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April 2010

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Geschichte der Arbeiterbewegung: Syndikalismus in Deutschland, Teil 2

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Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

Im vorhergehenden Artikel haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick umfasste die 1870er Jahre bis ins Jahr 1903.  Die 1897 gegründete FVDG verstand sich noch bis ins Jahr 1903 explizit als ein kämpferischer Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung und hatte kaum Verbindungen zum Syndikalismus, der in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien stark präsent war. Die FVDG hatte auf der theoretischen Ebene konsequent den Anspruch der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verteidigt, sich nebst ökonomischen auch um politische Fragen zu kümmern.

Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte der Zerstreuung unter dem Sozialistengesetz und der Auseinandersetzungen mit dem großen gewerkschaftlichen Zentralverband, hatte es die FVDG aber nicht geschafft in ihren eigenen Reihen eine ausreichende Koordination für den gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Die bereits bestehende, schon klar syndikalistische Organisation der IWW in den USA war der FVDG in der Frage der Zentralisierung ihrer Aktivitäten meilenweit voraus. Der alltägliche Hang zu föderalistischer Zerstreutheit, auch wenn dies in der FVDG noch nicht theoretisiert wurde, sollte immer eine Schwäche der FVDG bleiben. Angesichts der aufkommenden Massenstreiks sollte die Abneigung gegen die Zentralisierung des Kampfes der Arbeiterklasse immer deutlicher ein Hindernis für die FVDG werden.  

Die Debatte um die neuen Kampfformen im Massenstreik der Arbeiterklasse im anbrechenden 20. Jahrhundert wurde für die FVDG eine große Herausforderung und führte zu einem deutlichen Schritt in Richtung Syndikalismus. Eine Entwicklung die sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verstärken sollte und die wir in diesem Artikel beleuchten.

Der Massenstreik stellt den verstaubten Gewerkschaftsgeist in den Schatten

Auf internationaler Ebene tauchen um die Wende ins 20. Jahrhundert immer mehr Vorboten des Massenstreiks als neue Kampfform der Arbeiterklasse auf. Der Massenstreik unterschied sich in seiner spontan ausbreitenden Dynamik, dem Branchen übergreifenden Charakter und vor allem der Aufnahme von politischen Forderungen vom althergebrachten Schema des wohl organisierten, beruflich beschränkten und lediglich auf ökonomische Forderungen begrenzten gewerkschaftlichen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts. In den international  aufkeimenden Massenstreiks manifestierte sich nun eine Lebendigkeit der Arbeiterklasse, welche die planmäßig vorbereitet und fest am jeweiligen Stand der gewerkschaftlichen Streikkassen klebenden Streiks weit in den Schatten stellte.        

Schon 1891 war ein Streik von 125`000 und 1893 von 250`000 Arbeitern in Belgien ausgebrochen, 1896 und 1897 entfaltete sich ein Streik der Textilarbeiter von St. Petersburg, 1900 unter den Bergarbeitern im US-Staat Pennsylvania, 1902 und 1903 im Bergbau in Österreich und Frankreich, 1902 erneut ein Massenstreik in Belgien um das allgemeinen Wahlrecht, 1903 unter den Eisenbahnern in Holland und im September 1904 eine landesweite Streikbewegung in Italien.

Deutschland mit seinen mächtigen und traditionsreichen Gewerkschaften und seiner dicht organisierten Arbeiterklasse war zu der Zeit nicht das Epizentrum dieses neuen Phänomens von gewaltigen, sich ausdehnenden Flutwellen des Klassenkampfes mit politischen Anliegen. Um so heftiger aber wurde die Frage des Massenstreiks in den Reihen der Arbeiterklasse in Deutschland diskutiert. Das Unbehagen gegenüber dem alten gewerkschaftlichen Schema des kontrollierten Klassenkampfs, der die heilige „Ruhe der Nation" nicht erschüttern sollte beschrieb Arnold Roller, ein Mitbegründer der FVDG, treffend am Beispiel des Bergarbeiterstreiks von 1905 im Ruhrgebiet, an dem sich 200`000 Arbeiter beteiligten: „Man (die Gewerkschaft) beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens" Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geist organisierten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsen, Bayern, usw. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks in Überstunden viele tausend Waggons mehr Kohle förderten - die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals zu verwenden. (...) Während die Arbeiter im Ruhrgebiet hungerten, verhandelten deren Vertreter im Parlament und erhielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen - aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die gesamte Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das Unternehmertum auszuüben.[1]            

Wichtigster Auslöser der berühmten „Massenstreikdebatte" von 1905/06 in der SPD und in den deutschen Gewerkschaften war aber zweifellos der gewaltige Massenstreik von 1905 in Russland, der in seiner Dimension und politischen Dynamik alles vorher Gesehene überstieg.[2]

Für die Gewerkschaften bedeuteten die Massenstreiks eine direkte Infragestellung ihrer Existenz und ihrer historischen Rolle. War ihre Rolle als geduldige ökonomische Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse nun überholt? Der Massenstreik von 1905 in Russland, eine direkte Reaktion auf die durch den Russisch-Japanischen Krieg enorm verschärften Leiden der Arbeiterklasse und Bauernschaft, hatte deutlich gezeigt, dass nun politische Fragen wie Krieg und Revolution ins Zentrum der Arbeiterkämpfe rückten. Fragen welche die Kragenweite des traditionellen gewerkschaftlichen Denkens bei weitem überstiegen. „Das Gewerkschaftswesen ist eine Aktion der Arbeiter, die nicht über die Schranken des Kapitalismus hinausgeht. Seine Absicht ist nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Sein Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.", wie es Anton Pannekoek präzise ausdrückte.[3]

Den Führern der in Deutschland zu mächtigen Organen angewachsenen Gewerkschaften also den Vorwurf fehlender Flexibilität zu machen, weil sie sich nicht mit der Kampfform des politischen Massenstreiks anfreunden konnten, trifft nicht des Pudels Kern. Ihre abwehrende Haltung gegen die Massenstreiks resultierte schlicht aus dem Wesen und Denken ihrer gewerkschaftlichen Organisationen selbst, die sie repräsentierten und die für die neuen Erfordernisse des Klassenkampfes von nun an nicht mehr genügten.

Dass die politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse nun das Wesen der Massenstreiks zu verstehen hatten lag auf der Hand. Jedoch „für die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Führer galt als Axiom: Generalstreik ist Generalunsinn!".[4] Ohne die Realität wahrhaben zu wollen, glaubten sie in den Massenstreiks lediglich und sehr schematisch den vom Anarchisten und ehemaligen Mitgründer der holländischen Sozialdemokratie Domela Nieuwenhuis propagierten „Generalstreik" zu erkennen. Jahrzehnte zuvor hatte Engels 1873 berechtigterweise in seiner Schrift Die Bakunisten an der Arbeit die eigenartige Vision eines Generalstreiks als ein hinter den Kulissen wohl vorbereitetes Aufstandsszenario als Generalunsinn kritisiert. Diese alte Vision eines „Generalstreiks" zeichnete sich durch eine überall und gleichzeitig erfolgenden Arbeitsniederlegung der Arbeiterklasse aus, generalstabsmässig geleitet von den Gewerkschaften. Damit sollte die Macht der herrschenden Klasse ausgehungert und innert Stunden aus den Angeln gehoben werden. Das spontane Element des Klassenkampfes wurden dabei komplett unterschätzt. Die Führung der SPD und der Gewerkschaften fühlten sich berechtigt, Engels Ausspruch zum geflügelten Wort zu machen, um damit jeglichen Ansatz zur Debatte über die handfesten Massenstreiks die vor allem von der Parteilinken in der SPD um Rosa Luxemburg gefordert wurde ignorant zu unterdrücken.

Tief im Kern standen sich das alte anarchistische Muster vom grandios geplanten ökonomischen Generalstreik und die Auffassung der grossen Gewerkschaftszentralen aber sehr nahe. Was für sie zählte war lediglich die Quantität der Kämpfe. Doch das Potenzial der Arbeiterkämpfe politische Fragen in die Hand zu nehmen, also ihre Qualität, wiesen sie beide glattweg von sich. War die FVDG, die bisher zumindest theoretisch immer die politische Aktivität der Arbeiter verteidigt hatte, fähig darauf eine Antwort zu geben?

Die Position der FVDG zum Massenstreik

Innerhalb der FVDG entbrannte die Debatte um den Massenstreik im Jahre 1904. Dies im Hinblick auf den kommenden Internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam, an dem diese Frage auf der Tagesordnung stand. In den Reihen der FVDG ging es nun darum, das Phänomen des Massenstreiks erst einmal zu verstehen, zumal auch ihre eigene ruhige Welt der geordneten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte von den Massenstreiks richtiggehend überrumpelt worden war. In ihrer allgemeinen Auffassung einer wohl geregelten Gewerkschaftsarbeit unterschied sich die kleine FVDG nicht wesentlich vom grossen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband. Da die FVDG durch ihren schwachen Einfluss aber keinerlei Möglichkeiten hatte die Klassenkämpfe zu kontrollieren, standen sie der Frage des Massenstreiks weit offener gegenüber als die grossen gewerkschaftlichen Zentralverbände. Irritiert stellte sich die FVDG nun die Frage ob die ausgebrochenen Massenstreiks die historische Bestätigung der alten, fast theatralisch anmutenden Generalstreiksvisionen sei.

Gustav Kessler, Mitgründer der „Lokalisten" und politische Autorität innerhalb der FVDG starb im Juni 1904. Kessler hatte innerhalb der Führung der FVDG am stärksten den Weg der Orientierung an der Sozialdemokratie verkörpert. Der sehr heterogene Charakter der FVDG als lose Vereinigung von Berufsverbänden hatte immer auch minoritären anarchistischen Tendenzen wie derjenigen um Andreas Kleinlein Platz gelassen. Kesslers Tod und die Wahl Fritz Katers zum Vorsitzenden der Geschäftskommission der FVDG im Sommer 1904 eröffnete nun deutlich eine Periode zunehmender Offenheit gegenüber syndikalistischen Ideen.

Es war aber vor allem der französische Syndikalismus der GCT, welcher einem Teil der FVDG mit dem Konzept des „Generalstreiks" eine Antwort anzubieten schien, ohne sich jedoch offiziell darauf zu beziehen. Unter Kesslers Einfluss hatte die FVDG bis zu Beginn des Jahres 1904 offiziell die Propaganda für die Generalstreiksidee noch abgelehnt.

Die FVDG nahm zur Frage des Massenstreiks am umfassendsten in Form der von Raphael Friedeberg 1904 verfassten Schrift Parlamentarismus und Generalstreik und einer im August des selben Jahres verabschiedeten Resolution der FVDG Stellung. Friedebergs Standpunkt (er blieb bis 1907 noch Mitglied der SPD) war in den Jahren von 1904-07 sehr prägend für die FVDG und verdient daher näherer Betrachtung.[5]

Friedebergs Broschüre widmet sich größtenteils mit einer berechtigten und feinfühlig formulierten Kritik dem zerstörerischen und einschläfernden Einfluss des Parlamentarismus, wie er damals von der sozialdemokratischen Führung als das Non plus Ultra des Klassenkampfes verstanden wurde: „Die parlamentarische Taktik, die Überschätzung des Parlamentarismus, ist schon zu sehr eingewurzelt in den Massen des deutschen Proletariates. Sie ist ja auch gar zu bequem; alles soll die Gesetzgebung, alles die Änderung der Verhältnisse bringen, die eigenen Persönlichkeit braucht nichts anderes herzugeben als alle paar Jahre in diesen oder jenen Stimmkasten einen sozialistischen Zettel zu stecken. (...) Es ist ein schlechtes Erziehungsmittel des Proletariats. (...)  Ich will zugeben dass der Parlamentarismus eine historische Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte des Proletariats gehabt hat, wohl auch noch haben wird."  Wie wir sehen trägt dieser Anti-Parlamentarismus nicht den Charakter einer prinzipiellen Ablehnung, sondern geht von einem nun historisch erreichten Zeitpunkt aus, an dem sich dieses Propagandamittel für das Proletariat lediglich zu seinen Ungunsten entwickelt hatte.

In ähnlicher Weise wie Rosa Luxemburg unterstrich er dagegen den emanzipatorischen Charakter der großen Massenstreikbewegungen der vorangegangenen Jahre für das Proletariat: „Durch die Streiks schulen sich die Arbeiter, sie geben ihnen sittliche Kraft, sie bringen ihnen Solidaritätsgefühl, proletarisches Denken und Empfinden bei. Die Generalstreiksidee gibt den Gewerkschaften einen weiten Horizont wie ihn bisher der Gedanke der politischen Macht der Bewegung gegeben hat.". Die „politische Macht"  war für Friedeberg Synonym für den Parlamentarismus. Dabei beschreibt er auch den ethischen Aspekt des Kampfes der Arbeiterklasse: „Wenn die Arbeiter aber den Klassenstaat stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen was niedrig und gemein an ihnen ist, alles was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalsstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist."

Bezeichnend für die Texte von Friedeberg ist die stetige Verwendung des Begriffs „Generalstreik",  auch wenn von den konkreten politischen Massenstreiks der vergangenen Jahre die Rede ist und diese Anlass zu seinen Schriften waren.  

Obwohl die Triebfeder von Friedebergs Broschüre eine ehrliche Empörung gegenüber dem konservativen Geist in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden war, die er mit Luxemburg teilte, kam er zu ganz anderen Schlussfolgerungen:

- Er verwarf klar den bisher in der FVDG existierenden Drang sich auch um politische Fragen zu kümmern: „Wir führen keinen politischen Kampf und brauchen deshalb auch keine politischen Kampfformen. Unser Kampf ist ein ökonomischer und ein psychologischer." Dies war ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Haltung der FVDG. In oberflächlicher Gleichsetzung von „Politik gleich Parlamentarismus" verwarf er die politische Dynamik welche ja gerade die Massenstreiks ausgezeichnet hatten.     

- Zudem zeichnete Friedeberg eine (auch innerhalb der FVDG sehr minderheitliche) unmaterialistische Auffassung  des Klassenkampfes, basierend auf psychologischen Überlegungen und der Strategie der „Verweigerung der Persönlichkeit" - er nannte es „historischer Psychismus". Hier zeigte sich deutlich seine Anlehnung an gewisse anarchistisch-kleinbürgerliche Auffassungen, nach denen ein individueller Rebellengeist und nicht die kollektive Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse das tragende Element des Klassenkampfes sei.    

- Obwohl Friedeberg richtig die reformistische sozialdemokratische Idee der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht anprangerte, verfiel er in eine gradualistische Auffassung desselben Zuschnittes, aber mit gewerkschaftlicher Prägung: „In den letzten Jahren allein sind die Gewerkschaften um 21 Prozent gewachsen, sie sind auf über eine Million Mitglieder gekommen, sodass wir mit Sicherheit, da für solche Dinge gewissermaßen gesetzmäßige Faktoren gelten, rechnen können, das in ca. 3-4 Jahren wir 2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder haben werden, in 10 Jahren 3-4 Millionen. Und wenn die Generalstreiksidee immer weiter in das Proletariat eindringt (...) mehr als 4-5 Millionen Menschen zur Niederlegung der Arbeit zu bringen und dadurch den Klassenstaat zu beseitigen". In Wirklichkeit bedeutete die immer stärkere Einbindung der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften schon zur damaligen Zeit nicht bessere Bedingungen für die proletarische Revolution, sondern eine Fessel für die Arbeiterklasse.

- Unter dem Drang ein „ethisches Kampfmittels ohne rohe Gewalt" zu propagieren erkennt man bei Friedeberg aber auch eine große Unterschätzung der herrschenden Klasse und ihrer brutalen Repression in einer revolutionären Situation: „Das ist das Hauptzeichen der Generalstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. (...) Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind - das werden wir heute nicht bestimmen.".

Doch im Wesentlichen sah Friedeberg in den aufkommenden Massenstreiks die Bestätigung der alten anarchistischen Generalstreiksidee. Seine grösste Schwäche bestand wohl darin, nicht erkannt zu haben, dass sich die Massenstreiks hin zu einem politischen Akt der Arbeiterklasse entwickelten. Stattdessen  beschränkte er die Perspektive der Massenstreiks auf eine rein ökonomische Ebene. Diese Auffassung brach deutlich mit der Tradition der FVDG, welche bis anhin immer vor einem rein ökonomischen Kampf  gewarnt hatte.

Die Basis der FVDG stand nicht geschlossen hinter den Auffassungen von Friedeberg, der Repräsentant eines minoritären sich zum Anarchismus hin bewegenden Flügels war. Dennoch waren Friedebergs Positionen für eine kurze Epoche bekanntes Aushängeschild der FVDG. Friedeberg selbst zog sich 1907 aus der FVDG in eine anarchistische Kolonie in Ascona zurück.

Ein Verständnis der Massenstreiks konnte die FVDG mit den Theorien Friedebergs nicht anbieten. Anstelle der Erkenntnis, dass die historisch anwachsende revolutionäre Stimmung diese neue Form von Arbeiterkämpfen hervorbrachte, welche eine Verschmelzung von ökonomischen und politischen Fragen darstellten, war die Generalstreiksidee mit der die FVDG nun auf die Bühne trat ein Schritt zurück - eine Flucht vor politischen Fragen.

Was war nun die Bedeutung und Rolle der FVDG bezüglich des Massenstreiks? Trotz all der Konfusionen, welche in den Schriften Friedebergs zu Tage traten, hatte die Debatte in der FVDG und ihre Schriften eine aufwühlende Funktion innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Es steht ihr das Verdienst zu, schon vor der Niederschrift der bekannten und viel klareren Broschüren von Luxemburg und Trotzki über den Massenstreik von 1905, auch innerhalb der SPD diese gewichtigen Fragen aufgeworfen zu haben.

Dass die FVDG zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorstellung der Revolution noch strikte von Gewerkschaften als Organe der Revolution ausging soll uns nicht erstaunen. Einerseits war sie ja selbst eine Vereinigung von Gewerkschaften - ein Schritt darüber hinaus zu gehen hätte ihre eigene Organisationsform direkt in Frage gestellt. Andererseits baute auch Rosa Luxemburg noch stark auf die Gewerkschaften, welche sie in mehreren Ländern als das direkte und vorwärts weisende Produkt des Massenstreiks (z.B. in Russland) beschrieb. Es dauerte noch fast 5 Jahre bis zur Veröffentlichung von Trotzkis Buch 1905, welches die Arbeiterräte als neue Organe der Revolution anstelle der Gewerkschaften beschrieb[6]. Was der FVDG und ihren Nachfolgeorganisationen immer blieb, war ihre Blindheit gegenüber den Arbeiterräten und ihr Festklammern an den Gewerkschaften als angebliche Organe der Revolution. Eine Schwäche die sich in den revolutionären Erhebungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fatal auswirken sollte.       

Geheimverhandlungen zur Verhinderung des Massenstreiks und die Debatte in Mannheim 1906

Innerhalb der SPD entbrannte ab 1905 nun ein regelrechter Kampf ob die Frage des Massenstreiks auf dem kommenden Parteitag von 1906 diskutiert werden durfte. Krampfhaft versuchte der Parteivorstand die damals wohl gewichtigste Erscheinung im Klassenkampf als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Der Parteitag der SPD von 1905 in Jena hatte sich nur pro forma in einer Resolution für den Massenstreik als eine „eventuell zu propagierende Maßnahme" ausgesprochen. Der Massenstreik wurde darin lediglich zu einem letzten Verteidigungsmittel gegen einen allfälligen Entzug des allgemeinen Wahlrechts degradiert. Die von Rosa Luxemburg eingebrachten Lehren aus dem Massenstreik in Russland wurden vom überwiegenden Teil der Führung der SPD als „Revolutionsromantik" und auf die deutschen Verhältnisse keinesfalls übertragbar bezeichnet. 

Es erstaunt daher nicht, dass sich nach dem Kongress in Jena 1905 der Parteivorstand im Februar 1906 in Geheimverhandlungen mit der Generalkommission der Zentralgewerkschaften auf eine gemeinsame Verhinderung von Massenstreiks einigte. Diese Abmachung kam aber ans Tageslicht. Die FVDG veröffentlichte in ihrem Organ Einigkeit Teile des Protokolls dieses geheimen Treffens, welches ihnen in die Hände gekommen war. Darin stand unter anderem: „Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen". Diese Veröffentlichung löste in der SPD-Führung eine große „Empörung der Ertappten" aus und zwang sie die Debatte um den Massenstreik auf dem Mannheimer Parteitag vom 22.-23. September 1906 erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch wenn es keine Zusammenarbeit zwischen der FVDG und der Parteilinken gab (im Gegenteil kritisierte Karl Liebknecht die Schwächen der FVDG - die er wie Luxemburg als „Anarchosozialisten" bezeichnete - in übertrieben harter Manier), arbeitete die Veröffentlichung der Geheimprotokolle durch die Einigkeit Letzteren in die Hand. Als eine Strömung welche auf proletarischem Boden stand, war ihre Stossrichtung im Kampf gegen den Reformismus nicht grundsätzlich verschieden zu derjenigen der Revolutionäre.  

Bebels erste Worte in seinem Einleitungsreferat auf dem Mannheimer Parteitag widerspiegelten den ignoranten Unmut der Parteileitung, die sich bemüht sah sich wieder mit einer Frage auseinandersetzen zu müssen, welche sie ad acta zu legen gehofft hatte: "Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinander gingen, hat wohl niemand geahnt, dass wir in diesem Jahre schon wieder über den Massenstreik sprechen müssen. (...) Durch die Indiskretion der so genannten „Einigkeit" in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen. (...)  "[7]                

Um sich aus der Peinlichkeit der durch die Einigkeit ans Licht geratenen Geheimabmachungen zu winden machte sich Bebel lustig über die FVDG und Friedebergs Beitrag: „Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und der Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer grossen Mehrheit der Meinung, dass diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen."[8]  Wer sollte nur 8 Jahre später (1914) angesichts des Krieges mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten „vollständig ohnmächtig (sein) die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen"? Exakt der Parteivorstand der SPD, der lauthals den Kriegskrediten zustimmte! Die FVDG hingegen sollte trotz all ihrer Schwächen 1914 angesichts der Kriegsfrage noch fähig sein eine proletarische internationalistische Position gegen den Krieg einzunehmen. 

In der darauf folgenden dürftigen Parteitagsdebatte um den Massenstreik standen anstelle von politischen Argumenten bürokratische Streitereien und Rechtfertigungen darüber, ob sich Parteimitglieder nun an den Parteibeschluss von Jena 1905 zum Massenstreik halten sollten, oder an denjenigen des Gewerkschaftskongresses vom Mai 1906, welcher den Massenstreik klar verworfen hatte. Die Debatte drehte sich im Wesentlichen um den Antrag Bebels und Legiens, Parteimitgliedern die in der FVDG organisiert waren ein Ultimatum zum Übertritt in die Zentralgewerkschaften zu stellen. Bei Nichtübertritt sollten sie sofort aus der Partei ausgeschlossen werden.

Anstelle über die politischen Lehren aus den erfolgten Massenstreiks zu sprechen oder gar auf die Ausführungen in der eine Woche vorher erschienen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Luxemburg einzugehen, wurde die Debatte auf einen kläglichen partei-juristischen Zank reduziert!

Nachdem Puttlitz, der eingeladene Vertreter der FVDG und Redakteur der Einigkeit aus Berlin, ausgelacht worden war, wandte sich Rosa Luxemburg vehement gegen den Versuch der Unterdrückung der politisch zentralen Massenstreik-Debatte mit rein formellen disziplinarischen Mitteln: „Ferner finde ich es unverantwortlich, wenn hier die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht werden soll; daß wir uns damit innerhalb der Parteireihen Zank und Zwist auf den Hals laden sollen. Es ist doch kein Zweifel, daß unter den Lokalorganisierten sehr viele brave Genossen vorhanden sind, und es wäre unverantwortlich, wenn wir, um den Gewerkschaften in dieser Frage direkt zu dienen, den Zwist in unsere Reihen hineintrügen. Wir respektieren die Ansicht, daß die Lokalisten nicht den Zwist in den gewerkschaftlichen Organisationen soweit treiben sollen, daß sie die gewerkschaftliche Organisation dadurch unterbinden; aber im Namen der soviel gepriesenen Gleichberechtigung muß man doch mindestens dasselbe für die Partei anerkennen. Wenn wir die Anarchosozialisten, wie der Parteivorstand vorschlägt, aus der Partei direkt ausschließen, so geben wir damit ein trauriges Beispiel dafür, daß wir nur Energie und Entschlossenheit finden, um unsere Partei nach links abzugrenzen, daß wir nach rechts aber die Tore nach wie vor sehr weit offen lassen.

Von Elm hat hier angeführt als ein Beispiel des anarchistischen Unsinns, daß in der „Einigkeit" oder in einer Konferenz der Lokalorganisierten ausgesprochen sei: „Der Generalstreik wäre als das einzige Mittel des wirklichen revolutionären Klassenkampfes zu betrachten." Nun ist das selbstverständlich ein Unsinn und nichts anderes. Aber, werte Anwesende, es steht genausoweit entfernt von der sozialdemokratischen Taktik und von unseren Prinzipien, wenn David erklärt, die gesetzlichen, parlamentarischen Mittel sind die einzigen Mittel der Sozialdemokratie. Man sagt uns, die Lokalisten, die Anarchosozialisten untergraben auf Schritt und Tritt durch ihre Agitation die sozialdemokratischen Grundsätze. Aber es ist genau ebenfalls eine Untergrabung sozialdemokratischer Grundsätze, wenn einer von den Zentralverbänden, wie Bringmann auf Eurer Konferenz im Februar sich gegen das Prinzip des Klassenkampfes erklärte."[9]

Wie schon auf dem Parteitag im Jahre 1900 bei der Debatte um den Hamburger Gewerkschaftsstreit, widersetzte sich Luxemburg dem Versuch, die Schwäche der FVDG als Vorwand zu gebrauchen um die Diskussion zentraler Fragen zu umgehen. Sie erkannte, dass die grosse Gefahr nicht von einer gewerkschaftlichen Minderheit wie der FVDG kam, deren Mitglieder in der SPD oft auf der Seite des linken Flügels standen, sondern vom Zentrum und der Parteirechten.

Spaltung der FVDG und der endgültige Bruch mit der SPD 1908

Auch wenn die FVDG für die reformistische Führung SPD und den zentralen Gewerkschaftsverband keineswegs dieselbe Gefahr darstellte wie der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie um Liebknecht und Luxemburg konnten sie die FVDG nicht ignorieren, nur weil sie eine kleine Minderheit darstellte und die Lehren aus den Massenstreiks nicht wirklich erkannte. Das internationale Auftauchen von mächtigen revolutionär-syndikalistischen Bewegungen wie ab 1905 in den USA mit der IWW machte syndikalistische Tendenzen für den Reformismus zu einer potentiellen Gefahr.

Die auf dem Parteitag 1906 in Mannheim eröffnete Strategie, Druck auf die Mitglieder der FVDG zum Übertritt in die zentralen Gewerkschaften auszuüben wurde über Monate fortgesetzt. Einerseits wurde bekannten und kämpferischen Mitgliedern der lokalen Gewerkschaften lohnenswerte Posten in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratien angeboten. Andererseits für den Parteitag der SPD in Nürnberg, der 1908 stattfinden sollte, erneut ein Antrag über die Unvereinbarkeit einer Doppelmitgliedschaft in SPD und FVDG  angekündigt.

Doch die FVDG zerbrach vor allem an ihren eigenen Unklarheiten und den unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Berufsverbände. In einer Zeit in der es den politischen Massenstreik und das Auftauchen der Arbeiterräte zu verstehen galt, zerrieb sie sich in einer internen Auseinandersetzung um die Frage: Anschluss an die zentralen Gewerkschaftsverbände oder, hin zu einem syndikalistischen Weg der die politischen Fragen den ökonomischen unterordnete - eine Gegenüberstellung die gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war. Auf ihrem außerordentlichen Kongress im Januar 1908  entschied die FVDG über einen Antrag der Maurer-Gewerkschaften die FVDG zugunsten eines Übertritts in die Zentralgewerkschaften aufzulösen. Obwohl dieser Antrag abgelehnt wurde bedeute er die Spaltung der FVDG und damit das Ende der langjährigen Geschichte einer unübersehbaren gewerkschaftlichen Opposition welche sich noch an die alte proletarische Tradition der Sozialdemokratie angelehnt hatte. Mehr als ein Drittel der FVDG trat sofort in die großen sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften über. Die Mitgliederzahl sank bis 1910 von ehemals 20`000 auf knapp 7000.

Der Führung der Sozialdemokratie fiel es danach nicht mehr schwer, den Bruch mit den Überresten der FVDG auf dem Parteitag im September 1908 mit einem endgültigen Verbot der Doppelmitgliedschaft FVDG-SPD zu besiegeln. Die Überreste der FVDG stellten für Legien und Konsorten nun keine ernstzunehmende Gefahr an der Basis mehr dar.

Wenn wir nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Syndikalismus in Deutschland suchen, so markiert das Jahr 1908 den Beginn einer neuen Etappe, die der erklärten Hinwendung von nur etwas weniger als der Hälfte der Mitglieder der FVDG zum revolutionären Syndikalismus. 

Hin zum revolutionären Syndikalismus

Da die FVDG als eine gewerkschaftliche Oppositionsbewegung entstanden war, die in ihren Anfangsjahren noch fest mit der Sozialdemokratie, also einer politischen Organisation der Arbeiterbewegung, verbunden war, hatte sie sich bis ins Jahr 1908 nie als syndikalistisch bezeichnet. Denn Syndikalismus bedeutet nicht lediglich Feuer und Flamme für gewerkschaftliche Aktivitäten zu sein, sondern eine Schritt weiter zu gehen und in den Gewerkschaften die einzige und alleinige Organisationsform zur Überwindung des Kapitalismus zu sehen - eine Rolle die diese von ihrem nach Reformen ringenden Wesen her gar nie spielen konnten und können.

Das wegweisende neue Programm der FVDG des Jahres 1911 „Was wollen die Lokalisten? Programm, Ziele und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften" drückte diesen Standpunkt nun folgendermaßen aus: „Der Befreiungskampf der Arbeiter ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Kampf, den ganz naturgemäß die Gewerkschaft, als die Organisation der Produzenten, auf allen Gebieten zu führen hat. (...) Die Gewerkschaft (und nicht die politische Partei) ist allein in der Lage, die wirtschaftliche Macht der Arbeiter gehörig zur Entfaltung zu bringen..."

Und während doch gerade die grossen Massenstreiks und der vergangenen Jahre die spontane Dynamik des Klassenkampfes bewiesen hatten, und parallel dazu der Bruch der Bolschewiki mit dem alten Konzept der „Massenpartei" 1903 die Notwendigkeit von Organisationen revolutionärer politischer Minderheiten klarmachte, focht das neue Programm der FVDG zwar mit gutem Willen gegen einen alten „Dualismus", aber.. mit komplett falschen Schlussfolgerungen: „Daher verwerfen wir den schädlichen Dualismus (Zweiteilung), wie ihn Sozialdemokratie und die ihr zugehörigen Zentralgewerkschaften praktizieren. Wir meinen die widersinnige Teilung der Arbeiterorganisationen in einen politischen und einen gewerkschaftlichen Flügel." (...)  Da wir den parlamentarischen Kampf ablehnen und an seine Stelle den direkten politischen Kampf mit gewerkschaftlichen Mitteln und nicht um die politische Macht, sondern um die soziale Befreiung setzten, so verliert eine politische Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie ohnehin jede Existenzberechtigung."

Dieses neue Programm drückte eine absolute Blindheit gegenüber dem historischen Auftauchen und revolutionären Charakter von Arbeiterräten aus und flüchtete in die erwartungsvolle Theoretisierung eines neuen Gewerkschaftstypus als Allerweltsmittel:

- als Antwort auf die (tatsächlich) überlebte Massenpartei,

- als Ersatz für die verbürokratisierten grossen Gewerkschaften,

- als Organ der Revolution,

- und schlussendlich als Architekt der neuen Gesellschaft.

Welch allumfassende Aufgabe!

Doch vertrat die FVDG, wie es bezeichnend war für den revolutionären Syndikalismus zur damaligen Zeit, eine klare Verwerfung des bürgerlichen Staates und es Parlamentarismus. Sie verteidigte den Kampf der Arbeiterklasse gegen Krieg und Militarismus.

Das Verhältnis der FVDG gegenüber dem Anarchismus blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablehnen. Lediglich die Tatsache dass Friedebergs Theorien (auf seinem Weg vom Sozialdemokraten zum Anarchisten) in den Jahren 1904-07 Aushängeschild für die FVDG gewesen waren bedeute keinesfalls eine Hinwendung der gesamten Organisation zum Anarchismus. Im Gegenteil befürchteten die stark zum Syndikalismus tendierenden Kräfte um Fritz Kater, dass gerade auch von den Anarchisten ein „Bevormundung" drohe, so wie sie von der SPD immer gegenüber den Gewerkschaften ausgeübt worden sei. Kater bezeichnete noch in der Einigkeit vom August 1912 den Anarchismus als „ebenso überflüssig wie jede andere politische Partei"[10]. Es ist falsch zu meinen, dass es die Präsenz offizieller Anarchisten gewesen wäre, welche die FVDG in den Syndikalismus führte. Die Parteifeindlichkeit, welche in der harten Auseinandersetzung mit der SPD entstanden war, wandte sich in den Jahren vor dem Krieg auch gegen die anarchistischen Organisationen. Es war auch keinesfalls der Einfluss des charismatischen Anarchisten Rudolf Rocker ab 1919, welcher die Parteifeindlichkeit  in die Nachfolgeorganisation der FVDG, die FAUD hinein trug. Diese Entwicklung hatte deutlich vorher stattgefunden. Rocker theoretisierte sie in den 20er Jahren für den deutschen Syndikalismus nur viel deutlicher als dies vor dem Krieg geschah.

Die weiteren Jahre bis hin zum Kriegsausbruch 1914 waren bei der FVDG gekennzeichnet von einem Rückzug auf sich selbst. Die grosse Auseinandersetzungen mit den Mutterorganisationen waren ausgefochten. Die Trennung vom gewerkschaftlichen Zentralverband hatte 1897 stattgefunden. Der Bruch mit der SPD gute 10 Jahre später, 1908.

Es entstand eine kuriose Situation, welche ein immer wieder auftauchendes Dilemma des Syndikalismus aufzeigt: Sich als Gewerkschaft deklarierend, welche bei möglichst vielen Arbeitern verankert sein wollte, war die FVDG aber auf ein Minimum von Mitgliedern zusammengeschrumpft. Von den ca. 7000 Eingeschriebenen war nur ein geringer Teil auch wirklich aktiv. Eine Gewerkschaft war sie nicht mehr! Vielmehr waren die Überreste der FVDG nun auf Propagandavereine für syndikalistische Ideen zusammengeschrumpft, hatten also vielmehr den Charakter von politischen Gruppen. Doch politische Organisationen wollten sie partout nicht sein!

Die Überreste der FVDG blieben - und das ist für die Arbeiterklasse eine absolut zentrale Frage - auf internationalistischem Boden und wandten sich trotz all ihrer Schwächen gegen die Bestrebungen der Bourgeoisie hin zu Militarismus und Krieg. Die FVDG und ihre Presse wurde sofort bei Kriegsausbruch im August 1914 verboten und viele ihrer noch aktiven Mitglieder in Schutzhaft genommen.

In einem folgenden Artikel werden wir die Rolle der Syndikalisten in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und den Jahren der Deutschen Revolution 1918/19 und der weltrevolutionären Welle bis 1923 betrachten.

Mario 6.11.2009  

[1]              Arnold Roller (Siegfried Nacht): „Die direkte Aktion" 1912. Roller verkörperte innerhalb der FVDG den bis dahin sehr minoritären anarchistischen Flügel.

 

[2]              Siehe im Besonderen dazu auch: Internationale Revue Nr. 90, 122, 123, 125 (engl., franz., span.) 

[3]              Anton Pannekoek, „Das Gewerkschaftswesen", 1936

[4]              Paul Frölich, „Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat", Kapitel: „Der politische Massenstreik" 

[5]             Friedeberg selber kam nicht etwa aus dem Anarchismus in die FVDG, sondern war SPD Stadtverordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Berliner Parteileitung.

[6]              Trotzki schrieb 1907 zuerst das Buch Unsere Revolution. Einige Kapitel daraus dienten als Grundlage für das Buch 1905, welches 1908/09 geschrieben wurde.

[7]              Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, S 227.

[8]              Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, Seite 295.

[9]              ebenda, Seite 315 (oder in R. Luxemburg, Ges. Werke. Bd. 2, Seite 174)

[10]            siehe auch: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, S. 191-198

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1905 - Revolution in Russland [1]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [3]

Wiederveröffentlichung: Internationalisme, 1947: „Gegenwärtige Probleme der Arbeiterbewegung“

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„Gegenwärtige Probleme der Arbeiterbewegung“

Internationalisme,Nr. 25, August 1947.

Einleitung der IKS (1983)

Dieser Text von „Internationalisme“ ist ein Auszug aus einer Reihe von Artikeln, die im Jahre 1947 unter dem Titel „Gegenwärtige Probleme der Arbeiterbewegung“ veröffentlicht wurden.

In diesen Artikeln meint Internationalisme mit „Arbeiterbewegung“ oder „revolutionäre Bewegung“ die politischen Gruppen und Organisationen. Es polemisiert gegen den vorherrschenden Aktivismus dieser Gruppen, die davon ausgingen, dass mit dem Ende des 2. Weltkrieges die Möglichkeit der Wiederholung eines revolutionären Prozesses gegeben sei, so wie er nach dem Ende des 1. Weltkriegs von 1917-23 stattgefunden hatte.

Internationalisme dagegen schätzte das Ende des 2. Weltkrieges als eine tiefgreifende Niederlage für die internationale Arbeiterklasse ein. Die Bedingungen nach dem Ende des 2. Weltkriegs waren nicht die gleichen wie am Ende des 1. Weltkrieges. Die Arbeiterklasse war physisch und ideologisch geschlagen. Das Überleben des Kapitalismus verstärkte die Tendenz zum Staatskapitalismus, wodurch wiederum die Rahmenbedingungen für den Klassenkampf verändert wurden. Die Bedingungen für ein allgemeines Erstarken des revolutionären Klassenkampfes waren nicht vorhanden.

Internationalisme kämpfte gegen den Voluntarismus der Gruppen, die für die unmittelbare Bildung der Partei eintraten, ohne die neuen Faktoren dieser Periode zu berücksichtigen. Denn sie gingen davon aus, der einzige politische Rahmen sei der einer Wiederholung auf einer anderen, kleineren Ebene der Positionen und Orientierungen der Bolschewistischen Partei während der revolutionären Periode, ohne jedoch eine Bilanz der Niederlagen und der Fehler dieser Partei zu erstellen. Es handelt sich bei diesen Gruppen um Abspaltungen des Trotzkismus, aber vor allem ging es um die Fraktionen der Gauche Communiste Internationale (Internationale Kommunistische Linke), welche die Gründung einer Parti Communiste Internationaliste (Internalistischen Kommunistischen Partei) in Italien 1943 unterstützten.

Die Kritik fortsetzend, die Internationalisme schon bei der Gründung der IKP gemacht hatte (1), erinnerte Internationalisme an die Bedingungen der Bildung der Partei. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass das Entstehen und die Entwicklung, das Ende, der Niedergang oder der Verrat der politischen Organisationen des Proletariats (Bund der Kommunisten, I. und II. Internationale, die Kommunistische Internationale, die Bolschewistische Partei) eng mit den Aktivitäten der Arbeiterklasse selbst verbunden sind. Innerhalb der Arbeiterklasse kann eine Partei, d.h. eine Organisation, die dazu in der Lage ist, den Lauf des Klassenkampfes auf entscheidende Weise zu beeinflussen, nur entstehen, wenn in der Klasse selbst eine Tendenz zur Organisierung und Vereinigung gegen den Kapitalismus besteht. Und dies geschieht nur in einer Phase des aufsteigenden Klassenkampfes.

Diese Tendenz war am Ende des 2. Weltkrieges nicht vorhanden. Die Streikbewegungen in Italien 1943, die Demonstrationen gegen den Hunger in Deutschland 1945, wo manchmal sogar die Polizei gegen die Machthaber protestierte, waren beschränkt und blieben isoliert. Während sie ein Ausdruck der Kampfbereitschaft der Klasse waren, die von allen politischen Gruppen anerkannt wurde, blieb diese jedoch begrenzt und ein Gefangener der Ideologie der Kontrollkräfte der Bourgeoisie, der linken Parteien und der Gewerkschaften.

Aus der Sicht von Internationalisme war die Aufgabe der Stunde sicherlich nicht die Bildung der Partei. Gegenüber denjenigen, die diese Position als ‚defätistisch‘ einschätzen, eine Verwerfung der revolutionären Aktivität, behauptet Internationalisme, dass die Debatte nicht ‘Bildung der Partei‘ oder ‚gar nichts' lautete, sondern 'welche Aufgaben müssen die revolutionären Gruppen erfüllen und auf welches Programm müssen sie sich stützen'? Was als Theorie dargestellt wird, ist jedoch für viele in Wirklichkeit nur ein inkohärentes Gerede und Wiederholungen der Positionen der Komintern, so als ob nichts seit der revolutionären Welle passiert wäre, und sie verschweigen all die Debatten, die vor dem Krieg stattgefunden haben.

Bei der Gründung der IKP wirkten Leute mit wie Vercesi, der während des Krieges jede Möglichkeit revolutionärer Aktivitäten verwarf und sich weigerte, gegen den Krieg Position zu beziehen, wobei er gleichzeitig die Theorie entwickelte, ‘das Proletariat sei verschwunden’, bevor er sich letztendlich an ‘antifaschistischen Komitees’ (2) beteiligte. Ebenfalls wirkten Leute mit, die sich an der politischen und theoretischen Arbeit der Kommunistischen Linken zwischen den beiden Kriegen weder beteiligt noch diese Arbeit verfolgt hatten, und die dem Aufruf der alten Mitglieder der 20er Jahre folgten, welche dieser Arbeit ferngeblieben waren wie Damen und Bordiga, jetzt aber wieder in die IKP eintraten, ohne jemals jedoch die politischen Positionen der Kommunistischen Linken diskutiert zu haben.

Für Internationalisme, das die Kontinuität dieser Arbeit [der Kommunistischen Linken] darstellte, ging es jedoch nie darum, die Notwendigkeit revolutionärer Aktivitäten zu verwerfen. Während Internationalisme meinte: ‘Der Kurs des Klassenkampfes kann nicht durch den Willen der Militanten allein verändert werden, genauso wenig wie er unabhängig von ihrem Willen verändert wird’.

Welche Aktivität mit welchen Methoden? - das war die Frage, welche Internationalisme den revolutionären Organisationen stellte.

Der „Aufbau der Partei“ der IKP bedeutete in Wirklichkeit, sich in einen prinzipienlosen Aktivismus zu stürzen, und die Partei besteht sich aus einem Haufen bunt zusammengewürfelter Tendenzen, wobei Gruppen mitmachen, die sich an der Seite der Bourgeoisie an der ‚antifaschistischen Résistance‘ beteiligt haben. Für Internationalisme jedoch ging es darum, die Arbeit der Kommunistischen Fraktion fortzusetzen, weiterhin die Bilanz der revolutionären Welle zu ziehen, indem die Lehren aus der Niederlage und vor allem aus der Kriegszeit gezogen werden mussten, gemäß den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten eine ständige Propaganda gegen den Strom zu betreiben, die Auseinandersetzung und Diskussion im revolutionären Milieu fortzusetzen, wobei das revolutionäre Milieu unter den damaligen Bedingungen notwendigerweise zahlenmäßig reduziert war.

1947 konnte Internationalisme schon das Scheitern der verschiedenen Gruppen feststellen, die ihre eigene Agitation als die Aktivität der Klasse während der letzten Jahre auffassten. Das führte dazu, dass eine Demoralisierung und Zerstreuung der unreifen und überstürzt zusammengefassten militanten Kräfte eintrat, denen ohne irgendeine Diskussion Perspektiven vorgeschlagen wurden, die überhaupt nicht der Wirklichkeit entsprachen. Gruppen, die mit dem Trotzkismus gebrochen hatten, gaben den Marxismus auf und lösten sich auf. Von den 3.000 Mitgliedern, über die die IKP anfangs verfügte, traten eine Vielzahl aus und zerstreute sich. Die Führer dieser Partei und auch Anhänger der belgischen und französischen Fraktion, welche sie unterstützten, gingen nicht auf die wirklichen Ursachen dieses Phänomens ein, sondern erklärten mit philosophischen ‘Eiertänzen’. Sie sprachen von der Umwandlung der Quantität in Qualität. Gegenüber dieser Verirrung erklärte Internationalisme das, was geschehen war, einerseits durch die Unfähigkeit die Periode zu begreifen, aber andererseits auch durch die Methoden, welche die IKP selbst anwandte und verteidigte: die Verwerfung der politischen und theoretischen Vertiefung durch all ihre Mitglieder. Diese Methoden stützen sich auf das Wiederaufgreifen einer falschen Auffassung vom Klassenkampf und der Bewusstwerdung, demzufolge das Bewusstsein der Klasse nur ‚von Außen‘ in sie hineingetragen werden kann. Diese Auffassung, auf die sich Lenin in ‘Was tun?’ auf Kautsky gestützt hatte, begriff nicht, dass die Bewusstwerdung ein Prozess der gesamten Arbeiterklasse ist, wobei die Partei innerhalb der Arbeiterklasse der klarste und entschlossenste Ausdruck der Mittel und der allgemeinen Ziele der Bewegung ist. Diese Auffassung sah die Bewusstwerdung als das Werk einer aufgeklärten Minderheit, die über theoretische Erkenntnisse verfügte, die sie in die Klasse hineintragen müsse. Auf der Ebene der Partei führte diese Auffassung dazu, dass man zu theoretisieren anfing, nur besondere Individuen besäßen die Fähigkeit, die revolutionäre Theorie zu vertiefen, sie zu verbreiten und so entsprechend aufbereitet, den Mitgliedern der Organisation zu vermitteln.

Diese Auffassung von einem genialen Chef, der als einziger dazu in der Lage ist, die theoretische Arbeit der Organisation zu leisten, wird in dem Auszug des Artikels von ‘Gegenwärtigen Problemen der Arbeiterbewegung’ kritisiert, den wir nachfolgend veröffentlichen. Die Haltung der IKP gegenüber Bordiga, und die sie immer noch hinsichtlich der theoretischen Fragen der Arbeiterbewegung verteidigt, stützt sich auf diese Auffassung. Sie ist die Grundlage für die Verwerfung der offenen Diskussion all der Fragen und Orientierungen der Organisation. Sie bedeutet für die Militanten, dass ein unterwürfiger Gehorsam und ein blindes Vertrauen in die politischen Orientierungen vorhanden sein muss, die von dem Zentrum der Organisation alleine ausgearbeitet werden, was dazu führt, dass es keine wirkliche politische Bildung gibt.

Der Artikel wird in der nächsten Ausgabe der „Internationalen Revue“ unter dem Titel „Disziplin, die Hauptstärke....,“ fortgesetzt. der sich gegen die militärische Auffassung der militanten Arbeit in einer revolutionären Organisation richtet.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung kann die Partei ihre revolutionäre Funktion nur erfüllen, wenn die Partei ein Ort der kollektiven, ständigen theoretischen Ausarbeitung der politischen Orientierung durch alle ihre Mitglieder ist. Dies beinhaltet notwendigerweise die offenste und breiteste Diskussion, wie das in der Klasse insgesamt geschieht, deren Bedingung ihrer Befreiung das bewusste, kollektive Handeln ist, an dem sich alle Teile und Mitglieder der Klasse beteiligen müssen.

Das Leben der Klasse und der Partei hat nichts zu tun mit dem, was die Ikonen des "Leninismus" (die auch wenig mit Lenin selbst zu tun haben) hinsichtlich der Entwicklung der Theorie und der politischen Positionen meinen.

Die sklerotische Auffassung der IKP von der Methode einer revolutionären Organisation, gegen die Internationalisme 1947 mit großer Leidenschaft antrat, zeigt heute noch Wirkung, insbesondere bei Gruppen, die sich auf den Leninismus berufen. Die Schwierigkeiten, die durch die Beschleunigung der gegenwärtigen Geschichte hervorgerufen werden, werden durch den Opportunismus und das Sektierertum im revolutionären Milieu, das in Schwierigkeiten steckt, nur noch zunehmen. IKS 1983

1) Siehe die Kritik in Artikeln wie "Die Aufgabe der Stunde: Bildung der Partei oder Bildung von Kadern" – in International Review; Nr. 32 (engl. Ausgabe) wieder veröffentlicht.

2) Hinsichtlich der Geschichte der IKP (Programma Communista) siehe das Buch "Die Italienische Linke".

3) Siehe die Analyse hierzu in International Review (engl. Ausgabe) Nr. 32.

Internationalisme,Nr. 25, August 1947.

Die Auffassung vom genialen Führer

In der Politik ist es nichts Neues, wenn eine Gruppe ihre Auffassungen und ihr Handeln grundsätzlich ändert, sobald sie eine große Organisation, eine Massenpartei wird. Man kann viele Beispiele solcher Verwandlungen anführen. Man könnte dies ebenfalls berechtigterweise auf die bolschewistische Partei nach der Revolution beziehen. Aber was bei der Internationalistischen Kommunistischen Partei Italiens auffällt, ist die überraschende Schnelligkeit und der Geist, mit dem ihre Hauptführer diesen Wandel vollzogen haben, und dies ist umso überraschender deshalb, weil die Italienische Partei insgesamt sowohl zahlenmäßig als auch von der Funktion her bestenfalls einen erweiterten Teil darstellt. Wie also diesen Wandel erklären?

Z.B. In der Komintern war die Italienische Kommunistische Partei zum Zeitpunkt ihrer Gründung, als sie unter der Führung der Linken und Bordiga stand, immer das enfant terrible. Sie wandte sich gegen eine Unterwerfung unter die absolute Autorität der Führer, selbst unter die Autorität der Führer, für die sie die größte Hochachtung zeigte. Die KP Italiens wollte immer frei diskutieren und wenn nötig jede politische Position bekämpfen, mit der sie nicht übereinstimmte. Seit der Gründung der Komintern stand die Fraktion um Bordiga bei vielen Punkten in Opposition und brachte offen zum Ausdruck, wann sie nicht mit Lenin und anderen Führern der bolschewistischen Partei, der russischen Revolution und der Komintern überstimmte. Die Debatten zwischen Bordiga und dem Rest der Komintern auf dem 2. Kongress der Komintern sind bekannt. Niemand dachte damals daran, dieses Recht auf freie Diskussion infragezustellen und niemand hätte diese Diskussion als eine Untergrabung der Autorität der Führer aufgefasst. Vielleicht waren so feige und unterwürfige Leute wie Cachin (1) in ihrem innersten zutiefst skandalisiert über diese Vorgehensweise, aber sie wagten dies nicht einmal zu zeigen. Mehr noch: die Diskussion wurde nicht einmal als ein Recht, sondern als eine Pflicht aufgefasst, als das einzige Mittel, das durch die Auseinandersetzung mit den Ideen und Analysen, die Ausarbeitung der programmatischen und aktuell politisch notwendigen Positionen ermöglichte, die für das revolutionäre Handeln notwendig sind.

Lenin schrieb: "Es ist die Aufgabe der Mitglieder der Partei, selbst die Resolutionen der höheren Instanzen der Partei zu überprüfen. Wer aufs Wort glaubt, ist ein hoffnungsloser Idiot…." Und wir wissen, welche große Verachtung Lenin für diese unglaublichen Idioten zeigte. Lenin bestand unaufhörlich auf der politischen Notwendigkeit der politischen Erziehung der Mitglieder der Partei. Lernen, begreifen - all das kann nur durch die freie Diskussion, durch die allgemeine Auseinandersetzung mit den Ideen durch alle Mitglieder der Organisation ohne irgendeine Ausnahme geschehen. Dies ist nicht mal eine einfache Frage der Pädagogik, sondern eine Ausgangsbedingung für die politische Weiterentwicklung und Ausarbeitung, für die Festlegung des Weges und der Richtung der Befreiung der Arbeiterklasse.

Nach dem Sieg des Stalinismus und dem Ausschluss der Linken aus der Komintern hat die italienische Fraktion den Mythos des unfehlbaren Führers immer bekämpft und gegenüber Trotzki darauf bestanden, dass die in der Opposition befindlichen Gruppen die größten Anstrengungen unternehmen müssten, um eine kritische Überprüfung der Positionen der Vergangenheit durchzuführen und die theoretische Untersuchung durch möglichst möglich breiteste Diskussion der neuen Probleme vorangetrieben werden sollte. Die Italienische Fraktion hat vor dem Krieg in diesem Sinne gewirkt. Sie gab jedoch niemals vor, alle Probleme gelöst zu haben, und wie wir wissen, war sie selbst bei grundlegenden Fragen sehr gespalten.

Man muss aber feststellen, dass all diese guten Haltungen und Traditionen mit der Gründung der Partei verschwunden sind. Die IKP ist gegenwärtig die Gruppierung, in der es am wenigsten theoretische und politische Diskussionen gibt. Der Krieg und die Nachkriegszeit haben eine große Anzahl von neuen Problemen aufgeworfen. Aber keines dieser Probleme wurde oder wird bislang durch die Italienische Partei behandelt. Es reicht, wenn man die Schriften und Zeitungen der Partei liest, um sich der großen theoretischen und politischen Armut der Partei bewusst zu werden. Wenn man das Protokoll der Gründungskonferenz der Partei liest, fragt man sich, ob diese Konferenz 1946 oder 1926 stattgefunden hat. Und einer der Führer der Partei, wenn wir uns nicht irren, war es der Genosse Damen, hatte recht zu unterstreichen, dass die Partei die Positionen von 1925 wieder aufgriff und bei ihnen ansetzte. Aber was aus ihrer Sicht eine Stärke darstellt, (die Position von 1925) bringt in Wirklichkeit die schreckliche theoretische und politische Verspätung der Partei zum Ausdruck und verdeutlicht gerade die große Schwäche der Partei.

Kein Zeitraum hat in der Geschichte der Arbeiterbewegung so viele neue Tatsachen aufgeworfen und so viele neue Probleme gestellt wie dieser relativ kurze Zeitraum von 1927-47. Selbst der so bewegte Zeitraum von 1905-25 tat das nicht. Der größte Teil der Grundsätze der Komintern ist überholt und veraltet. Die Position hinsichtlich der nationalen und kolonialen Frage, hinsichtlich der Forderung nach Demokratie, des Parlamentarismus, zu den Gewerkschaften, zur Partei und ihrer Beziehung zur Klasse müssen radikal überprüft werden. Andererseits müssen Antworten geliefert werden auf die Frage des Staates nach der Revolution, der Diktatur des Proletariats, der Merkmale des dekadenten Kapitalismus, des Faschismus, des Staatskapitalismus, des ständigen imperialistischen Krieg, der neueren Formen des Kampfes und der Einheitsorgane der Arbeiterklasse. Dies war eine Reihe von Problemen, die die Komintern kaum angepackt hatte, und die nach dem Niedergang und der Entartung der Komintern aufgetreten sind.

Wenn man in Anbetracht des Ausmaßes dieser Probleme in den Beiträgen auf der Konferenz von Turin nachliest, wo man wie in Litaneien die alten Positionen von Lenin zur Kinderkrankheit des Kommunismus wiederholt hat, die schon zum Zeitpunkt überholt waren, als er diese Thesen verfasste; wenn man sieht, wie die Partei die alten Positionen von 1924 hinsichtlich der Beteiligung an den bürgerlichen Wahlen und dem Kampf innerhalb der Gewerkschaften wieder aufgreift, so als ob nichts auf der Welt passiert wäre, wird man sich der politischen Verspätung dieser Partei bewusst und all dessen, was sie aufzuholen hat. Und trotzdem stellt sich diese Partei, die - wiederholen wir es - am meisten Verspätung hat gegenüber den Arbeiten der Fraktion vor der Zeit vor dem Krieg, am stärksten jeder internen und öffentlichen politischen Diskussion entgegen. In dieser Partei ist das ideologische Leben am blassesten. Wie kann man das erklären? Die Erklärung wurde uns von einem der Führer der Partei in einem Gespräch mit uns gegeben. Er sagte uns: "Zum großen Teil besteht die Italienische Partei aus neuen Mitgliedern ohne theoretische Bildung, und diese Mitglieder sind politisch noch jung, unerfahren. Die alten Mitglieder selbst sind 20 Jahre lang isoliert geblieben, abgeschnitten von jedem Prozess des Nachdenkens. Nach dem jetzigen Stand der Dinge sind die Mitglieder nicht in der Lage, die Probleme der Theorie und der Ideologie anzupacken. Diese Diskussion würde ihre Auffassungen nur durcheinanderbringen und mehr Unheil als Gutes anrichten. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen sie festen Boden unter den Füßen haben, selbst wenn sie die alten, obgleich überholten Positionen vertreten, die aber schon vor langem formuliert wurden und für sie verständlich sind. Jetzt reicht es, den gemeinsamen Willen zur Handlung zusammenzuschweißen. Die Lösung der großen Probleme, welche durch die Erfahrung der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen aufgeworfen wurde, erfordert Ruhe beim Nachdenken. Nur ‘ein großes Gehirn’ kann sie nutzbringend anpacken und die erforderlichen Antworten darauf liefern. Die allgemeine Diskussion würde nur Verwirrung stiften. Die ideologische Arbeit ist nicht das Werk der Masse der Mitglieder sondern der Individuen. Solange diese genialen Individuen nicht aufgetaucht sind, kann man nicht hoffen, theoretisch voranzukommen. Marx und Lenin waren solche Individuen. Diese Genies lebten aber in der Vergangenheit. Wir müssen das Erscheinen eines neuen Marx abwarten. Wir in Italien sind davon überzeugt, dass Bordiga dieses Genie sein wird. Bordiga befasst sich gegenwärtig mit einem Gesamtwerk, das die Antworten liefern wird auf die Probleme, mit denen sich die Militanten der Arbeiterklasse herumschlagen. Wenn dieses Werk erscheinen wird, müssen die Mitglieder es nur assimilieren, es sich aneignen, und die Partei muss diese Politik übernehmen und ihre Aktionen nach diesen neuen Tatsachen ausrichten’.

Diese hier fast Wort für Wort wiedergegebene Aussage beinhaltet drei Elemente.

1. eine Tatsachenfeststellung: das niedrige ideologische Niveau der Mitglieder der Partei.

2. die Gefahr, breite Diskussionen innerhalb der Partei zu eröffnen, weil diese nur die Mitglieder verwirren könnten und somit ihren Zusammenhalt aufbrechen würden.

3. dass die Lösung der neuen politischen Probleme nur das Werk eines genialen Gehirns sein könne.

Was den ersten Punkt angeht, hat der führende Genosse vollkommen recht. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Aber diese Feststellung sollte unserer Ansicht nach dazu führen, dass die Frage nach dem Wert dieser Partei aufgeworfen wird. Was stellt eine solche Partei für die Klasse dar? Was kann sie der Klasse bieten?

Wir haben die Definition in Erinnerung gerufen, die Marx hinsichtlich des Unterschiedes zwischen den Kommunisten und dem gesamten Proletariat hervorhob: ihr Bewusstsein über das allgemeine Ziel der Bewegung und den Weg zur Erreichung dieses Ziels. Wenn die Mitglieder der Italienischen Partei diesen Unterschied nicht verkörpern, wenn ihr ideologisches Niveau nicht über das der gesamten Klasse hinausgeht, kann man dann noch von einer kommunistischen Partei sprechen?

Bordiga fasste gerade das Wesen der Partei dadurch zusammen, indem er von einem "Körper von Doktrin und einem Willen zur Handlung“ sprach. Wenn es an diesem "Körper von Doktrin" fehlt, dann stellen auch Tausend Umgruppierungen noch immer keine Partei dar. Um wirklich zu einer Partei zu werden, hat die IKP als allererste Aufgabe die ideologische Bildung der Kader, d.h. die ideologische Vorarbeit, um zu einer wirklichen Partei zu werden. Aber so denkt nicht unser Führer der IKP, der im Gegenteil nämlich davon ausgeht, dass eine solche Arbeit nur zu einer Verwirrung des Handlungswillens ihrer Mitglieder führen würde. Aber was soll man von solchen Gedanken halten? Sie erscheinen uns abscheulich. Müssen wir an die bemerkenswerten Sätze in ‘Was tun?’ von Lenin erinnern, wo er an Engels Aussage zur Notwendigkeit des Kampfes an drei Fronten erinnert, den ökonomischen, politischen und ideologischen Kampf?

Es gab immer Sozialisten, die sich vor der Diskussion fürchteten und Angst hatten vor dem Auftauchen von Divergenzen, weil diese den Handlungswillen der Mitglieder schädigen könnten. Dieser Sozialismus muss als blinder Sozialismus angesehen werden oder als der Sozialismus der Unwissenheit. Der junge Marx wetterte gegen den anerkannten Führer Weitling: das Proletariat braucht keine Unwissenheit. Wenn der Kampf der Ideen die Handlungen der Militanten durcheinanderbringt, wie viel mehr trifft das dann auch zu für die gesamte Arbeiterklasse? Aber dann ist es vorbei mit dem Sozialismus, es sei denn man meint, der Sozialismus bedeute Unwissenheit. Dies ist eine für die Kirche typische Auffassung, die auch davor Angst hat, die Gedanken der Gläubigen durcheinanderzubringen, indem man zu viele Fragen der Doktrin aufwirft.

Im Gegensatz zu der Behauptung, dass die Militanten nur handeln können auf der Grundlage einer Sicherheit, ‘selbst wenn diese sich auf falsche Positionen stützt’, behaupten wir, dass es keine Sicherheit gibt, sondern nur ein ständiges Überwinden und Weiterentwickeln von Wahrheit. Nur das Handeln, das sich auf die jüngsten Tatsachen stützt und ständig bereichert wird, ist revolutionär. Eine Handlung, die sich stützt auf eine Wahrheit von gestern, die aber heute schon überholt ist, ist steril, schädlich und reaktionär. Man möchte den Mitgliedern sichere und absolute Wahrheiten anbieten, während nur die relativen Wahrheiten, die die Antithese des Zweifels beinhalten, eine revolutionäre Synthese bieten.

Wenn der Zweifel und die logische Auseinandersetzung die Handlungen der Militanten durcheinanderbringen, kann man nicht verstehen, warum dieses Phänomen dann nur heute gültig wäre. In jeder Phase des Kampfes ist es notwendig, die früheren Positionen zu überwinden. In jedem Moment ist die Überprüfung der vorherigen Errungenschaften und der vorher eingenommenen Positionen erforderlich. Wir würden also in einem Teufelskreislauf landen: entweder überlegen, argumentieren und folglich nicht handeln können, oder handeln ohne zu wissen, ob unsere Handlungen sich auf eine durchdachte Argumentation stützen.

Dies ist eine schöne Schlussfolgerung. Welch eine Schlussfolgerung zieht der Führer der IKP, wenn er die logischen Konsequenzen daraus ziehen würde! Dies ist auf jeden Fall die Idealisierung des Charakterzuges, gegen den Lenin mit soviel Sarkasmus zu Felde zog, und den er als den hoffnungslosen Idioten darstellte. Das ist der perfekte Dummkopf, der als das ideale Mitglied der IKP-Italiens präsentiert wird. Jede Argumentation unseres Führers hinsichtlich der ‘gegenwärtigen’ Unmöglichkeit der Untersuchung und der theoretisch-politischen Kontroverse innerhalb der IKP, all das ist völlig unhaltbar. Die durch solche Kontroversen hervorgerufene Aufregung ist aber geradezu die Bedingung für die politische Bildung des Militanten; dafür, dass sein Handeln auf einer Überzeugung fußen kann, die ständig überprüft, verstanden und bereichert wird. Es ist die grundlegende Bedingung des revolutionären Handelns, außerhalb derer es nur Gehorsam, Kretinismus und Knechtschaft geben kann.

Aber der Kern des Denkens unseres Führers wird durch den dritten Punkt zum Ausdruck gebracht. Hier spiegelt sich das Innere seines Denkens wider. Die theoretischen Probleme des revolutionären Handelns werden nicht durch Kontroversen und Diskussionen gelöst, sondern durch das geniale Gehirn eines Individuums - des Führers. Die Lösung ist kein kollektives Werk, sondern das individuelle Werk des isolierten Denkers, der zurückgezogen in seinem Arbeitszimmer darüber brütet und anhand seiner Genialität die grundlegenden Elemente für die Lösung findet. Sobald diese Arbeit vollbracht, die Lösung erstellt ist, braucht die große Masse der Militanten und die gesamte Partei diese Lösung nur zu assimilieren und das politische Handeln auf diese Lösung auszurichten. Dadurch würden die Diskussionen wenn nicht schädlich, so doch zumindest zu einem überflüssigen Luxus, zu einem sinnlosen Zeitverlust. Und um diese These zu untermauern, wird unter anderem das Beispiel des Werkes von Marx zitiert.

Aber unser Führer hat eine sehr seltsame Auffassung von Karl Marx. Gerade Marx war alles andere als der Mensch des Studierzimmers. Weniger als noch bei jemand anders kann man bei Marx den Mensch des Handelns, den Kämpfer der Bewegung und den Denker voneinander trennen. Das Denken von Marx reifte in direkter Verbindung nicht durch das Handeln anderer, sondern durch sein Handeln zusammen mit den anderen in der allgemeinen Bewegung. Es gibt keine Idee in Marxens Werk, bei der dieser sich bei seinen Tätigkeiten nicht schon in Debatten oder Kontroversen mit den Ideen anderer auseinandergesetzt hätte. Deshalb beinhaltet sein Werk diese große Frische in der Ausdrucksweise und diese Vitalität. Sein ganzes Werk und selbst „Das Kapital“ ist nichts anderes als eine fortwährende Kontroverse, wo die schwersten und abstraktesten theoretischen Untersuchungen eng mit der Diskussion und direkten Polemik zusammenhängen und mit ihr verbunden sind. Das ist eine sehr seltsame Art, das Werk Marxens als das Ergebnis der wundersamen biologischen Eigenschaften des Gehirns von Marx aufzufassen!

Im Allgemeinen ist die Zeit der Genies in der Menschengeschichte vorbei. Was stellte das Genie in der Vergangenheit dar? Nichts anderes als der sehr niedrige Wissensstand des Durchschnitts der Menschen gegenüber dem der Wissensstand einiger Mitglieder der Elite einen ungeheuren Kontrast darstellte. Auf einer unteren Stufe der Entwicklung menschlicher Erkenntnis konnte das relative Wissen eine individuelle Aneignung darstellen genauso wie das Produktionsmittel ein individuelles Merkmal tragen konnte. Was das Werkzeug von der Maschine unterscheidet, ist sein gewandelter Charakter, das von einem rudimentären Ergebnis einer privaten Arbeit zu einem komplizierten Ergebnis einer gemeinsamen gesellschaftlichen Arbeit wird. Das gleiche trifft für die Erkenntnis im Allgemeinen zu. Solange diese sehr elementar blieb, konnte ein isoliertes Individuum diese Erkenntnis in ihrer Gesamtheit aufnehmen. Aber mit der Entwicklung der Gesellschaft und Wissenschaft kann das Wissen nicht mehr von einem Individuum erfasst werden, sondern nur von der gesamten Menschheit. Der Abstand zwischen dem Genie und dem Durchschnitt der Menschen nimmt in dem Maße ab, wie der Umfang des menschlichen Wissens ansteigt. Die Wissenschaft neigt genauso wie die Produktion in der Wirtschaft dazu, gesellschaftlich zu werden. Von dem Genie ist die Menschheit übergegangen zum isolierten Wissenschaftler, und vom isolierten zum Team von Wissenschaftlern. Die Arbeitsteilung wird immer größer. Um heute etwas herzustellen, ist die Zusammenarbeit von großen Arbeitermassen erforderlich. Diese gleiche Tendenz zur Arbeitsteilung besteht ebenfalls auf der geistigen Ebene und stellt somit gerade ihre Entfaltung sicher. Das Arbeitszimmer des Wissenschaftlers wird ersetzt durch das Forschungslabor, wo Forscherteams ihre Arbeit verrichten, genauso wie die Werkstatt des Handwerkers durch die Produktionsstätten in den großen Fabriken ersetzt wird.

Die Rolle des Individuums neigt dazu, in der menschlichen Gesellschaft zurückzugehen, nicht aber als Mensch, sondern als ein Individuum, das aus der verwirrten Masse hervorgeht und sich von dem menschlichen Chaos absetzt. An die Stelle des Menschen Individuum tritt der gesellschaftliche Mensch. Der Gegensatz zwischen der individuellen Einheit und der Gesellschaft wird durch die Synthese einer Gesellschaft ersetzt, in der alle Individuen ihre wirkliche Persönlichkeit finden. Der Mythos vom Genie gehört nicht zur Zukunft der Menschheit. Im Gegenteil, wir müssen ihn dem Mythos vom Helden und der Halbgötter in den Museen der Vorgeschichte zuordnen.

Man kann von der geschrumpften Rolle des Individuums in der menschlichen Geschichte halten was man will. Man kann es begrüßen oder bedauern. Aber diesen Prozess kann man nicht infragestellen. Um die technisch hochentwickelte Produktion fortzusetzen, war der Kapitalismus dazu gezwungen, allgemeine Schulbildung einzuführen. So war die Bourgeoisie dazu gezwungen, immer mehr Schulen zu eröffnen, da dies in einem gewissen Maße mit ihren Interessen übereinstimmte. Sie war dazu gezwungen zuzulassen, dass Arbeiterkinder zu einer höheren Schulbildung Zugang fanden.

In dem gleichen Maße ist das allgemeine Bildungsniveau des Durchschnitts der Gesellschaft angestiegen. Aber eine gewisse Stufe kann nicht überschritten werden, ohne dass ihre Herrschaft angetastet wird. Somit wird sie zu einer Fessel für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft. Dies ist einer der Ausdrücke des historischen Widerspruchs der bürgerlichen Gesellschaft, den nur der Sozialismus überwinden kann. Die Entwicklung der Kultur und des sich immer weiter entwickelnden Bewusstsein ist das Ergebnis aber auch die Bedingung des Sozialismus; und nun taucht jemand auf, der von sich behauptet, Marxist zu sein und beansprucht ein Führer einer Kommunistischen Partei zu sein und davon spricht und von uns erwartet, dass wir auf das rettende Genie warten.

Um uns zu überzeugen, hat er uns folgende Anekdote erzählt: Nach dem Krieg hat er Bordiga getroffen, den er 20 Jahre lang nicht mehr gesehen hatte; er hat seine theoretischen und politischen Schriften kritisieren wollen. Nachdem Bordiga diese Kritik gelesen hatte und sie als falsch betrachtete, hat er ihn gefragt, was er damit machen wolle. Unser Führer antwortete, dass er sie in den Zeitschriften der Partei veröffentlichen wollte. Daraufhin habe Bordiga geantwortet, da er aus Zeitmangel nicht auf sie eingehen könne, weil ihm für die notwendigen theoretischen Untersuchungen zur Widerlegung des Inhaltes dieser Artikel die Zeit fehle, würde er gegen deren Veröffentlichung eintreten. Und wenn dies der Partei nicht passe, würde er seine literarische Mitarbeit einstellen. Die Drohung Bordigas reichte aus, unseren Führer dazu zu bewegen, auf die Veröffentlichung dieser Artikel zu verzichten.

Diese uns als Beispiel vorgetragene Anekdote sollte Aufschluss geben über die Größe des Meisters und das Augenmaß des Schülers. Aber wir empfinden die ganze Angelegenheit als sehr peinlich. Wenn diese Anekdote wirklich stimmt, erhält man eine Vorstellung davon, welcher Geist innerhalb der IKP-Italiens herrscht, ein absolut jämmerlicher Zustand.

Das heißt, dass nicht die Partei, nicht die Masse der Militanten, nicht die Arbeiterklasse insgesamt dazu aufgerufen ist, diese oder jene politische Position zu beurteilen, ob sie richtig oder falsch ist. Die Masse der Arbeiter braucht nicht einmal informiert zu werden. Der ‘Meister’ selber entscheidet alleine, was die Masse der Arbeiter verstehen kann und worüber sie informiert werden muss. Welche spitzfindige Sorge, die Ruhe der Masse zu stören. Und wenn der Meister sich täuscht, wenn er falsch liegt? Das kann aber nicht der Fall sein, denn wenn der Meister sich täuscht, wie kann man sich dann vorstellen, dass ein einfach Sterblicher die Möglichkeit hat, die Lage zu beurteilen? Und trotzdem, andere große ‘Meister’ der Vergangenheit haben sich getäuscht, von Marx bis Lenin. Aber das wird nicht der Fall sein bei ‘unserem Meister’. Und wenn das der Fall wäre, dann kann nur ein zukünftiger ‘Meister’ ihn berichtigen. Dies ist eine typisch aristokratische Auffassung vom Denken.

Wir wollen nicht den großen Wert des Denkens des Spezialisten, des Wissenschaftlers, des Denkers leugnen, aber wir verwerfen die wirklich monarchistische Auffassung des Denkens, des heiligen Rechtes über das Denken. Was den ‘Meister’ selbst angeht, hört dieser auf, ein menschliches Wesen zu sein, dessen Gedanken sich in Auseinandersetzung mit anderen Menschen entwickeln, um gewissermaßen zu einem Phönix, einem sich bewegenden Phänomen zu werden, zu einer reinen Idee, die sich sucht, gegenüber sich selbst Widersprüche erhebt und sie dann wie bei Hegel wieder überwindet.

Ein Genie zu erwarten, ist die Erklärung seiner eigenen Unfähigkeit, wie die Masse, die am Fuße des Berges Sinai die Ankunft irgendeines Moses erwartet und irgendeine Bibel mit göttlicher Inspiration anbietet. Dies ist die alte und ewige Erwartung des jüdischen Messias, der sein Volk befreien soll. Der alte revolutionäre Schlachtruf des Proletariats besagt: „Es gibt keinen übergeordneten Retter, es gibt keinen Gott, es gibt keinen Cäsar, es gibt keinen Tribun“.

Man müsste in der Zukunft hinzufügen, es gibt kein Genie, um den besonderen Beitrag der Mitglieder der IKP Italiens zu würdigen.

Es gibt viele moderne Versionen dieser messianischen Auffassungen. Der stalinistische Kult des ‘unfehlbaren Führers’, das Führerprinzip der Nazis, das Ideal der Schwarzhemden des Duces. Sie sind der Ausdruck der Angst der dekadenten Bourgeoisie, die ganz vage ihr kommendes Ende spürt und versucht ihr Leben zu retten, indem sie sich zu Füßen des erst dahergelaufenen Abenteurers wirft. Das Konzept des Genies ist ein Teil der gleichen Familie von Gottheiten.

Das Proletariat hat mit all dem nichts zu tun und braucht keine Angst davor zu haben, wenn es der Wirklichkeit in die Augen schaut, dadurch erschüttert zu werden, denn die Zukunft der Welt gehört dem Proletariat.

(Fortsetzung folgt).

1) Ein früherer sozialistischer Abgeordneter, der Hauptprivatsekretär des sozialistischen Ministers Sembat während des 1. Weltkriegs. Als überzeugter Nationalchauvinist übernahm er die Aufgabe, Mussolini im Namen der französischen Regierung dazu zu gewinnen, damit Italien an der Seite der Entente in den Krieg eintrat. 1920 wurde er ein Anhänger der Kommunistischen Internationale, in deren Reihen er seine parlamentarische Karriere fortsetzte, und zum schwabbeligsten Anhänger Stalins bis zu seinem Tod wurde.

2) Gespräch mit Vercesi

Internationale Revue Nr. 34, (engl. Ausgabe)

Wiederveröffentlichung aus Internationalisme, 1947:

Gegenwärtige Probleme der Arbeiterbewegung

 

Die Disziplin - Hauptstärke....

Während der Parlamentswahlen in Italien Ende 1946 erschien ein Leitartikel im Zentralorgan der IKP Italiens, der als solcher schon ein Programm darstellte.

Sein Titel lautete: "Unsere Stärke", sein Verfasser war der Generalsekretär der Partei. Worum ging es in dem Artikel? Um die Unruhen in der IKP, die durch die Wahlpolitik der Partei hervorgerufen worden waren. Ein Teil der Genossen, der scheinbar eher aus Erinnerung an eine abstentionistische Tradition der Fraktion um Bordiga als aus Sorge um eine klare Position insgesamt, erhob sich gegen die Politik der Wahlbeteiligung. Diese Genossen reagieren eher aufgrund einer schlechten Laune, wegen mangelnden Enthusiasmus, wegen praktischer ‘Vernachlässigungen’ in der Wahlkampagne als durch einen offenen politischen und ideologischen Kampf innerhalb der Partei. Andererseits trieb eine gewisse Zahl von Genossen ihren Enthusiasmus für die Wahlen soweit, dass sie sich am Referendum ‘für die Monarchie oder die Republik’ beteiligten, wobei sie natürlich für die Republik stimmten, ungeachtet der abstentionistischen Position hinsichtlich des Referendums, die in dieser Frage vom Zentralkomitee eingenommen worden war. Indem man den ‘Ärger’ in der Partei durch eine Generaldiskussion über den Parlamentarismus vermeiden will, indem man die Politik der Vergangenheit, die als ‘revolutionärer Parlamentarismus’ dargestellt wurde, wieder aufgreift, wird in der Tat das Bewusstsein ihrer Mitglieder erschüttert, denn sie wissen nicht mehr, welchem ‘Genie’ sie sich zuwenden sollen. Die einen beteiligen sich zu intensiv, die anderen zu wenig engagiert; die Partei hat jetzt sozusagen ‘Hitze und Kältewallungen’ und sie ist ganz ramponiert aus diesem Wahlabenteuer hervorgegangen. (1)

Der Generalsekretär wendet sich in seinem Editorial ganz vehement gegen diesen Zustand. Sich auf die Disziplin berufend, verurteilt er die vor Ort vorhandenen politischen Improvisationen rechter und linker Art. Worauf es ankommt, ist nicht, ob eine Position richtig oder falsch ist, sondern es geht darum, die allgemeine politische Linie zu übernehmen, nämlich die des Zentralkomitees, dem man gehorchen muss. Das ist die Disziplin. Disziplin ist die Hauptstärke der Partei ... und der Armee, möchte der erste Offizier direkt hinzufügen. Es stimmt, dass der Sekretär die Disziplin, der man freiwillig zustimmt, definieren muss. Gott sei gelobt. Mit diesem Zusatz sind wir dann unbesorgt...

Entsprechende Reaktionen folgten dann diesem Aufruf zur Disziplin. Vom Norden bis zum Süden, von links bis nach rechts, hat eine immer größere Anzahl von Militanten auf ihre Art und Weise auf die ‘freiwillig übernommene Disziplin’ durch den freiwillig vollzogenen Austritt reagiert. Die Führer der IKP mögen wohl behaupten, dass es sich hier um die ‘Umwandlung der Quantität in Qualität’ handelt, und dass mit der Quantität, die aus der Partei ausgetreten ist, auch eine falsche Auffassung kommunistischer Disziplin verschwunden sei. Demgegenüber meinen wir, dass diejenigen, die geblieben sind und das Zentralkomitee an erster Stelle nicht eine falsche Auffassung der kommunistischen Disziplin vertreten haben, sondern eine falsche Auffassung vom Kommunismus überhaupt.

Was ist die Disziplin?

Das Aufzwingen des Willens eines anderen.

Die qualitative Zusatzbezeichnung ‘freiwillig unterworfen’ ist nur eine Beschönigung, um das Ganze attraktiver aussehen zu lassen. Wenn sie jedoch von denen vollzogen wurde, die unter der Disziplin leiden, oder die ihr zugestimmt haben, braucht man das nicht mehr in Erinnerung zu rufen, und vor allem muss man sie nicht mehr endlos daran erinnern, dass sie ‘freiwillig ausgeübt’ wird.

Die Bourgeoisie hat immer behauptet, dass ihre Gesetze, ihre Ordnung, ihre Demokratie der Ausdruck des ‘freien Willens’ des Volkes’ sind. Im Namen des freien Willens des Volkes wurden Gefängnisse gebaut, an deren Eingangstor mit Blut getränkte Worte geschrieben wurden: ‘Liberté, Egalité, Fraternité’ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Im Namen dieser ‘Werte’ mobilisiert sie das Volk immer für die Armee, so dass sie in den Massakern ihren ‘freien Willen’ hervorheben kann, der sich ‘Disziplin’ nennt.

Heirat ist ein freier Ehevertrag, so scheint es, so dass Trennung und Scheidung zu einem unhaltbaren Spott werden.

„Unterwerfe dich deinem Willen“ war der Gipfel der Kunst der jesuitischen Klassenausbeutung. In Seidenpapier schön eingepackt, verkauften sie so ihre Unterdrückung den Unterdrückten. Jeder weiß es, dass die christliche Inquisition wegen ihrer Liebe, wegen ihres Respekts für die göttliche Seele, und um diese zu retten, die Ketzer verbrannte, die sie aufrichtig bedauerte. Die göttliche Seele der Inquisition ist heute auch zur „freien Zustimmung“ geworden.

‘Eins zwei, eins zwei, links rechts, vorwärts’ übt eure Disziplin mit „freier Zustimmung“ aus und seid glücklich! Was ist also die Grundlage der kommunistischen Auffassung, und wir wiederholen nicht der Disziplin, sondern der Organisation und des Handelns? Ausgangspunkt ist, dass die Menschen frei handeln im vollen Bewusstsein ihrer Interessen. Die geschichtliche, ökonomische und ideologische Entwicklung bedingt diese Bewusstwerdung. Die ‘Freiheit’ existiert nur dann, wenn dieses Bewusstsein einmal errungen ist. Wenn es kein Bewusstsein gibt, ist Freiheit ein inhaltsleeres Wort, eine Lüge. Sie stellt dann nur Unterdrückung und Unterwerfung dar, selbst wenn man sich ihr freiwillig unterworfen hat. Die Kommunisten haben nicht zur Aufgabe, der Arbeiterklasse irgendwelche Freiheit zu bringen. Sie haben keine Geschenke anzubieten. Sie helfen nur der Arbeiterklasse, sich über die allgemeinen und Endziele der Bewegung bewusst zu werden, wie es das Kommunistische Manifest bemerkenswert klar ausdrückt.

Der Sozialismus, meinen wir, ist möglich als ein bewusstes Handeln der Arbeiterklasse. Alles, was diese Bewusstwerdung der Arbeiterklasse begünstigt, ist sozialistisch, aber nur das, was es begünstigt. Der Sozialismus lässt sich nicht durch irgendwelche Knüppel einführen, nicht weil Knüppel ein unmoralisches Mittel wären, wie Koestler das behaupten würde, sondern weil Knüppel nichts mit dem Bewusstsein zu tun haben.

Der Knüppel ist durchaus moralisch vertretbar, wenn man das Ziel der Unterdrückung und Klassenherrschaft verfolgt, denn mit dem Knüppel wird dann konkret dieses Ziel umgesetzt. Zudem gibt es und kann es dann kein anderes Mittel geben. Wenn man auf den Knüppel zurückgreift, und die Disziplin ist ein moralischer Knüppel, um das mangelnde Bewusstsein zu ersetzen, verwirft man den Sozialismus; man setzt eher die Bedingungen für das Gegenteil des Sozialismus um. Deswegen treten wir entschlossen gegen die Gewalt gegen die Arbeiterklasse nach dem Sieg der proletarischen Revolution an. Und wir sind entschlossene Gegner des Einsatzes von Disziplin innerhalb der Partei.

Damit es nicht zu Missverständnissen kommt: wir verwerfen nicht die Notwendigkeit der Organisation. Wir verwerfen nicht die Notwendigkeit gemeinsamen Vorgehens. Im Gegenteil. Aber wir wehren uns dagegen, dass die Disziplin jemals als Grundlage für das Handeln gesehen wird, das diesem seinem Wesen nach fremd gegenübersteht. Die Organisation und das gemeinsame kommunistische Handeln haben einzig und allein als Ausgangspunkt das Bewusstsein der Militanten. Je größer und je klarer dieses Bewusstsein ist, desto stärker ist die Organisation. Desto besser abgestimmt und wirksamer kann sie handeln.

Lenin hat mehrfach ‘freiwillig’ auferlegte Disziplin als einen Knüppel der Bürokratie bezeichnet. Wenn er den Begriff der Disziplin benutzt, und er hat das mehrfach erläutert, meinte er das im Sinne von organisiertem Handlungswillen, der sich auf das Bewusstsein und die revolutionäre Überzeugung eines jeden Mitglieds stützt. Man darf nicht von den Militanten erwarten, wie es das Zentralkomitee der IKP tut, eine Handlung auszuführen, die sich nicht verstehen, oder die gegen ihre Überzeugung gerichtet ist. Das hieße zu glauben, dass man einen revolutionären Weg verfolgen kann mit einer Masse von Deppen oder Sklaven. Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, dass man von der Notwendigkeit der Disziplin spricht, die als eine revolutionäre göttliche Natur dargestellt wird.

In Wirklichkeit können revolutionäre Handlungen sich nur stützen auf bewusste und überzeugte Mitglieder. Und damit zerbrechen diese Handlungen alle Ketten, und somit auch jene, die durch die heilige Disziplin auferlegt werden. Die alten Militanten erinnern sich daran, mit welcher Arglist diese Disziplin in den Händen der Bürokraten und der Führung der Komintern gegen die Revolutionäre eingesetzt wurde. Hitlers Truppen mit ihrer heiligen Feme, Sinowjews Leute an der Spitze der Komintern, sie kannten alle ihre heilige Disziplin. Tatsächlich handelte es sich um eine Inquisition mit ihren Kontrollkommissionen, die die Seele eines jeden Militanten marterten und durchleuchteten. Man hatte die Partei in eine Zwangsjacke gesteckt; jeder Schritt, jeder Versuch, der in Richtung revolutionäre Bewusstwerdung lief, sollte so erstickt werden. Wie durchtrieben das Ganze war, konnte man daran sehen, dass man die Mitglieder zwang, etwas in der Öffentlichkeit zu verteidigen, was sie innerhalb der Organisation verurteilten. Das war der Beweis des perfekten Bolschewiki. Die Moskauer Prozesse unterschieden sich in ihrem Wesen nicht von der Auffassung der freiwilligen Disziplin.

Wenn die Geschichte der Unterdrückung der Klassen diesen Begriff der Disziplin nicht hinterlassen hätte, hätte ihn die stalinistische Konterrevolution neu erfunden.

Wir kennen Mitglieder, insbesondere sehr bekannte Mitglieder Italiens, die, um aus diesem Dilemma, sich an der Wahlkampagne gegen ihre Überzeugung zu beteiligen, zu entweichen, oder um sich der Disziplin zu hinterziehen, nichts anderes zu tun wussten, als vorzugeben, dass sie verreisen müssten. So eine Täuschung des Bewusstseins, so eine Täuschung der Partei, nicht einverstanden zu sein, zu schweigen und alles zuzulassen, das sind die deutlichsten Ergebnisse dieser Methode. Welche Erniedrigung der Partei! Welche Entwürdigung der Mitglieder!

Die Disziplin der IKP beschränkt sich nicht nur auf die Mitglieder der Partei Italiens, sie wird ebenfalls von den belgischen und französischen Fraktionen eingefordert.

Der Abstentionismus war in der GCI (1) selbstverständlich. So schrieb eine Genossin der Französischen Fraktion in der Zeitung einen Artikel mit dem Versuch, den Abstentionismus mit der Wahlbeteiligung der IKP Italiens in Einklang zu bringen. Ihr zufolge handelt es sich nicht um eine Prinzipienfrage. Somit sei die Wahlbeteiligung der IKP sehr wohl zulässig. Jedoch meinte sie, dass es „besser“ gewesen wäre, sich zu enthalten. Wie man sehen kann, ist das eine nicht sehr „beißende“ Kritik, die vor allem bestimmt wird durch die Notwendigkeit, die Kritik der Fraktion in Frankreich gegen die Wahlbeteiligung der Trotzkisten in Frankreich zu rechtfertigen. Aber wir wissen nicht, was mit der Genossin geschehen ist. Es hat jedenfalls gereicht, um vom dem Sekretär der Partei in Italien zur Ordnung ermahnt zu werden.

Mit großem Paukenschlag erklärte der Sekretär, dass die Kritik im Ausland an der Politik des Zentralkomitees in Italien nicht zulässig sei. Es fehlt nicht viel und die Beschuldigung lautet dann: Dolchstoß. Dieses Mal kommt die Beschuldigung dann seitens Italiens gegen Frankreich. Marx und Lenin unterstrichen: Lehren, erklären, überzeugen. „Disziplin, Disziplin“ lautet das Echo aus dem Zentralkomitee.

Es gibt keine wichtigere Aufgabe als die Bildung von bewussten Militanten durch eine ausdauernde Erziehung, Erklärung und politische Diskussion. Diese Aufgabe ist gleichzeitig das einzige Mittel, welches das revolutionäre Handeln garantieren und verstärken kann. Die IKP Italiens hat ein wirksameres Mittel entdeckt: die Disziplin. All das überrascht uns nicht. Wenn man sich zum Konzept des Genies bekennt, der mit sich selbst Überlegungen anstellt, wo das Licht herkommt, wird das Zentralkomitee zum Generalstab, das dieses Licht in Befehle und Anweisungen umsetzt. Die Militanten werden zu Leutnants, Unteroffizieren und Gefreiten, und die Arbeiterklasse zu einer Masse von Soldaten, der beigebracht werden soll, dass „Disziplin unsere Hauptstärke“ ist. Diese Auffassung von der Arbeiterklasse und dem Kampf der Partei entspricht den Auffassungen eines Berufssoldaten der französischen Armee. Sie ist verwurzelt in einer uralten Unterdrückung und einer Herrschaft des Menschen über den Menschen. Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse, diese ein für allemal zu überwinden.

Das Recht auf Fraktionsbildung und die Funktionsweise der revolutionären Organisation

Nach so vielen Jahren gewaltiger Kämpfe innerhalb der Komintern um das Fraktionsrecht mag es als bestürzend erscheinen, heute auf diese Frage wieder zurückkommen zu müssen. Sie schien für jeden Revolutionär aufgrund der Erfahrung gelöst zu sein. Und trotzdem müssen wir dieses Fraktionsrecht heute gegen die Führer der IKP Italiens verteidigen.

Kein Revolutionär spricht von der Freiheit oder der Demokratie im Allgemeinen, denn kein Revolutionär lässt sich durch die allgemeinen Aussagen irreführen, weil er immer versuchen wird, ihren wirklichen gesellschaftlichen Inhalt, ihren Klasseninhalt aufzuzeigen. Mehr als irgendjemand anderem kommt Lenin das Verdienst zu, den Schleier hinsichtlich der Floskeln „um die Freiheit und Demokratie“ im Allgemeinen entlüftet und dies als Lügen aufgedeckt zu haben.

Was auf eine Klassengesellschaft zutrifft, trifft auch auf die politischen Gruppierungen zu, die innerhalb der Klassengesellschaft handeln. Die 2. Internationale war sehr demokratisch, aber ihre Demokratie lief darauf hinaus, den revolutionären Geist in einem Meer von ideologischem Einfluss der Bourgeoisie verschwinden zu lassen. Die Kommunisten lehnen solch eine Demokratie ab, wo die revolutionäre Flamme auf diese Art erlöscht wird. Der Bruch mit diesen Parteien der Bourgeoisie, die von sich behaupten sozialistisch und demokratisch zu sein, war notwendig und gerechtfertigt. Die Gründung der 3. Internationale auf der Grundlage des Ausschlusses dieser sogenannten Sozialdemokratie war eine historische Reaktion. Diese Reaktion ist eine endgültige Errungenschaft für die Arbeiterbewegung.

Wenn wir von Arbeiterdemokratie sprechen, von der Demokratie innerhalb der Organisation, verstehen wir darunter etwas ganz Anderes als die Auffassung der sozialistischen Linken, der Trotzkisten und anderer Demagogen. Aus ihrer Sicht bedeutet Demokratie, dass die Organisation Minister für die Verwaltung des bürgerlichen Staates stellt, dass sie sich „frei“ am imperialistischen Krieg beteiligen kann.

Diese Organisationen der Demokratie unterscheiden sich nicht groß von den ‚undemokratischen‘ Organisationen Hitlers, Mussolinis und Stalins, die genau die gleiche Arbeit verrichten. Nichts ist verwerflicher als die Beanspruchung (die sozialistischen Parteien waren Experten in der imperialistischen Beanspruchung auf etwas) auf Rosa Luxemburg, wenn die Vertreter der sozialistischen Linken mit Taschenspielertricks versuchen, ihren „Demokratismus“ der „bolschewistischen Intoleranz“ gegenüberzustellen. Rosa Luxemburg und Lenin haben das Problem der Arbeiterdemokratie nicht gelöst, aber beide hatten eine richtige Position zur sozialdemokratischen Demokratie und entblößten ihren wirklichen Inhalt.

Wenn wir von inneren Strukturen sprechen, meinen wir eine Organisation, die gestützt ist auf Klassenkriterien und ein revolutionäres Programm, die nicht offen ist gegenüber jedem Neuankömmling aus den Reihen der Bourgeoisie. Unsere Freiheit ist keine abstrakte, sondern hauptsächlich konkret. Denn es handelt sich um die Freiheit der zusammengeschlossenen Revolutionäre, die gemeinsam versuchen, Mittel zum Handeln für die gesellschaftliche Befreiung zu finden. Auf dieser gemeinsamen Grundlage und bei dem Versuch, auf das gemeinsame Ziel hinzuarbeiten, tauchen unvermeidlich Divergenzen auf. Diese Divergenzen zeigen immer, dass noch nicht alle Elemente für eine Antwort gefunden wurden, oder wirkliche Schwierigkeiten des Kampfes oder auch eine Unreife der Gedanken. Sie können weder verschwiegen noch verboten werden, sondern müssen im Gegenteil durch die Erfahrung des Kampfes selbst und durch die freie Auseinandersetzung der Ideen überwunden werden. Die Funktionsweise der Organisation besteht also darin, nicht diese Divergenzen zu ersticken, sondern die Bedingungen für deren Überwindung zu schaffen. D.h. hinsichtlich der Organisation müssen die Bedingungen geschaffen werden, dass diese Divergenzen zum Ausdruck kommen können, anstatt sie nur geheim zirkulieren zu lassen. Nichts vergiftet mehr die Atmosphäre in der Organisation als Divergenzen, die nicht ans Tageslicht gebracht wurden. Nicht nur verzichtet die Organisation damit auf jede Möglichkeit sie zu überwinden, sondern sie untergräbt langsam ihre eigenen Grundlagen. Bei der ersten Hürde kommt das Gebilde, das vorher so solide wie ein Fels schien, ins wanken, bricht zusammen und hinterlässt dann nur eine Ruine. Was anfänglich nur ein Sturm war, wird zu einer verheerenden Katastrophe.

Die Genossen der IKP sagen uns, wir brauchen eine Partei, eine vereinte Partei, aber die Existenz von Fraktionskämpfen spaltet und schwächt sie. Zur Unterstützung dieser These berufen sich die Genossen immer auf die Resolution, die Lenin auf dem 10. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands eingebracht hat und dort verabschiedet wurde, welche das Fraktionsrecht in der Partei verbietet. Die Berufung auf die berühmte Resolution Lenins und die Verabschiedung dieser Resolution heute verdeutlicht am klarsten die ganze Entwicklung der Italienischen Fraktion, die sich zur Partei erklärt hat. Das, gegen das die Italienische Linke und die ganze Linke der Komintern sich mehr als 20 Jahre aufgelehnt und bekämpft haben, wird heute zu einem Glaubensbekenntnis des „perfekten“ Mitglieds der IKP. Erinnern wir uns auch daran, dass die angesprochene Resolution von einer Partei drei Jahre nach der Revolution verabschiedet wurde (vorher hätte sie nie ins Auge gefasst werden können), die vor einer endlosen Zahl von Problemen stand: Blockade von Außen, Bürgerkrieg, Hungersnot und wirtschaftlicher Ruin im Innern. Die russische Revolution steckte in einer ungeheuren Sackgasse. Entweder würde die Weltrevolution sie retten oder sie würde unter dem gebündelten Druck von Außen und der inneren Schwierigkeiten zusammenbrechen. Die sich an der Macht befindenden Bolschewiki waren ebenfalls diesem Druck ausgesetzt und wichen auf ökonomischer Ebene zurück, und, was Tausend mal schlimmer ist, vor allem auf politischer Ebene. Die Resolution zum Verbot der Fraktionen, die Lenin einbrachte, war übrigens nur als vorübergehend gedacht, weil man die schreckliche Lage, in der die Partei steckte, als vorübergehend betrachtete. Auch war sie ein Teil einer Reihe von Maßnahmen, die die Revolution alles andere als verstärkten und stattdessen den Niedergang der Revolution beschleunigten.

Auf dem 10. Kongress wurde diese Resolution angenommen. Gleichzeitig kam es damals mit Hilfe von staatlicher Gewalt zur Niederschlagung der Arbeiterrevolten in Kronstadt, und man fing mit der massiven Verschleppung der Gegner der Partei nach Sibirien an. Die ideologische Erstickung innerhalb der Partei ging einher mit der Anwendung der Gewalt innerhalb der Klasse. Der Staat, der das Organ des Zwangs und der Gewalt ist, tritt anstelle der ideologischen, wirtschaftlichen und Einheitsorganisationen der Klasse, der Partei, der Gewerkschaften und der Sowjets. Die GPU tritt anstelle der Diskussionen. Die Konterrevolution verdrängt die Revolution unter der Fahne des Sozialismus, und das furchtbarste staatskapitalistische Regime fing an die Macht zu übernehmen. Marx sagte in Louis Bonaparte, dass die großen Ereignisse der Geschichte, sich sozusagen zweimal ereignen, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ [Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 1162, (vgl. MEW Bd. 8, S. 115)]

Die IKP Italiens führte uns eine wahre Farce dessen vor, was die Größe und die Tradition der Russischen Bolschewistischen Partei war. Das Antifaschistische Koalitionskomitee von Brüssel muss man an der Stelle des Petrograder Sowjets sehen, Vercesi an der Stelle von Lenin, das arme Zentralkomitee von Mailand an der Stelle der Komintern Moskaus, wo die die Revolutionäre aller Länder zusammengekommen waren, die Tragödie eines Kampfes von Dutzenden von Millionen von Menschen an der Stelle einer Reihe von Intrigen einiger Chefs. Der Ausgang der Revolution in Russland und der Weltrevolution wird anhand der Frage des Fraktionsrechts 1920 deutlich. „Keine Fraktion“ in Italien 1947 war der Schrei der Hilflosen, die nicht dazu gezwungen werden wollten, kritisch zu denken und in ihrer Ruhe nicht gestört werden wollten. „Keine Fraktion“, führte 1920 zur Auslöschung der Revolution. „Keine Fraktion“ ist 1947 nichts als eine Fehlgeburt einer nicht überlebensfähigen Partei.

Aber sogar noch als Farce wird das Fraktionsverbot zu einem ernsthaften Handicap beim Wiederaufbau der revolutionären Organisation. Der Wiederaufbau des internationalen Büros der GCI verdeutlicht, um welche Methode es sich handelt. Wir wissen, dass das Internationale Büro bei Ausbruch des Krieges auseinanderfiel. Während des Krieges sind politische Divergenzen in und zwischen den Gruppen, die sich auf die GCI berufen, aufgetaucht. Welche Methode des Aufbaus der organisatorischen und politischen Einheit der GCI hätte man verfolgen sollen? Unsere Gruppe trat für die Einberufung einer internationalen Konferenz aller Gruppen, die sich auf die GCI berufen, ein und verfolgte das Ziel, dass die breitest mögliche Diskussion aller entstandenen Divergenzen stattfindet. Uns wurde die andere Methode entgegengesetzt, die darin besteht, die Divergenzen so weit wie möglich zu verschweigen und die Gründung der Partei in Italien zu begrüßen und dafür einzutreten, dass die neue Umgruppierung um ihre Reihen stattfinden sollte. Weder eine internationale Diskussion noch eine internationale Kritik wurden akzeptiert. Und Ende 1946 gab es dann das Trugbild einer Konferenz. Unser kritischer Geist und unsere offenen Diskussionen wurden als nicht hinnehmbar angesehen und als Antwort auf unsere Dokumente – die einzigen, die als Diskussionsbeiträge zur Konferenz vorgelegt wurden – zog man es vor, nicht nur diese nicht zu diskutieren, sondern wir wurden ganz einfach von der Konferenz ausgeschlossen.

Wir haben in Internationalisme Nr. 16 im Dezember 1946 unser Dokument zur Konferenz veröffentlicht, das an alle Gruppen gerichtet war, die sich auf die GCI berufen. In diesem Dokument haben wir, der alten Tradition folgend, alle bestehenden politischen Divergenzen in der GCI aufgegriffen und unseren Standpunkt dazu offen vertreten. In der gleichen Ausgabe von Internationalisme wurde auch die ‚Antwort‘ dieses eigenartigen Internationalen Büros veröffentlicht. In der Antwort steht: „Da euer Brief wiederum die ständige Verzerrung der Tatsachen und der politischen Positionen zum Vorschein bringt, die von der IKP Italiens oder von der französischen und belgischen Fraktion vertreten wurde“, und weiter „da eure Aktivität sich darauf beschränkt, Verwirrung zu stiften und unsere Genossen zu beschimpfen, haben wir einstimmig , eure Bitte um Beteiligung an der Internationalen Konferenz der Organisationen der GCI abgelehnt.“

Man mag halten was man will von dem Geist, mit dem diese Antwort verfasst wurde. Aber man muss feststellen, dass es dieser Antwort bei fehlenden politischen Argumenten nicht an bürokratischer Energie und Entscheidung mangelt. Was die Antwort nämlich verschweigt, und das ist sehr charakteristisch für die Auffassung von der allgemeinen Disziplin, die von dieser Organisation vertreten und praktiziert wird, ist die geheim getroffene Entscheidung. Dazu schrieb uns ein Genosse der IKP Italiens unmittelbar nach der Konferenz: „Am Sonntag, den 8. Dezember, fand das Treffen der Delegierten des Politischen Büros der IKP statt. Bezüglich eures Briefs, der an die Genossen der Fraktion der GCI und der IKP Italiens gerichtet wurde, werdet ihr bald eine offizielle Antwort erhalten. Hinsichtlich eurer Bitte um gemeinsame Treffen für spätere Diskussionen wurde euer Vorschlag abgelehnt. Darüber hinaus wurde jedem Mitglied die Anweisung erteilt, jede Verbindung mit den als Dissidenten zu betrachtenden Fraktionen abzubrechen. Ich bedauere deshalb euch mitteilen zu müssen, dass ich meine Verbindungen mit eurer Gruppe nicht aufrechterhalten kann.“(gezeichnet Jober, 9.12.1946)

Bedarf diese intern und geheim getroffene Entscheidung noch eines Kommentars? Nein! Wir möchten nur hinzufügen, dass in Moskau Stalin natürlich noch über mehr Mittel verfügt, die Revolutionäre zu isolieren. Die Gefängniszellen der Lubjanka (das Gefängnis der GPU), die Isolationshaft in Verkni Uralsk, und wenn nötig, ein Nackenschuss. Bislang hat die GCI noch nicht diese Macht, und wir werden alles unternehmen, damit sie diese nicht bekommt. Aber das ist nicht ihre Schuld. Es geht hier um das Ziel und die Methode, die darin besteht, die Gegner, die nicht so denken wie ihr, zu isolieren und sie zum Schweigen zu bringen. Dies beinhaltet eine fatale Logik, und je nach dem Platz, den man einnimmt und die Macht, über die man verfügt, werden immer gewalttätigere Mittel ergriffen werden. Der Unterschied zum Stalinismus ist keine Frage des Wesens, sondern nur des Grades.

Das einzige, was die IKP bedauern muss, ist dazu gezwungen zu sein, auf jämmerliche Mittel zurückgreifen zu müssen, um „den Mitgliedern jeglichen Kontakt mit den Abweichlern zu verbieten.“

Diese ganze Auffassung hinsichtlich der Funktionsweise der Organisation und ihr Verhältnis zur Klasse werden durch diese Entscheidung verdeutlicht und konkretisiert. Sie ist unserer Ansicht nach furchtbar und abschreckend. Ausschluss, Verleumdung, ein aufgezwungenes Schweigen, das sind die Methoden, die anstelle der Erklärung, der Diskussion und der politischen Auseinandersetzung treten. Dies ist ein typisches Beispiel der neuen Auffassung der Organisation.

Schlussfolgerung

Ein Genosse der GCI hat uns einen langen Brief geschrieben, um, wie er schrieb, all das loszuwerden, was ihm seit der Antifaschistischen Koalition bis zur neuen Auffassung der Partei auf dem Magen lag. Er schreibt: „Die Partei ist nicht das Ziel der Arbeiterbewegung, sie ist nur ein Mittel. Aber das Ziel rechtfertigt nicht alle Mittel. Die Mittel müssen von dem Ziel mitbestimmt werden, das erreicht werden soll. Das Ziel muss bei jedem der eingesetzten Mittel zu erkennen sein. Deshalb kann die Partei nicht mit leninistischen Auffassungen aufgebaut werden, denn das würde einmal mehr bedeuten Mangel an Demokratie, militärische Disziplin, Verbot der freien Meinungsäußerung, Strafen bei abweichender Meinung, Mystifizierung der Partei. Während die Demokratie der größte Schwindel aller Zeiten ist, darf uns das nicht daran hindern, für die proletarische Demokratie in der Partei, in der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse einzutreten. Oder sonst soll man uns einen anderen Begriff vorschlagen. Das wichtige ist, dass nichts an der Sache geändert wird. Proletarische Demokratie bedeutet, Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit, die Möglichkeit nicht einverstanden zu sein, Verwerfung der Gewalt und des Terrors in jeder Form in der Partei und natürlich in der Klasse“. Wir verstehen und teilen vollständig die Entrüstung dieses Genossen, wenn er gegen das Gebilde der Partei als Kaserne und die Diktatur über die Arbeiterklasse antritt. Diese gesunde und revolutionäre Auffassung der revolutionären Organisation und ihrer Funktionsweise unterscheidet sich völlig von dem, was neulich ein Führer der IKP zum Besten gegeben hat. Er sagte wortwörtlich: „Unsere Auffassung der Partei ist die einer monolithischen, homogenen und monopolitischen Partei.“ Solch eine Auffassung von der militärischen Disziplin, verbunden mit Konzept des genialen Führers, hat überhaupt nichts mit dem revolutionären Werk der Arbeiterklasse zu tun, wo alles durch die Hebung des Bewusstseins, die ideologische Reifung der Arbeiterklasse bestimmt wird. Monolithismus, Homogenität und Monopolismus sind die göttliche Dreifaltigkeit des Faschismus und des Stalinismus.

Die Tatsache, dass ein Mensch oder eine Partei sich als revolutionär bezeichnen und sich auf diesen Begriff berufen, zeigt tragischerweise den ganzen Niedergang der Arbeiterbewegung auf. Die Partei der Revolution wird nicht auf diese Art aufgebaut werden, sondern daraus entsteht nur eine neue Kaserne für die Arbeiter. Damit trägt man in Wirklichkeit nur dazu bei, dass die Arbeiter in einem Zustand der Beherrschung und Unterwerfung gehalten werden. Es handelt sich um eine konterrevolutionäre Auffassung.

Was uns an der Möglichkeit der Wiederaufrichtung der IKP Italiens zweifeln lässt, sind, mehr noch als die eigentlichen politischen Fehler, die Organisationsauffassungen und ihr Verhältnis zur gesamten Klasse. Die Ideen, die das Ende des revolutionären Lebens der Bolschewistischen Partei zum Ausdruck brachten und die den Beginn des Abstiegs verdeutlichten – Fraktionsverbot, Abschaffung der Meinungsfreiheit in der Partei und in der Klasse, der Kult der Disziplin, Lobpreisung des unfehlbaren Chefs –,dienen heute als Grundlage der GCI und der IKP Italiens. Wenn die IKP diesen Weg fortsetzt, wird sie niemals der Sache des Sozialismus dienen können. Im vollen Bewusstsein und die ganze Tragweite dieser Entwicklung einschätzend, fordern wir sie dazu auf: "Halt, bleibt stehen! Ihr müsst umkehren, denn ihr lauft auf einen Abgrund zu.“ Marc

1) Jüngsten Nachrichten zufolge wird sich die IKP nicht an den Wahlen beteiligen. Das hat der Generalsekretär entschieden. Ist dies das Ergebnis einer erneuten Überprüfung der Position und von Diskussionen in der Partei? Man darf sich nicht täuschen. Es ist immer zu früh, eine Diskussion anzufachen, die die Genossen "stören" könnte, wie der wohlbekannte Führer uns sagte. Aber was denn? Die Partei hat nämlich viele Mitglieder verloren und ihre Kasse ist leer. Wegen mangelnder Munition hat das Zentralkomitee beschlossen, den Krieg einzustellen und sich nicht an den bevorstehenden Wahlen zu beteiligen. Dies ist eine bequeme Position, die allen passt und zudem niemanden stört. Ist das, was unser Führer "die umgekehrte Verwandlung der Quantität in Qualität nennt"?

(2) Der Genosse Jober stand in Diskussionen mit uns im Auftrag der Föderation von Turin der IKP, deren Repräsentant er war. Seitdem ist die Föderation von Turin, die gegen die Methoden des Zentralkomitees protestiert hat, selbständig geworden und hat in dieser Eigenschaft an der internationalen Kontaktkonferenz teilgenommen – siehe Internationalisme Nr. 24).

Aktuelles und Laufendes: 

  • proletarische militärische Disziplin [4]
  • Rolle von Genies [5]
  • Partei kollektives Leben [6]
  • Bewusstseinsentwicklung [7]

Leute: 

  • Bordiga [8]
  • Vercesi [9]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [10]

Historische Ereignisse: 

  • Gründung der IKP [11]
  • Partito Comunista Internazionalista [12]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [13]

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [14]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1905-revolution-russland [2] https://de.internationalism.org/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [3] https://de.internationalism.org/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage [4] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/proletarische-militarische-disziplin [5] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/rolle-von-genies [6] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/partei-kollektives-leben [7] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/bewusstseinsentwicklung [8] https://de.internationalism.org/tag/leute/bordiga [9] https://de.internationalism.org/tag/leute/vercesi [10] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/bordigismus [11] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/grundung-der-ikp [12] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/partito-comunista-internazionalista [13] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke [14] https://de.internationalism.org/tag/3/48/partei-und-fraktion