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Juni 2007

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Bilanz des G-8-Gipfels: Das Rütteln am Zaun

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Der G8-Gipfel in Heiligendamm ist zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen. Eine Bilanz des Gipfels wie auch der Gipfelproteste. Was haben sie gebracht? Das Unbehagen der Mächtigen

Das Gipfeltreffen der Mächtigen hat – vom Standpunkt der Regierenden selbst betrachtet – einen verheerenden Eindruck hinterlassen. Das letzte Mal, als die Regierungchefs der führenden Industrieländer in Deutschland zusammenkamen – damals in Köln –, speisten sie im Schatten des Kölner Doms, im Herzen der Innenstadt. Heute undenkbar. Heutzutage treffen sie sich in der Abgeschiedenheit eines in Vergessenheit geratenen mecklenburgischen Ostseebades und müssen sich dennoch hinter Verteidigungslinien verschanzen. Nichts könnte eindrücklicher den Verlust an Ansehen und Popularität der demokratisch gewählten „world leaders“ in den Augen der eigenen Bevölkerungen verdeutlichen.

Der G8-Gipfel in Heiligendamm ist zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen. Eine Bilanz des Gipfels wie auch der Gipfelproteste. Was haben sie gebracht? Das Unbehagen der Mächtigen

Das Gipfeltreffen der Mächtigen hat – vom Standpunkt der Regierenden selbst betrachtet – einen verheerenden Eindruck hinterlassen. Das letzte Mal, als die Regierungchefs der führenden Industrieländer in Deutschland zusammenkamen – damals in Köln –, speisten sie im Schatten des Kölner Doms, im Herzen der Innenstadt. Heute undenkbar. Heutzutage treffen sie sich in der Abgeschiedenheit eines in Vergessenheit geratenen mecklenburgischen Ostseebades und müssen sich dennoch hinter Verteidigungslinien verschanzen. Nichts könnte eindrücklicher den Verlust an Ansehen und Popularität der demokratisch gewählten „world leaders“ in den Augen der eigenen Bevölkerungen verdeutlichen.
Die Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Sicherheit der Herrschenden zu garantieren, riefen in der ganze Welt üble Assoziationen hervor. Der millionenteure, zwölf Kilometer lange Sicherheitszaun mit „NATO-Stacheldraht“ erinnerte manchen an die Berliner Mauer, andere an die Sperranlagen der US-Grenze zu Mexiko oder an die Demarkationslinien der Kriegsparteien in Nordirland oder zwischen Israel und Palästina. Die Entnahme von „Geruchsproben“ „potenzieller Verbrecher“ im Vorfeld des Gipfels, um sie speziell abgerichteten Polizeihunden zuzuführen, belebte eine altbewährte Methode der ostdeutschen Staatssicherheit wieder. Was die Einsperrung Hunderter von Demonstranten in Käfigen nach der Demonstration vom 2. Juni in Rostock betrifft – wo sie die Nacht über ohne Kontakt zu ihren Anwälten und überhaupt zur Außenwelt festgehalten und bei ununterbrochener Beleuchtung wachgehalten und gefilmt wurden –, so musste jeder unwillkürlich an Guantanamo denken. Haben nicht die führenden Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union jahrelang gegen die menschenunwürdige Unterbringung und Behandlung der Gefangenen in Guantanamo durch die Vereinigten Staaten protestiert? Die Tatsache, dass jetzt mitten in Europa Gefangene ebenfalls in Käfige eingesperrt werden, wirft ein anderes Licht auf diese Proteste. Es wird deutlich: Was die Führer Europas missbilligen wollten, war nicht die Unmenschlichkeit, sondern die in Guantanamo zum Ausdruck gekommene Machtdemonstration der USA.
Und tatsächlich: in Heiligendamm ist nicht nur der Ansehensverlust der Mächtigen der Industriestaaten und ihre Angst vor der eigenen Bevölkerung sichtbar geworden, sondern auch ihre Zerstrittenheit. Während die Sprecher von ATTAC und die Anführer der „künstlerischen Opposition“ wie Campino oder Grönemeyer die G8 als eine Art Weltregierung bezeichnen, knisterten die tödlichen Rivalitäten der führenden Industrieländer kaum verborgen unter der Oberfläche. So versuchte Russlands Präsidenten Putin, das amerikanische Vorhaben zu torpedieren, ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa aufzubauen. Er tat so, als schenkte er den Beteuerungen Washingtons Glauben, dieses amerikanische Abwehrschild richte sich vornehmlich gegen den Iran, und schlug Bush vor, dieses System gemeinsam in Aserbaidschan (in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran also) zu errichten. Bush zeigte sich - nachdem er sich von einer plötzlichen Magenverstimmung erholt hatte -  „offen“ und „interessiert“. Doch sobald der G8-Gipfel beendet war, eilte er nach Warschau, um zu versichern, dass der Abwehrschild auf jeden Fall dort errichtet werden soll. Hintergrund dieser pikanten Geschichte: vorausgesetzt, es funktioniert tatsächlich, würde dieses Militärprojekt die Vereinigten Staaten in die Lage versetzen, die Raketenarsenale aller anderen Staaten zu neutralisieren. Damit würden die USA ihre militärische Überlegenheit erheblich ausbauen, auch gegenüber anderen G8-Staaten wie Russland, Frankreich oder Großbritannien.
Aber nicht nur die Zerstrittenheit – genauer gesagt: die kapitalistischen Interessensgegensätze und die imperialistischen Rivalitäten – der führenden Industrieländer wurde sichtbar, sondern auch und noch mehr ihre Unfähigkeit, Antworten auf die großen Schicksalsfragen der Gegenwart zu finden. Gerade weil die Augen der Welt auf Heiligendamm gerichtet waren und gerade wegen der peinlichen Verschanzung der „Volksvertreter“ mussten die Gipfelteilnehmer darauf bedacht sein, jeden Eindruck eines Scheiterns dieses Gipfels zu vermeiden. Es war eher diesem „Erfolgsdruck“ als der Gipfeldiplomatie von Frau Merkel (der von einem deutschen Revolverblatt der Titel „unsere Miss World“ verliehen wurde) zu verdanken, dass Bush sich in der Klimafrage auf die Position der Europäer hinzubewegte und die Vereinten Nationen als „Dachorganisation“ der Klimapolitik nicht mehr prinzipiell ausschließt! Was kam dabei heraus? Eine Absichtserklärung, derzufolge die G8 „ernsthaft in Betracht zieht“, Maßnahmen zu ergreifen, um den Anstieg der Klimaerwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Wenn nicht der Gipfel von Heiligendamm, so wird wenigstens diese Formulierung in die Geschichte eingehen. Eines Tages werden sich vielleicht die ehemaligen Bewohner längst versunkener Küstenregionen daran erinnern.

Die Ohnmacht des schwarzen Blocks

Wie ein Überbleibsel aus einer längst versunkenen Welt wirkte die Kulisse des einst mondänen Seebads von Heiligendamm. Die Weltführer zeigten sich hinter ihrem Zaun zerstritten und zur planvollen Umgestaltung der Welt unfähig. Hatten sie wirklich so viel Angst vor einigen zehntausend Protestierenden? Kamen sie sich nicht ein wenig lächerlich vor?
Polizeitechnisch betrachtet, wäre es ein Leichtes gewesen, sich die Demonstranten auch ohne Zaun vom Halse zu schaffen. Das Sicherheitsproblem dieses Gipfels war nicht so sehr militärischer als politischer Natur. Wie die Protestierenden zur „Räson“ bringen, ohne das sinkende Ansehen der Regierungen in der Bevölkerung noch mehr zu schädigen? Soll heißen: Wie diejenigen einschüchtern, die es wagen, das System zu hinterfragen, ohne die diktatorische Fratze der parlamentarischen Demokratie sichtbar werden zu lassen?
Dieses Problem erwies sich als lösbar. Erheblich dazu beigetragen hat die politische Unbeholfenheit des „schwarzen Blocks“. Dabei stellen wir die antikapitalistischen Absichten der großen Mehrheit der autonomen Szene keineswegs in Frage. Aber der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Absichten gepflastert. Die großen Schwächen dieses Milieus sind die Theoriefeindlichkeit und die Gewaltverherrlichung. Diese Grundauffassungen teilt dieses Milieu leider mit manch anderer politischen Bewegung, die keineswegs antikapitalistisch eingestellt ist. Denn es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Gewalt an sich revolutionär oder auch nur radikal ist. In diesen Irrtum gefangen, begriff der schwarze Block nicht, dass das Unbehagen der Regierenden von Heiligendamm nicht polizeilicher, sondern politischer Natur war. Die Staatsmacht suchte nach einem Vorwand für den eigenen Einsatz von Gewalt. Dazu war es lediglich nötig, die am 2. Juni nach Rostock zur Auftaktdemo Anreisenden kaum zu kontrollieren und den schwarzen Block ohne die übliche massive Polizeieinkesselung marschieren zu lassen. Provokateure unter den vermummten Demonstranten mögen das Ihre beigetragen haben, um eine Eskalation der Gewalt in Gang zu setzen. Es reichte jedenfalls, um gegenüber den Medien aus aller Welt den Eindruck zu erwecken, als sei die Staatsmacht die wehrlose, angegriffene Partei. Die Demonstranten, die vor Ort waren, wissen es besser. Die ganz große Mehrheit der während dieser Gipfeltage festgenommenen und zusammengeschlagenen Menschen hat keine Gewalt ausgeübt, ja vielfach versucht, sie zu verhindern. Dabei ging es aber nicht nur darum, die Protestierenden ordentlich zu verdreschen. Es ging auch um die Frage, welche Bilder um die Welt gehen und die Wirkung des Gipfels auf die Bevölkerung prägen. Das Image von angeblich wehrlosen Polizisten lässt vielleicht den Eindruck des Zauns vergessen machen... Mehr noch: nicht nur vor Ort wird die wirkliche Frage verdrängt. Man diskutiert, wenn überhaupt, nur noch um die Frage, ob man „friedlich“ oder „gewaltsam“ protestieren soll. Die wirkliche Frage wird verdrängt: Wofür kämpft man?

Die Sackgasse der Antiglobalisierungsbewegung

Aber nicht nur die Vermeidung von Debatten über die Perspektive unsere Gesellschaft droht das Potenzial der Infragestellung des Systems zunichte zu machen. Auch die Ideologie der „Globalisierungsgegner“ selbst erwies sich erneut als Sackgasse.
Auffallend: aus ganz Deutschland, teilweise aus der ganzen Welt kommen Menschen zusammen, um gegen Verarmung und Ausbeutung zu protestieren. Sie kommen in eine Gegend, wo eine Erwerbsloslosenrate von über 20 Prozent herrscht - Mecklenburg-Vorpommern. Sie protestieren in einem Land, in dem Massenentlassungen, Werksschließungen, Ausgliederungen von Produktionsstätten, Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen zum Alltag gehören.  Gerade während des Gipfels streikten Zehntausende bei der Telekom gegen eine 12%-ige Lohnkürzung sowie eine – unbezahlte – Ausdehnung der Arbeitszeit um wöchentlich vier Stunden. Die Lage in Deutschland ist stellvertretend für die Entwicklung in allen G8-Ländern, ja in allen Industrieländern. Dennoch wurde bei den Anti-G8-Protesten zu keinem Zeitpunkt die Verarmung, die zunehmende Ausbeutung, sprich: die soziale Lage in den Industrieländern thematisiert. Nirgends wurde die Verbindung des Kampfes der Lohnabhängigen in den Industrieländern zum Kampf gegen globale Armut, Krieg und Umweltzerstörung hergestellt!
Wie erklärt sich diese verblüffende Unterlassung? Sie ist kein Zufall. Die Ideologie der Antiglobalisierung schließt eine solche Verbindung aus. Diese Ideologie, ein Kind der Zeit nach dem Fall der Mauer, rühmt sich ihres praktischen Charakters. Sie ist stolz darauf, angeblich keine neuen Ideologien zu predigen und keinen Utopien nachzuhängen. Dennoch ist und bleibt das Weltbild von ATTAC und Freunden eine Ideologie. Es teilt die Welt in zwei Lager ein, in das Lager der Industrieländer und in jenes der Armenhäuser dieser Welt, und behauptet, das Erstere lebe von der Ausbeutung des Letzteren. Diese Sichtweise verschließt sich gegenüber dem Kampf der arbeitenden Bevölkerung in den Industrieländern, indem sie diese Länder undifferenziert als privilegierte Zonen betrachtet, ohne den Klassencharakter dieser Gesellschaften selbst zu berücksichtigen. Andererseits betrachtet sie die Bevölkerung der Armutsländer ebenfalls als eine undifferenzierte Masse. So werden die arbeitenden Menschen dieser Länder mit ihren Ausbeutern vor Ort in ein Boot geschmissen. Sie werden zu passiven Opfern herabgestuft, die ausgerechnet auf die Hilfe der G8 angewiesen seien. So verschließt man die Augen vor der Notwendigkeit, aber auch der Möglichkeit des gemeinsamen Kampfes der Lohnabhängigen aller Länder, die den Kampf der Ausgebeuteten der ganzen Welt gegen die herrschende Weltordnung anführen können und müssen.

Zaun und Kapitalismus

Ein wenig unbeholfen wirkte diese waffenstarrende Welt von Heiligendamm angesichts des jugendlichen Elans und des aufkeimenden Idealismus einiger Zehntausend Protestierender, die nach Alternativen zum Kapitalismus suchen. Um zu versuchen, diese Unbeholfenheit zu überspielen, ließen die Mächtigen der Welt „Gegengipfel“ organisieren. Ein unter dem Dach der UNESCO stehender Gipfel der Kinder und Jugend ließ acht handverlesene Jugendliche mit den sichtlich genervten und desinteressierten Staatschefs „diskutieren“.
Die protestierende Jugend lief indessen unentwegt zum Zaun. Viele waren wirklich sehr jung. Und schon wenden sie sich angewidert von der herrschenden Weltordnung ab. Sie träumten davon, den Gipfel zu stören, zu blockieren. Sie wollten ihn sogar belagern. Sie wollten am Zaun rütteln. Eine Illusion. Die waffenstarrende Macht des Staates lässt sich nicht so leicht in die Enge treiben. Aber die aufrüttelnde Jugend hat etwas anderes erreicht, etwas, was mehr bedeutet. Sie haben diesen Zaun zum Symbol gemacht. Zum Symbol dieses Gipfels. Zum Symbol dieser Weltordnung. Die Menschheitsgeschichte lehrt uns, wie wichtig Symbole sind für die Entwicklung des Klassenkampfes. So die Erstürmung der fast leerstehenden, aber symbolträchtigen Bastille am Anfang der französische Revolution.
Was bedeutet heute der Zaun? Zäune weisen die Verzweifelten ab, die dort Zuflucht und menschlichen Beistand suchen, wo noch kein Krieg, keine Dürre oder Hungersnot herrscht. Zäune riegeln den Besitz der Herrschenden ab. Die Reichen riegeln ihre Wohlviertel immer mehr ab. Sie leben verbarrikadiert. Zäune bzw. Mauern trennen irrsinnig aufeinander gehetzte Volksgruppen auf dem Balkan oder im Nahen Osten. Andere, unsichtbare Zäune halten die Produkte aus anderen Weltgegenden ab.
Die linken Professoren und Politiker von ATTAC wettern gegen die Globalisierung. Aber die Jugend spürt, dass das Problem nicht die wachsende Globalität der Gesellschaft ist, sondern die Zäune. Einst brach der Kapitalismus auf, um die ganze Welt zu erobern. Dabei riss er alle chinesischen Mauern nieder, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest schrieben. Aber er vereinigte die Menschheit nicht. Er schuf lediglich die Voraussetzungen dafür. Zugleich erhob er etwas zum Weltprinzip, auf dem letztlich alle Zäune der modernen Geschichte ruhen, ob der Stacheldraht von Auschwitz oder die Berliner Mauer: das Prinzip der Konkurrenz. Die Jugend von Heiligendamm hat Recht. Es gilt, alle Zäune niederzureißen. Der Zaun ist entstanden mit dem Privateigentum, der Keimzelle des modernen Kapitalismus. Diese Keimzelle hat sich zur beherrschenden Macht aufgeschwungen, zur Bedrohung der Menschheit. Die Überwindung des Zauns bedeutet in Wahrheit die Überwindung des Privateigentums von Produktionsmitteln. Sie bedeutet die Ablösung der Konkurrenzgesellschaft durch eine Welt der gemeinschaftlichen Produktion und der Solidarität.   13.06.07

Tarifrunde 2007: Der Lohnraub geht weiter

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Deutschland im Jahr 2007: die Wirtschaft boomt, die Auftragsbücher sind prall gefüllt, die Exportindustrie schlägt ein Rekord nach dem anderen, und das Wirtschaftswachstum wird Monat für Monat immer höher prognostiziert. Auch der Finanzminister der Großen Koalition in Berlin hat Grund zum Jubeln: Nicht nur, dass die Maastrichter Schuldenkriterien um fast die Hälfte unterboten wurden; Steinbrück erwartet darüber hinaus fürs nächste Jahr gar einen schuldenfreien Haushalt. Doch je optimistischer die Meldungen von der Wirtschaftsfront, desto größer auch die Begehrlichkeiten. Vor allem die Gewerkschaften verkündeten vor den diesjährigen Tarifverhandlungen, dass die Jahre des Verzichts für die ArbeitnehmerInnen angesichts der Gewinne der Unternehmen vorüber seien. „Plus ist Muss“ war das Motto der IG Metall für die diesjährigen Tarifverhandlungen. Jahrelang habe man den Beschäftigten angesichts der Rezession und der schwächelnden Unternehmen eine Reduzierung ihrer Nettoeinkommen zugemutet. Nun, wo die Wirtschaft brummt und die Unternehmen Rekordgewinne einfahren, sei es nur zu gerecht, wenn auch die Beschäftigten ihren Anteil daran fordern.

Es scheint, als habe das Kapital ein Einsehen gehabt. Eine der größten und wichtigsten Wirtschaftsbranchen Deutschlands, die Metallindustrie, gewährte ihren Beschäftigten ohne größeren Widerstand eine Tariferhöhung, die so hoch wie lange nicht mehr ist: 4,1 Prozent in diesem Jahr und 1,7 Prozent im Juni 2008 incl. Einmalzahlungen. Es liegt auf der Hand, dass die IG Metall dies als einen Erfolg für uns Beschäftigte feierte. Hat sich doch nach ihrer Lesart ihre Politik bewährt: Zurückhaltung, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, und kräftig zulangen, wenn sie boomt. Doch wie verhält es sich tatsächlich mit diesen – auf dem ersten Blick sehr hoch anmutenden – Tariferhöhungen in der Metallindustrie? Bewahrheitet es sich am Ende doch, dass, wenn es der Wirtschaft gut geht, es auch der Arbeiterklasse gut geht? Oder ist – umgekehrt - der aktuelle Aufschwung neben anderem nicht gerade durch eine massive Erhöhung der Ausbeutungsrate, d.h. durch die Verbilligung der Arbeitskraft zustande gekommen?

Die Prekarisierung greift um sich

In den 60er Jahren galt unter den ArbeiterInnen Westdeutschlands das geflügelte Wort: „Keiner arbeitet für Tariflohn!“ Die Tariflöhne bildeten nur die untere Grenze der tatsächlich bezahlten Löhne; sie stellten faktisch Mindestlöhne dar. Noch heute schwärmt diese Generation der Arbeiterklasse in Deutschland von jenen Zeiten, als die Unternehmen bei der Anwerbung von Arbeitskräften sich einander geradezu überboten. Nun, diese Zeiten sind unwiderbringlich vorbei. Denn sie waren mit einer Phase in der Bundesrepublik verknüft, als Vollbeschäftigung herrschte, als die Unternehmen noch händeringend nach Arbeitskräften suchten und den ersten Arbeitsimmigranten, die ins Land kamen, geradezu den roten Teppich ausrollten. Heute, fast 40 Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, hat der eingangs zitierte Spruch eine andere Bedeutung bekommen. Infolge des sukzessiven Wachstums der Arbeitslosigkeit, die mittlerweile Millionen von ArbeiterInnen in die Reservearmee des Kapitals geworfen hat, hat sich das Blatt im wirtschaftlichen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit gründlich zuungunsten Letzterer gewendet. Der Druck auf die Löhne hat heute Auswüchse angenommen, die es immer weniger Arbeiter und Arbeiterinnen erlauben, mittels Arbeit ihre reinen Reproduktionskosten zu decken, d.h. ihre bloße Existenz – das Dach über dem Kopf, die tägliche warme Mahlzeit, etc. – zu sichern. Obwohl sie einer Vollzeit-Beschäftigung nachgehen, sind sie auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Die zu Hungerlöhnen schuftenden Callcenter-ArbeiterInnen, die wachsende Heerschar von ZeitarbeiterInnen und Tagelöhnern, das als „Generation P“ (P wie Praktikum) bezeichnete akademische Proletariat – all sie sind Ausdruck der Tatsache, dass die „working poor“, die noch vor wenigen Jahren als typisch amerikanisches Phänomen dargestellt wurden, nun auch hierzulande um sich greifen.

Doch wer meint, das sog. Prekariat als einen besonderen, in sich abgeschlossenen Teil der hiesigen Arbeiterklasse zu identifizieren, dem gegenüber der „privilegierte“ Kern der Facharbeiter stehe, übersieht, dass die wachsende Tendenz zur relativen und absoluten Pauperisierung längst sämtliche Teile unserer Klasse erfasst hat. Was wir gerade derzeit erleben, ist ein beispielloser Angriff gegen jene Bereiche der Arbeiterklasse in Deutschland, die noch zu Tariflöhnen arbeiten. Obwohl die Tariflöhne in den letzten 15 Jahren auf breiter Front schrumpften, bemühen sich immer mehr Unternehmen darum, sich vom Korsett der Tarifgemeinschaft zu lösen, indem sie große Teile ihrer Produktion auslagern. Jüngstes – und besonders krasses - Beispiel für die massive Verbilligung der Arbeitskraft auch in den Kernbereichen der Arbeiterklasse in Deutschland ist die Telekom (wir haben bereits an anderer Stelle darüber berichtet).

ERA und die Relativierung des Metallabschlusses

Eine besonders perfide Art des Lohnraubs findet derzeit in der Metallindustrie statt. Seit dem Frühjahr gelten die - bereits 2002 von der IG-Metall und den Arbeitgebern ausgehandelten - Bestimmungen eines neuen „Entgeltrahmentarifabkommens“ (kurz: ERA). Dieses neue Rahmentarifabkommen sollte angeblich mehr „Gerechtigkeit“ bei der Entlohnung der Beschäftigten in der Metallindustrie schaffen. Kernstück von ERA ist die Abschaffung der unterschiedlichen Kategorien von Lohn und Gehalt. Künftig sollen Arbeiter und Angestellte nach einem einheitlichen Tarif bezahlt werden. Unterschiedliche Bezahlungen für dieselbe Tätigkeit sollen so aus dem Weg geräumt werden. Doch was für die beiden Tarifparteien – IG-Metall und Metallarbeitgeberverband – eine „Revolution“ ist, entpuppt sich für Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Beschäftigten als böse Überraschung. Denn die Arbeitgeber nutzten die Gelegenheit, um die Anpassung der bisherigen Löhne und Gehälter an die neue Entgeltstruktur überwiegend durch Herabstufungen vorzunehmen. Massenhaft wurden hohe Gehalts- und Lohngruppen gekappt und in niedrigere ERA-Gruppen gedrückt. Neben den Angestellten ist vor allem eine Gruppe von diesen Herabstufungen betroffen, die den um Kostenminimierung bemühten Unternehmen bislang ein Klotz am Bein war – jene trotz Frühverrentung immer noch relativ große Schar an Beschäftigten (darunter viele Facharbeiter), die sich im Laufe ihrer langen Betriebszugehörigkeit höhere Lohngruppen erarbeitet hatten. „So kann es passieren, dass sich ein Facharbeiter mit der alten Lohngruppe 8 mit einem monatlichen Einkommen von 1970,13 Euro plötzlich in der neuen ERA-Gruppe 3 mit einem Einkommen von 1770 Euro wiederfindet. Aufs Jahr gerrechnet hätte er mehr als 2000 Euro Verlust.“ (1)

Vor diesem Hintergrund erscheinen die eingangs erwähnten Tariferhöhungen in der Metallindustrie in einem völlig neuen Licht. Für viele der 3,4 Millionen Beschäftigten ist der „kräftige Schluck aus der Pulle“, den IG-Metall-Vorsitzender Peters, stolz wie Oskar, am Abend des Abschlusses verkündete, nur ein leichtes Nippen an der Flasche. Denn um größeren Unmut unter den Betroffenen zu vermeiden, sollen die Herabstufungen nicht abrupt erfolgen, sondern durch den völligen oder teilweisen Ausschluss der Betroffenen von den diesjährigen und den kommenden Tariferhöhungen schrittweise vonstatten gehen. Doch die IG Metall hat noch ein weiteres Mittel in petto, um den Widerstand der Beschäftigten in Grenzen zu halten. Indem dieses famose Entgeltrahmentarifabkommen – typischer euphemistischer Beamtensprech – jedem Beschäftigten die Möglichkeit des „Widerspruchs“ einräumt und gleich mehrere Vermittlungsinstanzen bis zur endgültigen Entscheidung durch das Arbeitsgericht (!) vorsieht, soll der anschwellende Strom der Unruhe und des Missmuts in den Belegschaften in Abertausende kleine Rinnsale des individuellen Protestes auf dem (juristischen) Terrain des Klassengegners aufgespalten werden. Dennoch: es tut sich was. Belegschaftsversammlungen, die bislang tröge und monoton waren, haben sich mittlerweile zu lebhaften Veranstaltungen entwickelt. Die Betriebsräte haben alle Mühe, die erhitzten Gemüter der Kollegen und Kolleginnen zu besänftigen. Und plötzlich erwacht der Kampfgeist auch in Schichten der Arbeiterklasse, die diesbezüglich bis dahin noch nicht aufgefallen waren. So beteiligten sich zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte ihrer Branche die Sekretärinnen von Siemens-Erlangen an einer Demonstration gegen diesen Lohnraub. Es stellt sich die Frage, ob sich ERA nicht letztendlich als ein Bumerang für die herrschende Klasse erweisen wird. Denn ERA hebt nicht nur die formale Spaltung zwischen Angestellten und Arbeitern auf und trägt zur Proletarisierung des Bewusstseins der Ersteren bei, die einst als „Industriebeamte“ treu ihren Dienst für die Kapitalisten taten. ERA fördert zudem in immer größeren Teilen unserer Klasse die Einsicht, dass wir alle – ob Angestellte oder Arbeiter, ob festangestellte oder ZeitarbeiterInnen, ob Callcenter-Beschäftigte oder Facharbeiter – einer mal mehr, mal weniger drastischen Verschlechterung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Das „Prekariat“ ist das Proletariat!

  1. Spiegel, Nr. 22, 26. Mai 2007.

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [3]

Werner Bräunigs wiederentdeckter Roman: Rummelplatz DDR

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Der Anfang 2007 veröffentlichte Roman Rummelplatz von Werner Bräunig wird von der Kritik bereits als die Neuerscheinung des Jahres und als „literarische Sensation“ gefeiert.  Vom Herausgeberverlag Aufbau wird es als der „berühmteste ungedruckte Roman der Nachkriegszeit“ gepriesen. Nicht zu Unrecht. Die 1965 im Oktoberheft der „Neuen Deutschen Literatur“, der Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der DDR, lediglich in einem kurzen Auszug veröffentliche Schrift wurde rasch zur Zielscheibe einer öffentlichen Diffamierungskampagne der stalinistischen Regierungspartei SED. Als 1976 Werner Bräunig  im Alter von nur 42 Jahren starb, befand sich das noch unveröffentlichte Manuskript des Buches in seiner winzigen Einzimmerwohnung in Halle-Neustadt. Ursprünglich wurde das Projekt „Der eiserne Vorhang“ tituliert und sollte auch einen zweiten Band umfassen, der die Zeit bis 1959 bearbeiten sollte. Diese Fortsetzungsarbeit wurde offenbar nicht mehr in Angriff genommen.

Der vorliegende Roman schildert das Leben von vier jungen Menschen in der DDR in der Zeit zwischen 1949 und 1953.

Rummelplatz DDR

Was das SED-Mitglied Bräunig ganz besonders erschüttert, ist die Entdeckung, dass der Rummelplatz mit allem, was er für ihn bedeutet, in der DDR fortdauert und sich als unentbehrliche Einrichtung erweist. „Hinter dem Platz lauert die Dunkelheit. Zwei Farben nur hat die Landschaft, weiß und grau, das Dorf ist schmutzig am Tag und schon finster am Nachmittag, abends ist es ein böses, geschundenes, heimtückisches Tier, zu Tode erschöpft und gierig. Es ist ein Tier auf der Lauer, ein Tier in der Agonie, es hat sich verborgen in der Dunkelheit, es schweigt. Der Platz aber ist hell, er täuscht Wärme vor und Lebendigkeit.(...) Der Platz aber ist hell, und die Menschen hier hungern nach Helligkeit stärker und verzweifelter als anderswo. Im Gebirge sind sie fremd, untertage sind sie allein, allein mit sich und dem Berg, allein mit ihren Hoffnungen, ihren Zweifeln, ihrer Gleichgültigkeit, allein mit der Dunkelheit und der Gefahr. Die Dunkelheit ist um sie und in ihnen, und ist auch kein bestirnter Himmel über ihnen, da ist nur der Berg mit seiner tödlichen Last und seiner Stille. Als Glücksritter sind sie aufgebrochen, als Gestrandete, Gezeichnete, Verzweifelte, als Hungrige. Sie sind über das Gebirge hergefallen wie die Heuschrecken. Jetzt zermürbt sie das Gebirge mit seinen langen Wintern, seiner Eintönigkeit, seiner Nacktheit und Härte. Wenn nichts sie mehr erschüttern kann, nach allem, was hinter ihnen liegt, das Licht erschüttert sie. Wenn sie nichts mehr ernst nehmen, das ‚Glück auf‘ nehmen sie ernst. Uralte Verlockung der Jahrmärkte. Locker sitzen die Fäuste in den Taschen, die Messer, die zerknüllten Hundertmarkscheine, der Rubel rollt.“ (S. 75-76). Wir zitieren aus dem Kapital IV des Romans, wo der - sagen wir mal: sozialistische - Rummelplatz im Bergwerkrevier des Erzgebirges thematisiert wird. Just jenes Kapitel, das von den Stalinisten ausgewählt, vorabgedruckt und angegriffen wurde. Auch die Kunstbanausen der SED, mit dem sicheren Instinkt der Ausbeuterklasse, wussten sofort, dass eine solche Symbolik eine Untergrabung des stalinistischen Systems bewirken müsse. Der damalige Parteiführer Walter Ulbricht meinte dazu: „Dort werden nun alle Schweinereien geschildert, die möglich sind und damals möglich waren (...) Wir geben uns Mühe zu erziehen. Aber mit solchen Romanen wie Rummelplatz kann man sie nicht erziehen.“1 [4]

Der Unrast des ausgehungerten Herzens

Tatsächlich ist Bräunigs Roman voller Hinweise auf das ausbeuterische Wesen der DDR: die Lohnabzüge für alles Mögliche, das Hochschrauben der Arbeitsnormen und die Aufrufe zur Mehrarbeit, die Bespitzelungen und die Sabotagevorwürfe gegen die Arbeiter, die die Sollvorgaben nicht erreichen, die Zwangsarbeit der Strafgefangenen. Auch erhalten wir Einblick in die Klassenstruktur der DDR. Einen seiner Charaktere lässt er darüber nachsinnen: „Immer wirst du unten bleiben mit der Nase im Dreck, Peter Loose, wirst dein Leben lang schuften in harter Mühle und dich für ein paar Stunden entschädigen auf den Rummelplätzen der Welt, beim Wodka, an der warmen Haut eines Mädchens, denn es fehlen dir ein paar Kleinigkeiten, ohne die man in dieser Zeit nicht hochkommt. Ein bißchen Anpassungsfähigkeit fehlt dir und ein bißchen Arschkriecherei, ein bißchen Gebetsmühlendreherei und ein bißchen fortschrittsträchtige Skrupellosigkeit (...) Die Kriecher und Musterknaben werden ins Kraut schießen, zu hohen Preisen werden die Jesuiten gehandelt werden, und für deinesgleichen werden sie die Mär vom befreiten Arbeitsmann herunterbeten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, vom Schöpfer aller Werke und Herrscher dieses Landstrichs, auf dass du bei der Stange bleibst und dir die Brust voll Ruhm und Hoffnung schaufelst, Ruhm, den sie einheimsen, Hoffnung, die sie gepachtet haben“ (S.82) Man ist erstaunt, solche Zeilen aus der Feder eines SEDlers zu lesen... Werner Bräunig, ein anti-stalinistischer Dissident, gar ein verkappter Revolutionär in Zeiten der Konterrevolution? Tatsächlich hat die SED, sobald sie seinen Roman zu Gesicht bekam, an seine Regimetreue gezweifelt. Interessanterweise wurde seine scheinbar parteikonforme Darstellung des 17. Juni 1953 ebenfalls beanstandet bzw. ihm nicht abgenommen. Bräunig und sein Roman geben Rätsel auf. Das er damals bereits verstanden hat, dass der Stalinismus kein Sozialismus war, sondern eine Sonderform des Staatskapitalismus, ist mehr als unwahrscheinlich. Denn zur damaligen Zeit – am Tiefpunkt der stalinistischen Konterevolution - gab es auf der ganzen Welt nur ganz wenige, echt marxistische Revolutionäre, die das verstanden hatten. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Bräunig zumindest geglaubt haben wird, dass die DDR gegenüber der BRD einen Fortschritt darstellte, als er an seinem Roman arbeitete. Wie viele andere in dieser Zeit wird er in der Abschaffung der Klasse der Privatunternehmer, die in Deutschland den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und den Holocaust organisiert hatte, einen Schritt in Richtung Sozialismus erblickt haben. Andernfalls bleibt unerklärlich, wie er überhaupt an eine Veröffentlichung seines Romans jemals geglaubt haben konnte. Zumindest ein Schlüssel zur Auflösung dieses Rätsels liegt in der Biographie des Schriftstellers. 1934 als Sohn eines Hilfsarbeiters und einer Näherin in Chemnitz („Manchester des Ostens“) geboren, erlebte er das Kriegsende und den Zusammenbruch als Elfjähriger. Dazu schrieb er später: „Es war das Hungerjahr 1945. Aber es war nicht nur der Hunger, der mich auf die Straße trieb, auf die Schwarzmärkte, hin zu den Rudeln heimatloser Halbwüchsiger, die in den unzähligen Ruinen hausten. Schlimmer als der leere Magen war der Hunger im Herzen. Hier, unter elternlosen, lungernden, allein untergehenden und deshalb zusammenhaltenden jungen Wölfen (..) war alles einfach, überschaubar und klar. Friß oder stirb, der Starke kommt durch...“ (Anhang, S.627). Es war eine entwurzelte, heimatlose, verwahrloste neue Generation.  Es war eine entwurzelte, heimatlose, verwahrloste neue Generation. Unter den älteren Kinder gab es auch solche, die vor Kriegsende „ihren Geburtstag um zwei Jahre vorzuverlegen begann(en)“ (S. 235), um in den Krieg ziehen zu können. Jetzt wurden sie auch noch von quälenden Gewissenbissen gemartert. So gab es in den ersten Nachkriegsjahren Millionen von Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, die ziellos über die Autobahnen wanderten und nachts in Bunkern schliefen. Andere, durch Hunger und Kälte, aber auch von Abenteuerlust getrieben, liefen zu Fuß bis nach Neapel oder sonstwo hin - nur weg. Bräunig aber gehörte zu jenen, die sich mit Schmuggel und Kleinkriminalität durchschlugen. Im Schicksalsjahr 1953 wurde er dafür in der DDR zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er wurde als Strafgefangener in der Steinkohle und in einer Papierfabrik eingesetzt, nachdem er zuvor als Fördermann den Uranabbau in der Wismut kennengelernt hatte. Während dieser Zeit schwor er seinem bisherigen Leben ab – und geriet von einem Wolfsrudel in den anderen: in die stalinistische Jugendorganisation FDJ. Der Hunger im Herzen scheint ihn auch hier angetrieben zu haben. Und auch hier war alles „einfach, überschaubar und klar.“ Auch hier hieß es: Friß oder stirb! Nicht bei den Stalinisten fand Bräunig das, wonach sein Herz sehnte, sondern bei den Arbeitern auf der Wismut.

Die Wismut und der Kalte Krieg

Auf der Wismut scheint Bräunig den von ihm gesuchten Antworten auf die Probleme Krieg und Unmenschlichkeit näher gekommen zu sein. Die Wismut war das größte Reparationsunternehmen des 20. Jahrhunderts. Von der UdSSR nach Kriegsende beschlagnahmt, deckte es Ende der 1950er Jahre beinahe 60 Prozent des sowjetischen Uranerzbedarfs. Damals hatte es 200.000 Beschäftigte. Im Nachwort von Angela Drescher lesen wir dazu: „Die Objekte wurden von Militär bewacht, es gab ein auf militärischen Prinzipien beruhendes Betriebssystem, eigene Rechtvorschriften, härteste Arbeitsbedingungen, nahezu autarke Strukturen.“ (S.642) Andererseits fiel die Entlohnung höher aus als anderswo in der DDR, so dass es nicht nur Ausgehungerte dorthin zog, sondern auch Abenteurer und Desperados. Dazu Bräunig im Roman: „Die Wismut ist ein Staat im Staate, und der Wodka ist ihr Nationalgetränk.“ (S.76) Hier entdeckte Bräunig tiefere Wurzeln der Abstumpfung der arbeitenden Bevölkerung als den berühmt-berüchtigten Schachtkoller. „War Peter Loose etwa gern allein? Ja, manchmal schon. Aber das heulende Elend packte einen, wenn man nichts weiter hat als seine vier Barackenwände und seine acht Stunden mit der Schaufel am Stoß, der Stumpfsinn kriecht in die Gehirnwindungen und füllt den Schädel mit Blei, bis er platzt, bis man irgend etwas zerdrischt oder zur Flasche greift oder aufbrüllt wie ein Stier. Schachtkoller nannte man das. Als ob es nur der Schacht wäre! Es was das ganze Elend dieses verpfuschten Lebens, dieses Lebens ohne Aussicht, das einen herumstieß, das blindlings einprügelte auf Gerechte und Ungerechte, das wiedergeprügelt sein wollte, und wenn’s nur zur Erleichterung wäre. Denn ausrichten konnte man wenig, allein gegen alle, es war einem eingetränkt worden bis hoch übern Eichstrich.“ (S.79) Diese Perspektivlosigkeit liefert in der Tat die wichtigste der moralischen Erklärungen dafür, dass der Kapitalismus seine geschundenen Lohnsklaven mit in die Barbarei reißen kann. Auch ist diese Perspektivlosigkeit der sicherste Beweis dafür, dass die Arbeiter der DDR sich keinesfalls in einer Gesellschaft befanden, die dem Sozialismus entgegenstrebte. Für Bräunig stand die Wismut aber auch für ein anderes Phänomen, das den Tragödien des 20. Jahrhunderts zugrunde liegt. Es ist die relative Primitivität der Arbeitsmittel im Vergleich zu der Ausgefeiltheit der Zerstörungsmittel. Die USA hatten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Atomwaffen entwickelt und auch eingesetzt. Für die Sowjetunion war es zur Überlebensfrage geworden, sich ebenfalls mit Kernwaffen auszustatten, um damit ein Gleichgewicht des Schreckens herzustellen. Vor allem dazu diente die Schinderei in der Wismut. Einen der hiesigen Bergleute lässt er sagen: „Ja – ganze Städte in den Himmel blasen, das ging. Da hatten sie eine Mordstechnik entwickelt, da war Geld für da, ein Riesenerfindergeist investiert, und massenhaft Leut gab’s, da gab’s alles. Aber hier? Große Töne spucken, von wegen Kernphysik. Aber hier, am Ursprung, da gingen sie den Fels an wie vor zweitausend Jahren.“ (S.112) Der Kalte Krieg, das Damoklesschwert der nuklearen Vernichtung, das über der Menschheit schwebte (und heute noch schwebt), lässt die Figuren in Bräunigs Roman an den Unterschied zwischen Ost und West zweifeln. „Und die sagen, sie seien für friedliche Zeiten, sie haben allesamt das Schwert hinterm Rücken, sofern sie die Staatsmacht haben, oder wenigsten ein Messer, solange sie noch klein sind, und sie sagen: Wir wollen den vorzeitigen Tod abschaffen, dazu bedarf es des Tötens. Oder wenigstens der gewaltsamen Bekehrung. Oder also der Rüstung gegen die Gerüsteten. Denn wir sind die Friedlichen, und das Schwert ist nur geschmiedet zur Abschreckung, das sagen die anderen auch (...) Bleibt da ein Rest? Ja. Die Frau am Verpackungsautomaten, Persilwerke, Düsseldorf. Kenne ich eine, die sitzt am Fließband, Glühlampenwerke Ostberlin, Arbeiter-und-Bauern-Staat, und du kannst hingehen und Glühbirnen kaufen, falls es welche gibt, und kaufst immer ein Stück mit von ihr, und die sitzt acht Stunden jeden Tag, achtundvierzig die Woche, ob die Kinder krank sind, der Mann vermisst wird, jemand den nie gekannten Wohlstand verkündet, also in einer Zweizimmerwohnung lebt sie, Hinterhaus, ringsum Trümmer, da spielen die drei Kinder, und das Geld reicht grad so wie in Düsseldorf oder auch nicht, und dann muß sie noch zu Aufbaueinsätzen, freiwilligen, und zu Kundgebungen und Aufmärschen und Versammlungen, also wenn du das meinst. (...) Übrigens die Gefängnisse sind auch hier nicht leer, keine Spur, und verboten ist manches, ein freundliches innenpolitisches Klima, wie man so sagt, raus darf keiner. Kriegsverbrecher allerdings sind enteignet, das ist wahr.“

Die Toten an die Lebenden

Bräunig lebte in einer Zeit der schrecklichen politischen Verirrung. Es war die Zeit der welthistorischen Niederlage des Proletariats. Ab 1968 wehrte sich eine neue Generation der Arbeiterklasse, die nicht mehr durch die Weltkriege und die stalinistische Konterrevolution traumatisiert war. Und heute wächst eine zweite ungeschlagene Generation des Proletariats heran, die erst nach dem Zusammenbruch der Ostblockregimes 1989 zu politischem Bewusstsein gekommen ist und sich mit neuer Kraft an die Entwicklung einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus heranmachen kann. Dieses Glück war der Generation von Werner Bräunig nicht beschieden. Der Weg zur politischen Klarheit war durch die Weltlage selbst weitestgehend versperrt. Aber Bräunig suchte die Wahrheit seiner Epoche mit den Mitteln der Kunst. Da er mit Ernst, Aufrichtigkeit und auch mit Begabung suchte, waren seine Bemühungen nicht umsonst. Nicht die Politik stand bei ihm im Mittelpunkt. Das Ziel seines Lebens wurde es, den Arbeitern und ihrem Leben eine Stimme zu geben. Er glaubte, dieses Ziel in der DDR erreichen zu können. Schließlich redete der ostdeutsche Staat der „Arbeiterliteratur“ das Wort. Der Stalinismus jedoch strebte nicht nach Kunst. Was er brauchte, war Propaganda. Es strebte nicht nach Wahrheit, sondern nach Verklärung – auch und gerade, wenn es um die Lage der Arbeiterklasse im eigenen Lager ging. Werner Bräunig hat sich nicht als Gegner der DDR gesehen. Aber seine Kunst wurde zur Herausfordererung des Systems. Hat Bräunig das verstanden? Die stalinistische Bourgeoisie hat es verstanden.

Werner Bräunig hat den öffentlichen Angriffen gegen seinen Roman tapfer widerstanden. Zu keinem Zeitpunkt ist er zu Kreuze gekrochen. Er verhinderte das Ansinnen der Herrschenden, seinen Roman in verstümmelter Form herauszugeben. Auch gegenüber den Überwachungs- und Einschüchterungsmaßnahmen der Stasi blieb er fest. Aber dass es ihm nicht mehr gelang, sein Lebenswerk zu erfüllen, das darin bestand, seinem Mitgefühl für die Arbeiter als Verkörperung der Entfremdung der ganzen Menschheit Ausdruck zu verleihen, verkraftete er nicht. Die Veröffentlichung von Rummelplatz heute bedeutet, dass es dem Stalinismus doch nicht gelungen ist, die Stimme des Dichters zum Schweigen zu bringen. Werner Bräunig starb zweiundvierzigjährig an Alkoholismus. Die DDR hat ihn umgebracht. In den Zeilen seines Roman erreicht uns die Verzweifelung seiner Generation, eine mahnende Stimme der Toten an die Lebenden. (S.477-478). „Früher lagen Zigarrenstummel, Apfelsinenschalen und Papier auf der Straße, Hoffnungen auch, ja, manchmal auch Hoffnungen; heute sind es Menschen, das sagt weiter nichts (...) und die Menschen gehen vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, und gleichgültig, gleichgültig, so gleichgültig. Ach ja, wer fragt, wie es sich denn sitzt in dem Zug, wie denn der Komfort sei und welcher Platz einem zugedacht, aber wohin es geht, danach fragt keiner. Und wir gehen an ihnen vorbei, einer geht am anderen vorbei, alle gehen vorbei; wohin sollen wir denn auf dieser Welt? Warum schweigt ihr denn? Warum redet ihr denn nicht? Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum gibt er denn keine Antwort? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner, keiner Antwort?“

1 [4] Zitiert von Angela Drescher im Nachwort zum Roman: „Aber die Träume, die haben doch Namen. Der Fall Werner Bräunig“, S.642.

Theoretische Fragen: 

  • Kultur [5]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [6]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/11/151/nationale-lage-deutschland [2] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampf [3] https://de.internationalism.org/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage [4] https://de.internationalism.org/content/1447/werner-braeunigs-wiederentdeckter-roman-rummelplatz-ddr [5] https://de.internationalism.org/tag/3/47/kultur [6] https://de.internationalism.org/tag/2/28/stalinismus-der-ostblock