Diejenigen, die an den Demonstrationen gegen Asylsuchende und Flüchtlinge in Großbritannien teilnehmen und sich dazu verleiten lassen, „Ausländer” für alles Schlechte verantwortlich zu machen, von Kürzungen im Sozialbereich bis hin zur Gefährdung von Kindern, präsentieren sich als wahre Patrioten, indem sie den Union Jack und das Kreuz des Heiligen Georg schwenken. Insbesondere die englische Flagge schmückt Laternenpfähle oder wird auf Wände und Verkehrskreisel gemalt. Die Bedeutung ist klar: Einige von uns haben das Recht, hier zu leben, Ausländer und/oder „Illegale“ sollten verschwinden. Eine perfekte Umsetzung des Bedürfnisses der ausbeutenden Klasse, die Ausgebeuteten gegeneinander auszuspielen.
In den USA, wo bereits brutale Massenabschiebungen stattfinden, schwenken einige derjenigen, die von derselben rassistischen Logik zur Zielscheibe gemacht werden, ebenfalls Fahnen. Manchmal die US-Flagge, um zu zeigen, dass auch Einwanderer Patrioten sein können, manchmal die Flagge Mexikos oder anderer lateinamerikanischer Länder, weil so viele der von den Razzien der Polizei und Zollbehörde ICE betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus diesen Ländern stammen.
Die Idee, dass die Ausgebeuteten selbst zeigen sollten, dass sie dieser oder jener Nationalflagge treu sind, ist nicht neu. Im Jahr 1912 schwenkten in den USA die streikenden Textilarbeiter von Lawrence, von denen viele neu angekommene Einwanderer waren, ebenfalls die Stars and Stripes Flagge als Antwort auf den Vorwurf, sie seien unamerikanische, von außen kommende Unruhestifter. Die Industrial Workers of the World IWW, die den Streik unterstützten, zögerten jedoch nicht, diesen Ansatz in einem Artikel mit dem Titel The Flag of the Free (Die Flagge der Freien) in Industrial Worker vom 21. März 1912)[1] zu kritisieren:
„Die Flagge der Freien, pah!
Tausende Streikende in Lawrence und Hunderte in der Menge in San Diego werden erkannt haben, dass der einzige Patriotismus, den der Kapitalismus anerkennt, der Profitpatriotismus ist – der Dollarpatriotismus. Und die Hunderttausenden, die davon lesen und davon hören, werden die wahre Bedeutung der götzenhaften Verehrung des Stückchens Stoff der Herren erkennen. Die Flagge ist nichts als ein Verband über den Augen der Arbeiter.”
Wir können dem nur zustimmen: Alle Nationalflaggen sind Lumpen der Herren! Ein Verband über unseren Augen, der uns blind macht für die Realität, dass die Arbeiterklasse kein Land hat, dass die Nation immer denen gehört, die den Reichtum, die politische Macht und die mächtigsten Waffen an sich gerissen haben. Kurz gesagt, der herrschenden Klasse. Zwei Jahre nach dem Artikel fügte die IWW hinzu, dass die amerikanische Flagge ein Mittel ist, um die Arbeiter für das Gemetzel des imperialistischen Ersten Weltkrieges zu rekrutieren, ebenso wie der britische Union Jack und die Trikolore Frankreichs oder Deutschlands.
Und deshalb sind Revolutionäre gegen alle Nationalflaggen. Nicht nur gegen die Flaggen der mächtigsten imperialistischen Staaten, sondern auch gegen die Fahnen der sog. „unterdrückten Nationen” wie der Ukraine oder Palästina, die sich nur durch Bündnisse mit anderen Imperialismen gegen die Herrschaft einer Macht „wehren” können. Im Falle der Ukraine sind das die amerikanischen und westeuropäischen Staaten, im Falle Palästinas und der Hamas unter anderem das islamische Regime des Iran.
Gegen alle Nationalflaggen und Spaltungen, für die internationale Einheit der Arbeiterklasse!
Amos, September 2025
[1] Auf diesen Artikel hat uns ein Genosse aufmerksam gemacht, der sich im Libcom-Diskussionsforum adri nennt. Zusammen mit einem anderen Genossen, msommer, der sich als Rätekommunist bezeichnet, kritisierte er Anarchisten in den USA, die das Schwenken mexikanischer und palästinensischer Flaggen bei Demonstrationen damit rechtfertigen, dass sie Symbole des Kampfes gegen die Unterdrückung seien, während sie in Wirklichkeit ein Mittel sind, um Arbeiter:innen in die bürgerliche Politik einzubinden. Der entsprechende Thread auf libcom.org heißt Are anarchist organisations in decline? [1] (Sind anarchistische Organisationen im Niedergang?).