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Weltrevolution Nr. 185

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Editorial: Gegenüber der Zuspitzung der kapitalistischen Barbarei gibt es nur eine Antwort: Klassenkampf

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Seit drei Jahren erleben wir eine Gleichzeitigkeit und Verschärfung von Krisen und Katastrophen die den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft beschleunigen: Krieg, Wirtschaftskrise, ökologische Krise, Pandemie... Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Gefahr der Auslöschung der Menschheit ernster und konkreter denn je geworden ist

Eine brutale Beschleunigung des Zerfalls

Die Covid-19-Pandemie, deren achte Welle derzeit im Gange ist, stellte ab Anfang 2020 eine neue Etappe des Versinkens der Gesellschaft in die letzte Phase ihrer Dekadenz, d.h. ihres Zerfalls dar. Sie kristallisiert in der Tat eine ganze Reihe von Chaosfaktoren heraus, die bis dahin nicht miteinander verbunden zu sein schienen[1]. Die Rücksichtslosigkeit der herrschenden Klasse trat überall deutlicher zutage, wobei der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme (Mangel an Masken, Betten und Pflegepersonal) maßgeblich für die weltweite Zahl der Todesopfer verantwortlich war, die zwischen 15 und 20 Millionen lag. Die Pandemie wirkte sich auch nachhaltig auf die globalen Produktionsketten aus und führte zu Engpässen und Inflation. Sie hat auch die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie offenbart, eine koordinierte Reaktion sowohl auf die Pandemie als auch auf die Krise zu organisieren.

Der Krieg in der Ukraine tobt vor den Toren Europas und ist ein weiterer Schritt im beschleunigten Zerfall der Gesellschaft, vor allem durch die Verschärfung des Militarismus im globalen Maßstab. Die zunehmende Instabilität in den Ländern der ehemaligen UdSSR, die Luftangriffe welche das Atomkraftwerk Saporischschja zu beschädigen drohen, die wiederholten Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen[2], das verheerende Leck der Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee als Folge wahrscheinlicher Kriegshandlungen, Putins abenteuerliche "Teil"-Mobilisierung, die sich zu einem Fiasko entwickelt, die erschreckenden Eskalationsrisiken eines verzweifelten russischen Regimes - all das weist auf eine apokalyptische kapitalistische Zukunft in der ganzen Welt hin. Die Spirale der Militärausgaben, die schon vor dem Krieg in der Ukraine und den Spannungen im Pazifik einsetzte und weiter anhält, sowie die tiefe Verschuldung von Staaten, die unter der Last der Kriegswirtschaft zusammenbrechen, beschleunigen den Sturz in die globale Wirtschaftskrise.

Die Krise in Verbindung mit der globalen Erwärmung führt bereits dazu, dass Millionen von Menschen unterernährt sind, nicht nur in der Ukraine, sondern in vielen Teilen der Welt. Die Knappheit nimmt zu und die Inflation verdammt einen großen Teil der Arbeiterklasse zur Armut. Die von der Bourgeoisie geforderten "Opfer" lassen bereits Schlimmeres ahnen. Der vor unseren Augen wuchernde Militarismus verkörpert die Irrationalität eines Kapitalismus, der nur in den Ruin und ins blutige Chaos führen kann. Dies wird vor allem bei den USA deutlich, deren Wunsch, ihren Rang als führende Weltmacht zu erhalten, die ständige Verstärkung ihrer militärischen Überlegenheit erfordert. Dieses Projekt kann jedoch nur um den Preis von immer mehr Chaos und Destabilisierung verwirklicht werden. Unzählige Katastrophen aller Art, die sich immer häufiger ereignen, wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig, so dass eine regelrechte Zerstörungsspirale entsteht. Die letzten Monate haben diese Entwicklung noch erheblich verstärkt, sowohl durch die Intensivierung der Kriege und ihrer Verwüstungen, als auch durch die spektakuläre Entwicklung der Erscheinungsformen des Klimawandels[3]. Neben der Zerstörung, der Politik der „verbrannten Erde“, den Massakern und der Vertreibung von Millionen von Menschen, wird die landwirtschaftliche Produktion weltweit eingeschränkt und der Zugang zu Wasser wird knapp. Engpässe und Hungersnöte nehmen zu, und weite Teile der Welt werden aufgrund von Verschmutzungen aller Art unbewohnbar. Der Wert abnehmender Ressourcen, wie Gas oder Weizen, wird fast ausschließlich und skrupellos in strategische Waffen umgewandelt und einem regelrechten Raubbau und hemmungslosen Schacher überlassen, dessen Ergebnis nach wie vor militärische Auseinandersetzungen und menschliches Leid sind. Diese Tragödie ist nicht zufällig entstanden. Sie ist das Ergebnis des irreversiblen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise und des blinden Handelns einer Bourgeoisie, die keine Zukunft zu bieten hat. Eine Produktionsweise, die seit mehr als hundert Jahren an ihren Widersprüchen und historischen Grenzen scheitert und seit dreißig Jahren in ihrer eigenen Zersetzung versinkt. Die Welt rutscht jetzt noch schneller in einen Prozess der Zerstörung und Zersplitterung, in ein riesiges Chaos. Die Bourgeoisie ist nicht in der Lage, eine tragfähige Perspektive zu bieten, sie ist zunehmend gespalten und nicht in der Lage, auf einem minimalen Niveau zu kooperieren, wie sie es noch vor einem Jahrzehnt auf ihren globalen Anti-Krisen-Gipfeln getan hat. Sie bleibt einfallslos, gefangen in ihren eigenen Scheuklappen und ihrer Gier, unterminiert von den Fliehkräften eines wachsenden Jeder-für-sich. Der Sieg der "post-faschistischen" rechtsextremen Partei von Georgia Meloni in Italien ist ein weiteres Beispiel für die sich verschärfende Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über ihren politischen Apparat zu verlieren. Die herrschende Klasse sieht sich zunehmend von Cliquen skrupelloser Schläger regiert, die gefährlicher und unverantwortlicher denn je sind.

Die einzige Antwort ist der Klassenkampf des Proletariats

Die Bourgeoisie ist weiterhin entschlossen, die Ausbeutung zu verschärfen und das Proletariat für ihre unlösbare Krise und ihre Kriege zahlen zu lassen. Allerdings wird sie nun den Klassenkampf stärker berücksichtigen müssen. Die Beschleunigung des Zerfalls durch die Pandemie war zwar eine Bremse für die Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, die kurz zuvor u.a. in Frankreich im Winter 2019-2020 zum Ausdruck kam. Obwohl die Streiks und Demonstrationen nach Beginn der Invasion in der Ukraine im Februar 2022 stark zurückgingen, verschwanden sie nie ganz. Im vergangenen Winter kam es zu Streiks in Spanien und den USA. In diesem Sommer gab es auch in Deutschland Arbeitsniederlegungen. Vor allem aber stellt das Ausmaß der Arbeitermobilisierung in Großbritannien angesichts der Krise, der Arbeitslosigkeit und der Rückkehr der Inflation einen echten Bruch mit der früheren sozialen Situation in Großbritannien dar - eine Rückkehr der Kampfbereitschaft auf internationaler Ebene. Sie hat einen Mentalitätswandel eingeleitet. Diese Streiks stellen ein neues Ereignis von historischem Ausmaß dar. Nach fast vierzig Jahren faktischer Stagnation in Großbritannien vervielfachten sich dort ab Juni 2022 die Streiks mit hohem Symbolwert und setzten neue Generationen von Arbeitern und Arbeiterinnen in Bewegung, die bereit waren, ihren Kopf zu erheben und für ihre Würde zu kämpfen. Eine Ermutigung für andere zukünftige Bewegungen. Trotz der internationalen ideologischen Kampagne, die das Begräbnis der englischen Königin in den Vordergrund stellte, kündigten die Hafenarbeiter von Liverpool, die in den 1990er Jahren eine Niederlage erlitten hatten, neue Mobilisierungen an. Die Gewerkschaften aber übernehmen bereits die Führung und radikalisieren sich, indem sie ihre Rolle als Saboteure und Spalter spielen. Auch wenn diese Bewegung in Großbritannien zwangsläufig einen Niedergang erleben wird, ist sie aufgrund ihres Vorbildcharakters bereits ein Schritt vorwärts. Natürlich hat der internationale Kampf der Arbeiterklasse noch einen langen Weg vor sich, bevor das Proletariat seine Klassenidentität wiedererlangen und seine eigene revolutionäre Perspektive entschlossen verteidigen kann. Doch der Weg dorthin ist mit Fallen gepflastert. Die Risiken, vom eigenen Klassenterrain abzuweichen, indem sich die Arbeiterklasse in klassenübergreifenden Mobilisierungen mit dem angeschlagenen Kleinbürgertum, in kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Bewegungen wie denen des Feminismus oder des Antirassismus verliert, sind nicht ohne ernste Gefahren - insbesondere in den Ländern der Peripherie. So wurde nach der Ermordung von Mahsa Amini im Iran ein immenser Aufschwung der Wut gegen das Regime der Mullahs auf das bürgerliche Terrain der demokratischen Forderungen getrieben, wo die Arbeiterklasse zum "iranischen Volk" herabgestuft und mit ihm auf eine Stufe gestellt wird, anstatt für ihre eigenen Klassenforderungen zu kämpfen. In Russland bleibt die Situation trotz der zunehmenden Demonstrationen mit dem Ruf "Nein zum Krieg" und der Wut der Wehrpflichtigen, die ohne Waffen und Verpflegung an die Front geschickt werden, verworren, wobei der Widerstand gegen die militärische Mobilisierung mehr individuelle als kollektive Formen annimmt. Ein negativer Beweis dafür, dass nur die Arbeiterklasse allen Unterdrückten eine Perspektive bieten kann und dass die Bourgeoisie in Ermangelung einer Klassenreaktion in der Lage sein wird, das soziale Terrain zu besetzen.

Auf globalerer Ebene eröffnen die Bedingungen für eine Entwicklung der internationalen Klassenkämpfe angesichts der kommenden Angriffe, insbesondere aufgrund der Entwicklung der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der extremen Prekarität, die Möglichkeit, die notwendigen Bedingungen für die Bestätigung der kommunistischen Perspektive zu schaffen. Dies insbesondere in den zentralen Ländern des Kapitalismus, wo das Proletariat am erfahrensten ist und seit langem mit den raffiniertesten Fallen der Bourgeoisie konfrontiert war.

Das neue Jahrzehnt lässt die Möglichkeit einer solchen historischen Bekräftigung der Rolle des Proletariats offen, auch wenn die Zeit angesichts der vom Kapitalismus verursachten Verwüstungen nicht mehr auf seiner Seite ist. Dieses Jahrzehnt, das sowohl mit den Kämpfen der Arbeiter und Arbeiterinnen als auch mit der Beschleunigung der Barbarei und des Chaos begann, soll die Arbeiterklasse noch tiefer davon überzeugen, dass die einzige historische Alternative „Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit“ bleibt!

WH, 28. September 2022


[1] „Bericht über die Pandemie und die Entwicklung des Zerfalls“, Internationale Revue Nr. 57

[2] Der Einsatz von Atomwaffen ist nicht, wie die Bourgeoisie behauptet, lediglich eine Frage des Willens eines "verrückten Diktators", um die Bevölkerung zu erschrecken und zu "notwendigen Opfern" zu zwingen. Er erfordert einen gewissen Konsens innerhalb der nationalen Bourgeoisie. Doch auch wenn ein solcher Einsatz einem freiwilligen Selbstmord der russischen Bourgeoisie gleichkäme, macht der Grad an Irrationalität und Unberechenbarkeit, in den der Kapitalismus versinkt, den Einsatz von Atomwaffen nicht völlig unmöglich. Darüber hinaus sind die alternden ukrainischen Atomkraftwerke, die ein wahres Finanzloch darstellen, auch mehrere Jahrzehnte nach der Katastrophe von Tschernobyl noch immer beängstigende Zeitbomben.

[3] Brände von noch nie dagewesenem Ausmaß haben den Planeten im Sommer heimgesucht, Dürren und Hitzerekorde mit Temperaturen von bis zu 50°C (wie in Indien), gepaart mit schrecklichen Überschwemmungen wie der, die Pakistans Anbauflächen fast zerstört hat.

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Weltrevolution 185

Sommer des Zorns in Großbritannien: Die Bourgeoisie erzwingt neue Opfer. Die Arbeiterklasse antwortet mit Streiks

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"Enough is enough", "Zu viel ist zu viel". Das ist der Ruf, der sich in den letzten Wochen in Grossbritannien wie ein Echo von Streik zu Streik verbreitet hat. Diese massive Bewegung, die in Anlehnung an den "Winter des Zorns" von 1979 "Sommer des Zorns" genannt wird, betrifft jeden Tag Arbeiter in immer mehr Bereichen: Eisenbahnen, dann die Londoner U-Bahn, British Telecom, die Post, die Hafenarbeiter in Felixstowe (ein lebenswichtiger Hafen in Großbritannien), Müllabfuhr und Bus-Fahrpersonal in verschiedenen Teilen des Landes, Amazon, usw. Heute sind es die Beschäftigten im Transportwesen, morgen die Beschäftigten im Gesundheitswesen und die Lehrer und Lehrerinnen.

Alle Journalisten und Kommentatoren stellen fest, dass es sich um die größte Bewegung der Arbeiterklasse in diesem Land seit Jahrzehnten handelt; man muss bis zu den riesigen Streiks von 1979 zurückgehen, um eine größere und massivere Bewegung zu finden. Eine Bewegung dieser Größenordnung in einem Land wie Grossbritannien ist kein "lokales" Ereignis. Es ist ein Ereignis von internationaler Bedeutung, eine Botschaft an die Ausgebeuteten aller Länder.

Angesichts der Angriffe auf den Lebensstandard aller Ausgebeuteten gibt es nur eine Antwort: der Klassenkampf

Jahrzehnt für Jahrzehnt, wie und noch mehr als in anderen entwickelten Ländern, haben die aufeinanderfolgenden britischen Regierungen die Lebens- und Arbeitsbedingungen unerbittlich angegriffen, mit einem einzigen Leitmotiv: Prekarisierung und Flexibilisierung im Namen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und des Profits. Die Angriffe haben in den letzten Jahren ein solches Ausmaß erreicht, dass die Kindersterblichkeit in diesem Land seit 2014 "einen beispiellosen Anstieg" erlebt (laut der medizinischen Fachzeitschrift BJM Open).

Aus diesem Grund stellt die derzeitige Explosion der Inflation einen solchen Tsunami dar. Mit einem Preisanstieg von 10,1% im Juli im Jahresvergleich, 13% erwartet im Oktober, 18% im Januar, ist das Ausmaß verheerend. "Viele Menschen könnten gezwungen sein, sich zu entscheiden, ob sie Mahlzeiten auslassen, um ihre Wohnungen zu heizen, oder ob sie in Kälte und Feuchtigkeit leben wollen", warnte der Nationale Gesundheitsdienst (NHS). Da die Gas- und Strompreise am 1. April um 54% und am 1. Oktober um 78% gestiegen sind, ist die Situation in der Tat unhaltbar.

Das Mobilisierungsniveau der britischen Arbeiter entspricht also endlich den Angriffen, die sie erleiden, während sie in den letzten Jahrzehnten nicht die Kraft gefunden hatten, darauf zu reagieren, da sie seit den Thatcher-Jahren sozusagen noch stehend k.o. waren.

In der Vergangenheit gehörten die englischen Arbeiter zu den kämpferischsten der Welt. Wenn man die Anzahl der Streiktage betrachtet, war der "Winter des Zorns" von 1979 nach dem Mai 1968 in Frankreich die massivste Bewegung aller Länder, sogar noch vor dem "Heißen Herbst" 1969 in Italien. Es war diese enorme Kampfbereitschaft, die die Regierung von Margaret Thatcher dauerhaft unterdrücken konnte, indem sie den Arbeitern eine ganze Reihe von bitteren Niederlagen zufügte, insbesondere beim Bergarbeiterstreik 1985. Diese Niederlage markierte einen Wendepunkt, nämlich den lang anhaltenden Rückgang des Kampfgeistes der Arbeiter in Großbritannien; sie kündigte sogar den allgemeinen Rückgang des Kampfgeistes der Arbeiter in der Welt an. Fünf Jahre später, 1990, beendete der Zusammenbruch der UdSSR, die in betrügerischer Absicht als "sozialistisches" Regime dargestellt wurde, und die ebenso verlogene Ankündigung des "Todes des Kommunismus" und des "endgültigen Triumpfes des Kapitalismus" den Kampf der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt. Seitdem hat die Arbeiterklasse, ihrer Perspektive beraubt, in ihrem Selbstvertrauen und ihrer Klassenidentität angegriffen, immer mehr - in Großbritannien noch mehr als anderswo - die Angriffe aller Regierungen über sich ergehen lassen müssen, ohne wirklich in der Lage zu sein, zurückzuschlagen.

Aber die Wut hat sich aufgestaut, und heute, angesichts der Angriffe der Bourgeoisie, zeigt die Arbeiterklasse in Großbritannien, dass sie wieder bereit ist, für ihre Würde zu kämpfen und die Opfer abzulehnen, die ihr das Kapital immer wieder auferlegt. Und wieder einmal spiegelt sie am deutlichsten die internationale Dynamik wider: Letzten Winter brachen in Spanien und den USA Streiks aus; diesen Sommer kam es auch in Deutschland und Belgien zu Arbeitsniederlegungen; für die kommenden Monate sagen alle Kommentatoren eine "explosive soziale Situation" in Frankreich und Italien voraus. Es ist unmöglich vorherzusagen, wo und wann sich die Kampfbereitschaft in naher Zukunft wieder massiv manifestieren wird, aber eines ist sicher: Das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien stellt eine wichtige historische Tatsache dar. Es ist vorbei mit der Passivität, mit der Unterwerfung. Die neue Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen erwacht.

Der Klassenkampf angesichts des imperialistischen Krieges

Die Bedeutung dieser Bewegung beschränkt sich nicht nur auf die Tatsache, dass sie eine lange Periode der Passivität beendet. Diese Kämpfe entwickeln sich zu einer Zeit, in der die Welt mit einem imperialistischen Krieg großen Ausmaßes konfrontiert ist, einem Krieg, der vor Ort zwischen Russland und der Ukraine geführt wird, der aber eine globale Reichweite hat, wobei insbesondere die NATO-Mitgliedsländer mobilisiert werden. Eine Mobilisierung in Form von Waffen, aber auch in wirtschaftlicher, diplomatischer und ideologischer Hinsicht. In den westlichen Ländern wird in den Reden der Regierungen zu Opfern aufgerufen, um "Freiheit und Demokratie zu verteidigen". Konkret heißt das, dass das Proletariat in diesen Ländern den Gürtel noch enger schnallen sollen, um "ihre Solidarität mit der Ukraine zu bezeugen", in Wirklichkeit mit der ukrainischen Bourgeoisie und der Bourgeoisie der westlichen Länder.

Die Regierungen rechtfertigen ihre Angriffe ohne jede Scham, indem sie sowohl die Katastrophe der globalen Erwärmung als auch die Gefahr von Energie- und Nahrungsmittelknappheit (laut UN-Generalsekretär "die schlimmste Nahrungsmittelkrise, die es je gab") instrumentalisieren. Sie rufen zu "Nüchternheit" auf und kündigen das Ende des "Überflusses" an (um die infamen Worte des französischen Präsidenten Macron zu zitieren). Aber gleichzeitig forcieren sie ihre Kriegswirtschaft: Die weltweiten Militärausgaben sind bis 2021 auf 2.113 Billionen US-Dollar gestiegen! Zwar gehört Großbritannien zu den fünf Staaten mit den höchsten Militärausgaben, doch seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben alle Länder der Welt ihr Wettrüsten beschleunigt, auch Deutschland - zum ersten Mal seit 1945!

Die Regierungen rufen nach "Opfern, um die Inflation zu bekämpfen". Das ist eine finstere Farce, während sie diese durch die Explosion der Kriegsausgaben nur noch verschlimmern. Das ist die Zukunft, die der Kapitalismus und seine konkurrierenden nationalen Bourgeoisien versprechen: mehr Kriege, mehr Ausbeutung, mehr Zerstörung, mehr Elend.

Das ist auch das, was die Streiks des Proletariats in Großbritannien im Keim tragen, auch wenn die Arbeiter sich dessen nicht immer voll bewusst sind: die Weigerung, sich immer und immer mehr für die Interessen der herrschenden Klasse zu opfern, die Weigerung, Opfer für die nationale Wirtschaft und für die Kriegsanstrengungen zu bringen, die Weigerung, die Logik dieses Systems zu akzeptieren, das die Menschheit in die Katastrophe und schließlich in ihre Vernichtung treibt. Das ist die einzige Alternative: Sozialismus oder Vernichtung der Menschheit.

Die Notwendigkeit, die Fallen der Bourgeoisie zu durchbrechen

Diese Fähigkeit, den Kopf wieder aufzurichten, ist umso bemerkenswerter, als die Arbeiterklasse in Großbritannien in den letzten Jahren die Knüppel der populistischen Ideologie zu spüren bekommen hat, die die Ausgebeuteten gegeneinander ausspielt, sie in "Einheimische" und "Ausländer", in Weiße und Schwarze, in Männer und Frauen spaltet, bis hin zu dem Glauben, dass der Brexit für die Insel die Lösung sein könnte.

Aber es gibt noch andere, viel tückischere und gefährlichere Fallen, die die Bourgeoisie auf dem Weg der Kämpfe des Proletariats aufgestellt hat.

Die große Mehrheit der aktuellen Streiks wurde von den Gewerkschaften ausgerufen, die sich damit als unverzichtbare Organisation zur Organisation des Kampfes und zur Verteidigung der Ausgebeuteten darstellen. Die Gewerkschaften sind unverzichtbar, ja, aber um die Bourgeoisie zu verteidigen und die Niederlage der Arbeiterklasse zu organisieren.

Man muss sich nur daran erinnern, wie sehr Thatchers Sieg durch die Untergrabungsarbeit der Gewerkschaften ermöglicht wurde. Als im März 1984 im Kohlebergbau brutal 20.000 Stellenstreichungen angekündigt wurden, reagierten die Bergarbeiter blitzschnell. Schon am ersten Streiktag wurden 100 von 184 Schächten geschlossen. Daraufhin umgab die Streikenden sofort ein eisernes Korsett der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften der Eisenbahner und der Seeleute unterstützten die Bewegung platonisch. Die mächtige Gewerkschaft der Hafenarbeiter begnügte sich mit zwei späten Streikaufrufen. Der TUC (der nationale Gewerkschaftsbund) weigerte sich, den Streik zu unterstützen. Die Gewerkschaften der Elektriker und der Stahlarbeiter lehnten den Streik ab. Kurzum, die Gewerkschaften sabotierten aktiv jede Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes. Vor allem aber vollendete die Bergarbeitergewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) diese schmutzige Arbeit, indem sie die Bergarbeiter in sterile und endlose (über ein Jahr!) Besetzungen der Kohleschächte einspannte. Dank dieser gewerkschaftlichen Sabotage, dieser unfruchtbaren und endlosen Besetzungen konnte die Polizeirepression umso heftiger zuschlagen. Diese Niederlage würde die Niederlage der gesamten Arbeiterklasse sein.
Wenn dieselben Gewerkschaften heute eine radikale Sprache sprechen und so tun, als würden sie Solidarität zwischen den Sektoren propagieren und sogar mit einem Generalstreik drohen, dann deshalb, weil sie sich an die Sorgen der Arbeiterklasse dranhängen, weil sie versuchen, das einzufangen, was die Arbeiter bewegt, ihre Wut, ihre Kampfbereitschaft und ihr Gefühl, dass man gemeinsam kämpfen muss, um diese Dynamik besser sterilisieren und in die Irre führen zu können. In Wirklichkeit orchestrieren sie vor Ort separate Streiks; hinter der einheitlichen Losung, die Löhne für alle zu erhöhen, grenzen sie die Beschäftigten voneinander ab und spalten in branchenspezifische Verhandlungen; vor allem achten sie sehr darauf, alle wirklichen Diskussionen zwischen den Arbeitern der verschiedenen Sparten zu vermeiden. Nirgendwo gibt es echte branchenübergreifende Vollversammlungen. Deshalb sollte man sich nicht täuschen lassen, wenn Lizz Truss, die Favoritin für die Nachfolge von Boris Jonson, erklärt, sie werde "nicht zulassen", dass Grossbritannien "von militanten Gewerkschaftern erpresst wird", wenn sie Premierministerin wird. Damit tritt sie nur in die Fußstapfen ihres Vorbilds Margaret Thatcher; sie will das Ansehen der Gewerkschaften als die kämpferischsten Vertreter der Arbeiter erhöhen, um gemeinsam die Arbeiterklasse besser in die Niederlage führen zu können.

In Frankreich hatten die Gewerkschaften 2018 angesichts des steigenden Kampfgeistes und der Solidaritätswelle zwischen den Generationen bereits denselben Trick angewandt, indem sie die "Konvergenz der Kämpfe" propagierten, einen Ersatz für eine einheitliche Bewegung, bei der die Demonstranten, die auf der Straße zusammenkamen, nach Branchen und Unternehmen getrennt aufgeteilt wurden.

Um in Großbritannien wie überall sonst ein Kräfteverhältnis aufzubauen, das es uns ermöglicht, den unaufhörlichen Angriffen auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu widerstehen, die sich morgen noch gewaltsam verschärfen werden, müssen wir, wo immer wir können, zusammenkommen, um die Kampfmethoden zu diskutieren und hervorzuheben, die die Stärke der Arbeiterklasse ausgemacht haben und ihr in bestimmten Momenten ihrer Geschichte ermöglicht haben, die Bourgeoisie und ihr System ins Wanken zu bringen:

- die Suche nach Unterstützung und Solidarität über "seine" Zunft, "sein" Unternehmen, "seine" Branche, "seine" Stadt, "seine" Region, "sein" Land hinaus;

- die autonome Organisation des Arbeiterkampfes, insbesondere durch Generalversammlungen, ohne die Kontrolle darüber den Gewerkschaften zu überlassen, diesen sogenannten "Spezialisten" für Kämpfe und ihre Organisation;

- eine möglichst breite Diskussion über die allgemeinen Bedürfnisse des Kampfes, über die Lehren, die aus den Kämpfen und auch aus den Niederlagen zu ziehen sind, denn es wird Niederlagen geben, aber die größte Niederlage ist es, die Angriffe ohne Reaktion zu erdulden, der Eintritt in den Kampf ist der erste Sieg der Ausgebeuteten.

Während die Rückkehr der Massenstreiks in Großbritannien die Rückkehr der Kampfbereitschaft des Weltproletariats markiert, ist es auch von entscheidender Bedeutung, dass die Schwächen überwunden werden, die 1985 seine Niederlage besiegelten: Korporatismus und Gewerkschaftsillusion. Die Autonomie des Kampfes, Einheit und Solidarität sind die unerlässlichen Meilensteine für die Vorbereitung der Kämpfe von morgen!

Und dafür muss man sich als Teil derselben Klasse begreifen, einer Klasse, die durch Solidarität im Kampf vereint ist: das Proletariat. Die Kämpfe von heute sind nicht nur unerlässlich, um sich Stück für Stück gegen Angriffe zu verteidigen, sondern auch, um diese Klassenidentität auf globaler Ebene zurückzuerobern und den Sturz dieses Systems vorzubereiten, das Elend und Katastrophen aller Art mit sich bringt.

Im Kapitalismus gibt es keine Lösung: weder für die Zerstörung des Planeten, noch für Kriege, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit oder Elend. Nur der Kampf des Weltproletariats mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten der Welt kann den Weg zu einer Alternative ebnen.

Die Massenstreiks in Großbritannien sind eine Aufforderung zum Kampf an die Proletarier aller Länder.

Internationale Kommunistische Strömung 27.08.2022

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Internationales Flugblatt

Die Rückkehr der Kampfbereitschaft des Weltproletariats

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Manche Ereignisse haben eine Bedeutung, die sich nicht auf die lokale oder unmittelbare Ebene beschränkt, sondern von internationaler Tragweite ist. Die Streikwelle, die sich in diesem Sommer in ganz Großbritannien ausgebreitet hat, ist aufgrund der Anzahl der betroffenen Sektoren, der Kampfbereitschaft der am Kampf beteiligten Arbeiter:innen und der breiten Unterstützung für die Aktion in der arbeitenden Bevölkerung ein Ereignis von unbestreitbarer Bedeutung auf nationaler Ebene. Aber wir müssen auch verstehen, dass die historische Bedeutung dieser Kämpfe weit über ihre lokale Dimension oder ihr noch einmaliges Auftreten hinausgeht.

Seit Jahrzehnten ist die Arbeiterklasse in den europäischen Staaten dem enormen Druck des Zerfalls des Kapitalismus ausgesetzt. Konkret hat sie seit 2020 eine Reihe von Covid-Wellen und dann den Schrecken des barbarischen Krieges in Europa mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine erlebt. Diese Ereignisse haben die Kampfbereitschaft der Arbeiter:innen zwar beeinträchtigt, aber nicht zum Verschwinden gebracht, wie die Kämpfe in den Vereinigten Staaten, Spanien, Italien, Frankreich, Korea und im Iran Ende 2021 und Anfang 2022 noch unterstrichen haben.

Die Streikwelle in Großbritannien als Reaktion auf die Angriffe auf ihren Lebensstandard durch die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die durch die Folgen der Gesundheitskrise und vor allem durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wurde, hat jedoch ein anderes Ausmaß. Unter schwierigen Umständen senden die britischen Arbeiter:innen ein klares Signal an diejenigen in der ganzen Welt: Wir müssen kämpfen, auch wenn wir Angriffe erlitten und Opfer in Kauf genommen haben, ohne reagieren zu können; aber „genug ist genug": Wir nehmen das nicht länger hin, wir müssen kämpfen. Dies ist die Botschaft an die Arbeiter:innen in anderen Ländern.

In diesem Zusammenhang ist der Eintritt des britischen Proletariats in den Kampf ein Ereignis von historischer Bedeutung auf mehreren Ebenen

1. Das britische Proletariat gewinnt seine Kampfbereitschaft zurück

Diese Welle des Kampfes wird von einem Teil des europäischen Proletariats angeführt, der mehr als die meisten anderen unter dem allgemeinen Rückzug des Klassenkampfes seit 1990 gelitten hat. Wenn die britischen Arbeiter in den 1970er Jahren, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Polen, sehr wichtige Kämpfe entwickelten, die in der Streikwelle von 1979 ("Winter der Unzufriedenheit") gipfelten, war das Vereinigte Königreich das europäische Land, in dem der Rückgang der Kampfkraft in den letzten 40 Jahren am deutlichsten war.

In den 1980er Jahren sah sich die britische Arbeiterklasse einer wirksamen Gegenoffensive der Bourgeoisie ausgesetzt, die in der Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks 1985 durch Thatcher, der "Eisernen Lady" der britischen Bourgeoisie, gipfelte. Darüber hinaus war Großbritannien besonders von der Deindustrialisierung und der Verlagerung von Industrien nach China, Indien oder Osteuropa betroffen. Als die Arbeiterklasse 1989 einen allgemeinen, weltweiten Niedergang erlebte, war dieser in Großbritannien besonders ausgeprägt.

Darüber hinaus haben die britischen Arbeiter:innen in den letzten Jahren unter dem Ansturm der populistischen Bewegungen und vor allem unter der ohrenbetäubenden Brexit-Kampagne gelitten, die die Spaltung in ihren Reihen zwischen "Remainers" und "Leavers" gefördert hat, und dann unter der Covid-Krise, die die Arbeiterklasse, insbesondere in Großbritannien, schwer belastet hat. In jüngster Zeit schließlich wurde sie mit einem intensiven pro-ukrainischen Demokratisierungshype und einer besonders abscheulichen Kriegstreiberei im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine konfrontiert.

Die "Thatcher-Generation" hat eine schwere Niederlage erlitten, aber heute tritt eine neue Generation von Proletarier:innen auf den Plan, die nicht mehr so sehr wie die Älteren unter der Last dieser Niederlagen leidet und sich erhebt, um zu zeigen, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, auf diese schweren Angriffe mit Kampf zu reagieren. Wenn wir die unterschiedlichen Dimensionen im Auge behalten, erleben wir ein Phänomen, das mit dem der französischen Arbeiterklasse von 1968 durchaus vergleichbar (aber nicht identisch) ist: das Auftauchen einer jungen Generation, die von der Last der Konterrevolution weniger betroffen ist als die Älteren.

2. Die internationale Bedeutung der britischen Arbeiterklasse

Der "Sommer des Zorns" kann nur eine Ermutigung für alle Arbeiter:innen weltweit sein, und das aus mehreren Gründen: Es ist die Arbeiterklasse der fünften Weltwirtschaftsmacht und ein englischsprachiges Proletariat, dessen Kämpfe einen wichtigen Einfluss in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada oder in anderen Regionen der Welt wie Indien oder Südafrika haben können. Da Englisch die Sprache der Weltkommunikation ist, übersteigt der Einfluss dieser Bewegungen notwendigerweise den der Kämpfe in Frankreich oder Deutschland. In diesem Sinne weist das englische Proletariat nicht nur den europäischen Arbeiter:innen den Weg, die an der Spitze des ansteigenden Klassenkampfes stehen müssen, sondern auch dem Weltproletariat, und insbesondere dem amerikanischen Proletariat. Im Hinblick auf künftige Kämpfe kann die britische Arbeiterklasse somit als Bindeglied zwischen dem westeuropäischen und dem amerikanischen Proletariat dienen.

Diese Bedeutung lässt sich auch an der besorgten Reaktion der Bourgeoisie, insbesondere in Westeuropa, auf die Gefahr einer Ausweitung der "Verschlechterung der sozialen Lage" ablesen. Dies ist vor allem in Frankreich, Belgien oder Deutschland der Fall, wo die Bourgeoisie im Gegensatz zur britischen Bourgeoisie energischere Maßnahmen ergriffen hat, um die Erhöhungen der Öl-, Gas- und Strompreise zu begrenzen oder die Auswirkungen der Inflation und der Preissteigerungen durch Subventionen oder Steuersenkungen auszugleichen, wobei sie lautstark verkündet, dass sie die Kaufkraft der Arbeitnehmer schützen wolle. Andererseits sollte die umfangreiche Medienberichterstattung über den Tod von Königin Elizabeth und die Beerdigungszeremonien die Bilder des Klassenkampfes konterkarieren und stattdessen das Bild einer geeinten britischen Bevölkerung zeigen, die von nationalistischem Eifer erfüllt ist und die bürgerliche Verfassungsordnung respektiert. Seitdem haben die bürgerlichen Medien die Fortsetzung der Streikbewegungen weitgehend verdunkelt.
Die Bourgeoisie weiß sehr wohl, dass die Verschärfung der Krise und die Folgen des Krieges immer weitergehen werden. Die Tatsache jedoch, dass sich bereits angesichts der ersten Angriffe, die für alle Teile des Proletariats nicht nur in England, sondern in Europa und sogar in der Welt ähnlich sind, eine massive Bewegung entwickelt, Angriffe, die die Bourgeoisie in der gegenwärtigen Situation auferlegen muss, kann die Bourgeoisie nur tief beunruhigen.

3. Ein Bruch in der Dynamik des internationalen Klassenkampfes

Auch wenn das westeuropäische Proletariat in den letzten vierzig Jahren, anders als vor den beiden Weltkriegen, nicht besiegt wurde, so war der Rückgang seines Klassenbewusstseins nach 1989 (unterstrichen durch die Kampagne über den "Tod des Kommunismus") dennoch äußerst wichtig. Zweitens hatte die Vertiefung des Zerfalls ab den 1990er Jahren ihre Klassenidentität zunehmend beeinträchtigt, und diese Tendenz konnte durch bestimmte Kampfbewegungen oder Ausdrucksformen des Nachdenkens bei Minderheiten der Klasse in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts nicht umgekehrt werden, wie der Kampf gegen das Gesetz über den Erstanstellungsvertrag (CPE) in Frankreich 2006, die Bewegung der "Indignados" in Spanien 2011, die Kämpfe bei SNCF und Air France 2014 und die Bewegung gegen die Rentenreform 2019 in Frankreich oder der "Striketober" in den USA 2021.

Darüber hinaus war die globale Arbeiterklasse in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in ihren Kämpfen mit der Gefahr klassenübergreifender Bewegungen konfrontiert, wie in Frankreich mit den Aktionen der "Gilet Jaunes", dem Gewicht populistischer Mobilisierungen wie der MAGA-Bewegung ("Make America Great Again") in den USA oder bürgerlichen Kampagnen wie den "Märschen für das Klima" oder der "Black Lives Matter"-Bewegung und Mobilisierungen für Abtreibungsrechte in den USA und anderswo. In jüngster Zeit sind angesichts der ersten Folgen der Krise in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern zahlreiche Volksaufstände gegen den Anstieg der Preise für Treibstoff und andere Grunderzeugnisse ausgebrochen. All diese Bewegungen stellen eine Gefahr für die Arbeiter:innen dar, da sie sie auf ein klassenübergreifendes Terrain ziehen, wo sie von der Masse der "Bürger" übertönt werden oder auf ein völlig bürgerliches Terrain gezogen werden.

Aber nur das Proletariat bietet eine Alternative zu den Katastrophen, die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Und im Gegensatz zu diesen Bewegungen, die die Arbeiter:innen auf falsche Fährten führen, besteht der grundlegende Beitrag der Streikwelle der britischen Arbeiter:innen darin, zu bekräftigen, dass der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung auf einer klaren Klassenbasis geführt werden muss und klare Forderungen der Arbeiter:innen gegen die Angriffe auf ihren Lebensstandard aufstellen muss: "Darüber hinaus, und das ist das Element, das letztendlich den Ausgang der Weltlage bestimmen wird, stellt die unaufhaltsame Verschärfung der kapitalistischen Krise den wesentlichen Stimulus für den Klassenkampf und die Entwicklung des Bewusstseins dar, die Voraussetzung für ihre Fähigkeit, dem Gift der sozialen Fäulnis zu widerstehen. Denn wenn es auch in den partiellen Kämpfen gegen die Auswirkungen des Zerfalls keine Grundlage für die Vereinigung der Klasse gibt, so bildet doch ihr Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Entwicklung ihrer Klassenstärke und Einheit." (Thesen zum Zerfall, 1991)[1]. Die Entwicklung dieser massiven Kampfbereitschaft in den Kämpfen um die Verteidigung der Kaufkraft ist für das Weltproletariat eine unausweichliche Voraussetzung, um den tiefen Rückschlag zu überwinden, den es seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime erlitten hat, und um seine Klassenidentität und seine revolutionäre Perspektive wiederzuerlangen.

Kurzum, sowohl aus historischer Sicht als auch im aktuellen Kontext, in dem sich die Arbeiterklasse befindet, stellt diese Streikwelle in Großbritannien eine Zäsur in der Dynamik des Klassenkampfes dar, die in der Lage ist, einen "Wandel der gesellschaftlichen Stimmung" in Gang zu setzen.

4. Ein Kampf gegen wirtschaftliche Angriffe, die durch den imperialistischen Krieg verschärft werden

Die Bedeutung dieser Bewegung besteht nicht nur darin, dass sie eine lange Periode relativer Passivität beendet. Diese Kämpfe entwickeln sich in einer Zeit, in der die Welt mit einem imperialistischen Krieg großen Ausmaßes konfrontiert ist, einem Krieg, in dem sich Russland und die Ukraine auf europäischem Boden gegenüberstehen, der aber eine globale Reichweite hat, insbesondere mit einer Mobilisierung der NATO-Mitgliedsländer, die nicht nur eine Mobilisierung mit Waffen ist, sondern auch auf wirtschaftlicher, diplomatischer und ideologischer Ebene: In den westlichen Ländern rufen die Regierungen zu Opfern auf, um "Freiheit und Demokratie zu verteidigen". Konkret bedeutet dies, dass die Proletarier dieser Länder den Gürtel noch enger schnallen müssen, um "ihre Solidarität mit der Ukraine" zu zeigen, d.h. mit der ukrainischen herrschenden Klasse und den Herrschern der westlichen Länder.
Angesichts des Konflikts in der Ukraine ist der Aufruf zu einer direkten Mobilisierung der Arbeiter:innen gegen den Krieg in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten illusorisch; seit Februar 2022 hat die IKS jedoch hervorgehoben, dass die Reaktion der Arbeiter:innen auf der Grundlage der Angriffe auf ihren Lohn erfolgen werden, welche Folgen der Kapitalakkumulation und der Verknüpfung der Krisen und Katastrophen der vergangenen Zeit sind. Solche Kämpfe richten sich auch gegen die Kampagne, die zur Hinnahme von Opfern zur Unterstützung des "heldenhaften Widerstands des ukrainischen Volkes" aufruft.

Außerdem beinhaltet die Mobilisierung gegen die kapitalistische Sparpolitik letztlich auch eine Opposition gegen den Krieg. Das ist es auch, was die Streiks der Arbeiterklasse im Vereinigten Königreich in sich tragen, auch wenn sich die Arbeiter:innen dessen nicht immer voll bewusst sind: die Weigerung, immer mehr Opfer für die Interessen der herrschenden Klasse zu bringen, die Weigerung, Opfer für die nationale Wirtschaft und für die Kriegsanstrengungen zu bringen, und die Weigerung, die Logik dieses Systems zu akzeptieren, das die Menschheit in die Katastrophe und schließlich in ihre Zerstörung führt.

Kurz gesagt, auch wenn sich die Kämpfe im Moment auf ein Land beschränken, auch wenn ihnen die Luft ausgeht und auch wenn wir in naher Zukunft wahrscheinlich nicht mit einer Reihe von ähnlichen großen Entwicklungen in verschiedenen Ländern rechnen können, ist ein Meilenstein erreicht. Die wesentliche Errungenschaft des Kampfes der Arbeiter:innen in Großbritannien ist es, aufzustehen und zu kämpfen, denn die schlimmste Niederlage ist es, kampflos zu verarmen. Auf dieser Grundlage können Lehren gezogen werden, und der Kampf kann weitergehen. Unter diesem Gesichtspunkt stellen die Streiks einen qualitativen Wandel dar und kündigen eine Veränderung der Situation der Arbeiterklasse gegenüber der Bourgeoisie an: Sie markieren eine Entwicklung der Kampfbereitschaft auf einem Klassenterrain, das der Beginn einer neuen Episode des Kampfes sein kann, weil die Arbeiterklasse durch ihre massiven wirtschaftlichen Kämpfe in der Lage sein wird, ihre Klassenidentität schrittweise wiederzuerlangen, die durch den Druck von 40 Jahren Zerfall, durch die Ebbe der Kämpfe und des Bewusstseins, durch die Sirenen der klassenübergreifenden Bewegungen, des Populismus und der Umweltkampagnen ausgehöhlt wurde. Auf dieser Grundlage wird die Arbeiterklasse in der Lage sein, eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft zu eröffnen. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es ein "Vorher" und ein "Nachher" des Sommers 2022.

R. Havanais / 22.09.2022

 

[1]Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [2], in Internationale Revue Nr. 13

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Die Bedeutung des „Sommers des Zorns“ in Großbritannien

Die kapitalistische Naturzerstörung beweist die Notwendigkeit des Kommunismus

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In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde der Planet wie in so vielen Jahren zuvor von zahlreichen Waldbränden in Frankreich, Marokko, Südkorea, der Türkei und Argentinien heimgesucht; von katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan, Indien, Südafrika, Madagaskar und Brasilien; von tropischen Stürmen auf den Philippinen und in Mosambik, auf Kuba und in Florida sowie von nie dagewesenen Hitzewellen in Indien und Pakistan. Durch den Temperaturanstieg hat sich das Risiko extremer Wetterkatastrophen erheblich verschärft. Das damit verbundene Ausmaß der Zerstörung ist erschreckend: Es offenbart die Beschleunigung des Zerfalls des Kapitalismus. Eine der verheerendsten Naturkatastrophen des Jahres 2022 ereignete sich in Pakistan. In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde das Land von einer beispiellosen Hitzewelle mit Temperaturen von mehr als 50°C heimgesucht, während in der zweiten Jahreshälfte 2022, nur einige Monate später, ein Drittel des Landes überschwemmt wurde und die Situation in einer totalen Katastrophe endete. In Jacobabad, einer Stadt mit 200 000 Einwohnern, erreichten die Temperaturen zunächst mehr als 49 °C, und dann wurden alle Straßen überflutet. Pakistan ist bekannt für seine Anfälligkeit für die Folgen des Klimawandels und extremer Wetterereignisse. In diesem Jahr sind in Pakistan bereits Tausende von Menschen ums Leben gekommen, 1.400 allein durch die Überschwemmungen. Viele der von den Überschwemmungen betroffenen Gebiete erhalten von den Behörden nur das absolute Minimum an Unterstützung. Doch der Kapitalismus ist nicht daran interessiert, Menschenleben zu retten.

Die katastrophalen Auswirkungen des Temperaturanstiegs

Der Planet war noch nie so heiß wie heute. Seit 1880 ist die Temperatur der Erde um 0,08 °C pro Jahrzehnt gestiegen, aber seit 1981 ist die Erwärmung mehr als doppelt so schnell: 0,18 °C pro Jahrzehnt. Über Land und Ozean gemittelt war die Oberflächentemperatur 2021 um 1,04 °C wärmer als in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Nach Angaben der Nationalen Zentren für Umweltinformationen (NCEI) sind neun der zehn wärmsten Jahre seit 2005 gemessen worden, und die fünf wärmsten Jahre wurden alle seit 2015 registriert. Die NASA bestätigte diese Beobachtung und stellte fest, dass die Jahre 2010-2019 das wärmste jemals aufgezeichnete Jahrzehnt waren. Die US-amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) fand heraus, dass die Verschmutzung durch Treibhausgase im Jahr 2021 49 % mehr Wärme in der Atmosphäre gebunden hat als im Jahr 1990. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen den steigenden Temperaturen und den immer häufiger auftretenden Störungen und Extremen des Wetters? Es gibt keinen unwiderlegbaren Beweis dafür, dass ein Tornado oder eine Überschwemmung in einem bestimmten Teil der Welt durch steigende Temperaturen verursacht wird. Aber in den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der klimabedingten Katastrophen verdreifacht, und diese quantitative Zunahme ist ein Indiz für die Hypothese, dass der größte Teil der Wetterkatastrophen durch die globale Erwärmung – und in letzter Instanz durch unverantwortliche und zerstörerische "menschliche Eingriffe" – verursacht wird. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit können die WissenschaftlerInnen also feststellen, dass die Erwärmung der Atmosphäre, der Ozeane und des Landes die Ursache für die Mehrzahl der immer verheerenderen "Naturkatastrophen" ist. Der Anstieg der Luft- und Wassertemperaturen führt zum Anstieg des Meeresspiegels und zum massiven Abschmelzen der Eiskappen, zu gewaltigen Stürmen und höheren Windgeschwindigkeiten, zu lang anhaltenden Hitzewellen und intensiveren Dürren, zu heftigen Regenfällen und massiven Überschwemmungen, die immer mehr Teile des Planeten unbewohnbar machen. Und als unmittelbare Folgen dieser krisenhaften Zustände haben wir gesehen:

∗ Zwischen 2011 und 2020 beliefen sich die damit verbundenen Zerstörungen auf der ganzen Welt auf rund 2,5 Billionen US-Dollar, was einem Anstieg von fast 50 Prozent gegenüber den Jahren 2001 bis 2010 entspricht;

∗ seit 2008 wurden jedes Jahr mehr als 20 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, eine Zahl, die von Jahr zu Jahr anstieg und allein im Jahr 2020 30,7 Millionen erreichen wird;

∗ von 1970 bis 2019 gab es weltweit mehr als 11.000 gemeldete Katastrophen, die auf Naturgefahren zurückzuführen sind, mit mehr als zwei Millionen registrierten Todesfällen.

Die Zerstörung der Natur durch den Menschen hat eine sehr lange Geschichte, aber in früheren Gesellschaften war diese Zerstörung so begrenzt, dass sich die Natur davon erholen konnte. Doch im Kapitalismus änderte sich das dramatisch: Er entwickelte Produktivkräfte, die in der Lage waren, das Gesicht der Natur in ganzen Regionen in relativ kurzer Zeit zu verändern. Während der industriellen Revolution führte beispielsweise die Ausbeutung von Kupfer- und Kohleminen zur Zerstörung großer Wälder in Südwales (Großbritannien) innerhalb weniger Jahrzehnte und veränderte die Landschaft für immer. Aber der Mensch kann nicht ungestraft so tiefgreifende Veränderungen an der Natur vornehmen. „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht (...) Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns"[1]. Heute, oder besser gesagt in den letzten Jahrzehnten, können wir beobachten, wie die Natur nach 140 Jahren rücksichtsloser Ausplünderung durch das Kapital beginnt, sich im globalen Maßstab zu "rächen".

Die durch die Zerstörung der Natur in Gang gesetzten Prozesse treffen die Gesellschaft wie ein Bumerang in Form einer raschen Zunahme von Naturkatastrophen mit lang anhaltenden und immer verheerenderen Auswirkungen.

Die globale Erwärmung ist der kapitalistischen Produktionsweise inhärent

Unter kapitalistischen Bedingungen muss jede Kapitaleinheit unter dem Druck der Konkurrenz mit anderen Kapitalien akkumulieren und expandieren. Es muss so effizient wie möglich produzieren, mit der höchsten Produktivität und den geringstmöglichen Kosten. Jede Tätigkeit des Kapitals ist ständig auf die Steigerung des Profits und die Erhöhung der Ausbeutung der Natur ausgerichtet: Arbeitskraft, Boden, Rohstoffe usw. Die Rentabilität ist der Anfang und das Ende jeder kapitalistischen Unternehmung. Im Kapitalismus geht es nicht um die Schaffung von mehr nützlichen Produkten ("Gebrauchswerte"), sondern um die Ausweitung der Warenproduktion um des Profits willen. Das Kapital hat die Steigerung des Produktionsvolumens, die Ausdehnung des Marktes und die Reproduktion des Wertes auf erweiterter Stufenleiter zum Selbstzweck gemacht. Und je mehr das Kapital akkumuliert hat, desto mehr kann es akkumulieren. Akkumulation um der Akkumulation willen, Produktion um der Produktion willen, das ist es, was den Kapitalismus kennzeichnet. Die ewige Fortsetzung eines jeden Produktionszyklus in immer größerem Maßstab wird schließlich in der Dekadenz des Kapitalismus zu einer völlig irrationalen und sogar zerstörerischen Logik.

Für das Kapital ist die Natur ein "kostenloses Geschenk", sie hat keinen Preis, sie dient nur der Entdeckung und Förderung von Rohstoffen, sie hat keine Kosten. Aus kapitalistischer Sicht ist die Natur ein Rohstofflager, das nach Herzenslust geplündert werden kann. Deshalb werden in den Bilanzen der kapitalistischen Unternehmen alle Kosten genau aufgeführt (Transport, Maschinen, Arbeit usw.), nicht aber die Schäden, die der Natur durch den kapitalistischen Produktionsprozess zugefügt werden. Manchmal werden Schäden an der Natur repariert, aber meistens nicht von der Firma, die sie verursacht hat.

In der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus und insbesondere aufgrund der Erfordernisse der Kriegswirtschaft ist jeder Nationalstaat gezwungen, seinen Griff auf die Gesellschaft zu verstärken und immer mehr Bereiche des Wirtschaftslebens seiner direkten Kontrolle zu unterwerfen. Der Staatskapitalismus wurde zum vorherrschenden Charakteristikum und hat das Privatkapital mehr und mehr in seine Zwangsjacke gesperrt. Heute ist das gesamte Kapital einer Nation um den Staatsapparat konzentriert. Auf diese Weise wird der gnadenlose Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen zum großen Teil vom Verdrängungswettbewerb zwischen den Nationalstaaten absorbiert und in einen solchen umgewandelt.

Was hat das mit dem Problem der globalen Erwärmung zu tun? Es bedeutet, dass die wichtigsten Entscheidungen im Kampf gegen die globale Erwärmung nicht von den Entscheidungen des privaten Kapitals abhängen, sondern von der Politik der Nationalstaaten. Und die Bilanz der Politik der Nationalstaaten zum Schutz des Klimas ist nicht positiv. Im Gegenteil: Schon in der Zeit der imperialistischen Blöcke bis 1989, als die Nationen unter dem Joch des Blockführers standen und zur Zusammenarbeit gezwungen waren, erwies sich die Bourgeoisie als unfähig, etwas Substanzielles zu tun, um die weitere Zerstörung der Natur zu verhindern. Aber in der gegenwärtigen Phase des Zerfalls des Kapitalismus, in der der Zusammenhalt der Blöcke nicht mehr existiert und die Beziehungen zwischen den Nationen von "Jedem für sich", zunehmenden Fliehkräften und wachsendem militärischen Chaos beherrscht werden, ist es nur noch schlimmer geworden: Alle Bemühungen, eine gemeinsame Politik zum Schutz des Klimas vor der Erwärmung und zur Verhinderung immer dramatischerer Wetterkatastrophen zu beschließen, sind illusorisch geworden. Heute deuten alle Tendenzen auf ein zunehmendes politisches Chaos hin, in dem jeder Versuch, einen globalen Konsens zwischen den Nationalstaaten herzustellen, auch wenn sie sich als "sozialistisch" präsentieren, der Traum der linken Fraktionen der Bourgeoisie, zum Scheitern verurteilt ist. Und alle internationalen Konferenzen zum "Schutz" der Natur in den letzten dreißig Jahren zeugen von diesem Scheitern.

Die Zerstörung der Natur bis zu dem Punkt, an dem sie sich nicht mehr wirklich erholen kann, ist direkt mit dem Kapitalismus verbunden. Der Kapitalismus ist absolut unfähig, die ökonomischen Gesetze (Expansions-, Konzentrations- und Profitstreben) zu ändern, die für die immer größere Naturzerstörung verantwortlich sind. Die bürgerliche Gesellschaft "gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor"[2]. Der Temperaturanstieg und die globale Erwärmung sind der kapitalistischen Produktionsweise inhärent. Das bedeutet, dass die kapitalistische Produktionsweise abgeschafft werden muss, um diese katastrophale Dynamik zu stoppen. Es ist nicht nötig, sich hier mit den zahlreichen düsteren, aber realistischen Prognosen oder den verschiedenen Untergangsszenarien zu befassen, die uns erwarten, wenn der Temperaturanstieg nicht gestoppt wird.

Es gibt viel Material im Internet, in Zeitschriften und Büchern und natürlich auf unserer Website, z. B. den Artikel "Die Welt am Rande einer Umweltkatastrophe [3]" (IKSonline November 2008). Eines sollte jedoch erwähnt werden, nämlich die Tatsache, dass wir uns schnell dem Punkt nähern, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir stehen gefährlich kurz vor dem Auftreten von "Rückkopplungseffekten", bei denen die Kohlenstoff- und Methanemissionen aus auftauenden Torfgebieten und dem arktischen Permafrost, die die Atmosphäre 20-mal stärker erwärmen können als Kohlenstoff, so schnell ansteigen, dass sie nicht mehr aufzuhalten sind und die globale Erwärmung selbst dann weitergehen würde, wenn alle menschlichen Emissionen gestoppt würden.

Klimawandel und Krieg

Die Kriegsindustrie verursacht hohe Umweltbelastungen. Man schätzt, dass die Emissionen der Armeen und der sie beliefernden Industrien für etwa 5 % der weltweiten Emissionen verantwortlich sind, mehr als der Luft- und Schiffsverkehr zusammen. Allein das US-Militär stößt pro Jahr mehr Treibhausgase aus als Länder wie Spanien, Portugal oder Schweden und so viel wie die jährlichen Emissionen von 257 Millionen Autos. Das Cost of War Research Project in Boston hat errechnet, dass sich die Emissionen aller US-Militäroperationen von 2001 bis 2017 auf etwa 766 Millionen Tonnen CO2 belaufen. Im Februar 2022 veröffentlichte die US-Armee ihre erste Klimastrategie (ACS), die darauf abzielt, ihre Emissionen bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren, beispielsweise durch die Elektrifizierung ihrer Kampffahrzeuge und nicht-taktischen Fahrzeuge, durch die Versorgung ihrer Stützpunkte mit kohlenstofffreiem Strom und durch die Entwicklung sauberer globaler Lieferketten. Für eine Institution, die regelmäßig Zehntausende von Kilotonnen Kohlendioxid pro Jahr freisetzt und die durch Stoffe wie Agent Orange, Raketentreibstoff und giftigen Feuerlöschschaum für die giftigste Umweltverschmutzung verantwortlich ist, ist dieser Plan absolut heuchlerisch. Er ist ein perfektes Beispiel für die Greenwashing-Kampagne der US-Armee: völlig unzureichend und ein Ablenkungsmanöver.

Der Militarismus vergiftet weiterhin den Planeten und trägt zur globalen Erwärmung bei. Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Umwelt sind bereits katastrophal. Es gibt Hinweise auf eine starke Luftverschmutzung und Treibhausgasemissionen, die auf die intensiven und andauernden Kämpfe zurückzuführen sind. Russische Raketen griffen eine Reihe von Öl- und Gasanlagen in der Ukraine an. Die daraus resultierenden Brände führten zu starken Emissionen. Allein in den ersten fünf Wochen des Krieges wurden 36 russische Angriffe auf die Infrastruktur für fossile Brennstoffe registriert, die zu lang anhaltenden Bränden führten, bei denen Rußpartikel, Methan und Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangten. Die ukrainische Armee schlug zurück und setzte die Ölinfrastruktur auf russischer Seite in Brand.

Und das ist noch nicht alles. Beide Seiten schrecken nicht davor zurück, das Kernkraftwerk von Saporischschja, das größte in Europa, als Ziel ihrer militärischen Auseinandersetzungen zu nutzen. Die vier Hochspannungsleitungen, die das Kraftwerk mit Strom aus dem Ausland versorgen müssen, um das Sicherheits- und Kühlsystem usw. zu betreiben, werden systematisch mit Granaten beschossen. So sagte der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde am 9. September, dass das Risiko eines nuklearen Unfalls im Kraftwerk "erheblich gestiegen" sei. Jede weitere Zerstörung der Infrastruktur rund um das Kraftwerk könnte bereits immense Folgen haben, bis hin zu einer nuklearen Katastrophe vom Ausmaß von Fukushima.

Die westeuropäischen Länder haben sich darauf geeinigt, keine fossilen Brennstoffe mehr aus Russland zu beziehen. Wouter De Vriendt von der Grünen Partei sprach im belgischen Parlament von einer großen Chance, "sich von fossilen Brennstoffen zu befreien". Doch die Realität sieht ganz anders aus. Der Krieg in der Ukraine wird keinen Durchbruch bei der Umstellung auf sauberere Energie bedeuten. Russisches Gas und Öl werden durch fossile Brennstoffe ersetzt, von denen einige sogar noch umweltschädlicher sind, wie die Förderung von Schiefergas und Braunkohle.

Deutschland, Österreich und die Niederlande haben scheinheilig die Aufhebung von Beschränkungen für fossile Kraftwerke angekündigt und die Laufzeit von einem Dutzend Kohlekraftwerken verlängert, die bis 2030 geschlossen werden sollten. In Wirklichkeit nutzen die westlichen Länder den Krieg in der Ukraine als Alibi, um ihre eigene fossile Energiewirtschaft zu stärken.

"Degrowth": eine falsche Lösung für zunehmende Klimakatastrophen

Der Begriff Degrowth wurde erstmals 1972 formuliert, als André Gorz die Frage nach dem Verhältnis von Wachstum und Kapitalismus stellte. Die Degrowth-Bewegung selbst entstand etwa 30 Jahre später. Im Jahr 2002 veröffentlichte die französische Zeitschrift "Silence" eine Sonderausgabe zum Thema Degrowth, die in der Öffentlichkeit große Beachtung fand. Im Jahr 2008 fand in Paris die erste internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit statt. Dies gab der Bewegung einen echten Impuls, und in der Folge wurden mehrere wichtige Publikationen veröffentlicht. Es gibt keine klar definierte Degrowth-Ideologie. Ein Punkt, der von der gesamten Bewegung unterstützt wird, ist die Tatsache, dass dem Wachstum Grenzen gesetzt sind, und daher das Ziel, quantitatives Wachstum durch qualitatives Wachstum oder Entwicklung zu ersetzen. Degrowth, so heißt es, könne auf vielerlei Weisen erreicht werden, aber gängige Vorschläge sind die Einstellung der Produktion von nutzlosen Konsumgütern, von Gütern mit eingebauter Obsoleszenz oder von Gütern, die nicht repariert werden können, der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, die Ersetzung des Individualverkehrs durch öffentliche Verkehrsmittel, die Demontage der Rüstungsindustrie und des militärisch-industriellen Komplexes, usw. Diese Vorschläge sind an sich sehr sinnvoll. Die Frage ist, ob sie jemals im Rahmen des Kapitalismus umgesetzt werden können. Sie "beruhen auf einer sehr zutreffenden Beobachtung: Im kapitalistischen System wird nicht für die Bedürfnisse der Menschheit produziert, sondern für den Profit, und dabei wird nicht nur kein Wohlstand geschaffen (ganz im Gegenteil), sondern auch der Planet zerstört. Die Lösung besteht für die Befürworter des Degrowth daher darin, besser und weniger zu konsumieren. (...) Aber die Degrowth-Theorie berührt nur einen Teil des Problems und das auch nur oberflächlich; sie trifft nicht den Kern der Sache"[3].

Auch innerhalb der ökologischen Bewegung gibt es Strömungen, die dies verstanden haben und argumentieren, dass der Kapitalismus die Klimakrise verursacht und dass "jede echte Alternative zu dieser perversen und zerstörerischen Dynamik radikal sein muss – das heißt, sie muss sich mit den Wurzeln des Problems befassen: dem kapitalistischen System. (...) Ökosozialistisches Degrowth ist eine solche Alternative“[4]. Natürlich stimmen wir zu, dass der Kapitalismus das Problem der globalen Erwärmung nicht lösen kann, weil es in der Logik seines Systems liegt. Daher muss der Kapitalismus selbst abgeschafft werden.

Aber die tatsächlichen Vorschläge dieser "Ökosozialisten" zur Schaffung der notwendigen Bedingungen für die Abschaffung des Kapitalismus sind alles andere als radikal. Während sie für die "soziale Aneignung der wichtigsten (Re-)Produktionsmittel"[5] plädieren, bleibt völlig im Dunkeln, wer sich diese (Re-)Produktionsmittel aneignen soll. Das Volk, wie es vorgeschlagen wird? Aber in der Klassengesellschaft gibt es das "Volk" als Kategorie nicht oder nur als Abstraktion. Und es ist unmöglich, die Produktionsmittel einem Abstraktum zuzuschreiben. Die einzige Schlussfolgerung, die bleibt, ist, dass sie vom Staat übernommen werden sollen, dessen Zerstörung die "Ökosozialisten" nicht vorsehen.

So ist die Formulierung, dass "die Hauptentscheidungen über die Prioritäten von Produktion und Konsum von den Menschen selbst getroffen werden", vor allem ein Deckmantel für die grundsätzliche demokratische Gesinnung der Autoren, die nicht über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausgeht. Trotz ihrer "radikalen" Sprache ist die Ideologie des Ökosozialismus ein hervorragendes Instrument, um echte Besorgnis über die Klimakrise von der Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse weg in die Sackgasse der unmöglichen Reform der bestehenden Ordnung zu führen.

Aber schlimmer noch, die Idee des "Degrowth" unter einem staatskapitalistischen Regime kann auch als ideologische Rechtfertigung für weitere Angriffe auf die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen dienen. Sie könnte benutzt werden, um an die Lohnabhängigen zu appellieren, ihren Konsum im Namen einer staatlichen "Pro-Umwelt"-Politik zu reduzieren. Letztlich würde dies nur zu noch mehr Sparpolitik führen. Der Kapitalismus kann nicht reformiert werden. Er ist ein moribundes Ausbeutungssystem, das die Menschheit mit in den Abgrund reißt. Daher wird jeder echte Kampf gegen die weitere Zerstörung der Natur unmöglich sein, solange der Kapitalismus den Planeten beherrscht. Die wirkliche Veränderung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur kann nur unter der Diktatur des Proletariats in Angriff genommen werden. Das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur "kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln"[6].

Dennis, Oktober 2022

 

[1] Friedrich Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, MEW Bd. 20 S. 452 f.

[2] Karl Marx, Friedrich Engels, Kommunistisches Manifest

[3] Journée de discussion à Marseille: un débat ouvert et fraternel sur “un autre monde est-il possible ?” [4], ICConline 2008 (fr.internationalism.org)

[4] For an Ecosocialist Degrowth [5], Michael Löwy, Bengi Akbulut, Sabrina Fernandes and Giorgos Kallis (Monthly Review, 01.04.2022)

[5] Ibid.

[6] Karl Marx, Das Kapital, Band 3, Kapitel „Die trinitarische Formel“ (MEW Bd. 25 S. 828)

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Ökologische Krise

Der amerikanische Imperialismus – Haupttriebkraft des imperialistischen Chaos

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Als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, erklärte Präsident Biden in seiner Rede am 24. Februar: "Putin hat einen Angriff auf die Grundsätze begangen, die den Weltfrieden schützen". Die Welt sei also mit der Tragödie eines neuen Krieges konfrontiert, der auf den Wahnsinn eines einzelnen Mannes zurückzuführen sei. Diese Propaganda, die die Ukraine und den "Westen" als Opfer darstellt, die nur für den "Frieden" arbeiteten, ist eine Lüge.

In Tat und Wahrheit ist dieser mörderische Konflikt ein reines Produkt der Widersprüche einer krisengeschüttelten kapitalistischen Welt, einer Gesellschaft, die am Boden liegt und unter der Herrschaft des Militarismus steht. Der gegenwärtige Krieg ist, wie alle Kriege in der Dekadenz des Kapitalismus, das Ergebnis eines dauernden imperialistischen Kräftemessens, das alle Protagonisten betrifft, ob klein oder groß, ob sie nun direkt oder indirekt in diesen Konflikt verwickelt sind[1]. In dem zynischen Kampf innerhalb dieses weltweit bestehenden Krabbenkäfigs stehen die Vereinigten Staaten als einzige Supermacht an der Spitze der Barbarei und zögern nicht, Chaos und Elend zu verbreiten, um ihre schäbigen Interessen zu verteidigen und den unvermeidlichen Niedergang ihrer Führung zu verlangsamen.

Die Aufrechterhaltung der NATO, der Golfkrieg: die Unterwerfung der ehemaligen Verbündeten nach dem Kalten Krieg

Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die Vereinigten Staaten parallel zu ihrem Bestreben, ihre ehemaligen Verbündeten im westlichen Block zu halten, nie ihre Strategie aufgegeben, die Länder zu absorbieren, die Teil des von der UdSSR geführten Blocks gewesen waren. So wurde bereits am 15. Februar 1991 die Visegrad-Gruppe gegründet, die sich aus ehemaligen osteuropäischen Ländern (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) zusammensetzt, um deren Integration in die NATO und Europa zu fördern. Dieser Druck veranlasste die europäischen Mächte, ihre große Sorge zum Ausdruck zu bringen, Russland nicht zu "demütigen". Dieser Ton verriet bereits eine latente Herausforderung gegenüber den Vereinigten Staaten.

Während der Fall der Berliner Mauer symbolisch das Ende des Kalten Krieges ankündigte, sollte ein neuer Krieg, der erste Golfkrieg, der von den Vereinigten Staaten initiiert wurde[2], einen Vorgeschmack auf das Chaos des kommenden Jahrhunderts geben. Es handelte sich keineswegs um einen "Krieg um Öl", sondern darum, dass die amerikanische Macht nach dem Bankrott des gemeinsamen Feindes (der UdSSR) direkten Druck auf ihre mächtigsten ehemaligen Verbündeten ausübte, um sie unter ihrem Joch zu halten, indem sie sie in dieses barbarische militärische Abenteuer verwickelte.

Da die Welt nicht mehr in zwei disziplinierte imperialistische Lager geteilt war, hielt ein Land wie der Irak es für möglich, einen ehemaligen Verbündeten desselben Blocks, Kuwait, zu übernehmen. Die Vereinigten Staaten starteten an der Spitze einer Koalition von 35 Ländern eine tödliche Offensive, die darauf abzielte, jede künftige Versuchung zur Nachahmung der Handlungen von Saddam Hussein zu unterbinden.

So war die Operation "Wüstensturm", die von einer "internationalen Koalition" gegen den Irak durchgeführt wurde, in Wirklichkeit eine Operation des amerikanischen Imperialismus, die darauf abzielte, seine ehemaligen Verbündeten, die seine Führung in Frage stellen könnten, "zur Strecke zu bringen", indem er sich als einziger "Weltpolizist" behauptete. All dies um den Preis von mehreren hunderttausend Toten.

Der Sieg von Präsident Bush senior, der "Frieden, Wohlstand und Demokratie" versprach, konnte diese Illusion natürlich nicht lange aufrechterhalten. Die scheinbare Stabilität, die um den Preis von Eisen und Blut errungen wurde, war nur vorübergehend und bestätigte die Vereinigten Staaten als "Weltpolizisten", doch sie enthielt den Keim für wachsende Widersprüche und Spannungen.

Jugoslawien: ein ständiger Kampf gegen den Niedergang der amerikanischen Führung

Hatte der Golfkrieg die ersten Versuche einer offenen Opposition gegen die amerikanische Politik vorübergehend im Keim erstickt, so kamen sie bald darauf zum Ausdruck, insbesondere im Konflikt im ehemaligen Jugoslawien (von 1991 bis 2001). Anfang der 1990er Jahre stand die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl, die die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens vorantrieb und unterstützte, um Deutschland Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen, in direkter Opposition zur amerikanischen Macht, aber auch zu den Interessen Frankreichs und des Vereinigten Königreichs. Durch seine mutigen Initiativen leitete Deutschland den Prozess ein, der zur Explosion Jugoslawiens führen sollte.

Angesichts der offenen Herausforderung ihrer Autorität waren die Vereinigten Staaten nicht untätig. Bereits im Sommer 1995 starteten sie eine umfassende Gegenoffensive, wobei sie sich auf ihr wichtigstes Kapital stützten: ihre militärische Macht. Die Vereinigten Staaten stellten ihre eigene bewaffnete Truppe, die Implementation Force (IFOR), auf, wobei sie die UNO und die europäischen Truppen verdrängten und damit ihre überwältigende Überlegenheit und ihre beeindruckende Logistik unter Beweis stellten. Diese Demonstration der Stärke, diplomatisch gesteuert unter der Autorität von Bill Clinton, zwang die Europäer im November 1995, das Dayton-Abkommen zu unterzeichnen. Auch hier hinterließ der Konflikt Tausende von Opfern.

Natürlich wurden diese Abkommen, die unter den von den Vereinigten Staaten auferlegten Bedingungen unterzeichnet wurden, durch den Druck von Waffen und einer aggressiven Diplomatie, die vor allem die Spaltungen zwischen den europäischen Staaten ausnutzte, von denselben Staaten weiter sabotiert. So hat Deutschland auf dem Balkan, vor allem in Bosnien, immer wieder auf die Bremse getreten und diplomatische Annäherungen begünstigt, die Washington verärgerten, insbesondere durch seine Verbindungen zur türkischen und zur iranischen Regierung.

Selbst im Nahen Osten, einer traditionellen Domäne von Uncle Sam, konnten die europäischen Rivalen die amerikanische Politik allmählich behindern. Eine solche Herausforderung hat auch die treuesten Gefolgsleute der Vereinigten Staaten erreicht, angefangen bei Israel, vor allem nach der Machtübernahme von Netanjahu im Jahr 1996, als das Weiße Haus auf den Labour-Politiker Schimon Peres setzte. Auch Saudi-Arabien zeigte immer offener seinen Widerstand gegen das amerikanische Diktat in der Region.

Nur wenige Monate nach der erfolgreichen Gegenoffensive im ehemaligen Jugoslawien musste Uncle Sam eine Reihe von Rückschlägen hinnehmen. In allen strategischen Zonen des Planeten wurden die amerikanischen Interessen mehr und mehr durchkreuzt. Angesichts der zunehmenden Entwicklung des Jeder-gegen-jeden schrieb die IKS:

"Auch wenn die Vereinigten Staaten dank ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Macht eine Stärke haben, die der Führer des Ostblocks nie hatte, kann in gewisser Hinsicht eine Parallele zwischen der gegenwärtigen Situation der Vereinigten Staaten und der Situation der untergegangenen UdSSR in den Tagen des Ostblocks gezogen werden. Wie die UdSSR können sie ihre Vorherrschaft nur durch die wiederholte Anwendung roher Gewalt aufrechterhalten, was immer Ausdruck einer historischen Schwäche ist. Diese Verschärfung des "Jeder für sich" und die Sackgasse, in der sich der "Weltpolizist" befindet, ist lediglich ein Spiegelbild der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Zusammenhang können die imperialistischen Spannungen zwischen den Großmächten nur eskalieren, Zerstörung und Tod über immer größere Gebiete des Planeten bringen und das entsetzliche Chaos, das bereits das Los ganzer Kontinente ist, noch weiter verschlimmern"[3].

Afghanistan, Irak: Das Versinken der Vereinigten Staaten ins Chaos

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatte sich das, was wir Mitte der 1990er Jahre erklärt hatten, weitgehend bestätigt. Mit den tödlichen Anschlägen vom 11. September 2001 in New York wurden die Vereinigten Staaten sogar zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf eigenem Boden getroffen. Der schreckliche und symbolträchtige Einsturz der Zwillingstürme markierte eine neue Dimension in der Entwicklung des kapitalistischen Schreckens und Chaos. Aber diese Anschläge waren für die Vereinigten Staaten auch eine hervorragende Gelegenheit, ihre imperialistischen Interessen durch einen überstürzten Kriegseintritt zu verteidigen. Auch hier sollte sich die amerikanische Politik immer mehr auf massive Vergeltungsmaßnahmen und mörderische Militäroperationen einlassen, um im Namen des "Kampfes gegen den Terrorismus" zu versuchen, ihre Autorität aufrechtzuerhalten. Die Regierung von George W. Bush Junior begann mit ihren Streitkräften rasch mit Luftangriffen gegen Al-Qaida und die Taliban in Afghanistan, ein Unterfangen, das damals von den ehemaligen Verbündeten unterstützt wurde.

Doch schon bald wurde der von Washington geplante neue Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen" im Irak zum Gegenstand heftiger und wachsender Kritik. Indem sie 2003 die Verbreitung falscher Informationen über Saddam Husseins "Massenvernichtungswaffen" förderten, um die Unterstützung der Bevölkerung und der ehemaligen Partner zu gewinnen, sahen sich die Vereinigten Staaten bei ihrer neuen Kriegsoperation zunehmend isoliert[4]. Frankreich stellte sich diesmal offen gegen die Vereinigten Staaten und machte sogar von seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch.

Mit dieser neuen Machtdemonstration der USA, die den Terrorismus beseitigen und den Niedergang ihrer Führungsrolle aufhalten sollte, wurde die Büchse der Pandora geöffnet, und die darauf folgenden Anschläge in der ganzen Welt konnten nur die Irrationalität dieser militärischen Unternehmungen unterstreichen, die in Wirklichkeit dieselbe infernalische Spirale anheizten und den Widerstand, das Chaos und die Barbarei verstärkten.

Die Vereinigten Staaten setzten auch ihre entschlossene Politik gegenüber dem Osten mit den Reisen von Außenministerin Condoleezza Rice zur Förderung von "Wandel" und "Demokratie" fort. Ihre Arbeit sollte Früchte tragen. Im Jahr 2003 setzte der amerikanische Imperialismus seine Marionetten im Kaukasus ein, indem er die "Rosenrevolution" in Georgien unterstützte, die zum Sturz des pro-russischen Schewardnadse führte und ihn durch eine pro-amerikanische Clique ersetzte. Auch die "Tulpenrevolution" in Kirgisistan im Jahr 2005 war Teil dieser Strategie. Russlands Herzstück, die Ukraine, befand sich bereits im Griff der politischen Spannungen. Bei der "Orangenen Revolution" von 2004 wie auch bei der von 2014 ging es nicht um einen sogenannten "Kampf für Demokratie", sondern um ein strategisches Ziel im Spiel der NATO und der Großmächte, um Einfluss zu gewinnen[5].

Doch selbst mit massivem militärischem Druck und dem zunehmenden Einsatz von Waffen war der amerikanische Imperialismus nicht in der Lage, die Herausforderung seiner Führungsrolle zu beseitigen. Die Vereinigten Staaten sind weit davon entfernt, "Frieden und Wohlstand" zu sichern, und haben sich in allen wichtigen strategischen Punkten, die sie zu ihrem eigenen Vorteil stabilisieren und verteidigen wollten, festgefahren.

Der Rückzug der Amerikaner aus dem Irak im Jahr 2011 hat die Entwicklung des "Jeder für sich" noch verstärkt, während der Bürgerkrieg in Syrien zur Explosion des Chaos in einer völlig unkontrollierbar gewordenen Region der Welt beigetragen hat. Auch der Abzug aus Afghanistan im Jahr 2021 wurde von einer unüberwindbaren Unordnung begleitet, die die Taliban an die Macht brachte. Jede dieser Operationen, die darauf abzielen, die "Ordnung" der Pax Americana durchzusetzen, hat das Chaos und die Barbarei nur noch verstärkt und die Vereinigten Staaten dazu gezwungen, ihre Militäraktionen fortzusetzen.

"Strategischer Schwenk" nach Asien, Krieg in der Ukraine: eine neue Etappe im weltweiten Chaos

Diese Misserfolge allein sind nicht der Grund für den Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak und Afghanistan[6]. Vielmehr kündigte Außenministerin Hillary Clinton 2011 einen "strategischen Schwenk nach Asien" an, welchen Worten Taten folgen sollten. Weit entfernt von einem vermeintlichen "Rückzug" aus dem Weltgeschehen wurde diese politische Ausrichtung des Mandats von Barack Obama von Donald Trump mit dem Slogan "America First" weitergeführt. Während China in der Vergangenheit eine zweitrangige Position in der Weltarena einnahm, hat es allmählich den Charakter eines echten Herausforderers angenommen, der eine amerikanische Bourgeoisie, die entschlossen ist, ihren Status als Weltmarktführer aufrechtzuerhalten, immer offener beunruhigt und bedroht. Angesichts des Machtzuwachses Chinas wurde das Ziel klar formuliert: "Asien in den Mittelpunkt der amerikanischen Politik zu stellen", was die Fraktion um Joe Biden weiterverfolgen und verstärken musste. Doch diese Neupositionierung hat die anderen großen Krisenherde keineswegs "im Stich gelassen", sondern dem amerikanischen Imperialismus neuen Schwung verliehen. Der Eindruck des "Rückzugs" veranlasste einige der Rivalen der USA dazu, eigene imperialistische Unternehmungen zu starten, bei denen Uncle Sam nicht mehr präsent war. Viele, wie Russland, zahlen einen hohen Preis für diese Unterschätzung! Mit der Entsendung seiner Truppen zu einer lächerlichen militärischen Invasion in der Ukraine wollte Russland den Würgegriff schwächen, in dem es nun mehr und mehr erstickt. Damit tappte es in eine von der amerikanischen Bourgeoisie aufgestellte Falle[7]. In Wirklichkeit entspricht der amerikanische Rückzug aus Afghanistan einer globalen Vision, einer längerfristigen Sichtweise, die von dem Wunsch diktiert wird, China einzudämmen, das sich zu einer imperialistischen Großmacht entwickelt hat, die seine vitalen Interessen bedroht. Die gegenwärtige Offensive der Vereinigten Staaten, der Druck, den sie auf die europäischen Länder ausüben, die spektakuläre Gegenoffensive der Ukraine, die auf die ausgeklügelte logistische und materielle Unterstützung zurückzuführen ist, oder die Aufrechterhaltung des diplomatischen Drucks auf den Iran (in Bezug auf das Atomprogramm) und auf den afrikanischen Kontinent mit den Reisen ihres Chefdiplomaten Antony Blinken angesichts der Begehrlichkeiten Russlands und Chinas sind daher alle Teil des Kampfes der USA gegen den historischen Niedergang ihrer Führung.

Indem sie Chinas "Seidenstraßen" nach Europa durch den Krieg in der Ukraine und durch die weitere Kontrolle der Seewege im Südpazifik vereitelt haben, ist es den Vereinigten Staaten vorläufig gelungen, China zu zwingen, seine Ambitionen nur auf dem Landweg und in einem begrenzten Gebiet auszuweiten. In dem Bewusstsein, dass China bei weitem nicht in der Lage ist, mit seiner militärischen Macht mitzuhalten, versuchen die Vereinigten Staaten, aus dieser Schwäche Kapital zu schlagen, den Druck aufrechtzuerhalten und sich sogar Provokationen wie die sehr politische und symbolische Reise der Demokratin Nancy Pelosi nach Taiwan zu erlauben. Dieser beispiellose Affront, der die relative Ohnmacht Chinas offenbart, könnte sich in Zukunft wiederholen und Peking vielleicht zu gefährlichen militärischen Abenteuern treiben.

Aus diesen Entwicklungen, die mit den Bemühungen des amerikanischen Imperialismus zusammenhängen, können wir einige Lehren ziehen:

- Das Motiv für das Handeln des amerikanischen Imperialismus, wie auch das aller anderen Großmächte, beruht keineswegs auf rationalen Erwägungen oder gar auf der bloßen Suche nach unmittelbarem wirtschaftlichem Gewinn, sondern auf der Verteidigung seiner Position in einer Welt, die immer chaotischer wird und damit den Griff nach Chaos und Zerstörung verstärkt.

- Um dieses zunehmend irrationale Ziel zu erreichen, zögern die Vereinigten Staaten nicht, Chaos in Europa zu säen, wie man an der Falle sehen kann, die sie Russland gestellt haben, an den hochentwickelten Waffen und der militärischen Hilfe, die sie der Ukraine geben, um den Krieg aufrechtzuerhalten, um ihren russischen Rivalen zu erschöpfen.

- Um seine Position zu verteidigen, ist die einzige verlässliche Kraft offensichtlich: diejenige der Waffen. Das zeigt der gesamte Weg von Uncle Sam in den letzten Jahrzehnten, in denen er zur Speerspitze des Militarismus, des Alleingangs und des Kriegschaos geworden ist. Schon jetzt erleben wir das größte Chaos in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften.

In seiner letzten Phase des Zerfalls stürzt der Kapitalismus die Welt in die Barbarei und führt unaufhaltsam in die Massenverwüstung. Diese schreckliche Situation und der Schrecken des Alltags zeigen uns, wie viel auf dem Spiel steht und wie viel Verantwortung die Arbeiterklasse der Welt trägt. Heute steht das Überleben der menschlichen Gattung auf dem Spiel.

WH, 15. September 2022

 

[1] Für weitere Erklärungen siehe Militarismus und Zerfall (Mai 2022) [6], in Internationale Revue Nr. 58

[2] Siehe Krieg am Golf: Kapitalistische Massaker und Chaos, in International Review Nr. 65 (1992, engl./frz./span. Ausgabe)

[3] Imperialistische Konflikte: "Jeder für sich" und die Krise der amerikanischen Führung, in International Review Nr. 87 (1996, engl./frz./span. Ausgabe)

[4] Abgesehen von der Unterstützung Großbritanniens war keine größere Militärmacht an der Seite der amerikanischen Truppen an diesem Konflikt beteiligt.

[5] Die Massen, die Viktor Juschtschenko unterstützten oder sich hinter Viktor Janukowitsch stellten, waren nur Spielfiguren, die manipuliert wurden und sich im Namen dieser oder jener imperialistischen Ausrichtung hinter die eine oder andere rivalisierende bürgerliche Fraktion stellten.
 

[6] Wie die Ermordung des Al-Qaida-Führers Ayman Al-Zawahiri am 31. Juli 2022 zeigt, haben die Vereinigten Staaten zudem keineswegs aufgegeben, die Lage in diesem Land zu beeinflussen. Die Behauptungen der USA, sie seien der Bannerträger des Friedens und einer regelbasierten Weltordnung, sind nichts als Lügen, um ihre wahren imperialistischen Pläne zu verbergen.

[7] Siehe Die Bedeutung und die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine [7], in Internationale Revue Nr. 58

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Imperialistische Rivalitäten

Die Weltwirtschaft wird von der Beschleunigung des Zerfalls erfasst

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Der Kapitalismus wird mehr und mehr durch eine ganze Reihe von Widersprüchen, die seiner Existenzweise inhärent sind, erdrosselt, die nun ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken und die Gesellschaft in nie gekanntem Ausmaß und mit nie gekannter Häufigkeit bedrohen.
Angesichts dieser Katastrophen war die Bourgeoisie stets darauf bedacht, alle Erklärungen, die die Frage nach der Verantwortung des Systems selbst aufwerfen, zu verwerfen und zu diskreditieren. Das Ziel der herrschenden Klasse ist es, der Arbeiterklasse die wahre Ursache von Kriegen, Weltunruhen, Klimawandel, Pandemien und der Weltwirtschaftskrise zu verheimlichen.

Überproduktion und die sinkende Profitrate zeigen die historischen Grenzen des Kapitalismus

Die Überproduktion wurde von Marx als Ursache der zyklischen Krisen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert identifiziert[1]. Das Kommunistische Manifest verkündete bereits 1848, "In der Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Ueberproduktion.“ In der Periode des aufsteigenden Kapitalismus wirkte dieser Widerspruch jedoch als Faktor für die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus durch die Suche nach Märkten, die als Absatzmärkte für die Produktion der industrialisierten Mächte dienen sollten.

In der Periode der Dekadenz hingegen ist die Überproduktion die Ursache für die wirtschaftliche Sackgasse, die durch die große Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die immer tieferen Rezessionen, die seit Ende der 1960er Jahre aufeinander folgten, aber auch durch die schwindelerregende Entwicklung des Militarismus gekennzeichnet ist, denn "angesichts der totalen wirtschaftlichen Sackgasse und des Scheiterns der brutalsten wirtschaftlichen 'Heilmittel' bleibt der Bourgeoisie nur die Flucht nach vorn mit anderen Mitteln, die immer illusorischer werden und die nur militärische Mittel sein können."[2]

Tragische Beispiele für diese Sackgasse: zwei Weltkriege und seit dem Ersten eine fast ununterbrochene Reihe von lokalen Kriegen zwischen Staaten.

Die Ursache der Überproduktion wurde von Marx im Kommunistischen Manifest aufgezeigt. Angetrieben von der Konkurrenz, die sich unter Androhung des Untergangs immer weiter ausdehnt, neigt die Produktion ständig dazu, sich auszudehnen, überschüssig zu werden, und zwar nicht im Verhältnis zu den wirklichen Bedürfnissen der Menschen, sondern im Verhältnis zur Kaufkraft der lohnabhängigen oder arbeitslosen Proletarisierten. Die ProletarierInnen bilden nur so lange einen Absatzmarkt für die kapitalistische Produktion, wie die Reproduktion ihrer Arbeitskraft dies notwendig macht[3]. Die Bezahlung der Arbeiter über diese Notwendigkeit hinaus würde zwar die Überproduktion verringern, aber auch der Akkumulation des aus der Lohnarbeit gewonnenen Mehrwerts im Wege stehen.

Es gibt keine Lösung für die Überproduktion im Kapitalismus. Sie kann nur durch die Abschaffung der Lohnarbeit beseitigt werden, was die Errichtung einer Gesellschaft ohne Ausbeutung bedeutet. In unseren öffentlichen Veranstaltungen und in Diskussionen mit Kontakten wurden Fragen und Missverständnisse zu diesem Thema geäußert. Ein Genosse meinte, dass die Überproduktion unter dem Einfluss anderer "umgekehrter" Widersprüche, die zu einer Verknappung bestimmter Waren führen, verringert oder sogar beseitigt werden könnte. In Wirklichkeit sind zwar bestimmte Sektoren der Weltproduktion von Knappheit betroffen, z. B. aufgrund von Lücken in den Lieferketten, andere Sektoren sind jedoch im Wesentlichen weiterhin von Überproduktion betroffen.

Wenn das Räderwerk der Weltwirtschaft nicht ständig von der permanenten und wachsenden Tendenz zur Überproduktion beherrscht wird, dann deshalb, weil die Bourgeoisie massiv auf nicht zurückgezahlte Schulden zurückgegriffen hat, um Nachfrage zu schaffen, was zur Anhäufung einer kolossalen globalen Verschuldung geführt hat, die wie ein Damoklesschwert über der Weltwirtschaft hängt. Die ebenfalls von Marx festgestellte Tendenz zu sinkenden Profitraten stellt ein zusätzliches Hindernis für die Akkumulation dar. Angesichts der Verschärfung der Konkurrenz und um ihre Unternehmen am Leben zu erhalten, sind die Kapitalisten gezwungen, immer billiger zu produzieren. Zu diesem Zweck müssen sie die Produktivität steigern, indem sie immer mehr Maschinen im Produktionsprozess einsetzen (Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals). Das Ergebnis ist, dass jede auf diese Weise produzierte Ware verhältnismäßig weniger lebendige Arbeit (der Teil der Arbeit der ArbeiterInnen, der nicht vom Kapitalisten bezahlt wird) und damit weniger Mehrwert enthält. Dennoch können die Auswirkungen der sinkenden Profitrate durch verschiedene Faktoren kompensiert werden, insbesondere durch die Erhöhung des Produktionsvolumens[4]. Dies stößt aber wiederum, wie bei der Überproduktion, auf die Unzulänglichkeit der Märkte. Wenn die sinkende Profitrate im Leben des Kapitalismus nicht sofort als absolutes Hindernis für die Akkumulation auftrat, so deshalb, weil es in der Gesellschaft immer noch Absatzmärkte gab, zunächst reale und später zunehmend auf dem Wachstum der Weltverschuldung beruhende, die es ermöglichten, sie auszugleichen. Im gegenwärtigen Kontext ist sie in gefährlicher Weise mit der Überproduktion verbunden.

Die durch den Staatskapitalismus verursachten steigenden unproduktiven Ausgaben und die steigenden Inflationsraten

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs trat der Kapitalismus in eine neue Phase ein, in seine Dekadenz, in der die gesellschaftlichen Widersprüche die Einrichtung eines Staatskapitalismus erzwangen, dessen Aufgabe es war, den Zusammenhalt der Gesellschaft angesichts dieser Widersprüche zu erhalten:

-  Krieg oder Kriegsdrohung, was die Entwicklung des Militarismus und damit der Militärausgaben impliziert;

-   die Entwicklung des Klassenkampfes, aber auch die Zunahme der Kriminalität und des Gangstertums, was die Einrichtung verschiedener Repressionsorgane (Polizei, Gerichte usw.) erforderlich macht.

Diese Arten von staatskapitalistischen Ausgaben sind völlig unproduktiv und tragen keineswegs zur Akkumulation bei, sondern stellen eine Sterilisierung des Kapitals dar. Auch hier wurde Unverständnis über die Produktion und den Verkauf von Waffen geäußert, die als Teil des Akkumulationsprozesses angesehen werden und somit dem Krieg eine gewisse Rationalität verleihen. Tatsächlich wird die Vorstellung, dass der Verkauf solcher Waren die Realisierung von Mehrwert impliziert, vom Marxismus abgelehnt. Um sich davon zu überzeugen, muss man sich nur auf Marx berufen: "Ein großer Teil des jährlichen Produkts, das als Revenue verzehrt wird und nicht mehr als Produktionsmittel von neuem in die Produktion eingeht, besteht aus den fatalsten, die jämmerlichsten Gelüste, fancies usw. befriedigenden Produkten (Gebrauchswert) [...] Diese Sorte produktiver Arbeit produziert Gebrauchswerte, vergegenständlicht sich in Produkten, die nur für den unproduktiven Konsum bestimmt, in ihrer Realität, als Artikel, keinen Gebrauchswert für den Reproduktionsprozess haben"[5]. In diese Kategorie fallen alle Luxusartikel, die für die Bourgeoisie bestimmt sind, sowie die Waffen, da die Waffen offensichtlich nicht als Produktionsmittel in den Produktionsprozess zurückkehren. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind die unproduktiven Ausgaben, insbesondere die Militärausgaben, weiter angestiegen, und der gegenwärtige Krieg in der Ukraine hat ihnen einen weiteren Auftrieb gegeben.

Inflation

Die Inflation ist nicht zu verwechseln mit einem anderen Phänomen im Leben des Kapitalismus, nämlich dem Anstieg der Preise für bestimmte Waren aufgrund eines Mangels an Angebot. Das letztgenannte Phänomen hat aufgrund des Krieges in der Ukraine, der die Versorgung mit einer großen Menge landwirtschaftlicher Erzeugnisse beeinträchtigt hat, eine besondere Bedeutung erlangt. Dies führt bereits zu einer Verschärfung der Armut und des Hungers in der Welt.

Die Inflation gehört nicht zu den der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Widersprüchen, wie dies beispielsweise bei der Überproduktion der Fall ist. Dennoch ist sie ein ständiges Element in der Periode der kapitalistischen Dekadenz und hat erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft. Wie der Angebotsmangel äußert sie sich in steigenden Preisen, aber sie ist die Folge des Gewichts der unproduktiven Ausgaben in der Gesellschaft, deren Kosten sich auf die produzierten Waren auswirken: "In den Preis jeder Ware fließen heute neben den Gewinnen und den Kosten für die Arbeitskraft und das konstante Kapital, das in der Produktion eingesetzt wird, immer mehr Ausgaben ein, die für den Verkauf auf einem immer mehr gesättigten Markt unerlässlich sind (von den Gehältern der in der Vermarktung Tätigen bis hin zu dem Betrag, der für die Bezahlung der Polizei, der Funktionäre und der Soldaten des Erzeugerlandes zurückgelegt wird). Im Wert eines jeden Gegenstandes wird der Teil, der die für seine Herstellung notwendige Arbeitszeit verkörpert, immer kleiner im Verhältnis zu dem Teil, der die menschliche Arbeit verkörpert, die für das Überleben des Systems notwendig ist. Die Tendenz, dass das Gewicht dieser unproduktiven Ausgaben die Gewinne der Arbeitsproduktivität zunichte macht, manifestiert sich im ständigen Anstieg der Warenpreise"[6].

Ein weiterer Faktor für die Inflation ist schließlich die Geldentwertung, die mit der unkontrollierten Ausweitung der weltweiten Verschuldung einhergeht, die sich heute 260 % der Weltproduktion nähert.

Die ökologische Krise

Wenn sich die Bourgeoisie so eifrig auf die natürlichen Ressourcen stürzt, indem sie sie in die Produktivkräfte einbezieht, dann deshalb, weil sie die Besonderheit aufweisen, für den Kapitalismus "kostenlos" zu sein.

So umweltverschmutzend, mörderisch und ausbeuterisch der Kapitalismus in seiner Blütezeit bei der Eroberung der Welt auch war, so war dies doch nichts im Vergleich zu der teuflischen Spirale der Naturzerstörung seit dem Ersten Weltkrieg, die eine Folge des grausamen wirtschaftlichen und militärischen Wettbewerbs ist. Die Umweltzerstörung hat ein neues Niveau erreicht, da die kapitalistischen Unternehmen, ob privat oder öffentlich, die Umweltverschmutzung und die Plünderung der Ressourcen des Planeten auf ein noch nie dagewesenes Maß gesteigert haben. Darüber hinaus haben Kriege und Militarismus ihren eigenen Beitrag zur Verschmutzung und Zerstörung der natürlichen Umwelt geleistet[7]. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Katastrophe, die der Kapitalismus für die Menschheit bereithält, eine neue Dimension erreicht: die Entwicklung des Klimawandels, der die Existenz unserer Gattung bedroht. Seine Ursachen sind wirtschaftlicher Natur, und das gilt auch für seine Folgen.

Der Klimawandel wirkt sich immer stärker auf das Leben der Menschen und die Wirtschaft aus: Ungeheure Brände, heftige und großflächige Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, heftige Stürme usw. beeinträchtigen zunehmend nicht nur die landwirtschaftliche, sondern auch die industrielle Produktion und den Lebensraum der Menschen, wodurch die kapitalistische Wirtschaft immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wird.

Eine solche Bedrohung kann nur durch die Überwindung des Kapitalismus beseitigt werden. Aber in diesem Punkt gibt es die Idee, dass man nicht ausschließen könne, dass die Bourgeoisie in der Lage sei, die Klimakatastrophe durch den Einsatz neuer "sauberer" Technologien zu vermeiden. Zweifellos ist die Bourgeoisie noch in der Lage, in diesem Bereich erhebliche, ja sogar entscheidende Fortschritte zu machen. Dagegen ist sie völlig unfähig, sich im Weltmaßstab zu vereinigen, um solche technologischen Fortschritte in die Praxis umzusetzen.

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass solche Illusionen in der Bourgeoisie geäußert werden. In gewisser Weise nahmen sie die Form der Theorie des "Superimperialismus" an, die insbesondere von Kautsky am Vorabend des Ersten Weltkriegs entwickelt wurde und die zeigen sollte, dass sich die Großmächte untereinander einigen könnten, um eine gemeinsame, friedliche Herrschaft über die Welt zu errichten. Eine solche Vorstellung war offensichtlich eine der Speerspitzen der pazifistischen Lüge, die darauf abzielte, die Arbeiter glauben zu machen, dass man Kriege beenden könne, ohne den Kapitalismus zerstören zu müssen. Kautskys Sichtweise ignorierte die tödliche Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Mächten. Sie ignorierte auch die Tatsache, dass die höchstmögliche Vereinheitlichung zwischen den verschiedenen nationalen Fraktionen der Weltbourgeoisie gerade die der Nation ist, was sie unfähig macht, eine wirklich supranationale politische Autorität und Organisation der Gesellschaft zu schaffen.

Die Realität ist das genaue Gegenteil der Illusion einer Bourgeoisie, die in der Lage ist, die Klimakatastrophe zu vermeiden. Was wir erleben, ist das Fortbestehen und sogar die Verschärfung der totalen Irrationalität und Verantwortungslosigkeit angesichts des Klimawandels, die sich nicht nur in der Entfesselung neuer imperialistischer Konflikte wie dem Krieg in der Ukraine (katastrophal für die Menschen, aber auch für den Planeten) ausdrückt, sondern auch in kleineren, aber dennoch bedeutsamen „Entgleisungen“ wie dem Betrieb von Bitcoin, der einen Energieverbrauch erfordert, der dem aller Energie verbrauchenden Aktivitäten der Schweiz entspricht[8].

Die Folgen des Eintritts des Kapitalismus in die letzte Phase der Dekadenz, die Phase des Zerfalls

Der Zerfall entspricht der letzten Phase im Leben des Kapitalismus, die durch die Blockade zwischen den beiden antagonistischen Hauptklassen eingeleitet wird, die beide nicht in der Lage sind, eine eigene Lösung für die historische Krise des Kapitalismus zu finden. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise bestimmt somit das Phänomen der Verrottung der Gesellschaft. Dies wirkt sich auf das gesamte soziale Leben aus, insbesondere durch die Entwicklung der Tendenz zum "Jeder für sich" in allen sozialen Beziehungen und vor allem innerhalb der Bourgeoisie. Dies hat sich während der Covid-Epidemie sehr deutlich gezeigt, insbesondere an zwei Beispielen:

-   Die Unfähigkeit, die Forschung für einen Impfstoff zu koordinieren und zu zentralisieren und die geplante Produktion und Verteilung von Impfstoffen für den gesamten Planeten zu etablieren;
-   das Gangsterverhalten bestimmter Industrieländer, die auf dem Rollfeld eines Flughafens für ein Nachbarland bestimmtes medizinisches Material stehlen.

Während also die Wurzeln des Zerfalls in der Wirtschaftskrise liegen, haben wir seit 2020 gesehen, dass diese selbst immer stärker von den schwersten Zerfallserscheinungen betroffen ist. So wurde der Verlauf der Wirtschaftskrise durch die Entwicklung eines "Jeder für sich" in allen Bereichen, insbesondere aber in den Beziehungen zwischen den Großmächten, noch verschärft. Eine solche Situation kann nur ein großes Hindernis für die Entwicklung einer konzertierten Wirtschaftspolitik als Antwort auf die nächste Rezession darstellen.

Die Gefahr von Kettenreaktionen im wirtschaftlichen Bereich

Die Realität solcher Bedrohungen spiegelt sich in den Erklärungen des Chefökonomen des IWF vom Juli 2022 wider, der wohl kaum im Verdacht steht, Öl ins Feuer gießen zu wollen: "Es kann gut sein, dass wir uns nur zwei Jahre nach der letzten Rezession am Vorabend einer weltweiten Rezession befinden"[9] (unsere Hervorhebung).

In der Tat ist es "sicher", dass die Situation viel alarmierender ist als noch vor zwei Jahren. Das Zusammentreffen einer ganzen Reihe von Phänomenen spricht für die Vorhersage größerer Störungen auf wirtschaftlicher Ebene und infolgedessen auch weit darüber hinaus:

- Alle in diesem Artikel untersuchten Widersprüche des Kapitalismus – Rückgang der zahlungsfähigen Märkte, rasender Wettlauf um Produktivitätssteigerungen, Verschärfung des globalen Handelskriegs – werden verschärft.

-     Der Kapitalismus steht vor der fast sicheren Tatsache, neue große Ausgaben tätigen zu müssen: Überall auf der Welt, insbesondere in Westeuropa, führt die Beschleunigung des Militarismus zu einem starken Anstieg der unproduktiven Ausgaben. Auch die Überalterung der Infrastrukturen wurde jahrzehntelang in den Staatshaushalten vernachlässigt, was die Gesellschaft noch anfälliger macht und enorme Ausgaben erfordert, um mit vollkommen vorhersehbaren Phänomenen fertig zu werden, wie wir bei der Covid-Pandemie gesehen haben.
-     Es gibt verschiedene mögliche Auslöser für eine wirtschaftliche Katastrophe, wie die Krise des Immobiliensektors in China (die die Ursache für das Nullwachstum dieser Wirtschaft im zweiten Trimester 2022 ist[10]), wo Konkurse wie der von Evergrande nicht auf dieses Land beschränkt bleiben, sondern schwere internationale Auswirkungen haben könnten, so zerbrechlich ist die Weltwirtschaft; der Anstieg der Inflation wirkt sich nicht nur stark auf das Leben der Ausgebeuteten und damit insbesondere der Arbeiterklasse aus, sondern stellt die Bourgeoisie vor weitere politische Probleme. Eine unkontrollierte Inflation ist ein Hemmschuh für den Welthandel, der bereits von imperialistischen Spannungen betroffen ist. Das geht so weit, dass angesichts der scheinbar unausweichlichen Aussicht auf einen Anstieg der Zinssätze in einer Reihe von Industrieländern eine Rezession unvermeidlich scheint. Eine Bedrohung, deren Ausmaß die Bourgeoisie nicht wahrhaben will, da sie im Rahmen einer sich bereits verschlechternden Wirtschaftslage auftritt und damit die Tendenz zu einem "Jeder für sich" und in einigen Fällen zu einer offenen Feindseligkeit zwischen den wichtigsten Mächten noch verschärft.

Heute, nach mehr als einem Jahrhundert kapitalistischer Dekadenz, können wir sehen, wie visionär die Worte der Kommunistischen Internationale über den "inneren Zerfall" des Weltkapitalismus waren, der nicht von selbst verschwinden wird, sondern die Menschheit in die Barbarei ziehen wird, wenn das Proletariat ihm nicht ein Ende setzt. Die Stunde des Proletariats ist gekommen, um wieder als Klasse auf die Apokalypse zu reagieren, die das Kapital für uns vorbereitet. Noch ist Zeit dafür da.

Silvio 5.10.22

 

[1] Siehe Marxismus und Krisentheorie, in International Review Nr. 13 (engl./frz./span. Ausgabe)

[2] Siehe Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke in der Dekadenz des Kapitalismus, Teil 2, International Review Nr. 53 (engl./frz./span. Ausgabe)

[3] "Wie aber die Dinge liegen, hängt der Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale großenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit der nicht produktiven Klassen; während die Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter teils durch die Gesetze des Arbeitslohns, teils dadurch beschränkt ist, daß sie nur solange angewandt werden, als sie mit Profit für die Kapitalistenklasse angewandt werden können. Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde." Marx, Das Kapital, Band 3, Teil V, Kapitel 30, S. 500

[4] Es gibt auch andere Gegentendenzen zur sinkenden Profitrate, insbesondere die Intensivierung der Ausbeutung

[5] Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt 1969 (Verlag Neue Kritik), S. 71 (Kapitel: „Produktive und Unproduktive Arbeit“)

[6] World Revolution Nr. 2, "Überproduktion und Inflation"

[7] Der Kapitalismus vergiftet die Erde, International Review Nr. 63 (engl./frz./span. Ausgabe); Die Welt am Vorabend einer Umweltkatastrophe, International Review Nr. 135 (engl./frz./span. Ausgabe); Die Welt am Vorabend einer Umweltkatastrophe: Wer ist verantwortlich?, Internationale Revue Nr. 139 (engl./frz./span. Ausgabe)

[8] Le Monde, 24. September 2022 über die Produktion von Bitcoin

[9] Les Echos, 27. Juli 2022

[10] “L'immobilier, maillon faible de l'économie chinoise”, Le Monde, 17. August 2022

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Wirtschaftskrise

Das Krebsgeschwür des Krieges und die Zwickmühle des deutschen Imperialismus

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Mit dem Ukrainekrieg haben in Deutschland mehr als 3 Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 tiefgreifende Umwälzungen eingesetzt. So muss das deutsche Kapital seine imperialistischen Karten neu legen.

Deutschland: Zwischen Russland und USA in der Zwangslage

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks im Herbst 1989 setzte für die gesamte Welt eine tiefgreifende Umwälzung auf verschiedenen Ebenen ein. Deutschland war in Europa der große Nutznießer nach mehr als vier Jahrzehnten der Spaltung in zwei Staaten und Besatzung durch die damaligen Blockführer USA und Sowjetunion. Mit der Wiedervereinigung konnte Deutschland ein neues Gewicht erlangen, während die USA wiederum mit Ausnahme von Osteuropa weltweit überall an Einfluss verloren und sich immer mehr in ihrer jahrzehntelangen Vormachtstellung bedroht sehen. Zudem konnten sie den Aufstieg Chinas nicht verhindern.

Insbesondere in Osteuropa und gegenüber Russland hatte Deutschland nach 1989 seine Position ausbauen können. Gegenüber Russland hatten die deutschen Regierungen in bemerkenswerter Kontinuität von Kohl über Schröder, Merkel bis Scholz in engster Partnerschaft mit der Wirtschaft eine besondere Beziehung zu Russland aufgebaut. Günstige Gas- und Öllieferungen waren im Interesse der deutschen Konkurrenzfähigkeit, zudem konnte das deutsche Kapital umfangreich in Russland investieren. Auch hatte man gehofft, durch die umfangreichen ökonomischen Beziehungen mit Russland dessen imperialistischen Gelüste zu besänftigen. Am liebsten hätte man diese privilegierte Beziehung ungestört weiter aufrechterhalten…. Wenn da nicht die imperialistischen Triebkräfte dazwischen gekommen wären.

Die USA sind wild entschlossen, ihre Weltmachtstellung gegenüber China nicht aufzugeben. Wie sie im jüngst veröffentlichen Strategiepapier gegenüber China kundtun, wollen sie China in den nächsten 10 Jahren niederringen und es seiner Möglichkeit berauben, die USA zu übertrumpfen. Solch ein Kampf um die Vormachtstellung muss notwendigerweise alle Bereich der Gesellschaft erfassen und auch die Wirtschaft „infizieren“ und die imperialistische Konstellation in Europa mit prägen.

Russlands Widerstand gegen eine von den USA vorangetriebene NATO-Osterweiterung, seine Beanspruchung der Ukraine als Teil des russischen Kerngebiets sowie die Politik der USA, Russland auf die Knie zu zwingen, um damit auch zu einem Schlag gegen China auszuholen, hat die Bedingungen für das deutsche Kapital gründlich umgewälzt.

Mit Händen und Füßen wehrte man sich anfangs gegen das von den USA geforderte Ende von Nordstream, dann wollte man lange Zeit nur zögernd die Ukraine nach Beginn der russischen Invasion militärisch unterstützen. In der Zwischenzeit haben die USA Deutschland zur Finanzierung des Ukraine-Krieges gezwungen. Zwar hat die deutsche Regierung das geschickterweise als eine Art Befreiungsschlag ausgenutzt, um die Rüstungsausgaben über Nacht zu verdoppeln, denn solch eine Gelegenheit, als Reaktion auf die russische Ukrainebesatzung und ebenso mit amerikanischer Rückendeckung die Militärausgaben derart zu steigern, kommt nicht alle Tage. Ein solcher Schritt spiegelt natürlich den unumgänglichen Zwang, sich Hals über Kopf in die Militarisierung zu stürzen. Auch wenn die Rüstungsausgaben riesige Geldsummen in die Kassen der Rüstungskonzerne spülen, wirken sie gesamtwirtschaftlich als ein mächtiger Klotz am Bein, schmälern die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und treiben die Inflation mit an.1 Nichtsdestotrotz hat der deutsche Imperialismus die Gelegenheit beim Schopf gefasst, um möglichst schnell neue Vorreiterrollen zu beanspruchen, was wiederum neue Konfliktfelder mit allen möglichen Rivalen verstärkt.

Indem die USA Russland ins blutige und irrationale Abenteuer einer Besatzung der Ukraine lockten, haben die USA nicht nur Russland in Zugzwang gebracht. Das erklärte Ziel der USA ist Russland auf die Knie zu zwingen. Gleichzeitig wollen sie nicht nur die europäischen Alliierten im Rahmen der NATO mehr an die Kandare nehmen, sondern sie nehmen auch die Europäer ökonomisch viel stärker in den „Schwitzkasten“. Viel gewiefter als das grobschlächtige Vorgehen von Trump treten die USA unter dem Demokraten Biden mit dem Anspruch auf, Dienste für das NATO Bündnis zu leisten und dafür von Europäern „Gegenleistungen“ zu verlangen. Tatsächlich pressen die USA ihre Alliierten ebenso wie Zitronen aus. Deutschland ist durch die Sanktionen Russlands (Unterbrechung der Gas- und Ölimporte) nicht nur mit einer explosiven Energiepreisentwicklung konfrontiert, sondern auch in neue Abhängigkeiten bei Energieimporten geraten. War Deutschland jahrelang gegenüber Russland blauäugig gewesen und hatte eine fatale Abhängigkeit von Gas- und Ölimporten gegenüber Russland entstehen lassen, sind in der Zwischenzeit andere Staaten als Hauptlieferanten an russische Stelle gerückt und die Abhängigkeiten haben sich umgeschichtet. Mittlerweile konnten die USA ihre Energielieferungen nach Europa massiv ausbauen und Europa spült somit mächtig Geld in US-Kassen. Die USA sind momentaner Nutznießer der Sanktionen gegen Russland.

Auf militärischer Ebene ist Deutschland nach den USA und Großbritannien zum drittgrößten Waffenlieferanten in die Ukraine avanciert. Auch wenn man bei besonders schwerem Gerät wie Panzern immer noch Zurückhaltung übt, wurden alle bisherigen Tabus gebrochen. Mittlerweile ist Deutschland, neben z.B. Großbritannien, zum Großausbilder für tausende ukrainische Soldaten in der Handhabung der vom Westen gelieferten Waffensysteme geworden.

Neue Risse sind in Europa zwischen Frankreich und Deutschland entstanden – geschickt ausgenutzt von den USA

Weil die Bundeswehr ihre Ausgaben verdoppeln soll, muss man natürlich auch im Ausland einkaufen gehen und neueste Militärtechnik erwerben. Hier sind schon neue Reibereien entstanden. So ist Streit entbrannt zwischen Deutschland und Frankreich über die Anschaffung neuer Flugzeuge. Deutschland hat in den USA Phantom-Flugzeuge gegen den Willen Frankreichs bestellt, das Deutschland zum Kauf von französischen Flugzeugen bewegen will.2 Allzugern treiben die USA einen Keil zwischen die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, Frankreich und Italien.

Die Dissonanzen zwischen Deutschland und Frankreich gibt es nicht nur bei der Energiefrage (Frankreich will weiter an seinen AKWs festhalten),3 während Deutschland ab Frühjahr 2023 den Atomausstieg plant. Da Frankreich eine Nuklearmacht ist, hat sich Macron in Anbetracht der Drohungen Putins mit dem Einsatz von Atomwaffen dahingehend geäußert, dass Frankreich kein Frontstaat sei und man somit im Falle eines russischen Atomwaffeneinsatzes auch nicht automatisch französische Atomwaffen einsetzen werde. Frankreich will nicht nur Deutschland militärtechnisch stärker an sich binden, es will auch gegenüber dem sich militärisch hochrüstenden Deutschland nicht an Gewicht verlieren.

Hinter dem Streit um Abhängigkeiten von China steht ein Kampf um die Art und Weise der Interessensverteidigung des deutschen Kapitals

Nach 1989 war es zu einem neuen Schub der Globalisierung gekommen, wo viele Produktionsstätten in Billiglohnländer verlegt wurden und neue Lieferketten und somit neue Abhängigkeiten entstanden sind. Durch diese neu entstandenen ökonomischen Abhängigkeiten werden aber strategische Interesse getroffen, was wiederum aus globaler strategischer und militärischer Sicht nicht länger hingenommen werden kann, wie man bei der Produktion von Impfstoffen, medizinischem Material während der Pandemie, der Lieferung von seltenen Erden und dem ganzen Nachschub an Halbleitern und anderen elektronischen Komponenten feststellen musste. Deshalb ist es schon zu einer Art Umkehrbewegung der jahrelangen Globalisierungstendenzen gekommen, die einzig den imperialistischen Verhältnissen geschuldet sind.

Deutschland, das als größte Exportnation in Europa besonders anfällig für solche Abhängigkeiten geworden ist, muss sich diesen neuen Gegebenheiten ebenso beugen. Nachdem die Gefahren durch eine zu große Abhängigkeit (z.B. Energielieferungen oder Rohstoffe, oder von Absatzmärkten wie z.B. VW, das allein 40% in China umsetzt) offensichtlich geworden sind, und man im Falle Russlands eine Kehrtwende vollzogen hat, drängen bedeutende Teile des deutschen Kapitals auf ähnliche Konsequenzen gegenüber China. Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in China dienten deshalb vor allem den Grünen als willkommener Vorwand, sich aus chinesischen Abhängigkeiten zu lösen zu versuchen bzw. chinesische Versuche, mehr Einfluss in Europa zu gewinnen, abzuwehren. So ist innerhalb der deutschen Bourgeoisie ein Streit um die Teilübernahme des Hamburger Hafens durch die chinesische Reederei Cosco entflammt. Dieser Riss zieht sich bis in die Regierung hinein. Wer hier das letzte Wort haben wird, lässt sich heute noch nicht sagen. 4

Während Scholz schon bei Nordstream den „kühlen“ Staatsmann mimte und so tat, als ob es nur kommerzielle Interessen von russischen Firmen und keine nennenswerten russischen Staatsinteressen gäbe, bis dann einige Monate später das ganze Projekt (ob nach russischer Sabotage oder von den USA und deren Verbündeten) durch Anschläge zerstört wurde, ist die Auseinandersetzung um die Hamburger chinesische Beteiligung auch mehr als eine rein kommerzielle Frage. Denn während die Rivalitäten zwischen den USA und China an Schärfe zunehmen und die USA China niederringen wollen, ist das deutsche Kapital nicht bereit, sich den den US-amerikanischen Interessen willenlos zu unterwerfen. Man möchte eine eigenständige Politik gegenüber China betreiben. Offenbar darüber gibt es Divergenzen innerhalb des Regierungslagers. Inwiefern diese Divergenzen Verwerfungen innerhalb der deutschen Bourgeoisie und gar Neuaufstellungen der Parteienbündnisse bewirken können, ist zur Zeit noch nicht zu bewerten. Die USA werden jedenfalls mit allen Tricks und Schachzügen weiterhin Druck auf das deutsche Kapital ausüben.

Nach der Verschärfung der US-Sanktionen gegen alle Firmen und Personen die mit China in High-Tech-Branchen arbeiten wollen, wie es im US-Beschluss der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ heißt, bedeutet dies auch eine Gefahr für Chip-Lieferketten sowie ggf. für deutsche Investitionen in China. Dieser US-amerikanischen „Enthauptungsschlag“ gegen die chinesische Spitzentechnologie wird vermutlich gravierende Folgen auch für deutsche und europäische Firmen haben, die dringend auf staatliche Gelder angewiesen sind. VW hat im Oktober informiert, man werde ca. 2,4 Milliarden Euro investieren, um bei der Entwicklung von Software für seine E-Autos in China (wo VW ca. 40 Prozent seines Gesamtumsatzes erzielt) mit dem chinesischen Unternehmen Horizon Robotics zusammenzuarbeiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch deutsche Firmen in China unter den US-Bannstrahl fallen. Deshalb ringt das deutsche Kapital zur Zeit um den besten Ausweg aus dem Dilemma des Drucks der USA gegenüber China und Russland. Diese Anpassungsprozesse sind keineswegs vorübergehender Natur, sie werden von Dauer sein, da der Druck, der durch die weltweite Verschärfung der imperialistischen Rivaliten und vor allem durch die Zwangsmaßnahmen der USA entstanden ist, nicht nachlassen wird.

Unterdessen hat das Krebsgeschwür des Militarismus im Landesinnern weiter um sich gegriffen. Denn die jüngste Entwicklung des Ukrainekrieges lässt gerade Deutschland zu einem wichtigen möglichen Angriffsziel von Terrorakten werden. Die Angriffe auf Nordstream und Bahnkabel lassen erahnen, welche Eskalationen möglich sind. So stellen sich die Sicherheitskräfte auf „hybride Bedrohungen“ und mögliche Angriffe auf Kraftwerke oder Umspannstationen, also auf die Stromversorgung oder andere neuralgische Punkte der Infrastruktur, ein. Zu den militärischen Erschütterungen kommen die schwerwiegenden ökonomischen Verwerfungen hinzu.

Jeder für sich... Alleingänge auf dem Hintergrund zunehmender Konflikte in der EU, insbesondere mit Frankreich.

Nachdem das deutsche Kapital als erste Reaktion auf die Pandemie auch anfangs schwerwiegende Einschnitte im Handel mit medizinischem Gerät und Stoffen veranlasst hatte, hatte man sich nach einer Zeit auf EU-Ebene auf gemeinsame Rettungspakete verständigt (der deutsche Anteil betrug ca. 100 Mrd Euro). Die Devise war: der Staat kommt für die größten Rettungspakete auf, damit die Wirtschaft nicht absäuft. Gegenüber den Kriegsfolgekosten hat man im Oktober 2022 nach einem Hickhack einen nationalen Alleingang beschlossen, um eine Gaspreisbremse für Deutschland allein zu beschließen. Somit kommen nochmal zu den Pandemiekosten die Verdoppelung des Rüstungshaushaltes und der Gaspreisdeckel im Umfang von ca 200 Mrd. Euro hinzu. Somit steigt der Prozentsatz der Kosten der „Rettungsprogramme“ von nahezu 3% des BIP auf über 8% des BIP. Damit übertrifft Deutschland um das 2-3 fache die bisherigen Höchstwerte von den am meist verschuldeten EU-Staaten. D.h. Deutschland setzt sich an die Spitze der verschuldeten Staaten – alles im Namen der Abfederung der Kriegsfolgekosten.

In der Zwischenzeit sind die Wachstumsprognosen von zuvor noch ca. 2% für 2023 auf -0,3% (d.h. schrumpfend und bevorstehende Rezession) revidiert worden. Auch hier liege Deutschland mit den Negativwerten an der Spitze. Deutschland, das alleine genommen mehr Geld locker machen kann für seine Programme, kann sich somit gegenüber den anderen EU-Staaten große Wettbewerbsvorteile verschaffen.

Welche besondere Rolle die Sozialdemokratie und die Grünen, vormals als „pazifistische Strömung“ ein Sammelbecken gewesen, mittlerweile spielen und wie sich die ganze Entwicklung auf das Leben der deutschen Bourgeoisie auswirkt, und welche Konsequenzen für die Arbeiterklasse entstehen, werden wir in einem späteren Artikel beleuchten.

Wt. 25.10.2022


1 Jahrelang hatte man beobachtet, wie die USA in Afghanistan und im Irak in ein Fiasko nach dem anderen schlitterten. Man rieb sich schadenfroh die Hände, dass man sich selbst große Rüstungskosten vom Hals halten konnte. Dies ist nun passé.

2 Während Scholz auf den Bau eines europäischen Luftkampfsystems FCAS (Kostenpunkt mindestens 100 Mrd Euro) drängt, an der sich 15 Staaten beteiligen sollen,(ESSI) habe man das als eine Abkehr Deutschlands von Frankreich und Italien verstanden, die zusammen ein eigenes System entwickeln. Auch die Entwicklung des neuen Kampfpanzers MGCS ist ungewiss.

3 Frankreich blockierte bis vor kurzem den Bau einer Midcat-Pipeline von Spanien über Frankreich nach Deutschland.

4 Nach Warnung durch den Verfassungsschutz wird die Übernahme des Chiphersteller Elmos in Dortmund vom Bundeswirtschaftsministerium geprüft.

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Weltrevolution 185

Die FAU unterstützt den Krieg in der Ukraine

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«Direkte Aktion», die Zeitschrift der Freien Arbeiter Union FAU im deutschsprachigen Raum, veröffentlichte im März 2022 die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU zur russischen Invasion in der Ukraine, welche mit den Satz «Keinen Handschlag für den Krieg und alle seine Profiteure – alles für die globale Solidarität» endet.[1]

Lehnt die FAU damit strikt jegliche Parteinahme in diesem Krieg ab und bekämpft sie ihn auch konsequent? Nein, denn die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU enthält eine ganze Serie politischer Positionen, die mit einer internationalistischen Haltung gegen den Krieg ganz und gar nichts zu tun haben. Sie gehen bei genauerem Hinschauen weit über harmlose Konfusionen hinaus und führen geradeaus aufs Terrain der Bourgeoise und in die Hände der Kriegspolitik der herrschenden Klasse. In Wirklichkeit steckt hinter dieser Erklärung die findige Verteidigung der kapitalistischen Demokratie und ihrer typischen Argumente für den Krieg. Anstatt sich vehement und ohne Unterschied gegen alle Lager im Krieg in der Ukraine zu wenden und sie offen zu entblößen, stellt sich die FAU tatsächlich auf die eine Seite, die der Ukraine und ihrer Verbündeten.

Die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU ist sehr kurz und einiges ist lediglich angedeutet, so ihre Haltung zur Politik des deutschen Imperialismus gegenüber dem Krieg in der Ukraine, der abstrakte Slogan der FAU nach „globaler Solidarität“. Die FAU scheint auch davon auszugehen, dass „humanitäre Krisen“ im Kapitalismus (welcher als Ganzes nicht anderes als eine permanente humanitäre Katastrophe darstellt!) überwunden werden können. Zentral ist jedoch ihre unter dem Strich demokratische und linksbürgerliche Rechtfertigung des Krieges. Inwieweit alle Teile, Mitglieder oder Sympahisanten der enorm heterogenen anarchosyndikalistischen Bewegung mit dieser Erklärung einverstanden sind, ist unklar, doch wir müssen sie beim Wort nehmen, vor allem weil es kein Artikel eines einzigen Mitglieds ist, sondern die Erklärung eines Komitees, das sich als offizieller Vertreter des Anarchosyndikalismus präsentiert.

Internationalismus

Die Arbeiterbewegung hat eine lange Erfahrung mit dem Krieg und hat ihre schmerzhaften Lehren daraus ziehen müssen. Die entscheidende ist dabei die Position des revolutionären Internationalismus, welcher die einzig gültige Antwort der Arbeiterklasse auf den Krieg sein kann und es in der Geschichte auch konkret war. All dies scheint die FAU nicht zu kennen, geschweige denn verstanden zu haben.

Die zwei zentralen Lehren aus der Konfrontation der Arbeiterbewegung mit dem Krieg seien hier unterstrichen: Im Gegenteil zu den Auffassungen des Pazifismus,  der von einem möglichen Frieden im Kapitalismus ausgeht und gerade angesichts des Ersten Weltkrieges erbärmlich zusammenbrach, ist die Auslöschung des  Krebsgeschwürs des Krieges einzig und allein durch die Überwindung des Kapitalismus als historisch überfälliges, dekadentes und sich heute in einem irrationalen Zerfallsprozess befindliches System möglich. Nicht Friedensverhandlungen und der Waffenstillstand zwischen Kriegsparteien, der nur eine Pause im permanenten Krieg darstellt, nicht Friedensversprechungen linker Regierungen, nicht die militärische Besetzung von Kriegsgebieten durch „Friedenstruppen“ können ein Problem lösen, das dem Kapitalismus immanent ist und sich permanent verstärkt. Auch wenn der Krieg in der Ukraine, wie viele schon zuvor, einmal beendet ist, wird die kriegerische Spirale nicht abbrechen. Nur durch eine weltweite proletarische Revolution ist dies möglich, auch wenn dies weit weg zu scheint. Die Arbeiterklasse musste, nachdem die Russische Revolution von 1917 und die revolutionären Erhebungen in anderen kriegführenden Ländern zeitweilig den Krieg stoppen konnten, die schmerzvolle Lehre „Krieg oder Revolution“ ziehen. Wie Lenin es 1918 formulierte: „Internationalismus bedeutet Bruch mit den eigenen Sozialchauvinisten (d.h. den Vaterlandsverteidigern) und mit der eigenen imperialistischen Regierung, bedeutet revolutionären Kampf gegen diese Regierung, bedeutet ihren Sturz, (...)“[2]. “Es gibt nur einen wirklichen Internationalismus: die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern.”[3]

Der Internationalismus besteht nicht lediglich aus einer Ablehnung des Krieges, sondern geht davon aus, dass nur eine Kraft in der Gesellschaft, nur der Klassenkampf des Proletariats, das Potential hat dem Krieg zu stoppen und zu beseitigen. Ein Kampf der Arbeiterklasse,  der in allen Ländern denselben Charakter hat und der sich auch international zusammenschliessen muss. Der Pazifismus, die Friedensbewegungen, Aufrufe zur Verweigerung sind nicht Ausdruck eines revolutionären Kampfes und auch nicht ein „erster Schritt in die richtige Richtung“. Im Gegenteil verdecken sie die Tatsache, dass der Kampf gegen den Krieg zwischen den zweit zentralen Klassen in der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, ausgefochten wird. Sie sind ein Schmelztiegel aller Art von demokratischen Illusionen. Deshalb stützt sich eine internationalistische Haltung auf den Kassenkampf des Proletariats und auf nichts anderes.

Diese Pfeiler des Internationalismus waren die wichtigsten Streitpunkte auf den Konferenzen von Zimmerwald 1915 und Kienthal 1916 gegen den Krieg. Nicht die offenen Kriegsbefürworter waren die grösste Gefahr für die Arbeiterklasse, sondern die verdeckten, jene die sich in eine Arbeiter-Terminologie hüllten, den Krieg vordergründig ablehnten aber schwer zu durchschauen waren. Das gilt auch heute noch. Die FAU hätte mit ihrer schnell sichtbaren Unterstützung für die eine Seite im Krieg in der Ukraine nicht einmal in diesen Reihen der Schein-Internationalisten einen Platz gefunden!     

„Freiheitsrechte“

„Die militärische Aggression der russischen Regierung fordert aktuell Tote und Verletzte, zerstörte Städte, Gemeinschaften und Existenzen, sie verfolgt die Macht und Wirtschaftsinteressen weniger, bezahlt mit dem Blut und dem Leben von Tausenden. Langfristig droht sie die – auch heute schon begrenzten – Freiheitsrechte der ukrainischen Bevölkerung völlig zugunsten der politischen Diktatur auszulöschen“. Von welchen „Freiheitsrechten“ spricht die FAU, welche der ukrainische Staat der Arbeiterklasse offenbar noch teilweise garantiert? Die Arbeiterklasse in der Ukraine wird auf genauso rücksichtslose Weise wie in Russland vom "ihrem" kapitalistischen Staat, an dessen Spitze heute die Selensky-Regierung steht, als Kanonenfutter an die Front gezwungen und als Schutzschild verwendet. Alles unter Androhungen, Repression und dem strikten Verbot das Land zu verlassen. Beide Seiten in diesem Krieg zeichnen sich unterschiedslos durch militärische Brutalität in unvorstellbarer Dimension aus. Anstatt den rücksichtslosen Charakter der beiden Regime – in Russland unter Putins Clique als auch in der Ukraine unter dem vom «Komiker» zum Militärchef mutierten Selenksy – an den Pranger zu stellen und zu betonen, dass die Arbeiterklasse keine der beiden Seiten zu verteidigen sondern zu bekämpfen hat, verharmlost die FAU die wirkliche Lage, indem sie von der Gefahr eines Verlusts von bestehenden "Freiheitsrechten" der ukrainischen Bevölkerung spricht. Für die FAU ein erstes Argument die ukrainische Demokratie zu verteidigen. Ist das nicht blanker Hohn?

Wenn der Krieg immer den Charakter des kapitalistischen Staates und seine Politik gegenüber der Arbeiterklasse offen zutage bringt, entlarvt er auch die speziell auf das Proletariat gezielten Lügen und Vernebelungsmanöver der Politik des Staatskapitalismus, wie „demokratische Wahlen auch in Kriegszeiten“ oder „Gewerkschaftsfreiheit auch in Kriegszeiten“. Letzteres wird speziell von anarchosyndikalisten Organisationen für ihre sogenannte „transnationale und basisdemokratische Gewerkschaftsbewegung“ als wunderbares Geschenk für die Arbeiterklasse betrachtet. Gewerkschaften, gleichfalls wie der Parlamentarismus,  mit dem sie Hand in Hand gehen, sind zentrale und unverzichtbare Aspekte der bürgerlichen Demokratie, der intelligentesten Form der Diktatur des Kapitalismus. Im Staat mitbestimmen und damit angeblich die Freiheit und Gerechtigkeit der Demokratie für die Arbeiterklasse zu erreichen. All dies reiht sich  gegenwärtig direkt in die Kriegspropaganda des ukrainischen Staates und ihrer Verbündeten wie der USA ein, denn diese basiert im gegenwärtigen Krieg gezielt auf dieser hochgelobten „Verteidigung der Demokratie“. Die Gewerkschaften in der Ukraine, von links nach rechts, sind Teil der Kriegsanstrengungen, um eine noch möglichst kriegsfähige Industrie aufrechtzuerhalten und ihre routinierte Kontrollfunktion innerhalb der Arbeiterklasse auszuüben.

Das unterschiedslos brutale, kaltblütige aber einfacher durchschaubare kapitalistische Regime in Russland unter der Fuchtel der Putin-Regierung versucht den Krieg als „Entnazifizierung“ zu verkaufen. Der russische Staat stellt seine Kriegspropaganda aus historischen Gründen (Krieg zwischen Russland und Deutschland zwischen 1942-45) ähnlich auf den Boden der angeblichen Verteidigung der „Freiheitsrechte" gegen den Faschismus. Der Antifaschismus war gerade im Zweiten Weltkrieg im Vergleich zum unverblümt blutdürstigen Faschismus die siegreiche Ideologie, um die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank zu zwingen, geschickt eingesetzt vom Stalinismus sowie den Alliierten. Der Mythos der “Freiheitsrechte” kennt viele couleurs.

Die Erklärung der FAU unterscheidet mit ihrer Messlatte der „Freiheitsrechte“ zwischen (aus der Sicht der Arbeiterklasse wie sie wohl meinen) unterschiedlichen Staaten: die Ukraine als das mit deutlichem Abstand „kleinere Übel“ als Russland. Demokratische Freiheitsrechte sollen diesen Unterschied ausmachen, die es laut FAU durch die Einreihung in die Verteidigung der Ukraine aufrecht zu erhalten gilt. Im dekadenten Kapitalismus jedoch gibt es gegenüber der Arbeiterklasse keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse, sei es auf nationaler Ebene sowie auch international. Was sie unterscheidet ist vor allem die Ideologie, hinter der sie ihre Ziele verstecken, sei es demokratisch, mit offenem Nationalismus oder populistischer Propaganda.      

Lassen wir darauf gerade die KRAS (Konföderation Revolutionärer Anarcho-Syndikalisten), eine anarcho-syndikalistische internationalistische Gruppe aus Russland eine Antwort geben, welche, ganz im Gegenteil zur FAU, in einer eigenen Stellungnahme gegen den Krieg in der Ukraine bewusst beide Seiten gleichsam denunziert und bekämpft: „Die herrschenden Eliten Russlands und der Ukraine, angestiftet und provoziert vom Weltkapital, gierig nach Macht und aufgebläht mit den Milliarden, die dem arbeitenden Volk gestohlen wurden, haben sich zu einem tödlichen Kampf zusammengefunden. Ihr Durst nach Profit und Herrschaft wird nun von gewöhnlichen Menschen - genau wie uns - mit Blut bezahlt. (...) Welche "humanistische", nationalistische, militaristische, historische oder sonstige Rhetorik den aktuellen Konflikt auch immer rechtfertigen mag, dahinter stehen nur die Interessen derjenigen, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht haben. Für uns, die Werktätigen, Rentner und Studenten, bringt er nur Leid, Blut und Tod. Die Bombardierung friedlicher Städte, die Beschießung, das Töten von Menschen sind durch nichts zu rechtfertigen. (...)Wir rufen die Menschen im Hinterland auf beiden Seiten der Front, die Werktätigen Russlands und der Ukraine, dazu auf, diesen Krieg nicht zu unterstützen, ihm nicht zu helfen - im Gegenteil, ihm mit aller Kraft zu widerstehen![4]

Trotz Bedenken... vor allem Applaus an die Bourgeoisie der USA und der EU

Dass sich die FAU auf dem Terrain der Bourgeoise befindet, ist keinesfalls übertrieben. Was finden wir als nächstes in der Erklärung? „Auch wenn wir den aktuellen Druck gegen die russische Regierung und Banken begrüßen, halten wir die moralische Entrüstung der NATO-Staaten und der EU vor dem Hintergrund ihrer eigenen imperialistischen Politik für wenig glaubwürdig. Wir denken dabei beispielsweise an die Angriffskriege der türkischen Regierung auf Armenien, den Nord-Irak, Nord-Ost-Syrien, wir sprechen von der mangelnden Unterstützung für die Aufstände in Belarus oder Hongkong, wir sprechen von der mangelnden Unterstützung für die WiderständlerInnen in Sudan und Myanmar. Entschieden wenden wir uns gegen jeglichen Imperialismus.“ Die FAU „begrüsst“ die Politik der einen Seite im Krieg gegen die andere - klare Worte! Der Druck von Seiten der USA und Staaten der EU (alle selbstverständlich mit unterschiedlichen Zielen, Engagement und gegenseitigen Spannungen) besteht aus wirtschaftlichen Sanktionen, unter denen die Zivilbevölkerung leidet, Waffenlieferungen, Ausbildung der ukrainischen Armee und vielem mehr..... also nackte Kriegsführung. Diesen „Druck“ zu begrüssen, wie es die FAU macht, steht komplett im Widerspruch zu einer internationalistischen Haltung gegen den Krieg.

Was steckt hinter der fatalen Logik der FAU? Einerseits, wie schon oben beschrieben, ist sie direkt Resultat der Auffassung, dass die Arbeiterklasse dem demokratischen Kapitalismus Vorzug geben soll. Vor allem aber begründet die FAU ihr Schulterklopfen für die Politik der USA und von EU-Staaten damit, dass Russland militärisch die Grenze überschritten hat und der Angreifer in die Schranken gewiesen werden muss. Auch ausserhalb des Krieges in der Ukraine beschwert sich die FAU über die "mangelnde Unterstützung" für demokratische Bewegungen gegen einen militärischen Angreifer. Offenbar ersehnt sich die FAU eine solche Unterstützung und einen härteren Gang, der im Krieg immer zentral auf militärischer Ebene stattfindet, von den USA und Staaten der EU gegen den türkischen Angreifer. Welche Kriegspartei als erste die Grenze überschreitet, ist für die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Oragnisationen bezüglich ihrer Haltung gegenüber dem Krieg nicht bestimmend. Der Krieg ist im Kapitalismus Permanenz, Alltag und allgemeine Lebensform geworden und trägt als Ganzes einen imperialistischen Charakter. Jeder Staat, ob klein oder riesig, hat als fester Bestandteil dieser mörderischen Dynamik einen imperialistischen Charakter und betreibt eine Politik nach diesen Gesetzmässigkeiten. Hinter dem Vorgehen, Kriegsparteien in Angreifer und Verteidiger zu unterscheiden, so wie wir es in der Erklärung vorfinden, lauert unverblümt die  Rechtfertigung des “Verteidigungskrieges”.

Auf beiden Seiten gegen den Krieg kämpfen... oder nicht?

Wenn die FAU dazu aufruft, „den mutigen Anti-KriegsdemonstrantInnen in Russland und Belarus alle erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen“, so bleibt die andere Seite im Krieg ungeschoren. Lediglich auf der Ebene der Desertionen („unterstützt DeserteurInnen beider Seiten“) scheint die FAU mit dem ukrainischen Staat nicht vollkommen einverstanden zu sein. Eine internationalistische Positionen verteidigt den Standpunkt, dass sich die Arbeiterklasse dem imperialistischen Krieg in allen Ländern unter denselben grundsätzlichen Prinzipien entgegenstellen muss, Prinzipien, die unabhängig sind von den Kräften, über die sie für einen solchen Kampf verfügt. Dies bedeutet nicht, die Lage in den am Krieg beteiligten Ländern ausser Acht zu lassen, mit der Illusion, durch einen radikalen Aufruf die Klasse zu einem mächtigen Widerstand gegen den Krieg mobilisieren zu können.    

Es gibt tatsächlich einen Unterschied zwischen der Situation der Arbeiterklasse in der Ukraine und in Russland. In der Ukraine kann die Arbeiterklasse bislang durch die Bourgeoisie erfolgreich mittels der nationalistischen Propaganda der Vaterlandsverteidigung (begleitend aber auch durch das Verbot für Wehrpflichtige das Land zu verlassen) in den Krieg mobilisiert werden und hat ideologisch eine fatale Niederlage erlitten. Die russische Bourgeoise hingegen muss mit grösster Vorsicht perspektivlose Männer aus armen Regionen als Kanonenfutter mobilisieren, dies obwohl bisher keine proletarische Reaktionen gegen den Krieg in Russland sichtbar wurden. Wir gehen davon aus, dass in der gegenwärtigen Situation in der Ukraine aber auch in Russland, obwohl die Situation nicht identisch ist, isoliert keine Reaktion der Arbeiterklasse gegen den Krieg zu erwarten ist. Diese muss sich wenn schon in den westeuropäischen Ländern, in denen das Proletariat eine grosse, zwar noch beschränkte Abneigung gegen diesen Krieg als Ganzes hat, zeigen. Das Proletariat in Westeuropa befindet sich nicht in derselben Lage, da es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf breiter Ebene in einen Krieg mobilisiert werden konnte und somit, verbunden mit den weitreichendsten historischen Erfahrungen, eine zentrale Verantwortung im Kampf gegen den Krieg hat. Es ist die Entwicklung des Klassenkampfes in Westeuropa gegen die fatalen Auswirkungen des Krieges auf das Proletariat, welche für einen Widerstand der Arbeiterklasse in der Ukraine und Russland eine Perspektive bieten kann. 

Das Schweigen der FAU über einen notwendigen Widerstand der Arbeiterklasse in der Ukraine gegen den Krieg stützt sich jedoch nicht auf eine wirkliche Analyse was für das Proletariat momentan “möglich” ist, sondern auf ihrer Entscheidung, welcher Bourgeoisie der Rücken freigehalten werden soll. Obwohl komplett unbedeutend im Vergleich zur deutschen Sozialdemokratie zur Zeit des Ersten Weltkriegs, verkörpert die FAU grundsätzlich dieselbe Methode: Die deutsche Sozialdemokratie vertrat die absurde und nationalistische  Position, dass ein militärischer Sieg Deutschlands die Situation in Deutschland stabil halten werde und damit die Basis für Vorteile und Sicherheit für die deutsche Arbeiterklasse garantiert würden. Schlussfolgerung: Arbeiter zieht in den Krieg! Es scheint, dass sich die FAU von einem Schweigen der Arbeiterklasse in der Ukraine gegenüber “ihrer” genauso kriegsbesessenen Regierung den Vorteil und die Sicherheit der “Freiheitsrechte” verspricht. Stillhalte-Politik ist Unterstützung des Krieges.

Desertionen, mit denen sich die FAU (eben ausnahmsweise einmal für beide Kriegslager gültig!) solidarisch erklärt, sind eine Reaktion der Verzweiflung an der blutigen Kriegsfront. Wenn Desertionen eine verständliche Reaktion auf die Brutalität des Krieges und den unter Drohung der Exekution stattfindenden Zwang sich als Kanonenfutter hinzugeben sind, so bleiben sie immer zum individuellen Akt verdammt, zur Flucht, zum sich verstecken, zum gejagt sein, zur permanenten Angst verraten zu werden oder auch nach Beedigung des Krieges den Stempel des “Vaterlandsverräters” zu behalten. Die Arbeiterklasse kann sich dem Krieg nur kollektiv entgegenstellen, vor allem durch den Klassenkampf hinter den Fronten, in den Betrieben. Die Erfahrungen gerade aus dem Ersten Weltkrieg haben gezeigt, dass nur dies einer Reaktion der Soldaten an der Front gegen den Krieg eine Perspektive geben kann. Doch gerade auch dort ist es das kollektive Niederlegen der Waffen, welches der gewichtige Schritt ist, um der Bourgeoisie entgegenzutreten und damit das traurige Schicksal der individuellen Deserteure zu vermeiden.

Es ist kein Zufall, dass die FAU nur die Frage der Desertionen aufgreift. Das Insistieren auf eine kollektive Reaktion der zwangsmobilisierten Arbeiter in Uniform (auch wenn sie heute in Russland und der Ukraine nicht möglich ist) ist ihrer Methode allzu fern. Die Position der FAU ist auch typisch für viele Organisationen und Strömungen, die vom Anarchismus geprägt sind, der, mit wenigen Ausnahmen, die individuelle Rebellion immer im Zentrum hatte.

„Selbstverteidigungseinheiten“

Die gravierendste Forderung in der  Erklärung der FAU ist diejenige nach Selbstverteidigungseinheiten: „Im jetzigen Angriffskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung rufen wir euch auf: Organisiert Wohnungen, Arbeitsstellen, Behörden-Unterstützung und Fahrdienste für die Geflüchteten aus der Ukraine, spendet Geld, Medikamente, Schutzausrüstungen wie Helme und Schutzwesten an linke Selbstverteidigungs- und Sanitätseinheiten, unterstützt DeserteurInnen beider Seiten, (...)”. Die Erklärung appelliert an die Arbeitersolidarität, um unter anderem “Selbstverteidigungseinheiten” zu unterstützen. Das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine durch den tobenden Krieg ist grenzenlos, und nur die Flucht von Millionen konnte viele vor dem Tod durch die Bomben beider Kriegsparteien bewahren. Solidarität aus den Reihen der Arbeiterklasse für Flüchtlinge war immer – so zum Beispiel im Zeiten Weltkrieg - ein Ausdruck der Abneigung innerhalb der Arbeiterklasse gegen den Krieg, auch wenn sie nicht einmal in Ansätzen fähig war, sich als Klasse gegen den Krieg zu stemmen. Das Solidaritätsgefühl innnerhalb der Arbeiterklasse für Kriegsopfer kann aber von der herrschenden Klasse leicht missbraucht werden. Heute ist es die Aufopferung vieler Arbeiterfamilien in Westeuropa, welche als Stütze für die Politik und Strategie der westeuropäischen Bourgeoise ausgenutzt wird: “Deutschland hilft den Kriegsopfern”, doch in Tat und Wahrheit hilft ihnen die Arbeiterklasse... und der Staat liefert Waffen!

In der Erklärung der FAU geforderte „Selbstverteidigungseinheiten“, demnach mit Waffen ausgerüstete Gruppen, sind und waren nie etwas anderes als Teil des Krieges. Es gibt schon seit kurz nach Kriegsausbruch im Februar 2022 anarchistische bewaffnete Gruppen, welche offen mit der ukrainischen Armee zusammenarbeiten oder mittlerweile direkt Teil davon geworden sind. Makaber, dass dies auch auf der russischen Kriegsseite existiert. Die KRAS hat solche Absurditäten aufs Schärfste denunziert. Ob die Erklärung der FAU hier eine Naivität, eine Phantasie, oder was auch immer ausdrückt, „Selbstverteidigungseinheiten“, auch wenn sie als im Interesse der Leidenden dargestellt werden, fügen sich direkt in die militärische Barbarei der Bourgeoisie ein. Dies wäre nicht anders in Russland, wenn der Krieg auch auf das Terrain Russlands übergreifen würde. Jede Kriegspartei baut darauf, solche zivile Mobilisierungen des “Selbstschutzes”, also Bürgerwehren im Krieg, in ihre Strategie einbauen zu können. Zur nationalen Kriegsmobilisierung sind sie unabdingbarer Teil, Verbindungsglied zwischen der Zivilbevölkerung und der Armee.

Wir übertreiben nicht, wenn wir die Erklärung der FAU als Unterstützung des Krieges bezeichnen. In einem von der FAU gemachten, publizierten und nicht mit einer Silbe kritisierten Interview mit einem ukrainischen Gewerkschafter fordert dieser: „Ich möchte alle auffordern, die Ukraine zu unterstützen, ukrainische Flüchtlinge und ukrainische MigrantInnen zu unterstützen und allen in der Ukraine zu helfen.“ Man kann die tragische Logik, welche nichts mit einer internationalistischen Haltung zu tun hat, kaum klarer ausdrücken. Offenbar stört der Aufruf das eine Kriegslager zu unterstützen die FAU nicht.

Mario, 13.11.2022


[1]https://direkteaktion.org/erklaerung-des-internationalen-komitees-der-fa... [8]

[2]„Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, Oktober 1918, Lenin, Werke, Bd. 28

[3]“Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution”, April 1917, Lenin, Werke, Bd. 24

[4]https://aitrus.info/node/5921 [9]

Rubric: 

Krieg in der Ukraine

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Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/weltrevolution_185.pdf [2] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [3] https://de.internationalism.org/oekokatastrophe1 [4] https://fr.internationalism.org/icconline/2008/journee_de_discussion_a_marseille_un_debat_ouvert_et_fraternel_sur_un_autre_monde_est_il_possible.html [5] https://monthlyreview.org/2022/04/01/for-an-ecosocialist-degrowth/ [6] https://de.internationalism.org/content/3064/aktualisierung-des-orientierungstextes-von-1990-militarismus-und-zerfall-mai-2022 [7] https://de.internationalism.org/content/3059/bericht-ueber-die-imperialistischen-spannungen-mai-2022-bedeutung-und-auswirkungen-des [8] https://direkteaktion.org/erklaerung-des-internationalen-komitees-der-fau-zur-russischen-invasion-in-der-ukraine/ [9] https://aitrus.info/node/5921