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Politiker und Ökonomen wissen nicht mehr, wie sie die Tragweite der Lage ausdrücken sollen: „Am Rande des Abgrunds“, „Ein ökonomisches Pearl Harbour“, „Ein Tsunami, der auf uns zurollt“ „Ein 11.September der Finanzen“ … nur die Anspielung auf den Untergang der Titanic fehlt noch! Was passiert wirklich? Jeder steht aufgrund der wirtschaftlichen Erschütterungen vor Angst erregenden Fragen. Stehen wir vor einem neuen Krach wie 1929? Wie ist es dazu gekommen? Was tun, damit wir uns verteidigen können? Und in welcher Welt leben wir heute?
Politiker und Ökonomen wissen nicht mehr, wie sie die Tragweite der Lage ausdrücken sollen: „Am Rande des Abgrunds“, „Ein ökonomisches Pearl Harbour“, „Ein Tsunami, der auf uns zurollt“ „Ein 11.September der Finanzen“ … nur die Anspielung auf den Untergang der Titanic fehlt noch! Was passiert wirklich? Jeder steht aufgrund der wirtschaftlichen Erschütterungen vor Angst erregenden Fragen. Stehen wir vor einem neuen Krach wie 1929? Wie ist es dazu gekommen? Was tun, damit wir uns verteidigen können? Und in welcher Welt leben wir heute?
Man darf keine Illusionen haben. Weltweit wird die ganze Menschheit in den kommenden Monaten unter der schrecklichen Verschlechterung der Lebensbedingungen zu leiden haben. Der Internationale Währungsfond (IWF) hat in seinem letzten Bericht angekündigt, dass sich „50 Länder bis Anfang 2009“ in die Reihe der Länder einreihen werden, die von Hungersnot betroffen sein werden. Unter ihnen viele Länder Afrikas, Lateinamerikas, der Karibik und selbst Asiens. In Äthiopien zum Beispiel stehen offiziellen Verlautbarungen zufolge schon 12 Millionen Menschen vor dem Hungertod. In Indien und China, diesen neuen kapitalistischen Eldorados, werden Hunderte Millionen Beschäftigte in große Armut gestürzt werden. Auch in den USA und in Europa wird ein Großteil der Bevölkerung in eine unerträgliche Armut absinken.
Alle Bereiche der Wirtschaft sind betroffen. In den Büros, Banken, Fabriken, Krankenhäusern, in der Automobilindustrie, im Bausektor, im Transportwesen – überall wird es millionenfach Entlassungen hageln. Die Arbeitslosigkeit wird explodieren! Seit Anfang 2008 sind allein in den USA schon ca. eine Million Beschäftigte auf die Straße geflogen. Und all das ist erst der Anfang. Diese Entlassungswelle bedeutet eine Wohnung zu bezahlen, medizinische Versorgung zu bekommen und sich zu ernähren, wird für immer mehr Arbeiterfamilien immer schwerer werden. Für die Jugendlichen heißt dies auch, dass diese kapitalistische Welt ihnen keine Zukunft mehr zu bieten hat!
Die Führer der kapitalistischen Welt, die Politiker, die im Dienst der herrschenden Klasse stehenden Journalisten, sie alle versuchen nicht mal diese katastrophale Perspektive zu vertuschen. Wie könnten sie das auch? Die größten Banken der Welt machen pleite. Sie haben nur überlebt dank der Rettungspakete von Hunderten von Milliarden Dollars und Euros, welche die Zentralbanken, sprich der Staat, ihnen zugeschachert haben. An den Börsen Amerikas, Asiens und Europas befinden sich die Kurse weiter im Sturzflug: Seit Januar 2008 haben sie mehr als 25.000 Milliarden Dollar verloren, sprich den Wert von zwei Jahren Gesamtproduktion der USA. All dies spiegelt die wahre Panik wider, die die herrschende Klasse überall auf der Welt ergriffen hat. Wenn heute die Börsen zusammenbrechen, dann geschieht dies nicht nur wegen der katastrophalen Lage der Banken, sondern auch weil sie einen schwindelerregenden Rückgang der Profite erwarten, was zurückzuführen ist auf das massive Schrumpfen der Wirtschaft, die explosive Zunahme von Firmenpleiten, eine zu erwartende Rezession, die noch viel schlimmer sein wird als alles, was wir während der letzten 40 Jahre gesehen haben.
Die Hauptführer der Welt, Bush, Merkel, Brown, Sarkozy, Hu Jintao halten ein Gipfeltreffen nach dem anderen ab (G4, G7, G8, G27, G 40), in der Hoffnung eine Schadensbegrenzung zu versuchen und das schlimmste zu verhindern. Für Mitte November ist ein neuer „Gipfel“ geplant, der einigen zufolge dazu dienen soll, „den Kapitalismus neu zu strukturieren“. Die Erregung der Führer der Welt ähnelt der der Journalisten und „Experten“: Fernsehen, Radio, Zeitungen usw. – überall wird über die Krise berichtet.
Während die herrschende Klasse nicht mehr den desaströsen Zustand ihrer Wirtschaft vertuschen kann, versucht sie uns dennoch glauben zu machen, dass trotz alledem das kapitalistische System nicht infragestellt werden muss; dass es einfach darum geht, gegen „Exzesse“ und „Fehlverhalten“ anzugehen. Schuld seien die Spekulanten! Schuld sei die Habgier der Spekulanten! Schuld seien die Steuerparadiese! Schuld der „Liberalismus“!
Um dieses Märchen zu schlucken, greift man auf all die professionellen Lügner zurück. Die gleichen „Spezialisten“, welche gestern noch behaupteten, der Wirtschaft ginge es gut, die Banken wären solide, verbreiten heute unaufhörlich in den Medien ihre neuen Lügen. Diejenigen, die uns früher weismachen wollten, der „Liberalismus“ sei DIE Lösung, der Staat dürfe nicht in die Wirtschaft eingreifen, rufen heute umso stärker den Staat zum Eingreifen auf. Mehr Staat und mehr „Moral“, dann könnte der Kapitalismus wieder voll funktionieren. Diese Lüge wollen sie uns nun einbläuen!
Die Krise, die heute den Weltkapitalismus erschüttert, ist nicht erst im Sommer 2007 mit dem Beginn der Subprime-Krise in den USA entstanden. Seit mehr als 40 Jahren hat eine Rezession nach der anderen stattgefunden: 1967, 1974, 1981, 1991, 2001. Seit Jahrzehnten ist die Arbeitslosigkeit zu einem Dauerphänomen der Gesellschaft geworden, seit Jahrzehnten sehen sich die Ausgebeuteten wachsenden Angriffen gegen ihre Lebensbedingungen ausgesetzt. Warum?
Weil der Kapitalismus ein System ist, das nicht für die Bedürfnisse der Menschen produziert, sondern für den Markt und den Profit. Die nicht-befriedigten Bedürfnisse sind gewaltig, aber die Menschen sind nicht zahlungsfähig; d.h. die große Mehrheit der Weltbevölkerung verfügt nicht über die Kaufkraft, die produzierten Waren zu kaufen. Wenn der Kapitalismus in der Krise steckt, wenn Hunderte von Millionen Menschen, bald Milliarden in eine unerträgliche Armut abstürzen und mit Hunger konfrontiert werden, dann nicht weil dieses System nicht genügend produziert, sondern weil es mehr Waren produziert als es verkaufen kann. Jedes Mal gelang es der herrschenden Klasse, durch den massiven Rückgriff auf Kredite und die Schaffung von künstlichen Märkten sich zeitweilig Luft zu verschaffen. Deshalb führen diese „Wiederaufschwünge“ nur zu noch mehr Blut und Tränen, denn irgendwann muss die Rechnung, müssen all die Schulden beglichen werden. Genau das findet heute statt. Das ganze „traumhafte Wachstum“ der letzten Jahre stützte sich ausschließlich auf Verschuldung. Die Weltwirtschaft hat auf Pump gelebt, und nachdem jetzt der Zeitpunkt der Rückzahlung gekommen ist, bricht alles zusammen wie ein Kartenhaus. Die gegenwärtigen Erschütterungen der kapitalistischen Weltwirtschaft sind nicht auf eine „schlechte Verwaltung“ durch die politischen Führer, die Spekulationen der „Händler“ oder ein unverantwortliches Verhalten der Banker zurückzuführen. All diese Gestalten haben nur die Gesetze des Kapitalismus angewandt, und es sind gerade diese Gesetze, die dem System zum Verhängnis werden. Deshalb werden all die Tausenden von Milliarden, die von allen Staaten und den Zentralbanken in die Wirtschaft gepumpt werden, nichts an der Lage ändern. Sie werden den Schuldenberg nur noch vergrößern. Es ist, als ob man ein Feuer mit Öl zu löschen versuchte. Der Einsatz dieser verzweifelten und wirkungslosen Mittel belegt, dass die herrschende Klasse eigentlich hilflos ist. Alle Rettungspläne sind früher oder später zum Scheitern verurteilt. Es wird keine wirkliche Ankurbelung der kapitalistischen Wirtschaft geben. Keine Politik, weder die von links noch von rechts, wird den Kapitalismus retten können, denn dieses System ist von einer tödlichen und unheilbaren Krankheit befallen.
Überall werden Vergleiche mit dem Krach von 1929 und der großen Depression in den 1930er Jahren angestellt. Die Bilder der damaligen Zeit sind noch in den Köpfen haften geblieben: endlos lange Schlange von Arbeitslosen, Arme vor den Suppenküchen, pleite gegangene und geschlossene Fabriken…
Aber ist die Lage von heute wirklich die gleiche? Die Antwort lautet klar Nein! Sie ist viel schlimmer, selbst wenn der Kapitalismus aus dieser Erfahrung gelernt hat und einen brutalen Zusammenbruch dank des Eingreifens des Staats und einer besseren internationalen Koordinierung hat vermeiden können.
Aber es gibt noch einen anderen Unterschied. Die schreckliche Depression der 1930er Jahre führte zum 2. Weltkrieg. Wird die gegenwärtige Krise in einen 3. Weltkrieg münden? Die Flucht nach vorne in einen Krieg ist die einzig mögliche Antwort seitens der Herrschenden gegenüber der unüberwindbaren Krise des Kapitalismus.
Und die einzige Kraft, die sich dem entgegenstellen kann, ist ihr Erzfeind, die Weltarbeiterklasse. Die Arbeiterklasse hatte in den 1930er Jahren eine schreckliche Niederlage nach der Isolierung der Revolution 1917 in Russland erlitten und sich für das imperialistische Massaker einspannen lassen. Aber die heutige Arbeiterklasse hat seit den großen Kämpfen von 1968 bewiesen, dass sie nicht bereit ist, erneut ihr Leben zu lassen für die Ausbeuterklasse. Seit 40 Jahren hat die Arbeiterklasse oft schmerzhafte Niederlagen hinnehmen müssen, aber sie bleibt weiterhin ungeschlagen und vor allem seit 2003 hat sie sich immer mehr zur Wehr gesetzt. Die Beschleunigung der Wirtschaftskrise wird für Hunderte von Millionen von Arbeitern nicht nur in den unterentwickelten, sondern auch in den entwickelten Ländern ein schreckliches Leiden, Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger usw. verursachen – aber sie wird ebenso notwendigerweise Abwehrkämpfe seitens der Ausgebeuteten hervorrufen.
Diese Kämpfe sind unabdingbar zur Begrenzung der wirtschaftlichen Angriffe seitens der Herrschenden, um sie daran zu hindern, die Ausgebeuteten in eine absolute Verarmung zu stürzen. Aber es ist klar, dass sie den Kapitalismus nicht daran hindern können, immer mehr in der Krise zu versinken. Sie ermöglicht es den Ausgebeuteten, ihre kollektive Stärke zu entwickeln, ihre Einheit, ihre Solidarität, ihr Bewusstsein im Hinblick auf die einzige Alternative, die der Menschheit eine Zukunft bieten kann: die Überwindung des kapitalistischen Systems und seine Ersetzung durch eine Gesellschaft, die auf ganz anderen Grundlagen fußt. Eine Gesellschaft, die nicht mehr auf Ausbeutung und Profit sowie der Produktion für einen Markt basiert, sondern die für die Bedürfnisse der Menschen produziert. Diese Gesellschaft wird von den Arbeitern selbst geleitet werden und nicht von einer privilegierten Minderheit: Es handelt sich um die kommunistische Gesellschaft.
Acht Jahrzehnte lang haben alle Teile der kapitalistischen Klasse, vom linken bis zum rechten Flügel, gemeinsam daran gewirkt, die seinerzeit in Osteuropa und China herrschenden Regime als "kommunistisch" darzustellen; in Wirklichkeit waren diese nur eine besonders barbarische Form des Staatskapitalismus. Sie wollten versuchen, die Ausgebeuteten davon zu überzeugen, dass es vergeblich wäre, von einer anderen Welt zu träumen, dass es keine andere Welt als den Kapitalismus geben könnte.
Nachdem heute der Kapitalismus seinen historischen Bankrott offenbart, muss die Perspektive der kommunistischen Gesellschaft immer mehr die Kämpfe der Arbeiter inspirieren.
Gegenüber den Angriffen des sich in äußerster Bedrängnis befindenden Kapitalismus,um die Ausbeutung, Armut, die kriegerische Barbarei zu überwinden brauchen wir die Entwicklung von Arbeiterkämpfen auf der ganzen Welt.
Proletarier, aller Länder vereinigt euch!
Internationale Kommunistische Strömung, 25.10.2008
Pun Ngai ist Professorin am sozialwissenschaftlichen Zentrum der Pekinger Universität und der Hongkonger Polytechnischen Universität. Zurzeit befindet sie sich auf einer Tournee durch fünf europäische Länder, um das Buch „DAGONMEI - Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen“ vorzustellen, das sie zusammen mit ihrem Kollegen Li Wanwei vom Institut für industrielle Beziehungen in Hongkong herausgegeben hat. (1) Nicht zuletzt das Erscheinen dieses Buches auf Deutsch bot den Anlass zu dieser öffentlichen Gesprächsreihe.
Pun Ngai ist Professorin am sozialwissenschaftlichen Zentrum der Pekinger Universität und der Hongkonger Polytechnischen Universität. Zurzeit befindet sie sich auf einer Tournee durch fünf europäische Länder, um das Buch „DAGONMEI - Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen“ vorzustellen, das sie zusammen mit ihrem Kollegen Li Wanwei vom Institut für industrielle Beziehungen in Hongkong herausgegeben hat. (1) Nicht zuletzt das Erscheinen dieses Buches auf Deutsch bot den Anlass zu dieser öffentlichen Gesprächsreihe.
Am 10. Oktober 2008 stellte Pun Ngai dieses Buch in Köln vor. Eingedenk der Bedeutung des wirtschaftlichen und militärischen Aufstiegs Chinas in den letzten Jahrzehnten und der Fragen, die sich bezüglich der Zukunft dieses „Wirtschaftswunders“ im Lichte der gegenwärtigen Agonien des Weltkapitalismus stellen, war es keine Überraschung, dass das Kölner Treffen auf großes Interesse stieß.
Das Subjekt der Untersuchung von Pun Ngai sind die Arbeitsimmigranten innerhalb Chinas – die Proletarisierung von 120 Millionen Bauern im vergangenen Vierteljahrhundert – insbesondere die Bedingungen der „Dagongmei“, wörtlich: „Arbeitsschwestern“. Pun Ngai und Li Wanwei präsentierten eine Reihe von Interviews mit jungen Arbeiterinnen, die aus den ländlichen Gebieten in die Industriestadt Shenzen in Südchina gekommen waren, einer der ersten Sonderwirtschaftszonen, die von der chinesischen Regierung geschaffen worden waren, um ausländisches Kapital anzuziehen. In ihrer Präsentation gab Pun Ngai Beispiele aus den persönlichen Erfahrungen solcher Arbeiterinnen.
Doch vor allem war es ihr Anliegen, diese Erfahrungen in einen globaleren Zusammenhang zu setzen, um Bewegungen einen „Sinn abzugewinnen“, die zweifellos von weltweiter Bedeutung sind. Sie stellte zwei Hauptargumente vor, die im Zentrum ihrer Analyse der Entwicklungen in China stehen.
Das erste ist die Trennung zwischen der Produktionssphäre in den Städten und der Reproduktionssphäre auf dem Lande. Ein großer Teil der Arbeitskraft für die Weltmarktfabriken wird vom Lande rekrutiert. Die Reproduktionskosten dieser Arbeitskräfte werden von den Bauernfamilien selbst auf der Grundlage winziger Landparzellen auf Subsistenzbasis übernommen. Dies erklärt größtenteils, warum die Löhne in China so viel niedriger sein können als in den alten weiterentwickelten kapitalistischen Ländern des Westen oder in Japan, wo die Lohnarbeit zum großen Teil im Rahmen des Lohnarbeitssystems reproduziert wird (mit anderen Worten: wo die Löhne nicht nur die Reproduktionskosten der ArbeiterInnen selbst decken müssen, sondern auch die ihrer Kinder, der künftigen Generation von Proletariern).
Doch wie in der sich anschließenden Diskussion betont wurde, ist dieses „Geheimnis“ der kapitalistischen Entwicklung keine chinesische Besonderheit, sondern liefert die Basis für ähnliche Entwicklungen anderswo in Asien oder auf anderen Kontinenten. Viele Besucher dieses Treffens waren auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum China erfolgreicher in dieser Entwicklung ist als die meisten seiner Rivalen.
Hier ist der zweite Gedanke, der von Pun Ngai vorgestellt wurde, von eminenter Bedeutung. Es ist, wie sie es nennt, das Schlafsaalsystem. Im maoistischen China (wie im stalinistischen Russland, möchten wir hinzufügen) war die freie Bewegung der Arbeit innerhalb des Landes nicht zugelassen. Insbesondere wurde die gesamte Bevölkerung entweder als Stadt- oder Landbewohner registriert. Ein Bauer benötigte eine Genehmigung, um in die Stadt zu ziehen, und umgekehrt. Trotz aller Wirtschafts“reformen“ von Deng wurde diese Einschränkung der Beweglichkeit der Arbeit beibehalten. Auf dem ersten Blick ist dies überraschend mit Blick auf die Notwendigkeit der Freizügigkeit der Arbeit für das Kapital. Doch die Beibehaltung dieser Regulierungen macht aus den Migranten in den Städten „Illegale“ im eigenen Land, ohne Versicherung, medizinische Versorgung oder Bildungsstätten. Auch haben sie nicht die Möglichkeit, Arbeiter-Communities für sich selbst in den urbanen Zentren zu bilden. Sie sind gezwungen, in Schlafsälen zu übernachten, die den Bossen gehören. Als solche sind sie ständig unter der Kontrolle ihrer Arbeitgeber. Wie Pun Ngai betonte, können sie sich nicht weigern, ihre Körper zu verkaufen, ohne von Räumung bedroht und zurück in ihre Dörfer geschickt zu werden. Sie sind jederzeit für die „Just in time“-Produktion, die der Weltmarkt erfordert, verfügbar. Wie die Opfer dieses Systems selbst sagen, sind sie „sofort verfügbare“ „Wegwerfarbeiter“, die zurück aufs Land geschickt werden können, sobald sie nicht mehr erforderlich sind oder ihre Gesundheit ruiniert ist.
Pun Ngai vergleicht diesen Proletarisierungsprozess mit dem ersten Industrieland in der Geschichte, Großbritannien, wie es von Friedrich Engels in seiner berühmten Untersuchung der Arbeiterklasse in England geschildert wurde. Während sie auf die Existenz einer Reihe von Ähnlichkeiten hinwies, unterstrich sie gleichzeitig zwei Unterschiede. Zunächst einmal war der Ausgangspunkt für den Aufstieg des modernen Kapitalismus die gewaltsame Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, der Bauern von ihrem Land. In China ließen die Landreformen Maos der Bauernschaft eigene, winzige Landparzellen, zuviel, um zu verhungern, aber nicht genug, um davon zu leben. Aus diesem Grund ist die Migration der ländlichen Armen „freiwillig“, findet offiziell aber nur unter Verletzung staatlicher Gesetze statt. Darüber hinaus sind besonders junge Frauen durch kulturelle Faktoren (wie während der Diskussion betont wurde) motiviert, der rückständigen, patriarchalischen Welt des Dorfes zu entfliehen. Zweitens ist es, wie bereits unterstrichen worden war, die Besonderheit (Pun Ngai nannte sie eine Unvollständigkeit) dieser Proletarisierung, dass die ArbeiterInnen unter der Drohung gehalten werden, zurück aufs Land geschickt zu werden. Sie betonte die Traumata, die durch die Unsicherheit dieses „Zwischenstatus“, der auf die Dauer unerträglich ist.
In ihrer Antwort auf eine entsprechende Frage aus dem Publikum wies sie darauf hin, dass die chinesische Regierung gegenwärtig die Möglichkeiten einer Landreform in Erwägung zieht, die den Erwerb privaten Landes erleichtern soll. Doch der Sinn dieser „Reform“ wäre nicht, der Bauernschaft zu erlauben, ihre Parzellen zu vergrößern, was die Subsistenzwirtschaft überlebensfähiger machen und somit der Migration vom Lande Einhalt gebieten würde. Vorgesehen ist im Wesentlichen eine Ermunterung zum Kauf großer Landgüter, die im Gegenteil die Migration weiter anfachen und den Städten neue Reserven billiger Arbeitskräfte bescheren würden.
Bezüglich der Auswirkungen dieser historischen Entwicklungen auf die Arbeiterklasse unterschied Pun Ngai zwischen der ersten und der zweiten Generation von Migranten. Die erste Generation hatte noch die Hoffnung, Geld zu sparen und nach Hause zurückzukehren. Die Männer konnten darauf hoffen, ihre Parzellen zu modernisieren, die Frauen darauf, kleine Geschäfte zu eröffnen. Doch für die weit überwiegende Mehrheit realisierten sich solche Träume niemals, und viele, die es versuchten, endeten in finanziellem Ruin. Die erste Generation wurde durch diese Erfahrungen, die sich durch Verzweiflung und Verinnerlichung ihres Zorns auszeichneten, traumatisiert.
Im Gegensatz dazu ist das Motto der neuen Generation: „keine Trauer“ darüber, die Dörfer verlassen zu haben. Sie ist entschlossen, niemals zurückzugehen. Die Energie dieser ArbeiterInnen richtet sich auf die Zukunft und nach außen und drückt sich selbst in kollektiven Klassenaktionen aus. Laut offiziellen Zahlen stieg zwischen 1993 und 2005 die Zahl der jährlich registrierten „kollektiven Vorkommnisse“ von 10.000 auf 87.000. Besonders in den vergangenen drei Jahren haben nahezu alle Teile der Klasse einschlägige Erfahrungen gesammelt. Proteste und Petitionen werden nicht nur gegen bzw. an die Arbeitgeber gerichtet, sondern auch gegen die staatliche Verwaltung und den offiziellen Gewerkschaftsapparat. Pun Ngai berichtete von Diskussionen, wo militante Minderheiten von Arbeitern äußerten: „Wir müssen nach einem großen Ideal suchen! Wir brauchen neue innere Werte!“
Diese Ideen, sagt sie, verbreiten sich heute immer mehr. Sie berichtete ebenfalls, dass insbesondere die Arbeiterinnen in einigen Fällen begonnen haben, die Schlafsäle in Orte des Kontaktes, Dissens‘ und der Organisierung von ArbeiterInnen umzuwandeln.
Einige Besucher stellten auch allgemeinere politische Fragen. Jemand wollte wissen, wann China ihrer Meinung nach eine Demokratie werde. Sie antwortete, dass dies nicht wirklich ihr Anliegen sei und dass Demokratie etwas sei, was einer Definition bedarf. Ihr Anliegen sei die Entwicklung dessen, was sie Graswurzeldemokratie in der Klasse nannte. In ihrer Antwort auf die Frage, ob die ArbeiterInnen sich heute positiv darauf beziehen, was der Fragesteller den „Sozialismus“ von Mao nannte, und ob sie irgendetwas Positives aus dieser „sozialistischen“ Erziehung für ihren jetzigen Kämpfe gelernt haben, sagte sie, dass ArbeiterInnen gelegentlich Zitate von Mao benutzen, um bestimmte Forderungen gegenüber dem Staat legal zu rechtfertigen. Über die Versuche, patriotische Gefühle über die neue „Größe Chinas“ (zum Beispiel anlässlich der Olympischen Spiele) unter den ArbeiterInnen zu entfachen, sagte sie, dass sie sowohl durch den Westen (durch seinen aggressiven Diskurs) als auch von den chinesischen Herrschern selbst gefördert wurden und ein negativer Faktor gegen die Arbeiterklasse seien.
Natürlich wollten alle von Pun Ngai wissen, wie die aktuelle weltweite Finanzkrise China betreffen werde. Sie sagte, dass dies angesichts der Exportabhängigkeit des Landes wahrscheinlich weitverbreitete Arbeitslosigkeit und wachsende Armut verursachen werde. Nach etlichen Jahren steigender Löhne, nicht zuletzt unter dem Druck der Arbeitermilitanz, würde dies wahrscheinlich die „Verhandlungsmacht“ beträchtlicher Teile der Klasse beeinträchtigen.
Es wurden so viele Fragen gestellt, dass am Ende leider keine Zeit mehr war für die vorgesehene allgemeine Diskussion. Doch es wurde darauf hingewiesen, dass das System, Arbeitskräfte illegal, aber geduldet – und somit besonders billig und fügsam – zu machen, keine Besonderheit Chinas ist, sondern überall auf der Welt um sich greift, einschließlich in Europa und den Vereinigten Staaten. Die Besonderheit Chinas ist das Ausmaß, in dem dieses Mittel angewendet wird. Die Schlafsäle beherbergen regulär zwischen 5.000 und 10.000 ArbeiterInnen pro Einheit. Die Agglomerationen dieser Lager umfassen häufig Gebiete, die so groß wie eine durchschnittliche europäische Großstadt sind.
Als Schlussfolgerung können wir durchaus sagen, dass jene, die zu dem Treffen gekommen waren, sehr bewegt waren von der Präsenz, dem Kampfgeist und der Klarheit in den Analysen einer Repräsentantin der Arbeiterklasse aus China. (2)
Kapitalismus heißt Weltwirtschaft. Durch die weltweite Zusammenschaltung und die Entwicklung des Klassenkampfes schafft der Kapitalismus gegen seinen Willen die Bedingungen für die Vereinigung seiner eigenen Totengräber.
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/2008_bankrottes_system.pdf
[2] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftskrise-2008
[3] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeitersolidaritat
[4] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/ausweg-wirtschaftskrise
[5] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/weltwirtschaftskrise-1929
[6] https://de.internationalism.org/tag/4/61/china
[7] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/china
[8] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/lage-der-arbeiter-china
[9] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftswunder-china
[10] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/dagongmei
[11] https://de.internationalism.org/tag/leute/pun-ngai
[12] https://de.internationalism.org/tag/leute/li-wanwei