Seit über anderthalb Jahren sind wir Zeugen täglicher Operationen der israelischen Armee im Gazastreifen. Im Namen des „Selbstverteidigungsrechts Israels“ behauptet Netanjahu, die mörderischen Hamas-Kommandos in ihren Tunneln und überall dort zu jagen, wo die Terrororganisation Zuflucht gefunden hat, sei es in Krankenhäusern, Schulen oder Flüchtlingslagern, um, wie er behauptet, die seit dem 7. Oktober noch lebenden Geiseln zu befreien.
Aber die israelische Regierung schert sich nicht im Geringsten um die Geiseln, die nur ein Vorwand für ihre schmutzigen imperialistischen Ziele sind: Netanjahu und seine Clique haben ihre Absicht verkündet, den gesamten Gazastreifen für immer zu besetzen – vollständig gesäubert von seiner arabischen Bevölkerung! Um dies zu erreichen, scheut die israelische Bourgeoisie keine Kosten. Die Armee zeigt in diesem Freiluftgefängnis grenzenlose Grausamkeit: Inmitten von Leichenbergen, von einer Zone zur anderen geworfen, an einem Tag nach Norden, am nächsten nach Süden, in Verzweiflung gestürzt und ohne alles, lebt die Bevölkerung in ständiger Angst vor den abscheulichen Verbrechen der Soldaten, vor Bomben, Hunger und Krankheiten. Gleichzeitig haben die Angriffe und die Vertreibungspolitik im Westjordanland zugenommen, wo Abertausende Palästinenser terrorisiert und zur Flucht gezwungen werden.
Für Netanjahu und die religiösen Fanatiker um ihn herum ist die Auslöschung der Palästinenser von der Erde nun ein erklärtes Ziel: Wenn die Armee nicht gerade gezielt auf verängstigte Menschenmengen schießt, behindert sie ständig die Versorgung mit Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern und hungert Erwachsene, Alte und Kinder schamlos aus. Seit mehr als drei Monaten blockiert die Regierung sogar die Versorgung unter Vorwänden, die so absurd sind, dass sie selbst eine weitere Provokation darstellen, ein kaum verhülltes Eingeständnis ethnischer Säuberung. Und all dies mit aktiver Komplizenschaft Ägyptens und Jordaniens, die offiziell ihre Besorgnis über das Schicksal der Palästinenser zum Ausdruck bringen, während sie sie effektiv strangulieren, indem sie ihnen die Flucht aus dieser Hölle verwehren.
Überall auf der Welt sind wir Zeugen einer immensen Empörung und Protesten gegen die Verbrechen, die vor unseren Augen geschehen. In vielen Städten finden Demonstrationen statt, die ein Ende der Kämpfe fordern, mit Rufen wie „Free Palestine!“[1] Selbst die Staats- und Regierungschefs mehrerer europäischer Länder sehen sich nach monatelanger Unentschlossenheit nun gezwungen, die Übergriffe der israelischen Armee in Gaza zu verurteilen und sogar die Realität eines andauernden Völkermords anzuprangern, wie beispielsweise der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez, der sich kürzlich gegen „eine katastrophale Situation des Völkermords“[2] ausgesprochen hat.
Hinter diesen Erklärungen verbergen sich jedoch nichts als Heuchelei und Lügen. Die Politik der systematischen Zerstörung in Gaza ist keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil! Weit entfernt von einer „Welt in Frieden“ zeigt die gesamte Geschichte des dekadenten Kapitalismus, dass die Gesellschaft unaufhaltsam in die Barbarei abgleitet und dass kein Teil der Bourgeoisie in der Lage ist, dem ein Ende zu setzen.
Bereits im 19. Jahrhundert hatte Karl Marx gezeigt, dass der Kapitalismus durch Gewalt, Massaker, Zerstörung und Plünderung entstanden ist, dass das Kapital „aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt kommt: "Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“[3] Das für die industrielle Revolution notwendige ursprüngliche Kapital fiel nicht wie durch ein Wunder vom Himmel; seine anfängliche Akkumulation konnte nur durch Plünderung, Banditentum und Sklaverei erfolgen. Tatsächlich ist die Geschichte der ersten kapitalistischen Mächte eine Abfolge von Schandtaten, die weit entfernt sind von den Idealen ihrer Aufklärungsphilosophie: Seit dem groß angelegten Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern (zwischen 80 und 100 Millionen Opfer!) war die Entwicklung des Kapitalismus überall blutig. Ob in Großbritannien (Völkermord an den australischen Aborigines, neben vielen anderen Beispielen), Frankreich (Ausrottung eines Drittels der algerischen Bevölkerung ab 1830), Deutschland (Völkermord an den Herero und Nama in Namibia zwischen 1904 und 1908), Russland (1 bis 2 Millionen Opfer während der ethnischen Säuberung gegen die Tscherkessen zwischen 1864 und 1867), den Vereinigten Staaten (zum Beispiel während der Eroberung des Westens) und sogar dem „kleinen Land“ Belgien (mit 10 Millionen Toten im Kongo!) – alle Bourgeoisien waren an den schlimmsten Gräueltaten beteiligt. Diese Gewalt richtete sich auch gegen die Bauernschaft der traditionellen Gesellschaft, wie die Grausamkeiten Großbritanniens gegenüber den irischen Bauern zeigen.
Kapitalismus ist gleichbedeutend mit struktureller und institutionalisierter Gewalt, aber nach dem Ersten Weltkrieg nahm dieser Prozess eine neue, qualitative Wendung. Auf ihrem Gründungskongress 1919 erkannte die Kommunistische Internationale eindeutig den Eintritt des Kapitalismus in seine Phase des Niedergangs: „Eine neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“ Während die Eroberungen der Aufschwungphase den kapitalistischen Mächten die Entwicklung und Universalisierung neuer Produktionsverhältnisse ermöglicht hatten, bedeutete der Erste Weltkrieg, dass die Eroberung mangels ausreichender Räume und Märkte fortan nicht mehr in erster Linie auf „jungfräulichem Boden“ stattfinden würde, sondern in einer tödlichen Konfrontation mit anderen kapitalistischen Mächten.
Während also die Gewalt der Aufschwungsphase des Kapitalismus zumindest die Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht hatte, stellte die Gewalt seiner Dekadenz eine gewaltige Kette der Zerstörung dar, die sich immer weiter ausbreitete und vertiefte: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt. (…) Eines ist sicher: der Weltkrieg ist eine Weltwende. Es ist ein törichter Wahn, sich die Dinge so vorzustellen, daß wir den Krieg nur zu überdauern brauchen, wie der Hase unter dem Strauch das Ende des Gewitters abwartet, um nachher munter wieder in alten Trott zu verfallen. Der Weltkrieg hat die Bedingungen unseres Kampfes verändert und uns selbst am meisten.”[4]
Während des Ersten Weltkriegs kam es zu wissenschaftlich geplanten Massenmorden (wie Gasangriffen) und organisierten Gräueltaten in sehr großem Umfang, wie beispielsweise den Völkermorden an den pontischen Griechen und den Armeniern, bei denen Millionen Menschen getötet und vertrieben wurden. Deshalb stellte die Kommunistische Internationale in ihren Richtlinien von 1919 klar, dass angesichts des überholten Kapitalismus die Alternative für die Menschheit nun entweder Sozialismus oder Barbarei sei: „Der Menschheit, deren ganze Kultur jetzt in Trümmern liegt, droht die Gefahr vollständiger Vernichtung. Es gibt nur eine Kraft, die sie retten kann, und das ist das Proletariat. (...) Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos. Und dieses Chaos kann nur die größte, produktive Klasse überwinden: die Arbeiterklasse.“ Seitdem verbreitet der Kapitalismus weiterhin Tod und sät Barbarei: Vertreibungen, Völkermorde, ethnische Säuberungen und Hungerpolitik sind zu gewöhnlichen Kriegswaffen geworden, die von allen Kriegführenden in einem in der Geschichte der Menschheit beispiellosen Ausmaß eingesetzt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg, noch bevor die Schrecken des Zweiten begannen, setzte sich diese Kette der Gewalt fort. Gräueltaten wurden begangen, diesmal jedoch nicht gegen einen „fremden Feind“, sondern gegen ukrainische Bauern (Holodomor) während einer von Stalin organisierten Hungersnot (zwischen 2,6 und 5 Millionen Tote) oder gegen die russische Bevölkerung, die zu Millionen bei der Arbeit im Gulag ums Leben kam.
Die Kette der Gewalt erreichte schließlich während des Zweiten Weltkriegs mit 60 bis 80 Millionen Toten in nur sechs Jahren ein neues Ausmaß an Barbarei, wobei die unzähligen Opfer von Hunger, Krankheit und Unterdrückung nach Ende der Kämpfe nicht mitgerechnet sind. Dieser Konflikt folgte derselben Logik wie der von 1914-1918, jedoch in noch mörderischerem Ausmaß, was die sich verschärfende historische Krise des Systems widerspiegelte.
Die Massengräuel des Nazi-Regimes und seiner Verbündeten sind gut dokumentiert, aber zweifellos ist es die industrialisierte Ermordung von 3 Millionen Menschen,[5] darunter überwiegend Juden, in den Vernichtungslagern, die am deutlichsten den Höhepunkt der Barbarei dieses Konflikts zum Ausdruck bringt. Doch obwohl die Nazis entsetzliche Barbaren waren, darf nicht vergessen werden, dass sie die Barbarei eines dekadenten Systems zum Ausdruck brachten, das im tödlichen Wettbewerb zwischen allen Staaten und allen bürgerlichen Fraktionen zu seinen verabscheuungswürdigsten Extremen getrieben wurde.
Weit weniger bekannt sind jedoch die Verbrechen, die die Alliierten während des Krieges begangen haben, auch gegen die Juden. Es ist heute erwiesen, dass die Alliierten seit der Errichtung der Vernichtungslager im Jahr 1942 genau über deren Existenz, die Details der Vernichtungsmethoden und die Zahl der bereits getöteten und noch zu tötenden Opfer informiert waren.[6] Dennoch unternahmen weder die britische noch die US-amerikanische noch die sowjetische Regierung irgendetwas, um das Massaker zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen. Nicht einmal eine Eisenbahnlinie wurde bombardiert! Stattdessen bombardierten sie wiederholt (mit schrecklichen Phosphorbomben) zahlreiche deutsche Städte mit ausschließlich ziviler Bevölkerung, insbesondere Arbeiterviertel, wie Leipzig, Hamburg (mindestens 45.000 zivile Opfer) und vor allem Dresden. Letzteres Bombardement forderte unzählige Opfer. Die Schätzungen variieren erheblich und reichen von 25.000 bis 200.000 Toten. Wir sind nicht in der Lage, die Zahl der Opfer zu bestimmen, aber die Bombardierung Dresdens weist bestimmte Merkmale der von den Alliierten entfesselten Barbarei auf, sowohl hinsichtlich der Mobilisierung außergewöhnlicher Ressourcen (1.300 Bomber in einer Nacht und zwei Tagen) als auch hinsichtlich des Einsatzes „verbotener” Phosphorbomben, die die Stadt in einen wahren Feuerofen verwandelten. All diese Maßnahmen machen nur Sinn, wenn man bedenkt, dass Dresden weder eine bedeutende Industriestadt war noch von echtem strategischem Interesse. Hingegen hatte es eine riesige Bevölkerung von Flüchtlingen, die vor der Ostfront geflohen waren, weil sie glaubten, Dresden würde nicht bombardiert werden. Das Ziel dieser exemplarischen Zerstörung war es, die Bevölkerung und insbesondere die Arbeiterklasse zu terrorisieren, um ihnen jeden Wunsch nach Mobilisierung auf ihrem eigenen Klassenterrain zu nehmen, wie es bereits 1943 in mehreren deutschen und italienischen Städten geschehen war. In einem Memorandum vom 28. März 1945 an den britischen Generalstab schrieb Winston Churchill über diese Bombenangriffe: „Es scheint mir, dass es an der Zeit ist, die Bombardierung deutscher Städte zu hinterfragen, die mit dem Ziel durchgeführt wurde, den Terror zu verstärken, während andere Vorwände angeführt wurden. Andernfalls würden wir ein völlig zerstörtes Land übernehmen. Wir könnten beispielsweise keine Baumaterialien aus Deutschland für unseren eigenen Bedarf [...] erhalten. Die Zerstörung Dresdens warf ernsthafte Zweifel an der Durchführung der alliierten Bombardierungen auf.“ Erstaunlicher Zynismus!
Aber diese Verbrechen waren letztlich nur der Auftakt zu der unermesslichen Tragödie der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (etwa 200.000 Opfer), die aus militärischer Sicht völlig unnötig waren und den „sowjetischen“ Rivalen einschüchtern sollten. Und mit dem gleichen Zynismus, mit derselben Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern stellten die russischen Truppen vor den Toren Warschaus den Kampf ein, um es den Nazis zu überlassen, den aufkommenden Aufstand niederzuschlagen (160.000 bis 250.000 getötete Zivilisten). Für die stalinistische Bourgeoisie, die vom Gespenst der revolutionären Welle von 1917 heimgesucht wurde und sich mitten in einem Weltkrieg befand, ging es darum, jede Möglichkeit einer proletarischen Reaktion zu zerschlagen und freie Hand zu haben, um eine Regierung unter ihrer Kontrolle zu installieren. In Italien hielt Churchill ebenfalls die Kämpfe zurück, um den Faschisten die Unterdrückung der wachsenden Streiks zu ermöglichen, und ließ sie, wie er selbst sagte, „in ihrem eigenen Saft schmoren”.
Seit 1945 haben die Massaker nie aufgehört: Unser Planet hat keinen einzigen Tag ohne militärische Konflikte erlebt. Kaum war der 2. Weltkrieg zu Ende, führte die Konfrontation zwischen den beiden neuen rivalisierenden Blöcken zu den Schrecken des Kalten Krieges: dem Koreakrieg (3 bis 5 Millionen Tote), Vietnamkrieg (rund 2 Millionen Tote), der erste Krieg in Afghanistan (nach Schätzungen 2 Millionen Tote) und unzählige extrem blutige Stellvertreterkriege, wie der Iran-Irak-Krieg Ende der 1980er Jahre, der mindestens 1,2 Millionen Tote forderte.
Nach dem Kalten Krieg gingen die Massaker mit voller Wucht weiter, und die Welt nahm eine Wendung zum Schlimmeren und wurde noch chaotischer und anarchischer, da die Logik der Blöcke den verschiedenen Staaten oder Fraktionen keine Disziplin mehr auferlegte. In dieser letzten Phase der Dekadenz, der Phase des Zerfalls, entstand eine neue Dynamik des Verfalls. Die Konflikte wurden zunehmend destruktiver und waren geprägt von kurzsichtigen Machtkämpfen, die keine anderen rationalen strategischen Ziele hatten, als Chaos unter den Rivalen zu säen.
Auch hier haben die großen Demokratien Blut an ihren Händen, wie die Kriege in Jugoslawien (mindestens 130.000 Tote) zeigen, die durch Waffenlieferungen aus den USA, Frankreich und Deutschland angeheizt wurden. Die Haltung der UN-Truppen während dieses Konflikts, als sie Milosevics Todesschwadronen im Juli 1995 die Massaker an der Bevölkerung von Srebrenica (rund 8.000 Tote) ermöglichten, ist ebenfalls charakteristisch für den permanenten Zynismus der Bourgeoisie. Ein weiteres Beispiel ist die Haltung der französischen Truppen unter UN-Mandat während des Ruanda-Krieges in den 1990er Jahren, die sich mitschuldig machten am Völkermord an den Hutus (1 Million Tote). Die Großmächte waren auch direkt an Massakern in großem Stil beteiligt und haben überall, wo sie intervenierten, Chaos gesät, insbesondere in Afghanistan (offiziell 165.000 Tote, aber zweifellos mehr), im Irak (1,2 Millionen Tote) und heute im Nahen Osten und in der Ukraine, wo der Konflikt bereits mehr als eine Million Menschenleben gefordert hat. Die Liste ist endlos.
Die Kette der Gewalt, die das 20. Jahrhundert geprägt hat, führt nun durch die Gefahr eines umfassenden Krieges, nuklearer Risiken und der Zerstörung der Umwelt zum möglichen Untergang der Zivilisation oder sogar der Menschheit selbst. Die Schreckensszenen in Gaza sind besonders schockierend, aber auch die ukrainische Bevölkerung und bestimmte Regionen Russlands leben seit mehr als drei Jahren unter Bomben und einer Politik des Terrors, mit der offenen Unterstützung derer, die sich jetzt über das Schicksal der Palästinenser empören. Gleichzeitig werden die Millionen Menschen, die in Sudan, Kongo, Jemen und so vielen anderen Teilen der Welt unter Krieg leiden, von den Medien kaum wahrgenommen. Allein im Sudan haben 12 Millionen Menschen vergeblich versucht, vor dem Krieg zu fliehen, und Millionen weitere sind unter den gleichgültigen Blicken aller „Demokratien” vom Hungertod bedroht. In der Sahara toben Kriege, und der Nahe Osten versinkt tiefer denn je im Chaos. Asien steht unter starkem Druck, und Teile davon stehen am Rande eines Krieges. In Süd- und Mittelamerika gleichen Regionen, die von Zusammenstößen rivalisierender Banden verwüstet werden, Kriegsgebieten, wofür die katastrophale Lage in Haiti ein Beispiel ist. Selbst in den Vereinigten Staaten sind die Keime eines möglichen Bürgerkriegs sichtbar. Der Kapitalismus bietet heute ein apokalyptisches Bild, und es ist auffällig, dass die für das Ende des Zweiten Weltkriegs typischen Trümmerfelder innerhalb weniger Wochen in der Ukraine und im Gazastreifen entstanden sind.
Die Kriege im Nahen Osten sind Teil dieses tödlichen Prozesses. Als Symbol für die Sackgasse, in die der Kapitalismus geraten ist, startete Israel im Mai eine neue Offensive im Gazastreifen, gerade als Trump arabische Länder bereiste und eine Reihe von Handelsabkommen und Investitionsprojekten feierte, von denen natürlich viele Waffenverkäufe betrafen (142 Milliarden Dollar allein mit Saudi-Arabien!).
Die europäische Bourgeoisie steht in Sachen Zynismus in nichts nach. Während sie sich etwas verspätet über die ethnische Säuberung gegen die Palästinenser empörte und Israel (ohne allzu großen Nachdruck) mit Sanktionen drohte, traf sie sich zur gleichen Zeit in Albanien zum Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft, um Unterstützung für die Ukraine zu sammeln. Ihr Hauptanliegen ist es nicht, den Flüchtlingen zu helfen, noch den Opfern der völkermörderischen Politik Israels, noch den Millionen von Flüchtlingen, die geflohen sind und verzweifelt versuchen, nach Europa zu gelangen. Ihr einziges Anliegen war es, mehr Waffen und Soldaten für den Krieg gegen Russland zu mobilisieren und gleichzeitig die brutalen Maßnahmen gegen „illegale Einwanderer” zu verschärfen.
Während die Propaganda der israelischen Regierung versucht, jede Empörung über die Verbrechen in Gaza als Antisemitismus darzustellen,[7] indem sie den Holocaust auf schändliche Weise instrumentalisiert, hat sich der hebräische Staat, der sich als Beschützer der Juden, der Nachkommen des Nazi-Völkermords, präsentiert,[8] selbst zum Vernichter gemacht. Das ist nicht verwunderlich: Der Nationalstaat ist keine transzendente Kategorie, die über der Geschichte steht, sondern die vollendete Form der kapitalistischen Ausbeutung und Konkurrenz. In einer Welt, die von der unerbittlichen Logik des Imperialismus und der Rivalitäten aller gegen alle beherrscht wird, ist jeder Staat, ob schwach oder mächtig, demokratisch oder nicht, ein Glied in der Kette der Gewalt, die der Kapitalismus der Menschheit zufügt. Für die Schaffung eines neuen Staates zu kämpfen, gestern Israel, heute Palästina, bedeutet, für die Institutionalisierung der Bewaffnung neuer Kriegführender zu kämpfen und einen neuen Friedhof zu schaffen. Deshalb entscheiden sich alle linksextremen Gruppen, die zur Unterstützung der „palästinensischen Sache” aufrufen, de facto für eine bewaffnete Seite und tragen damit zur Fortsetzung der Massaker und nicht zur Befreiung der Menschheit bei.
EG 13.07.2025
[1] Choosing one side against another always means choosing imperialist war! [1], publiziert auf ICConline, May 2024 (auf Englisch)
[2] Sánchez hat sich, wie alle seine Amtskollegen, nicht aus reiner Herzensgüte so geäußert: Spanien zieht alle Register seiner Verführungskunst, um sich gegenüber den arabischen Ländern als zentraler Akteur im Mittelmeerraum zu etablieren. Als die spanischen Interessen mit denen Israels übereinstimmten, hat die PSOE nie Anstalten getroffen, gegen die Machenschaften der israelischen Streitkräfte zu protestieren.
[3] Karl Marx, Das Kapital (1867), 24. Kapitel
[4] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie (1915)
[5] Dies ist die offizielle Zahl der in den Lagern Getöteten, die aber gewaltig steigt, wenn andere Vernichtungsmethoden wie Massenerschießungen berücksichtigt werden.
[6] Dies ist eine seit langem von Historikern dokumentierte Tatsache, die durch die Veröffentlichung der UN-Archive im Jahr 2017 [2] gewissermaßen offiziell bestätigt wurde.
[7] Was nichts an der Realität eines zunehmenden Antisemitismus in der Gesellschaft ändert, auch in den Reihen der Linken des Kapitals.
[8] Zu den Lügen des Zionismus in der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus siehe: Antisemitismus, Zionismus, Antizionismus: Alle sind Feinde des Proletariats [3], verfügbar auf der Website der IKS.
Für die Arbeiterklasse, eine Klasse, deren Bewusstsein eine äußerst wichtige Waffe ist[1], ist es von immenser Bedeutung, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen. Jedes Mal, wenn sie auf ihrem eigenen Terrain reagiert, in großem Umfang, vereint und solidarisch und vor allem mit revolutionärem Elan, ergeben sich daraus wichtige Lehren für die Zukunft, Lehren, die die Arbeiterklasse verstehen und in zukünftigen Kämpfen nutzen muss.
Dies war der Fall bei der Pariser Kommune von 1871, nach der Marx und Engels erkannten, dass die Arbeiterklasse bei der Machtübernahme den bürgerlichen Staat nicht nutzen konnte, um die Gesellschaft zum Kommunismus zu transformieren. Sie musste diesen Staat zerstören und eine neue Form der Gesellschaftsorganisation aufbauen, mit gewählten Vertretern, die sofort abberufen werden konnten.
Dies war auch der Fall bei der Revolution in Russland im Jahr 1905, deren 120. Jahrestag in diesem Jahr begangen wird. In diesem Fall wurde mit dem Aufkommen des Massenstreiks und der Schaffung seiner Machtorgane, der Arbeiterräte (auf Russisch Sowjets), die Lenin als „endlich entdeckte Form der Diktatur des Proletariats” bezeichnete, eine noch wertvollere Lehre gezogen.
Dieser Erfahrung wollen wir diesen Artikel widmen, um zu sehen, wie sie uns helfen kann, die aktuelle Dynamik des Klassenkampfs zu verstehen, die die IKS als historischen „Bruch” mit der der vergangenen Jahrzehnte beschrieben hat.
Bevor wir uns mit der Dynamik der Russischen Revolution von 1905 befassen, müssen wir kurz auf den internationalen und historischen Kontext eingehen, in dem diese Revolution an Dynamik gewann. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren geprägt von einer wirtschaftlichen Entwicklung, die in ganz Europa deutlich zu spüren war. Vor diesem Hintergrund wurde das zaristische Russland, ein Land, dessen Wirtschaft noch immer von erheblicher Rückständigkeit geprägt war, zum idealen Standort für den Export großer Kapitalmengen zum Aufbau mittelständischer und großer Industriebetriebe. Innerhalb weniger Jahrzehnte vollzog sich ein tiefgreifender wirtschaftlicher Wandel. In Russland führte das Wachstum des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts zu einer hohen Konzentration des russischen Proletariats in wenigen großen Industrieregionen. Dies förderte in hohem Maße die Suche nach Solidarität und die Ausbreitung ihres Kampfes. Es waren diese strukturellen Merkmale der Wirtschaft, die die revolutionäre Vitalität eines jungen Proletariats erklärten, das in einem zutiefst rückständigen Land lebte, in dem die bäuerliche Wirtschaft vorherrschte.
Im Januar 1905 wurden zwei Arbeiter in den Putilow-Werken in Sankt Petersburg entlassen. Es kam zu einer Welle von Solidaritätsstreiks, und es wurde eine Petition für politische Freiheiten, das Recht auf Bildung, den 8-Stunden-Tag, Widerstand gegen Steuern usw. verfasst, die dem Zaren in einer Massendemonstration übergeben werden sollte. „Tausende von Arbeitern – wohlgemerkt keine Sozialdemokraten, sondern religionsfromme, kaiserfromme Leute – unter der Führung des Priesters Gapon gehen von allen Stadtteilen aus zum Zentrum der Hauptstadt, zum Platze vor dem Winterpalast, um dem Zaren eine Petition zu überreichen. Die Arbeiter gehen mit Heiligenbildern, und ihr damaliger Führer Gapon versicherte dem Zaren schriftlich, er bürge ihm für die Unverletzlichkeit seiner Person und bitte ihn, vor dem Volke zu erscheinen.”[2]
Die Situation spitzte sich zu, als die Arbeiter bei ihrer Ankunft am Winterpalast mit ihrer Bitte an den Zaren von Truppen angegriffen wurden. „Das Militär wird aufgeboten. Ulanen und Kosaken greifen die Menge mit der blanken Waffe an, es wird geschossen gegen die waffenlosen Arbeiter, die auf den Knien die Kosaken anflehten, sie zum Kaiser zulassen. Nach polizeilichen Mitteilungen gab es mehr als tausend Tote, mehr als zweitausend Verwundete. Die Erbitterung der Arbeiter war unbeschreiblich.”[3]
Es war diese tiefe Empörung der Arbeiter von Petersburg gegenüber dem Mann, den sie „Väterchen“ nannten und der auf ihre Bitte mit tödlichen Waffen reagiert hatte, die zu den revolutionären Kämpfen im Januar führte. In dieser Zeit kam es zu einer sehr raschen Stimmungsänderung im Proletariat: „Eine gewaltige Streikwelle fegte über das ganze Land hinweg und erschütterte die gesamte Nation […] An der Bewegung beteiligten sich etwa eine Million Männer und Frauen. Fast zwei Monate lang, ohne jeden Plan, in vielen Fällen ohne Forderungen zu stellen, mal unterbrochen, mal wieder aufgenommen, nur dem Instinkt der Solidarität folgend, beherrschte der Streik das Land.”[4]
Dieser Streik ohne konkrete Forderungen und in breiter Solidarität war sowohl Ausdruck als auch aktiver Faktor für die Reifung des Klassenbewusstseins innerhalb des russischen Proletariats jener Zeit und der Notwendigkeit, sich als Klasse seinem Klassenfeind zu stellen. Auf den Generalstreik im Januar folgte eine Phase anhaltender Kämpfe für wirtschaftliche Forderungen, die im ganzen Land aufkamen und wieder abebbten. Diese Phase war weniger spektakulär, aber ebenso wichtig. In Warschau kam es zu blutigen Zusammenstößen, in Lodz wurden Barrikaden errichtet, und die Matrosen des Schlachtschiffs Potemkin im Schwarzen Meer meuterten. Diese gesamte Phase ebnete den Weg für die zweite große Phase der Revolution.
„Diese zweite große Aktion des Proletariats weist bereits einen wesentlich anderen Charakter auf als die erste im Januar. Das Element des politischen Bewusstseins spielt bereits eine viel größere Rolle. Auch hier war der unmittelbare Anlass für den Ausbruch des Massenstreiks zwar eine untergeordnete und scheinbar zufällige Angelegenheit: der Konflikt der Eisenbahner mit der Geschäftsleitung über die Pensionskasse. Aber der allgemeine Aufstand des Industrieproletariats, der darauffolgte, wurde nach klaren politischen Vorstellungen durchgeführt. Der Prolog des Januarstreiks war ein Zug zum Zaren, um politische Freiheit zu fordern: Das Losungswort des Oktoberstreiks war: Weg mit der konstitutionellen Komödie des Zarismus! Und dank des unmittelbaren Erfolgs des Generalstreiks, dank des Manifests des Zaren vom 30. Oktober, fließt die Bewegung nicht wie im Januar in sich selbst zurück, sondern stürzt sich nach außen in die eifrige Aktivität der neu gewonnenen politischen Freiheit. Demonstrationen, Versammlungen, eine junge Presse, öffentliche Diskussionen.”[5]
Eine qualitative Veränderung trat im Oktober mit der Gründung des Petersburger Sowjets ein, der zu einem Meilenstein in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung werden sollte. Nach der Ausweitung des Streiks der Typografen auf die Eisenbahnen und Telegrafen beschlossen die Arbeiter in einer Generalversammlung die Gründung des Sowjets, der zum Nervenzentrum der Revolution werden sollte: „Der Sowjet entstand als Antwort auf eine objektive Notwendigkeit – eine Notwendigkeit, die sich aus dem Lauf der Ereignisse ergab. Es war eine Organisation, die autoritär war und dennoch keine Traditionen hatte; die sofort eine verstreute Masse von Hunderttausenden von Menschen einbeziehen konnte.“[6]
„Die Gärung nach der kurzen konstitutionellen Periode und das grausame Erwachen führen schließlich im Dezember zum Ausbruch des dritten allgemeinen Massenstreiks im ganzen Reich. Diesmal unterscheiden sich sein Verlauf und sein Ausgang völlig von denen der beiden früheren Fälle. Politische Aktionen gehen nicht wie im Januar in wirtschaftliche Aktionen über, aber sie führen auch nicht mehr wie im Oktober zu einem schnellen Sieg. Die Versuche der zaristischen Clique, echte politische Freiheit zu gewähren, werden nicht mehr unternommen, und damit stößt die revolutionäre Aktion zum ersten Mal und auf ihrer gesamten Länge auf die starke Mauer der physischen Gewalt des Absolutismus.“[7]
Die kapitalistische Bourgeoisie, erschreckt durch die Bewegung des Proletariats, stellte sich hinter den Zaren. Die Regierung wandte die gerade erst gewährten liberalen Gesetze nicht an. Die Führer des Petrograder Sowjets wurden verhaftet, aber der Kampf ging in Moskau weiter: „Der Höhepunkt der Revolution von 1905 kam mit dem Dezemberaufstand in Moskau. Neun Tage lang kämpfte eine kleine Gruppe von Rebellen, organisierte und bewaffnete Arbeiter – es waren nicht mehr als achttausend –, gegen die Regierung des Zaren, die es nicht wagte, der Moskauer Garnison zu vertrauen. Tatsächlich musste sie diese unter Verschluss halten und konnte den Aufstand nur durch die Herbeirufung des Semenovsky-Regiments aus St. Petersburg niederschlagen.“[8]
Was war also die Dynamik, die 1905 am Werk war? Die des Massenstreiks, dieses „Ozeans von Phänomenen“ (Luxemburg), bestehend aus Streiks, Demonstrationen, Solidarität, Diskussionen, wirtschaftlichen und politischen Forderungen, kurz gesagt, allen Ausdrucksformen, die den Kampf der Arbeiterklasse charakterisieren und sich gleichzeitig als Ergebnis einer Reifung des Bewusstseins des Proletariats manifestierten, einer Reifung, die während der Ereignisse selbst stattfand, aber auch und vor allem das Ergebnis einer unterirdischen Reifung, einer Anhäufung von Erfahrungen und einer tiefen Reflexion, die zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr relevant wurde. Tatsächlich kamen die Ereignisse von 1905 nicht aus dem Nichts, sondern waren das Ergebnis einer Anhäufung von Erfahrungen und Reflexionen, die Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschüttert hatten. Wie Rosa Luxemburg feststellte: „Der Massenstreik im Januar wurde zweifellos unter dem unmittelbaren Einfluss des gigantischen Generalstreiks durchgeführt, der im Dezember 1904 im Kaukasus, in Baku, ausgebrochen war und lange Zeit ganz Russland in Atem hielt. Die Ereignisse vom Dezember in Baku waren ihrerseits nur die letzte und mächtigste Auswirkung jener gewaltigen Massenstreiks, die wie ein periodisches Erdbeben ganz Südrussland erschütterten und deren Prolog der Massenstreik in Batum im Kaukasus im März 1902 war. Diese erste Massenstreikbewegung in der fortlaufenden Reihe der gegenwärtigen revolutionären Ausbrüche liegt schließlich fünf oder sechs Jahre vor dem großen Generalstreik der Textilarbeiter in St. Petersburg in den Jahren 1896 und 1897. “
Dieses Konzept der unterirdischen Reifung des Bewusstseins wird von einem Großteil der Gruppen im proletarischen politischen Milieu, aber auch von einer Reihe unserer Kontakte oder Sympathisanten nur schwer akzeptiert. Es hat jedoch seine Wurzeln in den Schriften von Marx[9], während Luxemburg auf den „alten Maulwurf“ Bezug nahm, ebenso wie Lenin.[10]
Trotzki verwendet zwar nicht ganz dasselbe Vokabular wie die IKS, um das Phänomen der „unterirdischen Reifung“ des Bewusstseins innerhalb des Proletariats zu beschreiben, aber er macht dies in seiner Geschichte der Russischen Revolution sehr deutlich, und die folgende Passage veranschaulicht dies perfekt: „Die unmittelbaren Ursachen der Ereignisse einer Revolution sind Veränderungen in der Geisteshaltung der miteinander in Konflikt stehenden Klassen. […] Veränderungen im kollektiven Bewusstsein haben natürlich einen halbverborgenen Charakter. Erst wenn sie eine gewisse Intensität erreicht haben, brechen die neuen Stimmungen und Ideen in Form von Massenaktivitäten an die Oberfläche.“
Vor allem aber bestätigt sich das Wesen der Prozesse der unterirdischen Reifung in allen wichtigen Momenten des Kampfes der Arbeiterklasse. Wir haben es 1905 gesehen, wir haben es 1917 in Russland wiedergesehen, wo der Oktoberrevolution Streiks gegen den Krieg vorausgingen, und wir haben es auch in anderen historischen Momenten gesehen. Es zeigte sich 1980 in Polen mit der Streikbewegung, die das „Wiederaufleben“ des Massenstreiks auf der historischen Bühne mit sich brachte. Die polnischen Arbeiter hatten bereits 1970 und 1976 an wichtigen Kampfphasen teilgenommen, Kämpfe, die unter dem stalinistischen Regime brutal und blutig niedergeschlagen worden waren. Mit diesen Erfahrungen, die zu einer echten unterirdischen Reifung des Bewusstseins beitrugen, konnten sich die Arbeiter 1980 in einen mächtigen und unmittelbaren Kampf stürzen, dessen organisatorische Verbindungen und Koordinierungsgruppen im ganzen Land die Grundlage für den Massenstreik bildeten. Angesichts dieser Situation waren die Behörden gelähmt und gezwungen, zu verhandeln und Zugeständnisse zu machen, bevor sie nach dem Abklingen des Kampfes mit Repressionen reagierten.[11]
In der Tradition all dieser Erfahrungen der Arbeiterbewegung haben wir die Streiks in Großbritannien im Jahr 2022 als Ergebnis einer neuen Reifung des Klassenbewusstseins interpretiert, nicht als zufälliges Strohfeuer, sondern als Produkt einer tiefen Reflexion, die wir mit der Rückkehr des Kampfes der Arbeiterklasse nach Jahrzehnten der Apathie und Lethargie fortgesetzt sehen. Wir haben diese Bewegungen als „Bruch” bezeichnet, um zu betonen, dass es sich um ein Phänomen von historischer und internationaler Bedeutung handelt. Die großen Kämpfe, die auf diese erste Manifestation und Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiter folgten, in Frankreich, den USA, anderen Teilen der Welt und zuletzt in Belgien, bestätigen, dass die Streiks in Großbritannien kein lokales und vorübergehendes Phänomen waren, sondern das Ergebnis dieser unterirdischen Reifung, die endlich an die Oberfläche kam. Die verschiedenen Merkmale der Bewegungen, die in den letzten drei Jahren stattgefunden haben, bestätigen unsere Analyse:
- Der weit verbreitete Slogan „Genug ist genug” drückte das seit langem gehegte Gefühl aus, dass alle Versprechen, die nach der „Finanzkrise” von 2008 gemacht worden waren, sich als Lügen herausgestellt hatten und dass es höchste Zeit war, dass die Arbeiter ihre eigenen Forderungen stellten;
- Die Slogans „Wir sitzen alle im selben Boot” und „Die Arbeiterklasse ist zurück“ drückten eine Tendenz in der Arbeiterklasse aus (noch im Embryonalstadium, aber real), das Gefühl wiederzuentdecken, eine Klasse mit einer eigenen kollektiven Existenz und eigenen Interessen zu sein, trotz jahrzehntelanger Atomisierung durch den allgemeinen Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft und unterstützt durch die absichtliche Zerstörung vieler traditioneller Industriestandorte, die eine erfahrene Arbeiterklasse beschäftigten (Bergbau, Stahlindustrie usw.);
- In der französischen Bewegung gegen die Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre drückte der kraftvolle Slogan „Ihr sagt 64, wir geben euch 68“ die Wiederbelebung eines kollektiven Gedächtnisses aus, nämlich die Erinnerung an die Bedeutung der Massenstreiks von 1968;
- Die internationale Entwicklung von Minderheiten, die zu internationalistischen und kommunistischen Positionen neigen, wobei die Mehrheit dieser Elemente und ihre Bemühungen um Vereinigung weniger das Ergebnis des unmittelbaren Klassenkampfs sind als vielmehr dem Aufwerfen von Fragen zum Krieg, ist ein Beweis dafür, dass die aktuellen Klassenbewegungen mehr als nur unmittelbare Sorgen über sinkende Lebensstandards zum Ausdruck bringen. Sie bringen, oft noch auf verwirrende Weise, ihre Besorgnis über die Zukunft zum Ausdruck, die uns dieses Produktionssystem, der Kapitalismus, bietet;
- Ein weiterer Beweis für diesen Reifungsprozess sind die Bemühungen der Bourgeoisie, ihre Macht durchzusetzen und durch die Gewerkschaften und die linken Organisationen Verwirrung innerhalb der Arbeiterklasse zu stiften. Indem sie radikale Botschaften an die Arbeiterklasse vermittelt, versucht sie, deren Denken zu untergraben und ihre eigene Kontrolle zu stärken.
Wir stehen erst am Anfang dieser Erneuerung der Kampfbereitschaft, der Wiederaufnahme der Kämpfe der Klasse auf ihrem eigenen Terrain, einer Anhäufung neuer Erfahrungen, die die Klasse dazu bringen könnten, ihre Kämpfe so zu radikalisieren, dass sie einen politischeren Charakter erhalten, der das System als solches in Frage stellt und nicht nur das Ausmaß seiner Angriffe und deren unmittelbare Auswirkungen.
Dies wird ein langer, schwieriger Prozess voller Hindernisse sein, denn wir befinden uns nicht mehr in derselben Situation wie 1905 in Russland, als die Klasse innerhalb eines Jahres von einer einfachen Petition an den Zaren zu einer offen aufständischen Phase übergehen konnte. Die gegenwärtige Situation ist die des Zerfalls des Kapitalismus, der letzten historischen Phase des Kapitalismus, die sich nicht nur in der Verwesung des politischen Lebens der Bourgeoisie zeigt, sondern auch auf die Arbeiterklasse durch Phänomene lastet, deren Auswirkungen von der herrschenden Klasse ideologisch ausgenutzt werden, um das Bewusstsein des Proletariats schwerwiegend und heimtückisch zu untergraben:
- „Bewusstsein, Klarheit, kohärentes und einheitliches Denken, die Vorliebe für Theorie haben es schwer, sich inmitten der Flucht in Illusionen, Drogen, Sekten, Mystik, der Ablehnung oder Zerstörung des Denkens, die für unsere Epoche charakteristisch sind, durchzusetzen. Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem "Jeder für sich", dem "Frechheit zahlt sich aus" zusammen.
- Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.
- Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhandnimmt.
- Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren."[12]
Wir dürfen also nicht ungeduldig sein und jeden Moment eine Bestätigung dieses Prozesses erwarten. Revolutionäre müssen innerhalb der Klasse klar intervenieren, indem sie eine langfristige Perspektive auf den Kampf einnehmen und vor allem Minderheiten dabei unterstützen, zu verstehen, worum es in dieser Situation geht und welche alternativen und unvermeidlichen Konsequenzen es gibt: entweder die Bedrohung des Überlebens der Menschheit durch die Bourgeoisie oder die Möglichkeit für die Arbeiterklasse, ihre Perspektive durchzusetzen, nämlich die einer Gesellschaft ohne Klassen, ohne Ausbeutung, ohne Krieg, ohne Zerstörung des Planeten, kurz gesagt, einer wahrhaft kommunistischen Gesellschaft.
Helis, 22. Juni 2025
[1] Die Arbeiterklasse ist die erste Klasse in der Geschichte, die in der Lage ist, ein revolutionäres Bewusstsein ihrer eigenen Existenz zu entwickeln, im Gegensatz zur damalig revolutionären Bourgeoisie, deren Bewusstsein durch ihre Position als neue Ausbeuterklasse begrenzt war.
[2] Lenin, Vortrag über die Revolution von 1905, Januar 1917
[3] Ebenda
[4] Trotzki in seinem Buch 1905
[5] Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei, Gewerkschaften
[6] Trotzki, 1905
[7] Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei, Gewerkschaften
[8] Lenin, Vortrag über die Revolution von 1905, Januar 1917
[9] Für Marx ist die Revolution ein alter Maulwurf, „… der es so gut versteht, unterirdisch zu arbeiten und plötzlich aufzutauchen“.
[10] Siehe seine Polemik gegen den Ökonomismus in Was tun?
[11] Die Geschichte erinnert uns an das Spektakel dieser Verhandlungen zwischen den Streikenden und den Ministern, bei denen die Gespräche zwischen den Arbeiterdelegierten und den Ministern über Lautsprecher live an die vor dem Regierungsgebäude versammelten Arbeiter übertragen wurden. Zum besseren Verständnis dieser Bewegung siehe „Massenstreiks in Polen 1980: Das Proletariat öffnet eine neue Bresche“, Internationale Revue Nr. 23 und „Anmerkungen zum Massenstreik“, Internationale Revue NR. 27 (engl., franz., span.)
[12] Der Zerfall: Die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [4], Internationale Revue Nr. 13
Links
[1] https://en.internationalism.org/content/17521/choosing-one-side-against-another-always-means-choosing-imperialist-war
[2] https://www.theguardian.com/law/2017/apr/18/opening-un-holocaust-files-archive-war-crimes-commission
[3] https://en.internationalism.org/content/17615/anti-semitism-zionism-anti-zionism-all-are-enemies-proletariat-part-1
[4] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus