der gleichen Produktionsabteilung (wie man heute in Toulouse sehen kann, wo die größte Gewerkschaft ‚Force Ouvrière’ versucht, die „Blaumänner“ und die  „Angestellten“ der Airbus-Zentrale zu spalten, obwohl diese auch sehr stark von Stellenstreichungen betroffen sind). Auch die Beschäftigten der betroffenen Länder, versuchen sie zu spalten, denn sie schwingen als erste die Nationalfahne (die französischen Gewerkschaften, mit Force Ouvrière an der Spitze, behaupten, „man muss kämpfen“, ja man müsse auch die Produktion lahm legen, um eine „bessere Verteilung der Opfer“ zu erreichen, mit anderen Worten, man will erreichen, dass die Beschäftigten in Deutschland noch härter getroffen werden). Und selbst wenn eine Gewerkschaft wie die IG-Metall für Mitte März einen Aktionstag aller Länder mit Airbus-Standorten ankündigt, handelt es sich nur um ein Manöver, das dazu dienen soll, die Arbeiter von der Bewusstseinsentwicklung abzuhalten, dass ihre Interessen nicht mit denen des nationalen Kapitals übereinstimmen, während sie gleichzeitig Stellung gegen Streiks beziehen, weil man sich „verantwortlich“ verhalten müsse. Aber die Gewerkschaften wollen auch eine „Solidarität“ der europäischen Beschäftigten von Airbus gegen die amerikanischen Arbeiter  von Boeing herbeiführen, die sich im Herbst 2005 massiv mit Streiks gegen die Angriffe der Arbeitgeber gewehrt haben. Die notwendige Solidarität aller Beschäftigten zeigt sich ansatzweise insbesondere durch spontane Arbeitsniederlegungen in den etwas weniger hart betroffenen Standorten wie Bremen und Hamburg. Vor kurzem beteiligten sich die Beschäftigten von Airbus im Süden Spaniens, die heute ebenso angegriffen werden, an den Demonstrationen der Beschäftigten des Automobilzulieferers Delphi, der ein Werk in Puerto Real dicht machen will. Dies muss der Weg für alle Arbeiter sein. Während die Bosse dazu aufrufen, die Stellenstreichungen, die Lohnsenkungen und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hinzunehmen, müssen wir mit einer Stimme antworten: Wir weigern uns, diese Opfer zu bringen, die nur noch zu immer heftigeren Angriffen führen werden. Nur der Kampf lohnt sich!  >

 

 

 

Gegen die Spaltungsversuche der Beschäftigten der verschiedenen Betriebe oder Länder - Solidarität der ganzen Arbeiterklasse!

Gegen die Isolierung, die immer zu Niederlagen führt, müssen wir die Ausdehnung der Kämpfe durchsetzen. Die Vollversammlungen müssen massive Delegationen zu den anderen Betrieben schicken, damit alle Arbeiter sich an einer Solidarisierungsbewegung beteiligen können.  

Gegenüber einem kapitalistischen Weltsystem, das im Niedergang begriffen ist, und das nur noch zu immer heftigeren Angriffen gegen die Arbeiter in allen Branchen und allen Ländern in der Lage ist, haben die Arbeiter keine andere Wahl als immer entschlossener, immer solidarischer zu kämpfen und den Kampf stetig weiter auszudehnen. 

Dies ist das einzige Mittel aller Beschäftigten, um der Zuspitzung ihrer Ausbeutung, der Verschlechterung ihrer immer unmenschlicher werdenden Lebens- und Arbeitsbedingungen  entgegenzutreten, und auch um die Überwindung dieses Systems vorzubereiten, das Not und Elend, Krieg und Barbarei verbreitet. 

Internationale Kommunistische Strömung, 5.3.07  www.internationalism.org [5]  

E-mail: [email protected] [6]

Kontaktadresse: Postfach 410308, 50863 Köln

 

 

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Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [9]

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