Im ersten Teil dieses Artikels haben wir die Gründe aufgezeigt, weshalb das Proletariat die revolutionäre Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft ist. Wir haben gesehen, dass es die einzige Kraft ist, die fähig ist, eine neue Gesellschaft zu kreieren, die sich der Ausbeutung entledigt hat und die in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschheit vollauf zu befriedigen und die "unlösbaren" Widersprüche aufzulösen, die die heutige Welt zugrunderichten. Diese Fähigkeit des Proletariats, die der Marxismus schon im letzten Jahrhundert hervorgehoben hatte, rührt nicht einfach aus dem Ausmaß des Elends und der Unterdrückung her, denen es tagtäglich ausgesetzt ist. Sie beruht noch weniger auf irgendeiner "göttlichen Eingebung", die das Proletariat zum "Messias der heutigen Zeit" macht, so wie das einige bürgerliche Ideologen dem Marxismus unterstellen. Diese Fähigkeit beruht vielmehr auf den sehr konkreten und materiellen Bedingungen: die spezifische Stellung, die diese Klasse in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen einnimmt, ihren Status als kollektiver Produzent des Großteils der gesellschaftlichen Reichtümer und als ausgebeutete Klasse innerhalb derselben Produktionsverhältnisse. Diese Stellung im Kapitalismus erlaubt es ihr nicht, im Gegensatz zu anderen ausgebeuteten Klassen und Schichten, die in der Gesellschaft überlebt haben (z.B. die Kleinbauern), auf eine Rückkehr in die Vergangenheit zu hoffen. Sie ist im Gegenteil gezwungen, sich der Zukunft zuzuwenden, der Abschaffung der Lohnarbeit und dem Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft.
Alle diese Elemente sind nichts Neues: sie sind alle Bestandteil des klassischen Erbgutes des Marxismus. Eines der hinterhältigsten Mittel jedoch, mit denen die bürgerliche Ideologie die Arbeiterklasse von ihrem kommunistischen Projekt abzubringen versucht, ist, ihr einzureden, dass sie dabei sei, ihrem Verschwinden entgegenzugehen, oder gar schon jetzt nicht mehr existiere. Die revolutionäre Perspektive habe Sinn gemacht, als die Industriearbeiter eine überwältigende Mehrheit der Lohnempfänger ausmachten. Doch mit der aktuellen Schrumpfung dieser Kategorie verschwinde auch eine solche Perspektive. Man muss übrigens festhalten, dass dieses Gerede nicht nur auf die weniger bewussten Arbeiter einen Einfluss ausübt, sondern auch auf gewisse Gruppen, die sich auf den Kommunismus berufen. Dies ist ein zusätzlicher Grund, solch ein Geschwätz entschieden zu bekämpfen.
Die bürgerlichen "Theorien" vom "Verschwinden des Proletariats" haben eine lange Vorgeschichte. Jahrzehntelang stützten sie sich dabei auf die Tatsache, dass sich der Lebensstandard der Arbeiter in einem gewissen Maße verbessert habe. Die Möglichkeit für Letztere, Konsumgüter zu erwerben, die zuvor der Bourgeoisie oder dem Kleinbürgertum vorbehalten waren, veranschauliche deutlich das Verschwinden der proletarischen Bedingungen. Schon damals hatten solche "Theorien" weder Hand noch Fuß: Wenn das Automobil, der Fernseher oder Kühlschrank dank der Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit verhältnismäßig preiswert sind, bedeutet - abgesehen davon, dass diese Güter unverzichtbar sind für die Entwicklung der Lebenswelt der Arbeiter(1) - die Tatsache, sie zu besitzen, noch lange nicht, dass man sich vom Arbeiterdasein befreien kann oder weniger ausgebeutet wird. In Wirklichkeit ist der Grad der Ausbeutung der Arbeiterklasse nie bestimmt gewesen durch die Menge oder die Art der Konsumgüter, über die sie in einem gegebenen Moment verfügen konnte. Marx und der Marxismus haben auf diese Frage schon vor langer Zeit eine Antwort gegeben: Die Kaufkraft der Lohnempfänger entspricht dem Wert ihrer Arbeitskraft, das heißt, der Menge der Güter, die für ihre Wiederherstellung notwendig ist. Wenn ein Kapitalist dem Arbeiter einen Lohn zahlt, ist es in seinem Interesse, dem Letzteren seine weitere Teilnahme am Produktionsprozess unter den bestmöglichen Bedingungen für die Profitabilität des Kapitals zu gestatten. Dies setzt voraus, dass der Arbeiter nicht nur über Lebensmittel (Nahrung, Kleidung, Wohnung) verfügt, sondern sich auch erholen und die notwendige Qualifikation erlangen kann, um die sich ständig wandelnden Produktionsmittel in Gang zu setzen.
Aus diesem Grund hat die Einführung von bezahltem Urlaub und seine Verlängerung, die man in den hochentwickelten Ländern im Verlaufe des 20. Jahrhunderts feststellen konnte, nichts mit irgendeiner "Philantropie" der Bourgeoisie zu tun. Sie ist notwendig geworden durch die kolossale Steigerung der Arbeitsproduktivität und somit der Intensität der Arbeit wie auch des urbanen Lebens in seiner Gesamtheit, die diese Periode kennzeichnete. Auch das (relative) Verschwinden der Kinderarbeit und die Verlängerung der Schulzeit (wobei Letzteres auch ein Mittel zur Verschleierung der Arbeitslosigkeit geworden ist), die uns als weitere Manifestation der Fürsorglichkeit der herrschenden Klasse präsentiert werden, sind im Kern der Notwendigkeit für das Kapital geschuldet, über Arbeitskräfte zu verfügen, die den Anforderungen einer Produktion entsprechen, deren Technologien sich pausenlos weiterentwickeln. Was übrigens die Lohn-"Erhöhungen" angeht, derer sich die Bourgeoisie vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg rühmt, so muss man die Tatsache berücksichtigen, dass die Arbeiter heute länger für den Unterhalt ihrer Kinder aufkommen als in der Vergangenheit. Als die Kinder noch mit zwölf oder noch weniger Jahren arbeiten gingen, lieferten sie ungefähr zehn Jahre lang ein Zubrot an ihre Familien an ab, ehe sie selbst einen Haushalt gründeten. Mit einer bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnten Schulzeit verschwindet dieser Zuschuss fast gänzlich. Mit anderen Worten, die Lohn-"Erhöhungen" sind auch und zum größten Teil eines der Mittel, mit welchen der Kapitalismus den Nachwuchs der Arbeitskräfte auf die Bedingungen der neuen Technologien vorbereitet.
Auch wenn der Kapitalismus der hochentwickelten Länder eine Zeitlang Illusionen über die Reduzierung der Ausbeutung von Lohnabhängigen schüren konnte, war dies nichts anderes als äußerer Schein. Tatsächlich ist die Ausbeutungsquote, d.h. das Verhältnis zwischen dem vom Arbeiter produzierten Mehrwert und dem Lohn, den er erhält(2), ständig gewachsen. Daher sprach schon Marx von einer "relativen" Verarmung der Arbeiterklasse als permanente Tendenz im Kapitalismus. In den "Wirtschaftswunderjahren", die von der Bourgeoisie so getauft wurden (den Jahren der relativen Prosperität des Kapitalismus, die mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg korrespondierten) verstärkte sich die Ausbeutung der Arbeiter kontinuierlich, auch wenn sich dies nicht in einem Sinken ihres Lebensniveaus ausdrückte. Abgesehen davon geht es heute nicht schlicht um die Frage der relativen Verarmung. Die "Verbesserungen" in den Einkommen der Arbeiter sind im Laufe der Zeit aufgefressen worden, und die absolute Verarmung, deren endgültiges Verschwinden die Vorsänger der bürgerlichen Ökonomie angekündigt hatten, ist mit aller Macht in die "reichen" Ländern zurückgekehrt. Jetzt, wo die Politik aller nationalen Sektoren der Bourgeoisie angesichts der Krise darin besteht, zu harten Schlägen gegen den Lebensstandard der Proletarier auszuholen, durch die Arbeitslosigkeit, die drastische Kürzung von Sozialleistungen und auch durch die Senkung der Nominallöhne, ist das Geschwätz über die "Konsumgesellschaft" und die "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse verstummt. Aus diesem Grunde hat das Gerede über das "Aussterben des Proletariats" seine Argumente gewechselt und stützt sich mehr und mehr auf die Veränderungen, die unterschiedliche Fraktionen der Klasse betreffen, insbesondere der Rückgang der industriellen Arbeitskraft und der sinkende Anteil der "Handarbeiter" an der Gesamtarbeitskraft.
Solche Reden beruhen auf einer groben Verfälschung des Marxismus. Der Marxismus hat das Proletariat nie einfach mit dem industriellen oder "manuellen" Proletariat (dem "Blaumann") gleichgesetzt. Es stimmt, dass zu Marx' Lebzeiten die größten Bataillone der Arbeiterklasse sogenannte "Handarbeiter" waren. Doch hat es hat im Proletariat schon immer Sektoren gegeben, die mit hochentwickelten Technologien arbeiteten, welche wichtige wissenschaftliche Kenntnisse erforderten. Beispielsweise machten gewisse traditionelle Handwerke eine lange Lehrzeit der "Gesellen" erforderlich. Desgleichen Berufe wie Korrektoren in Druckereien, die über unverzichtbare Kenntnisse verfügen mussten und so "intellektuellen Arbeitern" ähnelten. Dies hat nicht verhindert, dass diese Sektoren sich häufig in der Avantgarde der Arbeiterkämpfe wiederfanden. Im Grunde entspricht der Gegensatz zwischen den "Blaumann"- und den "Stehkragen"-Arbeitern einer Aufteilung, wie sie die Soziologen und ihre bürgerlichen Auftraggeber gerne sehen und die dazu bestimmt ist, die Arbeiter zu spalten. Daher sind solche Gegensätze übrigens nichts Neues, denn die herrschende Klasse hat schon lange begriffen, dass es in ihrem Interesse ist, viele Angestellte glauben zu machen, sie gehörten nicht der Arbeiterklasse an. In Wirklichkeit hängt die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse nicht von soziologischen und noch weniger von ideologischen Kriterien ab, d.h. von der Vorstellung, die sich dieser oder jener Arbeiter oder gar ganze Kategorien der Arbeiterklasse über ihr Leben machen. Es sind grundsätzlich ökonomische Kriterien, die eine solche Zugehörigkeit bestimmen.
Grundsätzlich ist das Proletariat die spezifische ausgebeutete Klasse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Daraus leiten sich, wie wir schon im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, folgende Kriterien ab: "Die Tatsache, jeglicher Produktionsmittel beraubt und gezwungen zu sein, seine Arbeitskraft an jene zu verkaufen, die sie besitzen und die diesen Tausch nutzen, um sich einen Mehrwert anzueignen, bestimmt die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse." Es ist angesichts all der Verfälschungen, die über diese Frage verbreitet worden sind, notwendig, diese Kriterien zu präzisieren.
An erster Stelle ist zu bemerken, dass die Tatsache, lohnabhängig zu sein, allein nicht ausreicht, um der Arbeiterklasse anzugehören. Andernfalls wären die Bullen, die Pfaffen, die Generaldirektoren großer Unternehmen (besonders der öffentlichen Betriebe) oder sogar die Minister Ausgebeutete und somit potentielle Kampfgefährten derer, die sie unterdrücken, verdummen und sich für einen zehn- oder hundertfach niedrigeren Lohn abrackern lassen.(3) Es ist also unerlässlich, darauf hinzuweisen, dass es ein Merkmal der Arbeiterklasse ist, Mehrwert zu produzieren. Dies bedeutet insbesondere zweierlei:
So mag es unter den Beschäftigten eines Betriebes Techniker (und gar Ingenieure) geben, deren Gehaltshöhe nicht weit entfernt ist vom Lohn eines Facharbeiters und die derselben Klasse angehören wie Letztere, wohingegen jene, deren Einkünfte viel mehr denen der Bosse gleichen, es nicht tun (selbst wenn sie keine Rolle bei der Einhegung der Arbeitskräfte spielen). Ebensowenig können in diesem Betrieb dieser oder jener "kleine Vorgesetzte" oder "Betriebssheriff", dessen Lohn niedriger sein mag als der eines Technikers oder sogar eines Facharbeiters, dessen Rolle jedoch die eines "Kapos" im industriellen Straflager ist, als Teil des Proletariats angesehen werden.
Umgekehrt bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse nicht zwangsläufig eine direkte und unmittelbare Beteiligung an der Mehrwertproduktion. Der Lehrer, der den zukünftigen Produzenten ausbildet, die Krankenschwester oder gar der nicht-selbständige Mediziner (der heute manchmal weniger verdient als ein Facharbeiter), die die Arbeitskraft der Arbeiter "reparieren", gehören (auch wenn sie gleichzeitig Bullen, Pfaffen oder Gewerkschaftsfunktionäre, ja sogar Minister pflegen) zweifellos genauso der Arbeiterklasse an wie der Koch in einer Betriebskantine. Selbstverständlich heißt das nicht, dass dies auch für Universitätsbonzen oder für die selbständigen Ärzte gilt. Es ist aber notwendig zu präzisieren, dass die Tatsache, dass die Mitglieder der Lehrerschaft, eingeschlossen die GrundschullehrerInnen (deren wirtschaftliche Lage im allgemeinen nun wirklich nicht gerade glänzend ist), bewusst oder unbewusst, freiwillig oder unfreiwillig die bürgerlichen ideologischen Werte vermitteln, sie nicht von der ausgebeuteten und revolutionären Klasse ausschließt, ebenso wenig wie die Metallarbeiter, die Waffen produzieren.(5) Im Übrigen kann man feststellen, dass im Laufe der Geschichte der Arbeiterbewegung die Lehrer (insbesondere die Grundschullehrer) eine beträchtliche Anzahl von Revolutionären gestellt haben. So wie auch die Arbeiter der Kriegswerften in Kronstadt Teil der Vorhut der Arbeiterklasse in der Russischen Revolution 1917 waren.
Es ist gleichzeitig zu unterstreichen, dass die große Mehrheit der Angestellten ebenfalls der Arbeiterklasse angehört. Wenn wir den Fall einer Verwaltung nehmen wie die Post, so würde niemand auf den Gedanken kommen zu behaupten, dass die Mechaniker, die die Fahrzeuge der Post warten, und die Angestellten, die sie fahren, wie auch jene, die die Postsäcke umschlagen, nicht zum Proletariat gehörten. Davon ausgehend ist es nicht schwierig zu verstehen, dass ihre Kollegen, die die Briefe austragen oder an den Schaltern arbeiten, um Pakete zu frankieren oder Zahlungsanweisungen entgegenzunehmen, sich in der gleichen Situation befinden. Daher gehören die Bank- und Versicherungsangestellten, die kleinen Angestellten der Sozialversicherungskassen oder der Steuerverwaltung, deren Status vollkommen gleichwertig mit Ersteren ist, gleichermaßen zur Arbeiterklasse. Und man kann nicht einmal ins Feld führen, dass Letztere bessere Arbeitsbedingungen hätten als Industriearbeiter, als ein Schlosser oder ein Fräser beispielsweise. Den ganzen Tag hinter einem Schalter oder vor einem Bildschirm eines Computers zu arbeiten ist nicht weniger mühsam, als eine Werkzeugmaschine zu bedienen, auch wenn man sich dort die Hände nicht schmutzig macht. Zudem wird einer der objektiven Faktoren, die hinter der Fähigkeit des Proletariats stecken, als Klasse zu kämpfen und den Kapitalismus zu stürzen, der assoziierte Charakter seiner Arbeit, durch die modernen Produktionsbedingungen überhaupt nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, er wird immer ausgeprägter.
Ebenso erfordert das sich ständig hebende technologische Niveau der Produktion eine steigende Anzahl von, wie sie die Soziologen nennen, "Managern" (Techniker oder sogar Ingenieure), deren sozialer Status und Einkommen überwiegend sich dem der Facharbeiter annähert. Es handelt sich hierbei keinesfalls um das Phänomen einer verschwindenden Arbeiterklasse zugunsten der "Mittelschichten", sondern umgekehrt um ein Phänomen der Proletarisierung Letzterer.(6) Deshalb hat das Gerede über das "Verschwinden des Proletariats", das aus der steigenden Anzahl von Angestellten oder "Führungskräften" im Vergleich zur Anzahl der "Hand"-Arbeiter in der Industrie resultieren soll, keinen anderen Sinn, als zu versuchen, die einen wie die anderen zu täuschen und zu demoralisieren. Ob die Urheber dieser Reden daran glauben oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle: Sie können der Bourgeoisie einen durchaus nützlichen Dienst auch als Hohlköpfe erweisen, die nicht einmal fähig sind, sich zu fragen, wer wohl den Kugelschreiber hergestellt hat, mit dem sie ihren Blödsinn niederschreiben.
Um die Arbeiter zu demoralisieren, setzt die Bourgeoisie nicht alles auf ein Pferd. Daher hat sie für jene, die nicht auf die Kampagnen über das "Verschwinden der Arbeiterklasse" hereinfallen, die Idee in der Hinterhand, dass die Arbeiterklasse "in der Krise" sei. Und eines der Argumente, das für den Beweis dieser Krise entscheidend sein soll, ist der Rückgang in den Mitgliederzahlen der Gewerkschaften im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte. Im Rahmen dieses Artikels können wir nicht auf unsere Analyse zurückkommen, die den bürgerlichen Charakter des Gewerkschaftswesens beweist. In der Tat liefert die tägliche Erfahrung der Arbeiterklasse, die systematische Sabotage ihrer Kämpfe durch die Organisationen, die vorgeben, sie zu "verteidigen", diesen Beweis.(7) Und gerade diese Erfahrung der Arbeiter ist in erster Linie für ihre Ablehnung der Gewerkschaften verantwortlich. In diesem Sinn ist diese Ablehnung nicht ein "Beweis" irgendeiner Krise der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil und vor allem eine Manifestation einer in der Klasse ablaufenden Bewusstwerdung. Eine Veranschaulichung dieser Tatsache, nur eine von tausenden, ist die Haltung der Arbeiter in zwei großen Bewegungen, die in Frankreich im Abstand von 30 Jahren stattgefunden haben. Am Ende der Streiks im Mai/Juni 1936, inmitten der tiefsten Konterrevolution, die auf die Welle der Weltrevolution nach dem Ersten Weltkrieg folgte, profitierten die Gewerkschaften von einer beispiellosen Eintrittswelle. Dagegen war das Ende des Generalstreiks im Mai 1968, der das historische Wiederaufleben des Klassenkampfes und den Abschluss jener konterrevolutionären Periode anzeigte,von zahlreichen Austritten aus den Gewerkschaften, von Unmengen zerrissener Mitgliederkarten gekennzeichnet.
Wenn jemand den Mitgliederschwund der Gewerkschaften als Beweis für die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse darstellt, dann ist dies ein sicheres Anzeichen für seine Zugehörigkeit zum bürgerlichen Lager. Es ist genau dasselbe wie mit dem angeblich "sozialistischen" Charakter der stalinistischen Regimes. Die Geschichte hat, besonders mit dem Zweiten Weltkrieg, gezeigt, wie verheerend diese Lüge, die von allen Teilen der Bourgeoisie, von den Rechten, den Linken und den Linksextremisten (Stalinisten, Trotzkisten), verbreitet wurde, auf das Bewusstsein der Arbeiter gewirkt hat. In den letzten Jahren konnten wir erleben, wie der Zusammenbruch des Stalinismus als "Beweis" für den endgültigen Bankrott jeglicher kommunistischen Perspektive instrumentalisiert wurde. Die Lüge vom "proletarischen Charakter der Gewerkschaften" ist im Kern vergleichbar: Zuerst dient sie dazu, die Arbeiter hinter den kapitalistischen Staat zu scharen; dann versucht man, aus ihnen ein Instrument zur Demoralisierung und Desorientierung der Arbeiter zu machen. Jedoch haben diese beiden Lügen unterschiedliche Auswirkungen: Da es nicht aus Arbeiterkämpfen resultierte, konnte das Scheitern der stalinistischen Regimes wirksam gegen das Proletariat benutzt werden; umgekehrt resultiert der Misskredit der Gewerkschaften aus eben den Arbeiterkämpfen, was den Einfluss als demoralisierenden Faktor stark einschränkt. Genau deshalb hat die Bourgeoisie übrigens eine "Basis"-Gewerkschaftsbewegung ermutigt, die die Nachfolge der traditionellen Gewerkschaften antreten soll. Genau deshalb fördert sie Ideologen mit "radikaleren" Allüren, die die gleiche Art von Botschaft übermitteln sollen.
So kam es, gefördert von der Presse (8), zu einem Aufblühen von Analysen, wie die von Alain Bihr, Doktor der Soziologie und unter anderem Autor eines Buches mit dem Titel "Du grand soir l'alternative: la crise du mouvement ouvrier européen" (etwa: Vom Tag der Wende zur Alternative: Die Krise der europäischen Arbeiterbewegung). An sich sind die Thesen dieses Herrn nicht sehr interessant. Der Umstand aber, dass sie seit einiger Zeit Einfluss in Milieus gewinnen, die sich auf die Kommunistische Linke berufen, von denen wiederum einige nicht davor zurückschrecken, seine "Analysen"(9) ("kritisch", versteht sich) zu übernehmen, veranlasst uns, die Gefahr, die diese darstellen, zu entblößen.
Alain Bihr präsentiert sich als ein "wahrer" Vertreter der Arbeiterinteressen. Daher gibt er nicht vor, dass die Arbeiterklasse dabei sei, in der Versenkung zu verschwinden. Im Gegenteil, er beginnt mit der Aussage: "...die Grenzen des Proletariats erstrecken sich heute weit über die traditionelle 'Arbeiterschaft' hinaus." Dies tut er aber nur, um seine zentrale Botschaft besser rüberzubringen: "Nun hat man aber im Verlaufe der letzten fünfzehn Jahre der Krise in Frankreich wie in den meisten westlichen Ländern eine zunehmende Zersplitterung des Proletariats beobachtet, die, weil sie dessen Einheit in Frage stellt, darauf hinausläuft, es als gesellschaftliche Kraft zu lähmen."(10)
So ist das Hauptvorhaben unseres Autors, aufzuzeigen, dass das Proletariat "in der Krise ist", und dass verantwortlich für diese Situation die Krise des Kapitalismus selbst sei, ein Grund, dem man natürlich die soziologischen Änderungen hinzufügen müsse, die die Zusammensetzung der Arbeiterklasse erfahren habe: "Tatsächlich tendieren die laufenden Umwälzungen des Lohnverhältnisses mit ihren globalen Wirkungen der Fragmentierung und der 'Entmassung' (demassification) des Proletariats (....) dazu, die beiden proletarischen Erscheinungen aufzulösen, die ihm seine großen Bataillone während der fordistischen Ära geliefert haben: einerseits den gelernten Arbeiter, den die gegenwärtigen Transformationen tiefgreifend umgestalten, die alten Kategorien des mit dem Fordismus verknüpften Facharbeiters, die tendenziell verschwinden, während neue Kategorien von 'Gelernten' in Verbindung mit den neuen automatisierten Arbeitsprozessen erscheinen; andererseits der nicht-qualifizierte bzw. angelernte Arbeiter, die Speerspitze der proletarischen Offensive der 60er und 70er Jahre, der immer mehr durch den prekären Arbeiter in diesen automatisierten Arbeitsprozessen eliminiert und ersetzt wird".(11) Abgesehen von der schulmeisterlichen Sprache (die den Kleinbürgern, die sich für "Marxisten" halten, Vergnügen bereitet) tischt uns Bihr die gleichen Klischees auf, die uns schon Generationen von Soziologen zugemutet haben: Die Automatisierung der Produktion sei verantwortlich für die Schwächung des Proletariats (da er "Marxist" sein will, spricht er nicht vom "Verschwinden"), usw. Und er schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er vorgibt, dass der Rückgang der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften auch ein Zeichen der "Krise der Arbeiterklasse" sei: "Alle Untersuchungen, die über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und die Prekärität erstellt wurden, zeigen, dass diese dazu neigen, die alten Spaltungen und Ungleichheiten im Proletariat (...) zu reaktivieren und zu verstärken. Diese Zersplitterung in derart heterogene Strukturen hat fatale Auswirkungen auf die Organisations- und Kampfbedingungen gehabt. Das lässt sich zuerst einmal an den verschiedenen vergeblichen Versuchen besonders der Gewerkschaftsbewegung erkennen, die Präkarisierten und die Arbeitslosen zu organisieren..."(12) So setzt uns Bihr, getarnt hinter seinen radikaleren Phrasen, mit seinem angeblichen "Marxismus" den gleichen falschen Ramsch vor, mit dem uns alle Sektoren der Bourgeoisie bedienen: Die Gewerkschaften seien heute noch "Organisationen der Arbeiterbewegung".(13)
Dies ist die Art von "Spezialisten", von denen Leute wie GS und Publikationen wie INTERNATIONALIST PERSPECTICE (IP), die seinen Schriften mit großer Symphathie begegnen, ihre Inspirationen beziehen. Sicher, Bihr, der trotz allem schlau ist, gibt, um seine Ware einzuschmuggeln, vor, das Proletariat könne trotz allem seine aktuellen Schwierigkeiten überwinden, indem es sich "neu zusammensetzt". Aber die Art, wie er dies vorträgt, zielt eher darauf ab, vom Gegenteil zu überzeugen. "Die Veränderungen im Lohnabhängigkeitsverhältnis stellen die Arbeiterbewegung also vor eine doppelte Herausforderung: Es zwingt sie gleichzeitig, sich einer neuen gesellschaftlichen Basis anzupassen (an eine neue 'technische' und 'politische' Zusammensetzung der Klasse) und eine Synthese zu vollziehen zwischen heterogenen Kategorien wie den 'neuen Fachkräften' und den 'Präkarisierten', eine Synthese, die viel schwieriger zu realisieren ist als die zwischen Facharbeitern und angelernten Arbeitern in der fordistischen Periode".(14) "Die faktische Schwächung des Proletariats und des Gefühls der Klassenzugehörigkeit kann so den Weg zur Neuzusammensetzung einer ideellen kollektiven Identität auf anderen Grundlagen ebnen."(15)
Nach Unmengen von Argumenten - mehrheitlich dazu bestimmt, um den Leser zu überzeugen, dass es schlecht um die Arbeiterklasse bestellt sei -, nachdem "aufgezeigt" wurde, dass die Ursachen dieser Krise in der Automatisierung sowie im Zusammenbrechen der kapitalistischen Ökonomie sowie im Anstieg der Arbeitslosigkeit zu suchen seien - alles Phänomene, die sich nur verschlimmern können - schließt er ohne den geringsten Beweis mit der lapidaren Behauptung: "Es wird besser ... vielleicht! Aber es stellt eine sehr schwere Herausforderung dar". Wenn man das Geschwätz von Bihr heruntergeschluckt hat und immer noch glaubt, dass es für die Arbeiterklasse und ihren Kampf eine Zukunft gibt, kann man nur ein naiver und unverbesserlicher Optimist sein. Nicht schlecht, Dr. Bihr: Eure große Schlauheit hat die Einfaltspinsel an der Nase herumgeführt, die IP publizieren und sich als die wahren Vertreter der kommunistischen Prinzipien aufspielen, welche die IKS über Bord geworfen haben soll.
Es stimmt, dass die Arbeiterklasse im Verlauf der letzten Jahre bei der Entwicklung ihrer Kämpfe und ihres Bewusstseins auf einige Schwierigkeiten gestoßen ist. Unsererseits haben wir - entgegen den Vorwürfen, die uns die Skeptiker vom Dienst anlasten (ob sie FECCI heißen - was angesichts ihrer Rolle, Verwirrung zu stiften, normal ist - oder "Battaglia Comunista" - die dies weniger tut, weil sie eine Organisation des politischen Milieus des Proletariats ist) - nie gezögert, auf diese Schwierigkeiten hinzuweisen. Doch gleichzeitig haben wir, und dies ist das Mindeste was man von Revolutionären erwarten kann, auf der Basis einer Analyse des Ursprungs der Schwierigkeiten, auf die das Proletariat stößt, die Voraussetzungen dargelegt, die ihre Überwindung ermöglichen. Und wenn man einigermaßen ernsthaft die Entwicklung der Arbeiterkämpfe im letzten Jahrzehnt untersucht, springt ins Auge, das die jetzige Schwäche sich nicht mit der effektiven Verminderung der "traditionellen" Arbeiter, der "Blaukragen"-Arbeiter, erklären lässt. So gehören in den meisten Ländern die Arbeiter der Post oder der Telekommunikation zu den kämpferischsten. Das Gleiche gilt für die Arbeiter und Arbeiterinnen des Gesundheitswesens. In Italien waren es 1987 die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Schulen, die die wichtigsten Kämpfe ausfochten. Und wir könnten weitere Beispiele aufführen, die die Tatsache veranschaulichen, dass sich weder das Proletariat selbst noch sein Kampfgeist allein auf die "Blaukragen", auf die "traditionellen" Arbeiter der Industrie beschränkt. Daher sind unsere Analysen nicht auf die soziologischen Betrachtungen ausgerichtet, die gut sind für Akademiker oder Kleinbürger und weniger über die "Malaise" der Arbeiterklasse, aber dafür umso mehr über ihr eigenes Schlamassel aussagen.
Wir können im Rahmen dieses Artikels nicht auf sämtliche Analysen zurückkommen, die wir im Verlauf der letzten Jahre über die internationale Situation erstellt haben. Der Leser kann sie in praktisch allen Ausgaben unserer Revue während dieser Periode und insbesondere in den Thesen und Resolutionen unserer Organisation nach 1989 wiederfinden.(15) Die Schwierigkeiten, die das Proletariat heute durchmacht, der Rückgang seiner Kampfbereitschaft und der Rückfluss seines Bewusstseins (Schwierigkeiten, auf die sich einige stützen, um eine "Krise" der Arbeiterklasse zu diagnostizieren) sind der IKS nicht entgangen. Insbesondere haben wir hervorgehoben, dass die Arbeiterklasse die ganzen 80er Jahren hindurch mit dem wachsenden Gewicht des allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert war, der, indem er Verzweiflung, Atomisierung, das "Jeder für sich" begünstigte, der allgemeinen Perspektive des proletarischen Kampfes und der Klassensolidarität harte Schläge versetzte, was insbesondere die gewerkschaftlichen Manöver erleichterte, die darauf abzielten, die Arbeiterkämpfe in den Korporatismus einzusperren. Dennoch, und das ist ein Ausdruck der Vitalität des Klassenkampfes, ist es dem ständigen Gewicht des Zerfalls bis 1989 nicht gelungen, der Welle von Arbeiterkämpfen beizukommen, die 1983 in Belgien mit den Streiks im öffentlichen Dienst begannen. Ganz im Gegenteil erlebten wir in dieser Phase eine zunehmende Tendenz, über den von den Gewerkschaften gesteckten Rahmen hinauszugehen, was Letztere dazu zwang, die Hauptrolle immer mehr den radikaleren "Basisgewerkschaften" zu überlassen, um ihre Sabotagearbeit weiterführen zu können.(16)
Diese Welle von proletarischen Kämpfen wurde jedoch durch die weltumspannenden Umwälzungen zum Versiegen gebracht, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 folgten. Während einige (im allgemeinen dieselben, die Mitte der 80er Jahre keine Kämpfe gesehen haben wollen) glaubten, dass der Zusammenbruch des Ostblockes 1989 (bis heute der wichtigste Ausdruck für den Zerfall des Kapitalismus) die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse begünstigen werde, haben wir nicht gezögert, das Gegenteil zu verkünden.(17) In der Folgezeit, vor allem 1990-91 während der Krise und des Krieges am Golf, danach beim Putsch in Moskau, der auf den Zusammenbruch der UdSSR folgte, haben wir aufgezeigt, dass sich diese Ereignisse auf den Klassenkampf, auf die Fähigkeit des Proletariats auswirken, sich den wachsenden Angriffen des in der Krise befindlichen Kapitalismus zu stellen.
Aus diesen Gründen sind uns die Schwierigkeiten, die die Arbeiterklasse im Verlauf der letzten Zeit durchmacht, weder entgangen, noch haben sie unsere Organisation überrascht. Trotzdem haben wir in der Analyse der Gründe (die nichts zu tun haben mit dem mythischen Bedürfnis nach einer "Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse") gleichzeitig die Gründe hervorgehoben, warum die Arbeiterklasse die Mittel hat, diese Schwierigkeiten zu überwinden.
In diesem Zusammenhange ist es wichtig, auf ein Argument des Herrn Bihr zurückzukommen, mit dem er der Idee mehr Glaubwürdigkeit verleihen möchte, die Arbeiterklasse stecke in einer Krise: Die Krise und die Arbeitslosigkeit hätten "das Proletariat fragmentiert", indem sie "die alten Spaltungen und Ungleichheiten verstärkt" habe. Um sein Vorhaben darzustellen und "den Bogen zu überspannen", liefert uns Bihr einen ganzen Katalog dieser "Fragmente": "die Arbeiter in stabilen und sicheren Beschäftigungsverhältnissen", "die von der Arbeit, ja vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen", "die fließende Masse der prekären Arbeiter". Bei letzteren findet er Gefallen daran, zwischen Unterkategorien zu unterscheiden: "die Arbeiter der Subunternehmen", "die Teilzeitbeschäftigten", "die Zeitarbeiter", "die Umschüler, Auszubildenden und Schwarzarbeiter".(18) Was der Herr Doktor Bihr uns als Argument vorträgt, ist nichts anderes als ein Schnappschuss, der gut zu seiner reformistischen Sichtweise passt.(19) Es stimmt, dass die Angriffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse zunächst selektiv ausgeführt wurden, um das Ausmaß der Antwort der Arbeiterklasse einzuschränken. Es stimmt weiter, dass die Arbeitslosigkeit, insbesondere die der Jungen, ein Faktor der Erpressung gegen einige Sektoren der Arbeiterklasse und, teilweise, der Passivität gewesen ist, der durch die zerstörerische Wirkung der Atmosphäre des gesellschaftlichen Zerfalls und des "Jeder für sich" verstärkt wird. Doch die Krise selbst und ihre unvermeidliche Verschärfung sorgt dafür, dass die Bedingungen der verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse sich immer mehr aneinander angleichen. Insbesondere die "Spitzen"-Sektoren (Informatik, Telekommunikation etc.), die scheinbar der Krise entronnen waren, werden heute mit voller Wucht getroffen und schleudern ihre Arbeiter in dieselbe Lage wie die Arbeiter der Eisen- und Stahlindustrie und der Automobilbranche. Es sind heute die größten Unternehmen (wie IBM), die massenhaft entlassen. Gleichzeitig und entgegen der Tendenz des letzten Jahrzehnts nimmt die Arbeitslosigkeit der älteren Arbeiter, die schon eine kollektive Erfahrung der Arbeitens und des Kämpfens haben, schneller zu als die der Jungen, was den Faktor der Atomisierung einschränkt, den die Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit darstellte.
So stellt, selbst wenn der Zerfall ein Handicap für die Entwicklung der Kämpfe und des Bewusstseins in der Klasse bildet, das immer offensichtlichere und brutalere Scheitern der kapitalistischen Wirtschaft und als Folge die Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse das bestimmende Element der aktuellen Situation für die Wiederaufnahme der Kämpfe und für die Bewusstwerdung dar. Offensichtlich kann man dies nicht verstehen, wenn man denkt - wie es die reformistische Ideologie tut, die sich weigert, jegliche revolutionäre Perspektive in Betracht zu ziehen -, dass die kapitalistische Krise eine "Krise der Arbeiterklasse" auslöst. Aber noch einmal haben die Ereignisse selbst die Aufgabe übernommen, die Gültigkeit des Marxismus und die Nichtigkeit der Ausgeburten der Soziologen zu unterstreichen. Die gewaltigen Kämpfe des italienischen Proletariats im Herbst 1992 angesichts der gewaltsamen ökonomischen Angriffen ohnegleichen haben einmal mehr bewiesen, dass das Proletariat nicht tot ist, dass es nicht verschwunden ist und dass es nicht den Kampf aufgegeben hat, selbst wenn es, wie man erwarten konnte, die Schläge, die es in den letzten Jahren erlitten hat, noch nicht verarbeitet hat. Und diese Kämpfe werden kein Strohfeuer bleiben. Sie kündigen nur (wie die Arbeiterkämpfe im Mai 1968 in Frankreich, die gerade einmal ein Vierteljahrhundert her sind) eine allgemeine Erneuerung der Kampfbereitschaft der Arbeiter an, eine Wiederaufnahme des Vorwärtsmarsches des Proletariats in Richtung einer Bewusstwerdung der Bedingungen und der Ziele seines historischen Kampfes für die Abschaffung des Kapitalismus. Zum Missfallen all derer, die ehrlich oder heuchlerisch über die "Krise der Arbeiterklasse" und ihre "notwendige Neuzusammensetzung" lamentieren.
FM
(1) [20] Das Auto ist unverzichtbar, um zur Arbeit zu gelangen oder Einkäufe zu machen, denn die öffentlichen Verkehrsmittel sind unzureichend und die zurückzulegenden Distanzen immer größer. Auf einen Kühlschrank kann man nicht verzichten, da Nahrungsmittel zu günstigen Preisen oft nur in großen Mengen zu kaufen sind und man dies nicht täglich machen kann. Was den Fernseher betrifft, der als das Symbol für den Eintritt in die "Konsumgesellschaft" dargestellt wird, findet man ihn, abgesehen von seiner Bedeutung als Instrument der Propaganda und Verdummung in den Händen der Bourgeoisie (als "Opium für das Volk" hat er vortrefflich die Religion abgelöst), heute in vielen Behausungen in den Slums der Dritten Welt, was genug aussagt über den Wertverlust eines solchen Artikels.
(2) [21] Marx bezeichnete als Mehrwertrate oder Ausbeutungsrate das Verhältnis zwischen M und V, bei dem M den Mehrwert in Arbeitswert (die Anzahl Stunden pro Arbeitstag, die sich der Kapitalist aneignet) und V das variable Kapital darstellt, das heißt, den Lohn (die Anzahl Stunden, in denen ein Arbeiter den Gegenwert seines Lohnes produziert). Dies ist ein Indiz, das erlaubt, den Grad der Ausbeutung in objektiven ökonomischen Begriffen und nicht subjektiv festzulegen.
(3) [22] Freilich richtet sich diese Behauptung gegen die Lügen der angeblichen "Arbeitervertreter" wie der Sozialdemokraten und Stalinisten, die als Minister eine große Erfahrung in der Repression und Mystifikation gegen die Arbeitern haben. Wenn ein Arbeiter "seinen Stand verlässt", einen Posten bei den Gewerkschaften, im Stadtrat annimmt oder gar Bürgermeister, Abgeordneter oder Minister wird, dann hat er mit seiner ursprünglichen Klasse nichts mehr gemeinsam.
(4) [23] Es ist selbstverständlich sehr schwierig (wenn nicht sogar unmöglich), dieses Niveau zu bestimmen, da es in anderen Zeiten und Ländern variieren kann. Wichtige jedoch ist zu wissen, dass in jedem Land (oder einer Gemeinschaft von Ländern mit ähnlicher ökonomischer Entwicklung und Arbeitsproduktivität) eine solche Grenze existiert, die zwischen dem Einkommen eines qualifizierten Arbeiters und einer Führungskraft liegt.
(5) [24] Hinsichtlich einer gründlicheren Analyse über produktive und unproduktive Arbeit sei auf unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus" (S. 30ff) verwiesen.
(6) [25] Es ist hingegen festzuhalten, dass gleichzeitig ein bestimmter Anteil des Führungspersonals mit steigenden Einkommen entlohnt wird, was zu seiner Integration in die herrschende Klasse führt.
(7) [26] Für die vertiefte Analyse des bürgerlichen Charakters der Gewerkschaften siehe unsere Broschüre "Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse".
(8) [27] Zum Beispiel LE MONDE DIPLOMATIQUE, eine humanistische französische Monatszeitung, die auf die Förderung eines Kapitalismus "mit menschlichem Antlitz" spezialisiert ist, publiziert oft Artikel von Alain Bihr. So findet man in der Ausgabe vom März 1991 einen Text dieses Autors mit dem Titel "Regression des droits sociaux, affaiblissement des syndicats, le proletariat dans tous ses eclats" (etwa: Rückschritt in den Sozialrechten, Schwächung der Gewerkschaften - das Proletariat in voller Zersplitterung).
(9) [28] So kann man in der Nr. 22 von PERSPECTIVE INTERNATIONALISTE, dem Organ der "Externen (sic!) Fraktion der IKS", einen Beitrag von GS lesen (der, ohne dass sein Autor Mitglied der EFIKS wäre, im Wesentlichen ihre Zustimmung findet) mit dem Titel "La necessaire recomposition du proletariat" (etwa: Die notwendige Neuzusammensetzung des Proletariats), einen Artikel, der ausführlich aus dem bedeutendsten Buch von Bihr zitiert, um seine Behauptungen zu stützen.
(10) [29] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991.
(11) [30] "Du grand soir ..."
(12) [31] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991.
(13) [32] "Du grand soir ..."
(14) [33] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991
(15) [34] Siehe: INTERNATIONALE REVUE (engl., franz., span. Ausgabe) Nr. 60, 63, 67, 70 und in diese Ausgabe.
(16) [35] Offensichtlich konvertieren, wenn man, wie Dr. Bihr, die Gewerkschaften für Organe der Arbeiterklasse und nicht der Bourgeoisie hält, die Fortschritte, die der Arbeiterkampf gemacht hat, zu Rückschritte. Es ist allerdings seltsam, dass Leute wie die Mitglieder der FECCI, die den bürgerlichen Charakter der Gewerkschaften anerkennen, ihm in dieser Einschätzung folgen.
(17) [36] Siehe: "Zunahme der Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse", in: INTERNATIONALE REVUE Nr. 11.
(18) [37] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991
(19) [38] Eine der bevorzugten Phrasen Alain Bihrs lautet: "Der Reformismus ist eine zu ernste Sache, um ihn den Reformisten zu überlassen". Wenn er sich zufällig für einen Revolutionär hält, legen wir Wert darauf, ihn hiermit über seinen Irrtum aufzuklären.
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Im ersten Teil dieses Artikels (siehe Internationale Revue Nr. 14) haben wir gesehen, dass die Russische Revolution im Gegensatz zu der Propaganda der Herrschenden kein Staatsstreich war, sondern die gigantischste und bewussteste Bewegung der ausgebeuteten Massen in der Geschichte - die einen an Erfahrung, Initiative und Kreativität reichen Schatz hinterlassen hat. Ungeachtet der späteren Niederlage war es der klarste Beweis, dass die Arbeiterklasse die einzig revolutionäre Klasse in der Gesellschaft ist, und als einzige dazu in der Lage, die Menschheit vor der Katastrophe zu retten, in die der zerfallende Kapitalismus uns treibt.
Die Ereignisse des Oktober 1917 hinterliessen uns eine grundlegende Lehre: als herrschende Klasse wird die Bourgeoisie gegenüber dem revolutionären Kampf der arbeitenden Massen nicht die Hände in den Schoss legen. Sie wird im Gegenteil versuchen, diesen mit allen möglichen Mitteln zu sabotieren. Neben Zuckerbrot und Peitsche benutzt sie eine sehr gefährliche Waffe: die Sabotage von Innen heraus, die von den Vertretern der Herrschenden in den Reihen der Arbeiter - die mit einem radikalen Gewand bekleidet sind - betrieben wird. Damals waren es die ‚sozialistischen Parteien’, heute sind es die linken und ‚extrem-linken’ Parteien und die Gewerkschaften.
Diese Sabotage stellte die Hauptbedrohung für die im Februar begonnene Revolution dar. Die Sabotage der Sowjets mittels der sozialverräterischen Parteien, wodurch der bürgerliche Staat sein Werkzeug in den Sowjets zum Einsatz bringen konnte. In diesem 2. Artikel werden wir uns näher mit dieser Frage befassen und untersuchen, wie die Arbeiterklasse damit mittels der Erneuerung der Sowjets und mit Hilfe der Bolschewistischen Partei und dem Aufstand fertig wurde.
Die Ereignisse des Oktober 1917 hinterliessen uns eine grundlegende Lehre: die Bourgeoisie wird angesichts von revolutionären Kämpfen der Arbeiterklasse nicht tatenlos zusehen. Im Gegenteil wird sie versuchen, den Kampf wo immer möglich zu sabotieren. Deshalb benutzt sie neben Zuckerbrot und Peitsche eine sehr gefährliche Waffe: Sabotage im Innern, ausgeführt durch bürgerliche Kräfte, die das Gewand der Arbeiterklasse anlegen und eine radikale Sprache sprechen, damals die ‚sozialistischen Parteien’, heute tun dies die Parteien der ‚Linken’ und ‚Extremen Linken’ sowie die Gewerkschaften.
Die Sabotage der Sowjets durch die sozialverräterischen Parteien, die es dem Apparat des bürgerlichen Staates erlaubte, weiter Widerstand zu leisten, stellte die Hauptgefahr der Revolution dar, die im Februar begonnen hatte. Wir wollen nun aufzeigen, wie das Proletariat dem Problem begegnete durch die Erneuerung der Sowjets, durch die Bolschewistische Partei und durch den Aufstand.
Die Bourgeoisie stellte die Februarrevolution als eine Bewegung dar, die zur ‚Demokratie’ hinstrebte und durch die Machenschaften der Bolschewisten vergewaltigt wurde. Diese Verschleierung beruhte auf der Gegenüberstellung der Ereignisse des Februars und des Oktobers, wobei die Februarereignisse als ein echter ‚demokratischer’ Schritt, die des Oktobers als ein ‚Staatsstreich gegen den Volkswillen’ dargestellt wurden.
Diese Lüge zeigt die Wut der Bourgeoisie darüber, dass die Ereignisse zwischen Februar und Oktober sich nicht so abspielten, wie sie sich das gewünscht hatte. Die Bourgeoisie dachte, dass die Massen nach dem Rücktritt des Zaren im Februar ruhig nach Hause zurückkehren und die Politik wieder der Bourgeoisie überlassen würden, ab und zu durch ‚demokratische Wahlen’ abgesichert. Das Proletariat aber schluckte den Köder nicht. Dagegen entfaltete es eine gewaltige Aktivität, wurde sich zunehmend seiner historischen Aufgaben bewusst und entwickelte die notwendigen Kampfmittel: die Sowjets. So entstand eine Situation der Doppelmacht: ‚entweder erobert die Bourgeoisie tatsächlich den alten Staatsapparat und erneuert ihn für ihre eigenen Ziele, wobei die Sowjets verschwinden müssen oder die Sowjets werden zur Grundlage eines neuen Staates, wobei sie nicht nur den alten Apparat, sondern auch die Herrschaft jener Klassen, denen er gedient hat, liquidieren“ (Trotzki, Doppelherrschaft S. 186).
Die herrschende Klasse setzte die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre ein, ehemalige Arbeiterparteien, und die mit dem Krieg ins bürgerliche Lager übergewechselt waren, die aber nunmehr das Ziel verfochten, die Sowjets zu zerstören und die Autorität des bürgerlichen Staates wiederherzustellen. Zu Beginn der Februarrevolution gewannen diese Parteien ein grosses Vertrauen in den Reihen der Arbeiter, das sie einsetzten, um die Exekutivorgane der Sowjets zu kontrollieren und die Aktionen der Bourgeoisie zu verbergen.
„Dort, wo sich kein Bourgeoisminister zeigen konnte, um die Regierung zu rechtfertigen vor den revolutionären Arbeitern oder in den Sowjets, dort erschien ein ‚sozialistischer’ Minister, Skobelew, Zereteli, Terschnow u.a. (richtiger, dorthin wurde er von der Bourgeoisie geschickt) und verrichtete gewissenhaft die Sache der Bourgeoisie, gab sich alle Mühe, die Regierung zu rechtfertigen, die Kapitalisten reinzuwaschen, narrte das Volk mit der Wiederholung von Versprechungen, Versprechungen und Versprechungen, mit Ratschlägen, abzuwarten, abzuwarten und nochmals abzuwarten“ (Lenin, Die Lehren der Revolution, Ausgew. Werke, Bd. 2, S. 236). Im Februar entwickelte sich eine für die Arbeiterklasse sehr gefährliche Situation. Sie kämpfte (mit den Bolschewiki als Vorhut), um den Krieg zu beenden, das Agrarproblem zu lösen und für die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung. Um dies zu erreichen, brachte sie die Sowjets hervor und das Vertrauen seitens der Klasse in die Sowjets war riesengross. Aber die aus dem Proletariat hervorgegangenen Sowjets wurden von den menschewistischen und sozialrevolutionären Demagogen vereinnahmt, die zu diesem Zweck alle möglichen Sabotagetaktiken benutzten: Ununterbrochen versprachen sie Frieden, während sie die Provisorische Regierung den Krieg fortführen liessen.
Am 27. März versuchte die Provisorische Regierung, die Dardanellenoffensive zu entfesseln, deren Ziel die Eroberung Konstantinopels war. Am 18. April ratifizierte Miljukow, der Aussenminister, die berühmte Note über den Beitritt Russlands zur Entente (Frankreich und Grossbritannien). Im Mai unternahm Kerenski eine Kampagne an der Front, um die Moral der Soldaten zu heben und um sie kampfwillig zu machen; eine Kampagne, die den tiefen Zynismus Kerenskis verdeutlichte: ‚Ihr werdet mit den Spitzen Eurer Bajonette Frieden bringen’. Im Juni und August versuchten die Sozialdemokraten enger Zusammenarbeit mit den zaristischen Generälen die Arbeiter und Soldaten in eine neue militärische Schlacht zu ziehen.
Auf dieselbe Weise gingen sie mit den Menschenrechten hausieren. Tatsächlich versuchten sie die brutale Militärdisziplin in der Armee wieder herzustellen und die Todesstrafe wieder einzuführen. Auch versuchten sie, die Soldatenkomitees zu überzeugen, die Offiziere nicht zu provozieren. Als beispielsweise der Petrograder Sowjet seinen berühmten “Befehl Nr. 1ä veröffentlichte, der die körperliche Bestrafung der Soldaten verbot und deren Würde und Rechte verteidigte, verbreitete das Exekutivkomitee als Gegengift einen Appell an die Soldaten, der unter dem Scheine der Verurteilung der Selbstjustiz gegen Offiziere Unterordnung gegenüber dem alten Kommandobestand forderte“ (Trotzki, Die Regierenden und der Krieg, S. 237).
Endlos redeten sie über die ‚Lösung des Agrarproblems’, während sie die Macht der Grossgrundbesitzer unangetastet liessen und die Bauernrevolten niederschlugen.
Systematisch blockierten sie jede geringste Anweisung im Agrarwesen - zum Beispiel diejenige, die die Landübertragung beendet hätte. Stattdessen gaben sie das spontan von den Bauern besetzte Land an die Grossgrundbesitzer zurück. Strafexpeditionen wurden zur blutigen Niederschlagung der Bauernrevolten gesandt, und die Vorarbeiter konnten wieder die Peitsche gegen die Landarbeiter benutzen.
Sie blockierten die Einführung des 8-Stunden-Tages und erlaubten den Besitzern, die Fabriken zu schliessen. Den Bossen wurden erlaubt, die Produktion zu sabotieren mit dem Ziel, einerseits die Arbeiter verhungern zu lassen und andererseits, sie zu zerstreuen und zu demoralisieren: „Die Kapitalisten nutzten die Struktur der modernen kapitalistischen Produktion und deren enge Verbindung mit den nationalen und internationalen Banken und anderen Organisationen des vereinigten Kapitals (Syndikate, Trusts, verschiedene Fabrikantengesellschaften usw.) und begannen, ein umfassendes, wohlüberlegtes System der ‚Sabotage’ aufzuziehen. Als Mittel wandten sie anfangs Einstellung der Arbeiter der Fabrikverwaltung, Desorganisation der Betriebe, Verstecken und Entfernen von Material, Brandstiftungen an... Die Kapitalisten legten sich bei der Wahl ihrer Methoden keinen Zwang auf“ (A.M. Pankratova, Fabrikräte in Russland, Moskau 1923/Frankfurt 1976, S. 179).
Sie entfesselten eine wilde Repression gegen den Kampf der Arbeiter.
„In Charkow akzeptierte eine Versammlung von 30.000 organisierten Bergarbeitern den Grundsatz der IWW (Industriearbeiter der Welt): 'Die arbeitenden und die besitzenden Klassen haben nichts miteinander gemein'. Kosaken jagten die Bergarbeiter auseinander; einige wurden von den Bergwerksbesitzern ausgesperrt, der Rest rief den Generalstreik aus. Der Minister für Handel und Industrie, Konowalow, gab seinem Vertreter Orlow unbeschränkte Vollmacht, der Schwierigkeiten mit allen ihm gutdünkenden Mitteln Herr zu werden. Die Bergarbeiter hassten Orlow. Aber das Zentralexekutivkomitee der Sowjets bestätigte nicht nur seine Ernennung, sondern lehnte auch die Forderung ab, die Kosaken aus dem Donezbecken zurückzurufen“ (J. Reed, S. 83).
Sie täuschten die Massen mit leeren Worten über die revolutionäre Demokratie, während sie die Massnahmen der Sowjets sabotierten.
Sie versuchten, die Sowjets aus dem Innern heraus zu liquidieren, indem sie seine Resolutionen nicht verwirklichten oder Vollversammlungen aufschoben und alles den Machenschaften der kleinen Komitees überliessen. Sie versuchten, die ausgebeuteten Massen zu spalten: Bereits seit April hatten Menschewiki und -Sozialrevolutionäre an die Provinz gegen Petrograd zu appellieren begonnen, an die Soldaten gegen die Arbeiter, an die Kavallerie gegen die Maschinengewehrschützen. Sie gaben den Kompanien privilegiertere Vertretungen in den Sowjets als den Fabriken; begünstigten die kleinen, vereinzelten Betriebe gegenüber den Metallgiganten. Verkörperungen des gestrigen Tages suchten sie Schutz bei Rückständigkeiten jeglicher Art. Den Boden unter den Füssen verlierend, hetzten sie die Arrieregarde gegen die Avantgarde“ (Trotzki, „Julitage - Kulminationspunkt und Zertrümmerung“, S. 451).
Sie versuchten die Sowjets dazu zu bringen, die Macht an demokratische Organe zu übergeben: die Zemstvos - vom Zar eingerichtete lokale Organe; an die Moskauer demokratische Augustkonferenz, ein wahres Schlangennest, das repräsentative Kräfte wie den Adel, das Militär, die schwarzen Hundertschaften, die Kadetten usw. zusammenfasste.
Im September versuchten sie, die Sowjets kaltzustellen durch die Einberufung der Vordemokratischen Konferenz, in der die Bourgeoisie und der Adel auf den ausdrücklichen Wunsch der Sozialverräter 683 Abgeordnete hatten im Vergleich zu 230 Sowjetabgeordneten. Kerenski versprach dem amerikanischen Botschafter: Wir werden die Sowjets eines natürlichen Todes sterben lassen. Der politische Schwerpunkt wird sich zunehmend von den Sowjets zu den neuen demokratischen Organen mit autonomer Repräsentation verschieben.
Die Sowjets, die das Proletariat aufriefen, die Macht zu übernehmen, wurden demokratisch mit Waffengewalt niedergeschlagen: Dazu kam die Sprengung des Sowjets in Kaluga. Die Bolschewiki hatten dort die Mehrheit erlangt und einige politische Gefangene freigesetzt. Die Stadtduma rief mit Zustimmung des Regierungskommissars Truppen aus Minsk herbei, die das Gebäude des Sowjets mit Artillerie beschossen. Die Bolschewiki kapitulierten. Während sie das Gebäude verliessen, wurden sie plötzlich von Kosaken mit dem Ruf überfallen: 'So werden wir es mit allen bolschewistischen Sowjets machen, die von Petrograd und Moskau nicht ausgenommen“(J. Reed, S. 84). Die Arbeiter sahen, wie ihre Klassenorgane untergraben wurden und eine Politik verfolgt wurde, die gegen ihre Interessen gerichtet war. Wie oben aufgezeigt, riefen die politischen Krisen im April, Juni und hauptsächlich im Juli entschiedene Taten hervor: Die Erneuerung der Sowjets, um sie auf die Machtergreifung hin zu orientieren. Die Sowjets waren - wie Lenin sagte - Organe, die sich „auf die unmittelbare Initiative der Volksmassen von unten“ (Lenin, Über die Doppelherrschaft) stützten. Dies befähigte die Massen zu einer schnellen Änderung in dem Augenblick, wo sie erkannten, dass sie nicht ihre Interessen vertraten. Von Mitte August an beschleunigte sich das Leben der Sowjets zu einem schwindelerregenden Tempo. Tag und Nacht wurden ununterbrochen Versammlungen abgehalten. Arbeiter und Soldaten führten bewusste Diskussionen, verabschiedeten Resolutionen, stimmten mehrmals täglich ab. In diesem Klima einer intensiven eigenständigen Aktivität der Massen in verschiedenen Sowjets (Helsingfors, im Ural, Kronstadt, Reval, im Baltikum usw.), wählten diese von den Bolschewiki, den internationalistischen Menschewiki, linken Sozialrevolutionären, Anarchisten gebildete revolutionäre Mehrheiten.
Am 31. August nahm der Petrograder Sowjet einen bolschewistischen Antrag an. Die Führer des Sowjets - die Menschewiki und Sozialrevolutionäre - lehnten den Antrag ab. Am 9. September wählten die Sowjets eine bolschewistische Mehrheit. Moskau folgte unmittelbar und so setzte sich das im ganzen Land fort. Die Massen wählten diejenigen Sowjets, die sie brauchten, um die Macht zu übernehmen und auszuführen.
Im Kampf der Massen um die Kontrolle ihrer Organe gegen die Sabotage der Bourgeoisie spielten die Bolschewiki eine entscheidende Rolle. Das Zentrum der Aktivität der Bolschewiki war die Entwicklung der Sowjets:
„Die Konferenz wiederholt, dass es notwendig ist, eine vielfältige Aktivität in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zu entwickeln, die Anzahl der Sowjets zu erhöhen, ihre Macht zu festigen und die proletarischen internationalistischen Gruppen unserer Partei in den Sowjets zusammenzuschweissen“ ( 7. Gesamtrussische Konferenz der SDAPR , April 1917).
Diese Aktivität war zentral für die Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins, eine geduldige Arbeit in der Klärung des proletarischen Klassenbewusstseins und des Zusammenhaltes zwischen den Arbeitern der Städte und auf dem Lande“. (ebenda).
Dies hiess, Vertrauen zu haben einerseits in die kritische und analytische Fähigkeit der Massen: „Während aber die Agitation der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre zerfahrenen, widersprechenden, am häufigsten ausweichenden Charakter trug, zeichnete sich die Agitation der Bolschewiki durch Überlegung und Konzentriertheit aus. Die Versöhnler suchten durch Geschwätz sich der Schwierigkeiten zu entledigen, die Bolschewiki gingen diesen entgegen. Dauernde Analyse der Situation, Nachprüfung der Parolen an den Tatsachen, ernsthaftes Verhalten dem Gegner, sogar dem wenig ernsten, gegenüber, verliehen der bolschewistischen Agitation besondere Stärke und Überzeugungskraft“ (Trotzki, Die Bolschewiki und die Sowjets, S. 656).
Andererseits in die Fähigkeit zur Einheit und Selbstorganisation: „Glaubt nicht an Worte. Lasst euch nicht von Versprechungen ködern. Überschätzt eure Kräfte nicht. Organisiert euch in jedem Betrieb, in jedem Regiment, in jeder Kompanie, in jedem Häuserblock. Arbeitet täglich und stündlich an der Organisation, arbeitet daran selber, diese Arbeit darf man niemandem anderen anvertrauen“ (Lenin, Einleitung zu den Resolutionen der 7. Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR, Bd. 2, S. 156).
Die Bolschewiki versuchten nicht, die Massen, wie ein General seine Truppen anführend, einem vorgefassten Aktionsplan zu unterwerfen. Sie verstanden, dass die Revolution die Arbeit der Massen in direkten Aktionen war, und dass sie durch diese direkten Aktionen ihre historische Aufgabe erfüllten:
„Die Hauptstärke Lenins war, dass er die innere Logik der Bewegung begriff und danach seine Politik richtete. Er zwang den Massen nicht seinen Plan auf. Er half den Massen, ihren eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen“ (Trotzki, Die Umbewaffnung der Partei, S. 277).
Die Partei entwickelt keine Rolle als Vorhut der Klasse, indem sie sagt: „Hier ist die Wahrheit, auf die Knie jetzt“. Im Gegenteil wurde die Partei von all den Ungewissheiten und Hindernissen erfasst, die der Klasse im Wege standen; und wie der Rest der Klasse - wenn auch auf andere Weise - war sie dem zerstörerischen Einfluss der bürgerlichen Ideologie ausgesetzt. Sie war aber fähig, ihre Rolle als ein Motor in der Entwicklung des Klassenbewusstseins zu spielen, weil sie durch eine Reihe politischer Debatten die Fehler und Unvollkommenheiten ihrer alten Positionen überwinden konnte und einen Kampf auf Leben und Tod mit den gefährlichen opportunistischen Verirrungen führte, um diese auszulöschen.
Vom Beginn des Monats März an hatte ein beträchtlicher Teil der Bolschewiki die Forderung nach der Wiedervereinigung mit den sozialistischen Parteien (Menschewiki und Sozialrevolutionären) gestellt. Sie brachten ein anscheinend unfehlbares Argument auf, das in den ersten Augenblicken der generellen Begeisterung und wegen des Mangels an Erfahrung der Massen auf diese eine Wirkung hatte: Warum sollten sich die sozialistischen Parteien zu einer Zeit, wo sie Seite an Seite marschieren, nicht vereinigen? Warum die Arbeiter mit 2 oder 3 verschiedenen Parteien verwirren, die alle behaupten, das Proletariat und den Sozialismus zu repräsentieren?
Tatsächlich bedeutete dieses Argument eine ernsthafte Bedrohung für die Revolution: Die Partei, die von 1902 an gegen den Opportunismus und Reformismus ankämpfte, die von 1914 an am konsistentesten und entschiedensten die internationale Revolution gegen den 1. Weltkrieg verteidigte, lief Gefahr, sich im trüben Wasser der Sozialverräter aufzulösen. Wie konnte das Proletariat mit seinen eigenen Kräften die Verwirrungen und Illusionen, an denen es litt, überwinden? Wie konnte es die Manöver und Fallen des Feindes bekämpfen? Wie konnte es den Kampf in der richtigen Richtung weiterführen angesichts der Schwankungen oder der Niederlage? Lenin und die Partei bekämpften siegreich die falsche Einheit, die nur eine Einheit mit der Bourgeoisie bedeutet hätte.
Anfangs war die bolschewistische Partei eine kleine Minderheit. Viele Arbeiter hatten Illusionen über die Provisorische Regierung und betrachteten diese als eine Erscheinung, die aus den Sowjets hervorgegangen war, obwohl sie in Wirklichkeit ihr schlimmster Feind war. Im März und April nahmen die führenden bolschewistischen Organe in Russland eine versöhnlerische Haltung gegenüber der Provisorischen Regierung ein, womit sie die Arbeiter in eine offene Unterstützung für den imperialistischen Krieg führten. Eine von der Basis der Partei ausgehende Bewegung (das Vyborgkomitee) erhob sich gegen diese opportunistische Abweichung. Diese Bewegung fand ihren klarsten Ausdruck in Lenin und seinen Aprilthesen. Für Lenin war die Schlüsselposition: „Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, insbesondere hinsichtlich des Verzichts auf Annexionen. Entlarvung der Provisorischen Regierung statt der unzulässigen, Illusionen erweckenden 'Forderung', diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören, imperialistisch zu sein“ (Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, Bd 2, S. 40).
Gleichzeitig verwarf Lenin die Aktivitäten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre gegen die Sowjets: „Der 'Fehler' der genannten Führer liegt in ihrer kleinbürgerlichen Haltung, liegt darin, dass sie das Bewusstsein der Arbeiter trüben, anstatt es zu klären, dass sie kleinbürgerliche Illusionen einflössen, statt sie zu zerstören, dass sie den Einfluss der Bourgeoisie auf die Massen stärken, anstatt die Massen von diesem Einfluss zu befreien“ (Lenin, Über die Doppelherrschaft, Bd. 2, S. 46).
Gegenüber denjenigen, die diese Entblössung als wenig praktisch betrachteten, erwiderte Lenin: „In Wirklichkeit ist es im höchsten Grade praktische revolutionäre Arbeit, denn man kann eine Revolution nicht vorwärtstreiben, die zum Stillstand gekommen, die in Redensarten versandet ist, die 'auf der Stelle tritt' nicht etwa äusserer Hindernisse wegen..sondern weil die Massen in blinder Vertrauensseligkeit befangen sind....
Nur durch den Kampf gegen diese blinde Vertrauensseligkeit (der ausschliesslich mit geistigen Waffen, durch kameradschaftliche Überzeugung, durch Hinweis auf die Erfahrungen des Lebens geführt werden kann und darf) können wir uns von der grassierenden revolutionären Phrase befreien und wirklich sowohl das Bewusstsein des Proletariats als auch das Bewusstsein der Massen sowie ihre kühne, entschlossene Initiative überall im Lande, die selbständige Verwirklichung, Entfaltung und Festigung der Freiheiten, der Demokratie, des Prinzips des Gemeinbesitzes des Volkes am gesamten Boden vorantreiben“ (Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, Bd. 2, S. 57).
Die Verteidigung der geschichtlichen Erfahrung der Arbeiterklasse, ihrer Klassenpositionen, bedeutet, dass man in vielen Situationen in den Reihen der Arbeiter in der Minderheit ist. Das kommt daher, weil „die Masse schwankt: zwischen dem Vertrauen zu ihren alten Herren, den Kapitalisten, und der Erbitterung über sie; zwischen dem Vertrauen zu der neuen Klasse, die allen Werktätigen den Weg in eine lichte Zukunft eröffnet, zu der einzigen konsequent revolutionären Klasse, dem Proletariat, und der mangelhaften Erkenntnis seiner welthistorischen Rolle“ (Lenin, Die Lehren der Krise, Bd. 2, S. 87).
Um diese Schwankungen zu überwinden, „kommt es nicht auf die Zahl an, sondern auf den richtigen Ausdruck der Ideen und der Politik des wirklich revolutionären Proletariats“ (Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, Bd. 2, S. 75)
Wie alle anderen proletarischen Parteien waren auch die Bolschewiki ein unzertrennlicher Teil der Klassenbewegung. Bolschewistische Militante waren am aktivsten in den Kämpfen, in den Sowjets, den Fabriken und Versammlungen. Die Julitage zeigten klar die nicht zu lösende Bindung und das Engagement der Bolschewiki gegenüber der Klasse.
Wie wir weiter oben gesehen haben, wurde die Situation gegen Ende Juni untragbar wegen des Hungers, des Krieges und des Chaos. Die Situation wurde noch verschlimmert durch die verdeckte Politik der Bourgeoisie und durch die Tatsache, dass das Zentralexekutivkomitee, das noch immer in der Hand der Sozialverräter war, nichts anderes unternahm als die Sowjets zu sabotieren. Die Arbeiter und Soldaten, hauptsächlich diejenigen in der Hauptstadt, begannen den Sozialverrätern zu misstrauen. Ungeduld, Verzweiflung und Wut wurden in den Arbeiterreihen stärker und stärker; es trieb sie zur unmittelbaren Machtergreifung. Jedoch waren die Bedingungen dazu zu dem Zeitpunkt noch nicht reif:
- die Arbeiter und Bauern in den Provinzen waren noch nicht auf demselben politischen Niveau wie ihre Brüder in der Hauptstadt;
- die Bauern hatten noch immer Vertrauen in die Provisorische Regierung;
- unter den Arbeitern der Hauptstadt war die vorherrschende Meinung, nicht wirklich die Macht zu übernehmen, sondern eine Kraftanstrengung zu unternehmen, um die „sozialistischen Führer zu zwingen, die Macht zu übernehmen. Anders ausgedrückt: die 5. Kolonne der Bourgeoisie bitten, die Macht im Namen der Arbeiter zu übernehmen.
Unter diesen Bedingungen wäre der Beginn der entscheidenden Konfrontation mit der Bourgeoisie und ihren Hilfssheriffs ein Abenteuer gewesen, das das Schicksal der Revolution hätte ernsthaft gefährden können. Es wäre eine Aktion gewesen, die zu einer endgültigen Niederlage geführt hätte.
Die Bolschewiki warnten vor solch einer Aktion; aber als sie sahen, dass die Massen ihre Warnungen nicht berücksichtigten und fortfuhren, standen sie nicht abseits und sagten: „Das ist euer Begräbnis. Die Partei beteiligte sich an den Aktionen und versuchte, die Katastrophe abzuwenden und gleichzeitig den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, ein Maximum an Lehren daraus zu ziehen, um sie für den wirklichen Augenblick des Aufstands vorzubereiten. Sie kämpfte mit all ihrer Kraft, um sicherzustellen, dass der Petrograder Sowjet durch ernsthafte Diskussionen und durch die Einsetzung von adäquaten Führern sich selbst so erneuerte, dass er in Übereinstimmung mit der politischen Orientierung der Massen kam.
Die Bewegung war jedoch erfolglos und erlitt eine Niederlage. Die Bourgeoisie und ihre menschewistischen und sozialrevolutionären Hampelmänner begannen eine brutale Repression gegen die Arbeiter und hauptsächlich gegen die Bolschewiki. Das Proletariat hatte einen hohen Preis zu zahlen: Verhaftungen, Erschiessungen und Exil. Das Opfer jedoch half der Klasse, die Auswirkungen der Niederlage zu begrenzen und die Frage des Aufstandes in bewussterer und organisierter Weise, unter besseren Bedingungen neu zu stellen.
Die Bindung der Partei zur Klasse erlaubte ihr, als die schlimmsten Augenblick der Reaktion der Bourgeoisie im August vorüber waren, die Synthese von Partei und Klasse zu verwirklichen, die für den Triumph der Revolution Voraussetzung war: äIn jenen Tagen der Februarumwälzung hatte sich die gesamte vorangegangene langjährige Arbeit der Bolschewiki gezeigt, und die von der Partei erzogenen fortgeschrittenen Arbeiter hatten ihren Platz im Kampfe gefunden; doch eine unmittelbare Leitung seitens der Partei gab es noch nicht. In den Aprilereignissen enthüllten die Parteiparolen ihre dynamische Kraft, die Bewegung jedoch entwickelte sich spontan. Im Juni offenbarte sich der riesige Einfluss der Partei, doch die Massen traten noch im Rahmen einer offiziell vom Gegner bestimmten Demonstration auf. Und erst im Juli erscheint die bolschewistische Partei, nachdem sie den Druck der Massen erfahren hat, gegen alle übrigen Parteien auf der Strasse und bestimmt nicht nur ihre Parolen, sondern auch durch ihre organisatorische Leitung den grundlegenden Charakter der Bewegung. Die Bedeutung einer geschlossenen Avantgarde zeigt sich zum erstenmal in ihrer ganzen Stärke während der Julitage, wo die Partei- um einen hohen Preis - das Proletariat vor Zerschmetterung bewahrt und die Zukunft der Revolution und ihre eigene Zukunft sichert“ (Trotzki, Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?, S. 475).
Der Zustand der Doppelherrschaft, der die ganze Zeit von Februar bis zum Oktober bestimmte, war eine instabile und gefährliche Zeit. Da sie aufgrund der Unfähigkeit der beiden Klassen, sich jeweils durchzusetzen, sich fortzusetzen drohte, schadete sie hauptsächlich dem Proletariat: Während die Unfähigkeit und das Chaos dieser Periode den wachsenden Popularitätsverlust der herrschenden Klasse verdeutlichte, erschöpfte und vernebelte sie gleichzeitig die Arbeitermassen. Sie wurden in fruchtlose Kämpfe reingezogen, und all das führte zu einer Entfremdung, zu einem Verlust der Sympathien der Mittelklassen gegenüber dem Proletariat. Diese Situation erforderte eine Klärung, eine Loslösung, sie machte den Aufstand zu einer zwingenden Lösung: „Entweder muss die Revolution sehr rasch und entschlossen vorwärtsstürmen, mit eiserner Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächlichen Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt“ (Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, Bd. 4, S. 339).
Der Aufstand ist eine Kunst. Er muss in einem bestimmten Augenblick in der Entfaltung und Reifung der revolutionären Situation ausgeführt werden; er darf weder zu früh erfolgen, was zu einem Fehlschlag führen würde, noch zu spät, was heissen würde, eine Gelegenheit verpasst zu haben, was wiederum bedeuten würde, dass die revolutionäre Bewegung zu einem Opfer der Konterrevolution werden würde.
Anfang September versuchte die Bourgeoisie mit Hilfe von Kornilow einen Putsch - das Signal für die letzte Offensive der Bourgeoisie, um die Sowjets zu beseitigen und ihre Macht wieder vollständig herzustellen. Das Proletariat durchkreuzte in intensiver und breiter Zusammenarbeit mit den Soldaten den Plan der Bourgeoisie und beschleunigte gleichzeitig die Zersetzung der Armee: in zahlreichen Regimentern sprachen sich die Soldaten für die Absetzung der Offiziere aus und für die Organisierung von Soldatenräten - kurzum, sie stellten sich auf die Seite der Revolution.
Wie wir weiter oben gesehen haben, änderte die Erneuerung der Sowjets ab Mitte August klar das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten des Proletariats. Die Niederlage des Kornilowputsches beschleunigte diesen Prozess.
Ab Mitte September strömte eine Flut von Resolutionen, die die Machtübernahme verlangten, in die lokalen und regionalen Sowjets (Kronstadt usw.). Der Sowjetkongress der Nordregionen vom 11. bis 13. Oktober sprach sich offen für den Aufstand aus. Der Minsker Regionalkongress der Sowjets entschied, den Aufstand zu unterstützen und schickte Soldaten, die der Revolution loyal waren: „Am 12. gab die Versammlung einer der revolutionärsten Fabriken der Hauptstadt (Stari-Parvyeinen) auf die Hetze der bürgerlichen Presse die Antwort: 'Wir erklären kategorisch, dass wir auf die Strasse gehen werden, sobald wir es für nötig erachten sollten. Uns schreckt nicht der nahe bevorstehende Kampf, und wir glauben fest, dass wir aus ihm als Sieger hervorgehen werden“ (Trotzki, Das militärische Revolutionskomitee, S.769).
Am 17. Oktober beschloss der Petrograder Soldatenrat: „Die Petrograder Garnison kennt nicht länger die Provisorische Regierung an. Unsere Regierung ist der Petrograder Sowjet. Wir werden nur die Befehle des Petrograder Sowjets, die er mittels des Militärisch-revolutionären Komitees ausgibt, ausführen“ (J. Reed).
Der Vyborger Distriktsowjet rief zu einer Demonstration zur Unterstützung der Resolution auf, an der sich Matrosen beteiligten. Eine Moskauer liberale Zeitung - die von Trotzki zitiert wird - beschrieb die Atmosphäre in der Stadt folgendermassen: „In den Arbeitervierteln, in den Fabriken Petrograds, Vevskis, Obujows und Putilows, hat die bolschewistische Agitation für den Aufstand ihren Höhepunkt erreicht. Die Haltung der Arbeiter ist die, dass sie bereit sind, zu jedem Zeitpunkt loszuschlagen“ .
Die Zunahme von Bauernrevolten im September zeigte eine anderes Element der Heranreifung der notwendigen Bedingungen für den Aufstand: „Ein vollendeter Verrat an der Bauernschaft. Die Niederwerfung des Bauernaufstandes zulassen, obwohl wir beide hauptstädtischen Sowjets in Händen haben, heisst jedes Vertrauen der Bauern verlieren und verdientermassen verlieren, heisst sich in den Augen der Bauern mit den Liberdan und den anderen Schuften auf eine Stufe stellen“ (Lenin, Die Krise ist herangereift, Bd. 2, S. 439).
Aber die internationale Lage war der Schlüsselfaktor für die Revolution. Lenin unterstrich dies in einem Brief an die Bolschewistischen Genossen, die am Kongress der Sowjets des Nordgebietes (vom 8.10.1917) teilnahmen:
„Unsere Revolution macht eine im höchsten Grade kritische Zeit durch. Diese Krise fällt zusammen mit der grossen Krise des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution und ihrer Bekämpfung durch den Weltimperialismus. Den verantwortlichen Führern unserer Partei fällt eine gigantische Aufgabe zu, und wenn sie diese nicht erfüllen, so droht der völlige Zusammenbruch der internationalistischen proletarischen Bewegung. In diesem Augenblick bedeutet eine Verzögerung wahrhaftig den Tod“ (Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Kongress der Sowjets des Nordgebiets teilnehmen, Bd. 2, S. 496). In einem anderen Brief hob Lenin hervor: „Die Bolschewiki haben nicht das Recht, auf den Sowjetkongress zu warten, sie müssen die Macht sofort ergreifen. Dadurch retten sie sowohl die Weltrevolution (denn andernfalls droht ein Pakt der Imperialisten aller Länder, die nach den Erschiessungen in Deutschland einander entgegenkommen werden, um sich gegen uns zu vereinigen) wie auch die russische Revolution (sonst kann die Welle echter Anarchie stärker werden als wir) und das Leben von Hunderttausenden im Felde“ (Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee.., Bd. 2, S. 491). Dieses Verständnis der internationalen Verantwortung des russischen Proletariats war nicht auf Lenin und die Bolschewiki beschränkt. Im Gegenteil: viele Teile der Arbeiterklasse begriffen sie.
- am 1. Mai 1917 „beteiligten sich in ganz Russland Kriegsgefangene an der Seite der Soldaten an den Märschen mit den gleichen Fahnen, manchmal sangen sie die gleichen Lieder in anderer Stimmlage... der kadettische Minister Schingarew (verteidigte) den Befehl Gutschkows gegen die 'übermässige Nachsicht' mit den Gefangenen... Der Minister fand nicht die geringste Zustimmung. Die Versammlung sprach sich entschieden für die Erleichterung des Schicksals der Gefangenen aus“ (Trotzki, Die Regierenden und der Krieg, S. 242).
„Ein Soldat sprach, von der rumänischen Front, abgemagert, voll bebender Leidenschaft: 'Genossen, wir hungern an der Front, wir frieren, wir sterben und wissen nicht wofür. Ich bitte die amerikanischen Genossen, es in Amerika zu sagen, dass wir Russen unsere Revolution bis zum Tode verteidigen werden. Wir werden alles daransetzen, unsere Feste zu halten, bis die Massen der ganzen Welt sich erheben werden, um uns zu Hilfe zu eilen. Sagt den amerikanischen Arbeitern, dass sie aufstehen mögen zum Kampfe für die soziale Revolution“ (J. Reed, S. 68).
Die Kerenski Regierung beabsichtigte, die revolutionärsten Regimenter von Petrograd, Moskau, Vladimir, Reval usw. an die Front oder in entfernte Regionen zu schicken, um den Kampf unter ihre Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig begann die liberale und menschewistische Presse eine Verleumdungskampagne gegen die Soldaten. Sie wurden angeklagt, selbstgefällig zu sein und “ihr Leben nicht für das Vaterland geben zu wollen“. Die Arbeiter der Hauptstadt antworteten unmittelbar: zahlreiche Fabrikversammlungen unterstützten die Soldaten, riefen „Alle Macht den Sowjets“ und verabschiedeten Resolutionen für die Bewaffnung der Arbeiter.
In dieser Atmosphäre entschied der Petrograder Sowjet am 9. Oktober, ein militärisches Revolutionskomitee zu bilden mit dem anfänglichen Ziel, die Regierung zu kontrollieren. Bald wurde es jedoch in das Zentrum der Organisierung des Aufstandes umgewandelt. Es umfasste Abgesandte des Petrograder Sowjets, des Matrosensowjets, des finnischen Sowjets, der Eisenbahnergewerkschaft, des Kongresses der Fabrikräte und der Roten Garde. „Die Roten Garden entstanden zum ersten Mal in der Revolution von 1905 und erschienen erneut in den Märztagen 1917 auf dem Schauplatz, als eine Kraft gebraucht wurde, um Ruhe und Ordnung in den Städten zu wahren. Sie waren bewaffnet, und jeder Versuch der Provisorischen Regierung, sie zu entwaffnen, blieb mehr oder weniger erfolglos. In jeder grossen Krise der Revolution erschienen die Roten Garden auf der Strasse, ungeschult und undiszipliniert, aber von revolutionärem Elan erfüllt“ (J. Reed, S. 27).
Bei der Gründung berief das militärische Revolutionskomitee (MRK) eine Konferenz der Regimentskomitees ein, wo am 18. Oktober offen die Frage des Aufstands diskutiert wurde. Die Mehrheit der Komitees, ausgenommen zwei, die dagegen waren und zwei, die sich für neutral erklärten (es gab 5 weiter Regimenter, die nicht mit der Konferenz übereinstimmten), sprach sich zugunsten des Aufstands aus. Gleichzeitig verabschiedete die Konferenz eine Resolution zugunsten der Bewaffnung der Arbeiter. Die Resolution wurde bereits ausgeführt: In Massen strömten Arbeiter zu den Arsenalen und verlangten nach allen Waffen. Als die Regierung die Aushändigung der Waffen verbot, beschlossen die Arbeiter und Angestellten der Peter-Paul-Festung (einer reaktionären Bastion), sich selbst dem MRK zu Verfügung zu stellen und organisierten gemeinsam mit anderen Arsenalen die Verteilung der Waffen an die Soldaten.
Am 21. Oktober nahm die Konferenz der Regimentskomitees folgende Resolution an:ä1. Die Garnison von Petrograd und Umgebung verspricht dem Militärischen Revolutionskomitee volle Unterstützung bei all seinen Schritten. 2. Die Garnison wendet sich an die Kosaken: Wir laden euch zu unseren morgigen Versammlungen ein. Seid willkommen, Brüder-Kosaken!. 3. Der Allrussische Sowjetkongress muss die Macht in seine Hände nehmen. Die Garnison verspricht feierlich, alle ihre Kräfte dem Kongress zur Verfügung zu stellen. Verlasst euch auf uns bevollmächtigte Vertreter der Soldaten, Arbeiter und Bauern. Wir alle sind auf unseren Posten, bereit zu siegen oder zu sterben“ (Trotzki, Bd 3, S. 785, Das militärische Revolutionskomitee).
Hier haben wir die charakteristischen Merkmale eines Arbeiteraufstands: die kreative Initiative der Massen, geradeaus vorwärts, direkt und eine bewunderswerte Organisationsfähigkeit, Diskussionen und Debatten, die Resolutionen hervorbringen, die den Stand des Bewusstseins, das die Massen erreichten, zusammenfassten; Verlass auf Überzeugungen, wie in dem Aufruf an die Kosaken, die Regierung zu verlassen oder das leidenschaftlich geführte und dramatische Treffen der Soldaten der Peter-Paul-Festung, das am 23. Oktober stattfand und wo entschieden wurde, den Befehlen von niemand anders zu folgen als denen des MRK. Diese Wesensmerkmale sind hauptsächlich Ausdrücke einer Bewegung zur Emanzipation der Menschheit; der direkten, leidenschaftlichen, kreativen Initiative und Führung der ausgebeuteten Massen.
Der Sowjettag am 22. Oktober, der vom Petrograder Sowjet ausgerufen wurde, beschloss endgültig den Aufstand: In allen Distrikten und Fabriken fanden jeden Tag Versammlungen und Treffen statt, die überwältigend mit den Slogans „Nieder mit Kerenski“ und „Alle Macht den Sowjets“ übereinstimmten. Das war ein gigantischer Akt, in dem sich Arbeiter, Beschäftigte, Soldaten, viele Kosaken, Frauen und Kinder offen für den Aufstand vereinigten.
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Artikels all die Einzelheiten wiederzugeben (dazu empfehlen wir die Bücher von Trotzki und J. Reed). Was wir zeigen wollten, ist das massive, offene und kollektive Wesen des Aufstands.
„Der Aufstand wurde deshalb für einen bestimmten Tag festgelegt, den 25. Oktober. Aber darauf hatte man sich nicht in irgendeiner geheimen Sitzung geeinigt, sondern offen und öffentlich, und die Revolution wurde genau am 25. Oktober siegreich durchgeführt (6. November), wie vorher beschlossen. In der Weltgeschichte hat es viele Revolten und Revolutionen gegeben, aber hatte es jemals einen anderen Aufstand von einer unterdrückten Klasse gegeben, der so offen und öffentlich für ein bestimmtes Datum festgelegt worden war und genau an dem vorgesehenen Datum dann auch siegreich durchgeführt wurde? Aus diesem und anderen Gründen ist die Oktoberrevolution (‚Novemberrevolution’) einzigartig und ohne Vergleich in der Geschichte“ (Trotzki, Die Novemberrevolution 1919). Die Bolschewisten hatten seit September klar die Frage des Aufstands in den Arbeiter- und Soldatenversammlungen gestellt; sie nahmen die kämpferischsten und entschiedensten Positionen im MRK und in den Roten Garden ein; sie rüttelten da, wo Zweifel waren oder wo Positionen für die Provisorische Regierung eingenommen wurden. Dies wurde durch die Überzeugung der Soldaten erreicht: Trotzkis Ansprache war zentral, um die Soldaten der Peter-Paul-Festung zu gewinnen. Auch entblössten sie unermüdlich die Manöver, Vorwürfe und Fallen der Menschewiki. Schliesslich kämpften sie für die Einberufung des 2. Sowjetkongresses gegen die Sabotage der Sozialverräter.
Trotzdem waren es nicht die Bolschewiki allein, sondern das ganze Proletariat Petrograds, das den Aufstand entschied und ihn ausführte. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten ständig das Zusammenkommen des 2. Kongresses der Sowjets hinauszuzögern versucht. Durch den Druck der Massen, das Beharren der Bolschewki, das Verschicken von Tausenden von Telegrammen seitens der örtlichen Sowjets an entsprechende Stellen mit der Aufforderung der Abhaltung dieses Kongresses, das zu seiner Einberufung für den 25. Oktober führte. „Nach der Revolution vom 25. Oktober sprachen die Menschewiki und vor allem Martow viel von der Machtergreifung hinter dem Rücken der 'Sowjets' und der 'Arbeiter'. Man kann sich eine schamlosere Verdrehung der Tatsachen kaum vorstellen. Als die Sowjets - in einer Sitzung - mehrheitlich beschlossen, den 2. Kongress für den 25. Oktober einzuberufen, sagten die Menschewiki 'ihr habt die Revolution beschlossen'. Als wir im Petrograder Sowjets mit einer überwältigenden Mehrheit beschlossen, die Zerstreuung der Regimenter weg von der Hauptstadt nicht zuzulassen, sagten die Menschewiki, 'das ist der Anfang der Revolution“. Als wir im Petrograder Sowjet das militärische Revolutionskomitee schufen, meinten die Menschewiki, 'dies ist das Organ des bewaffneten Aufstands'. Aber als der Aufstand, der zuvor von diesem Organ geplant, ausgearbeitet und 'erfunden' war, auch an jenem festgelegten Tag stattfand, riefen die gleichen Menschewiki: 'eine Verschwörung hat eine Revolution hinter dem Rücken der Arbeiter angezettelt“ (Trotzki, ebenda).
So schuf das Proletariat selbst die Kraft, das Mittel - die allgemeine Bewaffnung der Arbeiter, die Bildung des MRK, der Aufstand - damit der Sowjetkongress wirklich die Macht übernehmen könnte. Hätte der Kongress der Sowjets entschieden, die „Macht zu übernehmen“, ohne vorher diese Massnahmen durchzuführen, wäre dies nur eine leere, inhaltslose Geste geblieben, die leicht durch die Feinde der Revolution hätte zerschlagen werden können. Es ist nicht möglich, den Aufstand als eine isolierte, formale Handlung zu betrachten. Er muss als Teil einer umfassenden Dynamik der ganzen Klasse gesehen werden, konkret in einem Prozess auf internationaler Ebene, auf der sich die Bedingungen für die Revolution entwickelten. Aber auch in Russland, wo unzählbare örtliche Sowjets die Machtergreifung forderten: die Sowjets von Petrograd, Moskau, Tula, im Ural, in Sibirien, in Jukow - führten sie den siegreichen Aufstand gemeinsam durch.
Der Sowjetkongress traf die endgültige Entscheidung, womit die Stärke der Initiative des Proletariats in Petrograd voll bestätigt wurde: „Gestützt auf den Willen der gewaltigen Mehrheit der Arbeiter, Soldaten und Bauern, gestützt auf den in Petrograd vollzogenen siegreichen Aufstand der Arbeiter und der Garnison, nimmt der Kongress die Macht in seine Hände...Der Kongress beschliesst: Die ganze Macht geht allerorts an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten über, die eine wirkliche revolutionäre Ordnung zu gewährleisten haben“. (An die Arbeiter, Soldaten und Bauern!, Band 2, S. 525).
Adalen, aus Internationale Revue Nr. 72 (1993)
Wir haben die Fehler der Bolschewistischen Partei nie geleugnet, auch nicht ihren Niedergangsprozess, und wie sie zum Rückgrad der verhassten stalinistischen Diktatur wurde. Siehe dazu unsere Artikel in der Internationalen Revue sowie unser Sonderheft: „Die Kommunistische Linke in Russland“.
In den Nummern 90, 91 und 92 der Zeitschrift 'Programme Communiste', die von der 'Internationalen Kommunistischen Partei' (IKP) veröffentlicht wird, welche auch die Zeitungen 'Il Comunista' auf italienisch und 'Le Prolétaire' auf französisch herausgibt (1), gibt es eine lange Untersuchung über 'der imperialistische Krieg im bürgerlichen Zyklus in der marxistischen Analyse'. In dieser Untersuchung werden die Auffassungen der IKP über diese für die Arbeiterbewegung so wichtige Frage entfaltet. Die grundlegenden politischen Positionen der IKP zu dieser Frage sind eine klare Verteidigung der proletarischen Prinzipien gegenüber all den Lügen, die von den verschiedenen Vertretern der herrschenden Klasse verbreitet werden. Jedoch bleiben bestimmte theoretische Entwicklungen, auf die sich diese Prinzipien stützen und die Voraussagen, die aus ihnen abgeleitet sind, hinter den Erfordernissen der Grundsatzpositionen zurück, womit sie diese eher schwächen als stärken. In diesem Artikel wollen wir die fehlerhaften theoretischen Auffassungen kritisieren, damit die klarsten und fundiertesten Grundlagen für die Verteidigung des proletarischen Internationalismus geschaffen werden.
Im Gegensatz zu anderen Organisationen, die sich auch auf die kommunistische Linke berufen (insbesondere die verschiedenen IKP's, die zur bordigistischen Strömung gehören) hat die IKS immer eine klare Unterscheidung zwischen den Gruppierungen gemacht, die sich innerhalb des proletarischen Lagers befinden und denjenigen, die dem bürgerlichen Lager angehören, wie z.B. die verschiedenen trotzkistischen Organisationen. Es ist nicht möglich irgendeine politische Debatte mit den Trotzkisten zu führen. Die Verantwortung der Revolutionäre besteht darin, diese Strömungen als ein Instrument der herrschenden Klasse zu entblößen, welches dazu dient, mittels 'radikaler' Worte das Proletariat von seinem Klassenterrain abzubringen, um es an die Interessen des Kapitals zu binden. Dagegen ist die politische Debatte zwischen den Organisationen des proletarischen Lagers nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Verpflichtung. Dabei geht es nicht um einen einfachen Ideenaustausch, wie er in Universitätsseminaren stattfindet, sondern um die Verteidigung klarer politischer Positionen. In dieser Hinsicht kann er auch die Gestalt einer lebhaften Polemik annehmen, weil die Fragen von herausragender Bedeutung für die Bewegung der Klasse sind, weil jeder Kommunist weiß, daß ein kleiner theoretischer Fehler dramatische Konsequenzen für das Proletariat haben kann. Aber selbst in den Polemiken ist notwendig, das Richtige an den Positionen einer Organisation anzuerkennen.
Die IKP beruft sich auf die Tradition der italienischen kommunistischen Linken, d.h. eine der internationalen Strömungen, die während der Entartung der 3.Internationale in den 20er Jahren Klassenpositionen weiter aufrechterhalten haben. In dem Artikel von 'Programme Communiste' kann man feststellen, daß bei einer ganzen Reihe von wesentlichen Fragen diese Organisation die Positionen der italienischen Linken nicht aus den Augen verloren hat. Insbesondere gibt es in dem Artikel klare Darstellungen der Kommunisten gegenüber dem imperialistischen Krieg. Die Haltung der IKP kann nicht verglichen werden mit der Haltung der Pazifisten oder Anarchisten gegenüber dem Krieg: "Der Marxismus verwirft die Lehren und abstrakten Aussagen, die die ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg zu einem geschichtslosen Prinzip machen, und die die Kriege auf metaphysische Weise als das Absolut-Böse darstellen. Unsere Einstellung stützt sich auf eine historische und dialektische Analyse der kriegerischen Krisen in Verbindung mit der Entwicklung und dem Absterben von Gesellschaftsformen. Wir unterscheiden somit
a) die Kriege des bürgerlichen Fortschritts oder der Entwicklung in der Zeit von 1792-1871,
b) imperialistische Kriege, die durch das gegenseitige Zusammenprallen der Nationen im hochentwickelten Kapitalismus entstanden sind,
c) revolutionäre proletarische Kriege "Die allgemeine Orientierung besteht darin, die Kriege zu unterstützen, welche die allgemeine Entwicklung voranbringen und die Kriege abzulehnen, die die allgemeine Entwicklung verzögern. Deshalb sind wir für die Sabotage der imperialistischen Kriege, nicht weil sie schrecklicher oder abscheulicher wären als die vorhergehenden Kriege, sondern weil sie ein Hindernis für die Zukunft der Menschheit darstellen, weil die imperialistische Bourgeoisie und der Weltkapitalismus keine fortschrittliche Rolle mehr spielen, sondern im Gegenteil zu einem Hindernis für die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung geworden sind. (PC Nr.90 S.22)" Die IKS stimmt mit diesen Aussagen überein, das deckt sich mit dem, was wir in unseren Publikationen dazu gesagt haben.
Auch ist die Entblößung des Pazifismus durch die IKP besonders klar und zutreffend. "Der Kapitalismus ist kein Opfer des Krieges, der von diesem oder jenem Teufel hervorgerufen wird, die Kriege sind keine Überreste von barbarischen Zeiten, die noch nicht ganz ausgemerzt sind...Der bürgerliche Pazifismus muß notwendigerweise in die Kriegstreiberei münden. Der idyllische Traum eines friedlichen Kapitalismus ist keineswegs unschuldig. Es handelt sich um einen blutbefleckten Traum. Wenn man zugibt, daß Kapitalismus und Krieg ständig zusammengehören, muß man, wenn das Kriegsgeschrei ertönt, eingestehen, daß etwas der Zivilisation gegenüber Fremdes die friedliche humanitäre Entwicklung des Kapitalismus bedroht, daß der Kapitalismus sich also verteidigen müßte, d.h. auch mit Waffen, falls andre Mittel nicht ausreichen, indem er die Menschen, die guten Willens sind, und die Friedliebenden zusammenbringt. Der Pazifismus vollzieht seine letzte Wendung und wird zum Kriegstreiber, zu einem aktiven Faktor und zu einem Hauptelement bei der direkten Mobilisierung für den Krieg. Hier handelt es sich um einen Zwangsprozeß, der aus der internen Dynamik des Pazifismus selbst hervorgeht. Dieser neigt nämlich seinem Wesen gemäß dazu, Kriegstreiber zu werden" (PC Nr.90 S.22). Aus dieser Analyse leitet die IKP eine richtige Orientierung gegenüber den angeblichen Antikriegsbewegungen ab, die gegenwärtig immer wieder aufblühen. Wir sind natürlich mit der IKP einverstanden, was den Antimilitarismus der Arbeiterklasse betrifft (wie z.B. der während des 1.Weltkrieges, der ja zur Revolution in Rußland und Deutschland geführt hat). Aber dieser Antimilitarismus der Arbeiterklasse kann sich nicht entfalten, wenn er von den Mobilisierungen ausgeht, die von den bürgerlichen Kräften organisiert werden: "Gegenüber den gegenwärtigen Friedensbewegungen besteht unser positiver Vorschlag nicht in einer Intervention in Form von Propaganda oder einem Bekehrungseifer gegenüber den Mitgliedern der Arbeiterklasse, die vom Pazifismus gefangen genommen, von kleinbürgerlichen Mobilisierungen vereinnahmt wurden, um sie aus dessen Klauen herauszureißen. Wir sagen insbesondere gegenüber diesen vereinnahmten Leuten, daß der Antimilitarismus sich nicht mittels der heutigen Friedensmärsche verbreitet, sondern nur durch den unnachgiebigen Kampf zur Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Proletarier mittels eines Bruches mit den Interessen des Unternehmens und der Volkswirtschaft. Da die Verteidigung der Arbeitsdisziplin und der Volkswirtschaft die Disziplin in den Schützengräben und die Verteidigung des Vaterlandes vorbereiten, bedeutet das, daß die Verwerfung der Interessen der Unternehmen und der Volkswirtschaft heute eine Grundlage für die Vorbereitung des Antimilitarismus und des Defätismus darstellen." (PC Nr.92 S. 61) Wie wir später aufzeigen werden, ist der Defätismus heute kein Slogan mehr, der in der gegenwärtigen Situation oder der Zukunft angebracht wäre. Jedoch unterstreichen wir die Richtigkeit der Herangehensweise der IKP.
Schließlich ist der Artikel von PC auch sehr klar bezüglich der Rolle der bürgerlichen Demokratie bei der Vorbereitung und Durchführung des imperialistischen Krieges: "In unseren zivilisierten Staaten herrscht der Kapitalismus dank der Demokratie. Wenn der Kapitalismus Kanonen und seine Generäle einsetzt, dann indem er sich auf die Mechanismen der Demokratie, auf deren hypnotische Riten stützt." (PC Nr.91 S.38) "Die Existenz eines demokratischen Regimes ermöglicht es dem Staat eine größere militärische Effizienz zu erreichen, da dadurch sowohl die Vorbereitung des Krieges gefördert als auch die Widerstandskraft während des Krieges maximal ausgenutzt wird. Der Faschismus kann nur an das Nationalgefühl appellieren, das bis zu einer rassistischen Hysterie getrieben wird, um die nationale Einheit zu befestigen. Die Demokratie dagegen kann sich auf eine Kraft stützen, die noch stärker ist, um die gesamte Gesellschaft für den imperialistischen Krieg zusammenzuschweißen. Die Tatsache, daß der Krieg direkt aus dem Willen des Volkes hervorgeht, welcher durch die Wahlen zum Ausdruck kommt und auf diese Weise dank der Mystifikation der Wahlbefragungen der Krieg als Verteidigung der Interessen der Volksmassen, der arbeitenden Klassen insbesondere, erscheint." (PC Nr.91 S.419) Wir haben diese langen Zitate aus Programme Communiste (wir hätten übrigens auch andere bringen können, insbesondere zur historischen Verdeutlichung der vorgetragenen Thesen) gebracht, weil sie genau unsere Positionen zu diesen Fragen widerspiegeln. Anstatt also mit unseren eigenen Worten unsere Prinzipien zum imperialistischen Krieg zu wiederholen, ist es nützlich die tiefgreifende Einheit und die gemeinsame Auffassung in dieser Frage innerhalb der kommunistischen Linken zu verdeutlichen. Es handelt sich um unsere gemeinsamen Auffassungen.
Aber genauso wie wir die Prinzipieneinheit unterstreichen müssen, ist es auch die Aufgabe der Revolutionäre, die Inkonsequenzen und die theoretischen Inkohärenzen der bordigistischen Strömung aufzuzeigen, die die Fähigkeit, als wirksamer Kompaß gegenüber der Arbeiterklasse aufzutreten, stark untergraben. Und die erste dieser Inkonsequenzen besteht in der Weigerung, die Dekadenz, den Niedergang der kapitalistischen Produktionsweise zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen.
Die Anerkennung, daß seit diesem Jahrhundert und insbesondere seit dem 1.Weltkrieg die kapitalistische Gesellschaft in ihre Niedergangsphase eingetreten ist, ist ein Eckpfeiler der Perspektive der kommunistischen Bewegung. Im 1. imperialistischen Weltkrieg stützten sich Revolutionäre wie Lenin bei der Verteidigung der Notwendigkeit, daß die Arbeiterklasse diesen Krieg verwerfen mußte, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umwandeln sollte, auf die Analyse der Dekadenz. (Siehe insbesondere "Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus") Auch stand der Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase im Mittelpunkt der politischen Positionen der Komintern bei ihrer Gründung im März 1919. Gerade weil der Kapitalismus zu einem dekadenten System geworden war, war es nicht mehr möglich innerhalb des Systems zu kämpfen, um Reformen zu erreichen, wie es die Parteien der 2.Internationale befürworteten, sondern die einzige historische Aufgabe der Arbeiterklasse bestand darin, für die Weltrevolution zu kämpfen. Besonders auf diesem theoretischen Fundament hat schließlich die internationale kommunistische Linke und insbesondere die Italienische Linke ihre politischen Positionen erarbeiten können. Jedoch war es die Originalität Bordigas und der Strömung, die er ins Leben gerufen hat, die Tatsache zu leugnen, daß der Kapitalismus in seine Niedergangsstufe eingetreten war. Und dennoch ist die bordigistische Strömung und insbesondere die PCI dazu gezwungen, anzuerkennen, daß sich etwas am Anfang dieses Jahrhunderts geändert hatte hinsichtlich des Wesens der Wirtschaftskrisen als auch hinsichtlich des Wesens des Krieges.
Hinsichtlich des Wesens des Krieges sprechen die Zitate, die wir oben gebracht haben, für sich selber. Es gibt in der Tat einen grundlegenden Unterschied zwischen den Kriegen der kapitalistischen Staaten im letzten Jahrhundert und den Kriegen in diesem Jahrhundert. Z.B. trennten 6 Jahrzehnte die Napoleonischen Kriege gegen Preußen vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, während nur 4 Jahrzehnte zwischen 1870 und dem 1.Weltkrieg mit seinem Beginn 1914 lagen. Jedoch unterscheidet sich der 1.Weltkrieg, der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland sehr von all den Kriegen vorher. So konnte Marx die deutschen Arbeiter dazu aufrufen, sich am Krieg von 1870 zu beteiligen (siehe das 1.Manifest des Generalrates der AIT), wobei er sich gleichzeitig auf dem Klassenboden der Arbeiterklasse befand, während die deutschen Sozialdemokraten, die die deutschen Arbeiter 1914 zur nationalen Verteidigung aufriefen, sich voll auf dem Boden der Bürgerlichen befanden. Genau das haben die Revolutionäre wie Lenin oder Luxemburg fest in der Zeit gegen die Nationalchauvinisten verteidigt, die vorgaben, sich auf die Positionen von Marx im Jahre 1870 zu stützen. Die Position Marxens von 1870 war 1913 nicht mehr gültig, denn der Krieg hatte sein Wesen geändert und diese Änderung selbst leitete sich aus einer grundlegenden Änderung des Lebens der gesamten kapitalistischen Produktionsweise ab.
Programme Communiste sagt übrigens nichts anderes als das, wenn es behauptet, daß die imperialistischen Kriege "als Hürde für die historische Zukunft der Menschheit wirken, weil die imperialistische Bourgeoisie und der Weltkapitalismus keine fortschrittliche Rolle mehr spielen, sondern im Gegenteil zu einem Hindernis für die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft geworden sind". Ein Zitat von Bordiga aufgreifend meint die IKP: "Die imperialistischen Weltkriege beweisen, daß die Zerfallskrise des Kapitalismus auf Grund der Öffnung der Periode unvermeidbar ist, wo seine Ausdehnung nicht zu einer Erhöhung, zu einer Stärkung der Produktivkräfte führt, sondern die Akkumulation von einer noch größeren Zerstörung abhängig macht. (PC Nr.90 S.25) Aber weil die IKP in den alten bordigistischen Dogmen verfangen ist, ist sie unfähig, die logische Konsequenz vom Standpunkt des historischen Materialismus aus zu ziehen. Die Tatsache, daß der Weltkapitalismus zu einem Hindernis für die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft geworden ist, bedeutet ganz einfach, daß diese Produktionsform in ihre Niedergangsphase eingetreten ist. Als Lenin oder Luxemburg 1914 diese Feststellung trafen, hatten sie diese Idee nicht einfach erfunden, sondern sie wandten nur gewissenhaft die marxistische Theorie auf das Verständnis der historischen Tatsachen der damaligen Epoche an. Die IKP, wie alle anderen IKP's, welche der bordigistischen Strömung angehören, beruft sich auf den Marxismus. Das ist eine gute Sache. Heute können nur die Organisationen, die ihre programmatischen Positionen auf die Lehre des Marxismus stützen, behaupten, die revolutionäre Perspektive des Proletariats zu vertreten. Aber leider beweist die IKP, daß sie diese Methode falsch verstanden hat. Insbesondere verwendet die IKP gerne den Begriff dialektisch, aber sie zeigt uns genau wie der Unwissende, der durch die Verwendung von vielen gebildeten Worten Eindruck schinden will, in Wirklichkeit nur, daß er nicht weiß, wovon er spricht.
Z.B. kann man von der IKP hinsichtlich des Wesens der Krisen folgendes lesen: "Die Zehnjahreskrisen des jungen Kapitalismus hatten nur geringe Auswirkungen. Sie waren mehr geprägt durch die Krisen des internationalen Handels als durch die Krisen im Industriebereich. Sie erfaßten nicht die industriellen Produktionsstrukturen. Es handelte sich um die Krisen der Arbeitslosigkeit, d.h. Firmenschließungen, Zusammenbruch von Industrien. Die modernen Krisen dagegen sind Krisen, in denen das ganze System auseinanderbricht, und wo später das System nachher unter großen Schwierigkeiten seine unterschiedlichen Strukturen wieder aufbauen muß" (PC Nr.90 S.28). Dann folgt eine Reihe von Statistiken, die das große Ausmaß der Krisen im 20.Jahrhundert. belegen, und deren Ausmaß weit über das der Krisen im letzten Jahrhundert hinausreicht. Weil die IKP nicht sieht, daß der Unterschied des Ausmaßes zwischen diesen beiden Arten von Krisen nicht nur einen grundlegenden Unterschied zwischen den Krisen selbst ans Tageslicht bringt, sondern die unterschiedliche Lebensform des Systems selbst widerspiegelt, verwirft die IKP ein Grundlagenelement des dialektischen Marxismus. Die Umwandlung der Quantität in Qualität. Für die IKP ist der Unterschied zwischen den beiden Krisenformen ausschließlich ein quantitativer, und er betrifft nicht die grundlegenden Mechanismen der Krisen selber. Dies zeigt die IKP, wenn sie schreibt: "Im letzten Jahrhundert gab es sechs Weltwirtschaftskrisen 1836, 1848, 1856, 1883, 1886 und 1894. Die Zyklusdauer dieser Krisen betrug Marx zufolge zehn Jahre. Diesem jugendlichen Rhythmus folgte in der Zeit von Anfang dieses Jahrhunderts bis zum Ausbruch des 2.Weltkriegs eine schnellere Reihenfolge von Krisen. 1901, 1908, 1914, 1920, 1929. Dem stark gewachsenen Kapitalismus ging eine Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals einher...,was zu einer wachsenden Akkumulationsrate führte. Aus dem Grunde fiel die Durchschnittsdauer dieses Zyklus auf sieben Jahre" (PC Nr.90 S.27). Dieses Rechenbeispiel der Dauer des Zyklus beweist, daß die IKP die wirtschaftlichen Erschütterungen des letzten Jahrhunderts auf die gleiche Ebene stellt wie die dieses Jahrhunderts, ohne jedoch zu begreifen, daß das Wesen der Zyklen selbst sich grundlegend geändert hat. Blind geworden durch die Gefolgschaft gegenüber den heiligen Worten Bordigas, sieht die IKP nicht den Aussagen Trotzkis zufolge, daß die Krisen des vorigen Jahrhunderts ein normales Herzschlagen des Kapitalismus waren, während die Krisen des 20.Jahrhundert. das Röcheln des mit dem Tode ringenden Kapitalismus sind.
Die gleiche Blindheit legt die IKP an den Tag, wenn sie die Verbindung zwischen Krise und Krieg aufzuzeigen versucht. Sehr systematisch und sehr breit ausschweifend, weil in Ermangelung einer wirklichen theoretischen Strenge (wir kommen später darauf zurück), versucht die IKP aufzuzeigen, daß in der gegenwärtigen Phase die kapitalistische Krise notwendigerweise zum Weltkrieg führt. Dies ist eine sehr lobenswerte Sorge, denn damit bemüht sich die IKP all die illusorischen Reden der Pazifisten zu entblößen. Der IKP kommt es jedoch nicht in den Sinn zu fragen, ob die Tatsache, daß die Krisen des 19.Jahrhundertrh. nicht zu einem Weltkrieg führten und auch nicht zu jeweils lokalen Kriegen, nicht auf einen grundlegenden Unterschied gegenüber den Krisen im 20.Jahrhundert. zurückzuführen sind. Hier liefert uns die IKP einen sehr armseligen Marxismus. Hier geht es nicht nur um ein mangelndes Verständnis des Begriffes Dialektik, sondern es handelt sich um eine Weigerung oder zumindest um eine Unfähigkeit tief zu untersuchen und über eine Fixierung über eine offensichtliche Ähnlichkeit hinauszugehen, die zwischen den Wirtschaftszyklen früher und heute besteht, um die bestimmenden Hauptphänomene der kapitalistischen Produktionsweise zu bestimmen.
So erweist sich die IKP als unfähig, bei einer so wesentlichen Frage wie dem imperialistischen Krieg zufriedenstellend die marxistische Theorie anzuwenden, um den grundlegenden Unterschied zwischen der aufsteigenden und der niedergehenden Phase des Kapitalismus aufzuzeigen. Und die traurige Verdeutlichung dieser Unfähigkeit zeigt sich dadurch, daß die IKP den Kriegen der jetzigen Periode eine ähnliche wirtschaftliche Rationalität zuzuordnen versucht, wie sie die Kriege im letzten Jahrhundert haben konnten.
In unserer Internationalen Revue haben wir zahlreiche Artikel zur Irrationalität des Kriegs in der Niedergangsphase des Kapitalismus veröffentlicht.(5) Unsere Position ist keinesfalls eine Entdeckung unserer Organisation. Sie stützt sich auf die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus seit Anfang dieses Jahrhunderts, besonders auf die Errungenschaften, die Lenin und Rosa Luxemburg entwickelt haben. Diese Errungenschaften wurden sehr klar 1945 von der Gauche Communiste de France in Auseinandersetzung mit der revisionistischen Theorie entfaltet, welche Vercesi am Vorabend des 2.Weltkriegs entwickelt hatte, und die seine Organisation, die Italienische Fraktion der kommunistischen Linken, zu einer vollständigen Lähmung zum Zeitpunkt des Ausbruchs des imperialistischen Konfliktes geführt hatte.
"Zur Zeit des aufsteigenden Kapitalismus drückten ... die Kriege den aufsteigenden Weg der Gärung, Erweiterung und Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems aus... Die Aufwendungen für jeden Krieg wurden durch die Eröffnung neuer Ausdehnungsfelder gerechtfertigt, womit eine größere kapitalistische Produktion gewährleistet war. .. Der Krieg war unerläßlich für den Kapitalismus, um seine weitere Entwicklung zu einem Zeitpunkt zu gestatten, wo dies nur durch Gewalt möglich war. Ebenso führt der Zusammenbruch der kapitalistischen Welt, der die Unmöglichkeit weiterer Entwicklung verdeutlicht, zum imperialistischen Krieg. Dieser wird dann der Ausdruck dieses Zusammenbruchs. Der Krieg ermöglicht dann keine weitere Ausdehnung der Produktion, sondern führt nur zur Zerstörung der Produktivkräfte und zum Aufhäufen einer Ruine nach der anderen" (aus: "Bericht zur Internationalen Lage", Juli 1945, GCG, in International Review; Nr. 59).
Die Unterscheidung zwischen den Kriegen dieses Jahrhunderts und denen des vorigen Jahrhunderts wird auch von der IKP, wie wir oben gesehen haben, vorgenommen. Jedoch zieht die IKP daraus nicht die Konsequenzen, sondern, nachdem sie einen Schritt in die richtige Richtung gemacht hat, geht sie zwei Schritte zurück, indem sie eine wirtschaftliche Rationalität der Kriege dieses Jahrhunderts sucht. Die IKP versucht diese Rationalität, "die grundsätzliche Verdeutlichung der ökonomischen Faktoren, die die Staaten in den Krieg treiben," (PC Nr.92, S.54) in den Zitaten von Marx zu finden, der schrieb, daß eine periodische Zerstörung von Kapital zu einer notwendigen Bedingung geworden ist... Aus dieser Sicht betrachtet sind all diese furchtbaren Greuel, die wir mit soviel Angst und Sorge erwarten, wahrscheinlich das einzige natürliche und notwendige Korrektiv eines exzessiven und übertriebenen Überflusses, die Kraft, mittels der das gegenwärtige Gesellschaftssystem sich von Zeit zu Zeit von einer ständig wachsenden überschüssigen Warenmasse befreit, die seine Existenz bedroht und somit die Rückkehr zu einer festen und gesunden Zustand ermöglicht.
Die Zerstörung des Kapitals, die Marx hier erwähnt, wird durch die zyklischen Krisen der damaligen Zeit hervorgerufen (nicht durch den Krieg). Gerade weil damals die Krisen der Herzschlag des kapitalistischen Systems waren (obgleich sie damals schon die historischen Grenzen aufzeigten). An vielen Stellen seiner Arbeiten zeigte Marx, daß die Art und Weise, wie der Kapitalismus seine Krisen überwindet, nicht nur in einer Entwertung des zeitweise überschüssigen Kapitals besteht, sondern auch und vor allem in der Eroberung neuer Märkte und insbesondere in Gebieten außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.(6) Und da der Weltmarkt nicht als grenzenlos angesehen werden kann, weil die außerkapitalistischen Märkte nur abnehmen können, bis sie vollständig verschwinden, weil das Kapital den ganzen Erdball seinen Gesetzen unterwirft, wird der Kapitalismus in immer stärkere und katastrophalere Erschütterungen getrieben. Diese Idee wurde viel systematischer von Rosa Luxemburg in ihrem Werk "Die Akkumulation des Kapitals" entwickelt, aber sie hat sie keineswegs, wie einige Unwissende behaupten, erfunden. Diese Idee erscheint übrigens auch zwischen den Zeilen in bestimmten Abschnitten des Textes der IKP. Aber wenn sie Rosa Luxemburg erwähnt, tut sie das nicht, um sich auf ihre außergewöhnlichen theoretischen Ausführungen zu stützen, die mit der größten Klarheit die Krisenmechanismen des Kapitalismus erklären, insbesondere warum die Gesetze des Systems es historisch scheitern lassen, sondern die IKP erwähnt Rosa Luxemburg nur, um sich auf die umstrittene Idee zu stützen, die in der 'Akkumulation des Kapitals' vorhanden ist. Es dreht sich hier um die These, derzufolge der Militarismus ein Akkumulationsfeld sein könnte, der teilweise die ökonomischen Widersprüche des Kapitalismus erleichtert. (PC Nr.91, S.31-33) Gerade in diese Idee hatte sich Vercesi Ende der 30er Jahre verlaufen, woraus er die Schlußfolgerung zog, daß die gewaltige Entwicklung der Rüstungsproduktion von 1933 an eine Wiederankurbelung der kapitalistischen Produktion ermöglichen würde, und damit die Perspektive eines Weltkriegs immer weiter aufheben könnte. Wenn jedoch die IKP eine systematische Erklärung des Krisenmechanismus liefern will, um die vorhandene Beziehung zwischen der Krise und dem imperialistischen Krieg aufzuzeigen, entfaltet sie eine einseitige Auffassung, die sich hauptsächlich auf das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate stützt: "Seitdem die bürgerliche Produktionsweise zur vorherrschenden geworden ist, ist der Krieg auf deterministische Art und Weise eng verbunden mit dem Gesetz, das Marx über die durchschnittliche Profitrate erarbeitet hatte, welches die Tendenz des Kapitalismus hin zur Endkatastrophe ist." (PC Nr.90 S.23) Dem folgt eine Zusammenfassung, die PC aus Bordiga, Dialog mit Stalin, übernommen hat. Den Thesen Marxens zufolge bringt die ständige Anhebung des Wertes der Waren (aufgrund des ständigen Fortschritts der Produktionstechniken) nämlich des Anteils, der den Maschinen und den Rohstoffen gegenüber dem Anteil der Lohnarbeit zugeordnet werden kann, eine historischen Tendenz des Falls der Profitrate mit sich, solange nur die Arbeit des Arbeiters dazu in der Lage ist, Profit zu produzieren (mehr Wert zu produzieren als sie den Unternehmer kostet).
Wir müssen darauf hinweisen, daß die IKP (und Bordiga, den PC ausführlich in ihrer Analyse zitiert) die Frage der Märkte nicht außer acht läßt. Und die Tatsache, daß der imperialistische Krieg die Folge der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Staaten ist.
"Die geometrische Progression der Produktion verlangt vom nationalen Kapital zu exportieren, auf den äußeren Märkten entsprechende Absatzmöglichkeiten für seine Produktion zu erobern. Und da jeder nationale Akkumulationspol den gleichen Regeln unterworfen ist, ist der Krieg zwischen kapitalistischen Staaten unvermeidlich. Von den Wirtschafts- und Handelskriegen, den Finanzkonflikten, den Kämpfen um Rohstoffe und den politischen und diplomatischen Zusammenstößen, die daraus hervorgehen, kommen wir schließlich zum offenen Krieg. Der latente Konflikt zwischen Staaten bricht zunächst in Gestalt militärischer Konflikte auf, die auf bestimmte geographische Zonen beschränkt sind, von örtlichen Kriegen, in denen die Großmächte nicht direkt aufeinanderprallen, sondern durch Stellvertreter; aber er mündet schließlich in einen generalisierten Krieg, d.h. den direkten Zusammenprall der großen staatlichen Einheiten des Imperialismus, wobei sie alle gegeneinander getrieben werden aufgrund ihrer inneren Widersprüche. Und alle kleineren Staaten werden in diesen Konflikt mit hineingezogen, dessen Schlachtplatz sich notwendigerweise auf den ganzen Planeten ausdehnt. Akkumulation, Krisen, örtliche Kriege, Weltkrieg." (PC Nr.90 S.26)
Mit dieser Analyse kann man einverstanden sein, denn sie untermauert nur das, was die Marxisten seit dem 1.Weltkrieg behauptet haben. Die Sache bekommt jedoch da einen Haken, wo die Suche nach äußeren Märkten von der IKP nur als eine Folge des tendenziellen Falls der Profitrate angesehen wird, während der Kapitalismus als Ganzes ständig Märkte außerhalb seiner eigenen Produktionssphäre benötigt, wie es von Rosa Luxemburg unter Beweis gestellt wurde. Er benötigt diese nämlich, um den Teil des Mehrwertes zu realisieren, der dazu dient, in einem späteren Zyklus vom Kapital mit dem Ziel der Akkumulation wieder investiert zu werden. Von dieser einseitigen Betrachtungsweise ausgehend, ordnet PC dem imperialistischen Weltkrieg eine genaue ökonomische Funktion zu. Es meint, es gäbe eine wirkliche Rationalität in der Funktionsweise des Kapitalismus:
unklar.....
"Die Krise hat ihren Ursprung in der Unmöglichkeit der Fortsetzung der Akkumulation. Dies äußert sich, wenn das Wachstum der Produktionsmasse es nicht mehr schafft, den Fall der Profitrate auszugleichen. Die Masse der gesamten Mehrarbeit reicht nicht mehr, dem vorgeschossenen Kapital Profit zu garantieren, und um die Bedingungen für die Rentabilität der Investitionen zu schaffen. Durch die Zerstörung des konstanten Kapitals (tote Arbeit) in großem Maßstab spielt der Krieg eine wirtschaftlich wesentliche Rolle: Dank der schrecklichen Zerstörungen des Produktionsapparates ermöglicht der Krieg eine gewaltige zukünftige Ausdehnung zur Ersetzung der zerstörten Analgen, also eine parallele Ausdehnung des Profits, des gesamten Mehrwertes, d.h. der Mehrarbeit....Die Bedingungen für den Wiederaufschwung des Akkumulationsprozesses sind somit hergestellt. Der Wirtschaftskreislauf fängt von neuem an...Das weltweite kapitalistische System tritt veraltet in den Krieg ein, aber verjüngt sich in dem Blutbad, durch das es eine neue Jugend erhält, insgesamt geht es daraus mit der Vitalität eines kräftigen Neugeborenen hervor." (PC Nr.90 S.24)
Die These von PC ist nicht neu. Sie wurde von Grossmann aufgebracht und systematisch in den 20er Jahren entwickelt, nach ihm wurde sie von Mattick, einem Theoretiker der rätekommunistischen Bewegung, wieder aufgegriffen. Sie kann ganz einfach in den folgenden Begriffen zusammengefaßt werden: Durch die Zerstörung des konstanten Kapitals läßt der Krieg die organische Zusammensetzung des Kapitals sinken und ermöglicht somit eine Erhöhung der Profitrate. Jedoch wurde nie bewiesen, daß während des Wiederaufschwungs nach den Weltkriegen die organische Zusammensetzung des Kapitals niedriger war als vor dem jeweiligen Weltkrieg. Das Gegenteil ist meistens der Fall. Wenn wir z.B. den 2.Weltkrieg nehmen, ist es klar, daß in den vom Krieg zerstörten Ländern die durchschnittliche Produktivität der Arbeit und damit das Verhältnis zwischen konstantem und variablen Kapital sehr schnell, Anfang der 50er Jahre, das Niveau von 1939 erreicht hatte. Tatsächlich waren die nach dem Krieg erbauten Produktionsanlagen sehr viel moderner als die durch den Krieg zerstörten Anlagen. PC stellt dies übrigens selbst fest, denn es erklärt dies gerade als eine der Ursachen für den Nachkriegsboom:
"Die Kriegswirtschaft übermittelt dem Kapitalismus u.a. sowohl den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, der von der Rüstungsindustrie erzielt wurde, als auch die Industrieanlagen, welche für die Rüstungsproduktion aufgebaut wurden. Diese wurden in der Tat nicht alle durch die Bombardierungen zerstört -, und auch nicht wie im Falle Deutschlands durch die Demontage der Alliierten...Die großflächige Zerstörung von Ausrüstungen, Anlagen, Gebäuden, Transportmitteln usw., der Zufluß von Produktionsmitteln auf einer hohen Stufe der technologischen Zusammensetzung, die aus der Rüstungsindustrie stammt,... all das legte die Grundlagen für das Wirtschaftswunder." (PC Nr.92 S.38)
Was die USA angeht, war die organische Zusammensetzung ihres Kapitals, da es keine Zerstörungen auf dem Boden der USA gegeben hat, 1945 höher als die von 1939. Jedoch war die Wohlstandsphase, die mit der Wiederaufbauphase einherging, länger. Tatsächlich dauerte sie bis Mitte der 60er Jahre, als der Zeitpunkt des Wiederaufbaus der Produktionsanlagen aus der Vorkriegszeit wieder erreicht war, wodurch das frühere Niveau der organischen Zusammensetzung wiederhergestellt war.(7)
Da wir schon sehr viele Texte als Kritik an den Auffassungen von Grossmann, Mattick verfaßt haben, auf die sich die IKP in der Tradition Bordigas stützt, wollen wir hier nicht weiter darauf eingehen. Jedoch ist es wichtig, die theoretischen Fehler überhaupt aufzuzeigen, zu denen die Auffassungen Bordigas, die die IKP jetzt wieder aufgreift, führen.
Die Hauptsorge der IKP ist vollkommen richtig: Die Unvermeidbarkeit des Krieges aufzuzeigen, insbesondere will sie die Auffassung vom Superimperialismus, die insbesondere von Kautsky während des 1.Weltkrieges entwickelt wurde, verwerfen. Dieser Auffassung zufolge könnten sich nämlich die Großmächte einigen, um eine gemeinsame und friedliche Weltherrschaft zu errichten. Diese Auffassung war natürlich eine der Lügen der Pazifisten, die darauf abzielte, den Arbeitern einzutrichtern, daß es möglich wäre, den Krieg zu Ende zu bringen, ohne den Kapitalismus zu zerstören. Um dieser Auffassung entgegenzutreten, liefert die IKP das folgende Argument:
"Ein Superimperialismus ist unmöglich. Wenn aus außergewöhnlichen Gründen der Imperialismus es schaffen sollte, Konflikte zwischen den Staaten abzuschaffen, würden seine inneren Widersprüche ihn dazu zwingen, erneut in nationale, miteinander konkurrierende Akkumulationspole auseinanderzubrechen und damit in staatliche Blöcke, die miteinander in Konflikt stehen. Die Notwendigkeit, gewaltige Massen toter Arbeit zu zerstören, kann nicht allein durch Naturkatastrophen erfüllt werden. (PC Nr.90 S.26).
Kurzum die grundlegende Funktion der imperialistischen Blöcke oder der Tendenz hin zu ihrer Bildung besteht darin, Bedingungen zu schaffen für massive Zerstörungen. Wenn man diese Auffassung vertritt, versteht man jedoch nicht, warum die kapitalistischen Staaten sich gerade nicht untereinander verständigen könnten, um -wenn notwendig- solche Zerstörungen herbeizuführen, die eine Erhöhung der Profitrate und der Produktion wieder ermöglichen würden. Sie verfügen über ausreichende Mittel, um solche Zerstörungen herbeizuführen, wobei sie durchaus die Kontrolle über die Zerstörungen aufrechterhalten können und ihre jeweiligen Interessen dabei am besten verteidigen. Was PC hier nicht berücksichtigen will, ist, daß die Spaltung in imperialistische Blöcke das logische Ergebnis der Konkurrenz zwischen den verschiedenen nationalen Teilen des Kapitalismus ist. Es handelt sich um eine Konkurrenz, die der Wesenskern dieses Systems selber ist und die sich zuspitzt, wenn die Krise in ihrer ganzen Gewalt zuschlägt. Deshalb rührt die Bildung von imperialistischen Blöcken keineswegs aus einer Tendenz, auch wenn sie noch unabgeschlossen ist, hin zur Vereinigung kapitalistischer Staaten, sondern sie ist das Ergebnis der Notwendigkeit der Bildung von Militärbündnissen, weil kein Staat allein in einen Krieg gegen alle anderen eintreten kann. Das Wichtigste bei der Bildung von Blöcken ist nicht die Konvergenz von Interessen, die zwischen verschiedenen verbündeten Staaten bestehen können, d.h. eine Konvergenz, die infragegestellt werden kann, wie sie die Bündniswechsel während des 20.Jahrhunderts mehrfach bewiesen haben. Wichtig ist vielmehr der grundlegende Widerspruch zwischen den Blöcken, der der höchste Ausdruck der unüberwindbaren Rivalitäten zwischen allen Nationalstaaten ist. Deshalb ist die Auffassung, es könnte einen Superimperialismus geben, logisch widersinnig.
Weil die IKP schwache bzw. leicht widerlegbare Argumente benutzt, fußt die Verwerfung der Auffassung vom Superimperialismus bei der IKP auf schwachen Beinen. Dadurch wird der Kampf gegen die Lügen der herrschenden Klasse abgeschwächt. Dies wird offensichtlich anhand des nächsten Teils des Zitates. "Die Menschenmassen und der Wille der Menschen müssen die Sachen ändern, die gegeneinander gerichtet sind, die eingesetzt werden, um ihre und andere Intelligenzen zu vernichten." Hier können wir sehen, wie schwach die Argumentation der IKP ist. Offen gesagt: in Anbetracht all der Mittel, über die heute die kapitalistischen Staaten verfügen, insbesondere die Atomwaffen, warum wäre da der Menschenwille und vor allem die Menschenmassen unabdingbar, um einen ausreichenden Grad der Zerstörung herbeizuführen, unter der Voraussetzung, daß dies, wie die IKP meint, die wirtschaftliche Funktion des imperialistischen Krieges wäre.
Schließlich bezahlt die bordigistische Strömung mit schwerwiegenden theoretischen und politischen Fehlern die Schwäche der Analyse, auf die sich ihre Position zum imperialistischen Krieg und zu den Blöcken stützt. Indem sie auf der einen Seite den Begriff des Superimperialismus zur Tür hinausjagen will, läßt sie mit dem Begriff eines russisch-amerikanischen Kondominiums den Begriff des Superimperialismus wieder zum Fenster herein. "Der 2.Weltkrieg hat ein Gleichgewicht hervorgebracht, das durch die Formel "russisch-amerikanisches Kondominium" richtig beschrieben wird...Wenn bislang der Frieden in den imperialistischen Metropolen regiert hat, dann vor allem auf Grund der Vorherrschaft der USA und der UdSSR." (PC Nr.91 S.47) "Tatsächlich spiegelte der kalte Krieg deutlich die Sicherheit der beiden Siegermächte des Konfliktes des Weltkrieges und die Stabilität der in Jalta festgelegten Gleichgewichte wider; dies entsprach den Bedürfnissen der ideologischen Mobilisierung und der Kontrolle der sozialen Spannungen, die innerhalb der Blöcke existierten. Der neue kalte Krieg, der an die Stelle der Entspannung in der zweiten Hälfte der 70er Jahre trat, spiegelte das Erfordernis der Kontrolle der Widersprüche nicht (noch nicht) zwischen den Klassen wider, sondern der Widersprüche zwischen den Staaten, die immer mehr Schwierigkeiten hatten, die alten Bündnissysteme zu ertragen. Die russische und amerikanische Reaktion auf den wachsenden Druck bestand darin, die politische Aggressivität ihrer Verbündeten in die Richtung des feindlichen Lagers zu lenken" (PC, Nr.92, S. 47)..
Kurzum der erste kalte Krieg hatte ihnen zufolge eigentlich nur einen ideologischen Hintergrund: die Widersprüche zwischen den Klassen im Griff zu halten. Hier wird wirklich die Welt auf den Kopf gestellt: Wenn es nach dem 1.Weltkrieg in der Tat eine Abschwächung der imperialistischen Spannungen gab und gleichzeitig eine Abschwächung der Kriegswirtschaft, dann geschah dies deshalb, weil die Bourgeoisie sich hauptsächlich damit befassen mußte, der revolutionären Welle von Kämpfen, die 1917 angefangen hatte, entgegenzutreten. Sie mußte eine gemeinsame Front gegen die Gefahr aufbauen, die vom tödlichen Feind aller Teile der Bourgeoisie, nämlich dem Proletariat, ausging. Während dagegen der 2.Weltkrieg sofort in die Entfaltung und Eskalation imperialistischer Widersprüche zwischen den beiden Hauptsiegermächten mündete, wobei die Kriegswirtschaft auf einem sehr hohen Niveau aufrechterhalten wurde. Hier liegt die Erklärung darin, daß die Gefahr, die von der Arbeiterklasse ausging, welche von der Konterrevolution geschwächt worden war, vollständig während des Krieges und unmittelbar nach dem Krieg aus der Welt geschafft worden war. Die Bourgeoisie hatte aus ihrer eigenen historischen Erfahrung gelernt. Folgt man der Auffassung von PC, war der Koreakrieg, der Indochinakrieg und später auch der Vietnamkrieg, und lassen wir all die Kriege im Nahen/Mittleren Osten außer acht, wo sich Israel, das fest von den USA unterstützt wurde, und die arabischen Staaten, die massiv Waffenlieferungen von der UdSSR bekamen, aufeinanderprallten, und sprechen wir nicht von den Dutzenden von Kriegen bis hin zum Krieg in Afghanistan 1980, die bis Ende der 80er Jahre dauerten, dann hatten all diese Kriege nichts mit einem grundlegenden Widerspruch zwischen den beiden großen imperialistischen Monstern zu tun, sondern waren nur irgendein Bluff, oder sie entsprachen nur einfachen ideologischen Kampagnen gegen die Arbeiterklasse oder vielleicht sogar der Notwendigkeit, daß jede der Supermächte in ihrem Herrschaftsbereich ihre Vorherrschaft aufrechterhalten wollte.
Darüber hinaus wird dieser Idee von PC selbst widersprochen, denn der Entspannung zwischen den beiden Blöcken am Ende der 50er bis Mitte der 70er Jahre schreibt PC die gleiche Funktion zu wie dem kalten Krieg. "Tatsächlich war die Entspannung nur die Antwort der beiden Supermächte auf die Bruchlinien, die immer offensichtlicher in ihren Einflußbereichen auftraten. Die Entspannung bedeutete, daß Moskau und Washington starken Druck auf ihre Verbündeten ausübten, um ihre zentrifugalen Bestrebungen einzudämmen." (PC Nr.92 S.43)
Es stimmt, daß die Kommunisten nie das für bare Münze nehmen dürfen, was die Bourgeoisie und ihre Historiker sagen. Aber zu behaupten, daß bei den meisten Kriegen (mehr als 100), die von 1945 bis Ende der 80er Jahre die Welt erschüttert haben, nicht die Großmächte ihre Finger im Spiel hatten, bedeutet die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Gleichzeitig heißt das, das in Frage zu stellen, was die IKP selbst richtigerweise sagt: "Der latente Konflikt zwischen Staaten bricht zunächst auf in Gestalt von begrenzten militärischen Konflikten, die zunächst auf bestimmte geographische Gebiete lokal begrenzt bleiben, in denen die Großmächte nicht direkt zusammenprallen, sondern deren Stellvertreter". Die IKP kann immer den Widerspruch zwischen dem, was sie erzählt, und der Wirklichkeit oder die Unterschiede zwischen ihren verschiedenen Argumenten durch die "Dialektik" erklären. Damit beweist sie aber vor allem, daß theoretische Strenge nicht gerade ihre Stärke ist, und daß sie manchmal einfach irgendetwas erzählt, was nicht gerade bedeutet, daß sie den Lügen der herrschenden Klasse wirksam entgegentreten kann und das Bewußtsein des Proletariats verstärkt.
Genau hierum geht es, und all das erreicht die Stufe einer Karikatur, wenn die IKP sich auf einen Artikel von Bordiga aus dem Jahre 1950 stützt, um die Lügen des Pazifismus zu bekämpfen. In diesem Artikel stellt die IKP die Entwicklung der Stahlproduktion als das Hauptindiz und gar als einen Faktor dar, der die Entwicklung des Kapitalismus selber widerspiegelt. "Der Krieg im Zeitraum des Kapitalismus, d.h. die schrecklichste Art von Kriegen, ist eine Krise, die unausweichlich durch die Notwendigkeit hervorgerufen wird, den hergestellten Stahl zu verbrauchen und für das Monopolrecht auf die zusätzliche Stahlproduktion zu kämpfen" ("Seine Majestät der Stahl", Battaglia Comunista Nr. 18, 1950).
Immer noch von dem Willen getrieben, dem Krieg eine 'rationale' Begründung zu geben, gibt die IKP zu verstehen, daß der imperialistische Krieg nicht nur etwas Gutes für den Kapitalismus sei, sondern auch für die gesamte Menschheit und damit auch für die Arbeiterklasse. "Die Verlängerung des bürgerlichen Friedens über die durch den ökonomischen Zyklus bestimmten Grenzen hinaus, könnte, selbst wenn dies möglich wäre, nur zu noch schlimmeren Situationen führen als der Krieg uns schon bietet". Dem folgt ein Zitat aus einem Artikel Bordigas, der einen Preis wert ist!
"Hören wir auf anzunehmen, daß es anstatt der beiden Weltkriege den bürgerlichen industriellen Frieden gegeben hätte. In ungefähr 35 Jahren ist die Stahlproduktion ca. 20 mal gestiegen. Diese Stahlproduktion wäre 20mal höher gewesen als die 70 Mio.t von 1915, sie würden also heute (d.h. 1950) 1.400 Mio. t betragen. Aber all dieser Stahl kann nicht gegessen, verbraucht, nicht zerstört werden, sondern dient nur den Massakern der Völker. Die 2 Mrd. Menschen wiegen ca. 140 Mio. Tonnen. Sie würden innerhalb eines einzigen Jahres 10 mal mehr Stahl produzieren als ihr eigenes Gewicht. Die Götter bestraften Midas, indem sie ihn in eine Masse Gold verwandelten - das Kapital würde die Menschen zu einer Masse Stahl, Erde, Wasser und Luft verwandeln, in der sie in einem Metallgefängnis lebten. Der bürgerliche Frieden bietet also noch bestialischere Perspektiven als der Krieg"
Hier befindet sich Bordiga schlechthin im Delirium, was diesem Revolutionär leider oft genug passierte. Aber anstatt sich gegenüber diesen Ausführungen zu distanzieren, geht die IKP im Gegenteil noch weiter: "Vor allem wenn man davon ausgeht, daß der Boden, der in Stahlsärge umgewandelt worden wäre, ein Ort des Verfaulens wäre, wo überflüssige Waren und Menschen friedlich verfaulten. Seht ihr Pazifisten, was das Ergebnis eurer "Rückkehr zur Vernunft" der Regierungen, ihre Hinwendung zur "Friedenskultur" bringen würde. Aber genau deshalb handelt es sich nicht um Wahnsinn, sondern um Vernunft - natürlich um die Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft, die alle Regierungen in den Krieg treibt - hin zum heilsamen und hygienischen Krieg" (PC, Nr. 92, S. 54).
Als Bordiga diese Zeilen schrieb, auf die sich die IKP beruft, verwarf er eine der grundlegenden Analysen des Marxismus. Der Kapitalismus produziert Waren. Und wer Waren sagt, spricht von der Möglichkeit ein Bedürfnis zu befriedigen, so pervertiert dies auch sein mag, wie das Bedürfnis nach Mordinstrumenten und Zerstörungsmitteln seitens der kapitalistischen Staaten. Wenn er Stahl in großen Mengen produziert, dann um zum großen Teil die Nachfrage des Staates nach Rüstungsgütern zu befriedigen. Aber diese Produktion kann nicht über die Nachfrage des Staates hinausgehen: wenn die Stahlindustrie ihren Stahl nicht mehr an das Militär verkaufen kann, weil dies schon ausreichend Massen Stahl aufgekauft hat, werden die Stahlproduzenten ihre Produktion nicht lange fortsetzen können, bevor sie in Konkurs gehen, denn die Produktion findet keine Käufer mehr. Sie sind nicht wahnsinnig. Bordiga jedoch ist schon ein wenig wahnsinnig, wenn er sich vorstellt, daß die Stahlproduktion endlos lange fortgesetzt werden könnte, ohne auf eine andere Grenze als die der Zerstörung durch den imperialistischen Krieg zu stoßen.
Es ist ein Glück für die IKP, daß das Lächerliche nicht tötet (und Bordiga ist ja auch nicht daran gestorben). Wahrscheinlich würden die Ausführungen der IKP und der dahinterstehenden sie inspirierenden Kraft auf ein großes Lachen in den Reihen der Arbeiter stoßen. Aber es ist deshalb umso bedauernswerter, daß die IKP solche Auffassungen vertritt. Indem sie sich auf stupide und lächerliche Argumente gegen den Pazifismus einläßt, stärkt sie nicht die Seite des Proletariats, sondern seines Gegners.
Die Sache hat jedoch auch eine gute Seite. Bei der Rechtfertigung der "Rationalität des Krieges" zerstört die IKP gleichzeitig die ganze Idee. Die IKP tritt nämlich für eine Perspektive ein, bei der das Proletariat Gefahr läuft, gegenüber dem Krieg desorientiert, hilflos dazustehen, weil dadurch die Gefahr, welcher der Kapitalismus für die Menschheit bedeutet, unterschätzt wird. Dies wird deutlich in der folgenden Behauptung der IKP: "Daraus geht auch hervor (aus dem Krieg als einem Ausdruck einer "ökonomischen Vernunft"), daß der inter-imperialistische Kampf und der Zusammenstoß zwischen rivalisierenden Mächten nie zur Zerstörung des Planeten führen kann, weil es sich nicht um exzessive imperialistische Gier handelt, sondern um die Notwendigkeit die Überproduktion zu überwinden. Wenn der Überschuß zerstört ist, steht die Kriegsmaschinerie still, unabhängig von dem Zerstörungspotential der eingesetzten Waffen, denn gleichzeitig verschwinden auch die Kriegsursachen" (PC, Nr. 92, S. 55).
Wir werden in einem weiteren Artikel auf die dramatische Unterschätzung der imperialistischen Kriegsgefahr eingehen, zu der die IKP kommt, und insbesondere auf die politische Entwaffnung, die die politischen Aussagen dieser Organisation für die Arbeiterklasse bedeuten.
FM, aus International Review, Nr. 77, 2. Quartal 1994, Erstveröffentlichung auf deutsch in Internationale Revue Nr. 15, 1994
Noch nie wurde die Landung der Alliierten (D-Day, Decision-Day) am 6. Juni1944 mit soviel Aufwand und Medienspektakel wie in diesem Jahr gefeiert. Nochnie war der Sieg der Alliierten in Europa mit solch einer Gehirnwäsche in denMedien aufgebauscht worden. Das Ziel besteht wieder einmal darin, dasimperialistische Wesen des Holocaustes des 2. Weltkriegs zu übertünchen, wiesie es übrigens schon mit dem 1. Weltkrieg taten. Nicht nur zieht dieBourgeoisie wieder das alte faschistische Schreckgespenst hervor. Sie mussviele Erscheinungen der jetzigen zerfallenden kapitalistischen Gesellschaftselbst für ihre Propaganda einsetzen. In Deutschland wird jetzt nach demZusammenbruch des Ostens, nach der Wiedervereinigung viel Aufheben gemacht umdie Anhänger eines "Großdeutschlands" - das von Skinheads undanderen Rechtsradikalen so laut gefordert wird. Der Mord an Türken undBrandanschläge gegen Ausländer werden mediengerecht so dargestellt, dass essich jeweils um "Feinde der Demokratie", Erben der "neuen brauenPest" handelt. Wenn Neo-Nazi-Schlägerbanden Ausländer verprügeln, wirddas in den Medien so präsentiert: "Nazi-Banden jagen Ausländer in denStraßen von Magdeburg"... und wir sollen glauben, es sei alles wieder wiein den 30er Jahren unter Hitler. In Italien hat der Demagoge Berlusconi dieRegierungsgeschäfte übernommen und ernannte drei Rechtsradikale als Minister.Kurz danach ließ der Stadtrat von Vicenza einen Marsch einiger Hundert Neonazismit Hakenkreuz-Fahnen zu. Plötzlich warnen die Politiker vor einem neuen"Marsch auf Rom". Der wirkliche Marsch wurde von der bürgerlichenLinken am 25. April organisiert. Dieser Marsch zog nämlich trotz Regens ca.300.000 Menschen an, die sich unter der Fahne des Antifaschismus versammelten.Die propagandistische Trickkiste, so wie wir sie seit der Zeit nach dem 2.Weltkrieg kennen, wurde wieder ausgepackt.
In Frankreich warnen sowohl die Führer der KP als auch der SozialistischenPartei vor der faschistischen Gefahr, nachdem sie jahrelang den Führer derNationalen Front Le Pen als Schreckgespenst dargestellt haben. Als ein DutzendWaffen-SS Veteranen die Strände der Normandie mit ihrem Besuch"beehrten", musste dies als ein Beispiel für die wachsende Bedrohungdurch die "Feinde der Demokratie" herhalten.
Die 50 Millionen Kriegstoten werden von den Medien, angefangen von CNN bishin zur kleinsten Lokalzeitung, als die Opfer ausschließlich der Nazisdargestellt. In den meisten europäischen Staaten wird viel Aufheben gemacht umdie Aktionen von rechtsextremen Gruppen. Gerade rechtzeitig bringt Hollywoodeinen Film raus über das Massaker an den Juden in Europa (Schindlers List). DerIdealismus der tapferen GIs, die zu Tausenden an den Küsten der Normandie imNamen der Freiheit starben, wird hochgelobt.
Diese militärischen Feiern vermeiden sorgfältigst die Verbrechen der"siegreichen Demokratien"[1]. Dabei reichen deren Verbrechenaus, um die Führer dieser Staaten in die gleiche Gesellschaft einzuordnen wieHitler, Mussolini und Hirohito. Aber selbst dieses Denken ist eine Konzessionan die Personifizierung von "Kriegsverbrechen". Die Diktatoren warenalle nur "untergeordnete" Schergen, denn die herrschende Klasse, dieBourgeoisie, ist als Klasse insgesamt der Hauptkriegsschuldige. Als Goebbelserklärte, wenn man eine Lüge nur oft genug wiederhole, dann werde daraus eineWahrheit, zog sein zynisches Gegenstück, Churchill, nach und sagte: "InKriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer durch einen Berg von Lügengeschützt werden muss"[2].
Die meisten Rekruten zogen kaum mit Enthusiasmus in den Krieg, da dasTrauma des 1. Weltkriegs noch auf ihnen lastete, weil die Generation ihrer Vätergerade 20 Jahre zuvor im Krieg dezimiert worden war. Die große Flüchtlingsbewegungin Frankreich, der Terror, den der Nazi-Staat gegen die deutsche Bevölkerungausübte, die massiven Verschleppungen von ganzen Bevölkerungsteilen in denstaatskapitalistischen stalinistischen Regimen, all das wird heute in denZeitungsberichten verschwiegen. All die angeblich "objektiven" Dokumentationenund Artikel bringen immer nur einen Namen "Hitler"! Ähnlich wie imMittelalter, als die Pest als eine Strafe, von Gott geschickt, aufgefasstwurde. Im dekadenten Kapitalismus hat jetzt die herrschende Klasse eine neueGeißel gefunden: die braune Pest. In der Geschichte haben die herrschendenKlassen immer ein neues Übel erfunden, um eine Interessensgemeinschaftzwischen den Unterdrückten und ihren Unterdrückern herbei zu schwören. DiePersonifizierung der Ereignisse um Diktatoren oder alliierte Generale ist nützlich,um die Tatsache zu übertünchen, dass sie nichts anderes als ausführende Organeihrer jeweiligen Bourgeoisie waren. Namen werden in den Vordergrund gestellt,um dafür zu sorgen, dass die gesellschaftlichen Klassen in Kriegszeiten verschwinden.In einem neuen Kreuzzug gegen das Böse soll jeder sich in diese Einheiteinreihen.
1933 - das Jahr der Machtübernahme durch Hitler, war ein Schlüsseljahr. Wiedie Revolutionäre um BILAN zeigten, nicht weil es eine "Niederlage derDemokratie" gegeben hätte, sondern weil es ein entscheidender Sieg derKonterrevolution war, vor allem in dem Land, wo die Arbeiterklasse zuvor am stärkstengewesen war. Die Machtübernahme durch Hitler kann nicht nur allein durch denentwürdigenden Versailler Vertrag erklärt werden, der Deutschland wegen derReparationszahlungen auf die Knie zwang. Insbesondere weil die Arbeiterklasseals Gefahr für die herrschende Klasse von der Bühne der Geschichte verschwand.
In Russland fing der Staat an, Bolschewiki und revolutionäre Arbeiter imgroßen Maßstab zu massakrieren. All das geschah mit der schweigenden Zustimmungder westlichen Demokratien, die vorher schon die weißen Armeen aufgestellthatten, welche ab 1919 in Russland eingefallen waren, um die damaligeArbeitermacht zu bekämpfen. In Deutschland hatte das sozialdemokratischeRegime der Weimarer Republik Hitlers Schergen den Platz überlassen nach derenSieg bei den republikanischen Wahlen. Die "sozialistischen" Führer,die für das Massaker an den deutschen Arbeitern verantwortlich waren - Scheidemann,Noske usw. - gaben ihr Mandat demokratisch ab. Sie wurden während derdarauffolgenden 5 Jahre Nazi-Herrschaft nie wirklich bedrängt.
Die Kämpfe in Spanien und Frankreich während der 30er Jahre waren nur nochAusläuferstreiks in Anbetracht der Niederlage, die die Arbeiterklasseinternational erlitten hatte. Der Wahlsieg der Faschisten in Italien undDeutschland war nicht die Ursache dafür, sondern sie war das Ergebnis derNiederlage der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain. Als sie denFaschismus hervorbrachte, erfand die Bourgeoisie keine neue Art Regime,sondern einen Staatskapitalismus, wie er unter Roosevelts New Deal oder unterStalins Kapitalismus vorhanden war. In Kriegszeiten vereinigen sich die Fraktionender Bourgeoisie ihrem Wesen nach auf nationaler Ebene, da sie die proletarischeGefahr weltweit ausgeschaltet haben - und diese Vereinigung kann die Form derNazi- oder stalinistischen Parteien annehmen.
Die "wachsende Gefahr" wurde in Komplizenschaft mit Stalin und derrussischen Bourgeoisie von den Vasallen der Kommunistischen Partei des neuenrussischen Imperialismus organisiert. Es geschah unter dem Deckmantel derIdeologie der "Volksfront", die eine Desorientierung der Arbeiterbewirkte, nachdem sie sich für das Programm der nationalen Einheit und dieVorbereitungen für den imperialistischen Krieg einspannen lassen sollten.
Die französische KP zog 1935 die Nationalflagge, die Trikolore, hoch, alssie den Laval-Stalin-Pakt unterzeichnete, wodurch die Arbeiter ins Massakergetrieben wurden: "Falls Hitler trotz alledem einen Krieg anfängt, sollteer wissen, dass er dem vereinten französischen Volk entgegentreten muss, mitden Kommunisten an vorderster Front, um die Sicherheit des Landes und dieFreiheit und Unabhängigkeit des Volkes zu verteidigen". Die KP brach inSpanien die letzten Streiks und ließ Arbeiter mit Hilfe der GPU (StalinsGeheimpolizei) niederschießen, bevor Franco deren schmutzige Arbeit abschloss.Die stalinistischen Führer flüchteten dann nach Frankreich und Russland, genauwie de Gaulle und Thorez (Führer der KPF), als diese jeweils nach London undMoskau flüchteten.
DER WEG ZUM IMPERIALISTISCHEN KRIEG
Von 1918 bis 1935 hatte es weltweit viele Kriege gegeben, aber sie hattennoch nicht Europa erfasst. Oder es gab "Befriedungskriege" wie diedes französischen Imperialismus in Syrien, Marokko und Indochina. Revolutionärewie die Gruppe BILAN sahen die ersten Warnsignale mit dem Krieg in Äthiopien,wo auch der britische Imperialismus und die Armee Mussolinis beteiligt waren.Es diente den Interessen der westlichen Verbündeten, als sie Faschismus mitKrieg identifizieren konnten. Die Schuld für den nächsten Weltkrieg konntesomit leicht dem Faschismus angelastet werden. Das faschistische Schreckgespensterschien noch größer nach dem Sieg Francos 1939 in Spanien. Die Propaganda derAlliierten konnte "mit Recht" auf die Hunderttausende Flüchtlinge,die Opfer des Franco-Regimes waren, weisen. Es folgte eine Zeit des"status quo", als ein "Friede gesucht" wurde, währendDeutschland das Rheinland militärisch wieder besetzte und 1938 den"Anschluss" Österreichs betrieb. Der Münchner Konferenz vom 30.Sept.1938 folgte im Oktober des gleichen Jahres die Besetzung des tschechischenSudetenlandes. Die Tschechen waren noch nicht einmal zur Konferenz nach Müncheneingeladen worden, und als Deutschland im März 1939 die Tschechoslowakeiselber besetzte, rührten weder Frankreich noch England einen Finger. Daladierund Chamberlain wurden nach ihrer Rückkehr aus München enthusiastisch von denMassen begrüßt, die glaubten, "der Friede" sei gerettet. Tatsächlichspielten aber beide Seiten auf Zeitgewinn. Offizielle Historiker haben sichseitdem damit begnügt, die unzureichende Bewaffnung Frankreichs und Großbritanniensals Erklärung anzuführen. Tatsächlich aber waren die Kriegsbündnisse nochnicht ganz fest gezurrt worden. Die deutsche Bourgeoisie spielte noch mit derHoffnung eines Bündnisses mit Frankreich und Großbritannien gegen Russland. Dasdeutsche Volk war ebenso wie die Menschen in Großbritannien und Frankreichhinters Licht geführt worden: "... Die Deutschen begrüßten auch Chamberlainstürmisch, weil sie in ihm den Retter vor dem Krieg sahen. Mehr Menschen kamenzu seiner Begrüßung als zu der von Mussolini... München war voll von UnionJacks (britische Fahne), die Massen außer sich vor Freude. Als Chamberlain nachEngland zum Flughafen Heston zurückkehrte, wurde er wie ein Messias empfangen.In Paris wurde eine öffentliche Spendensammlung eingeleitet, um dem britischenPremierminister ein Geschenk zu machen"[3].
1937 leitete Japan seine Besetzung Chinas ein, eroberte Peking und bedrohtedamit die US-Vorherrschaft im Pazifik. Am 24. August 1939 kam es mit demdeutsch-russischen Pakt (Hitler-Stalin-Pakt) zum Paukenschlag. Hitler hattesomit freie Hand, Westeuropa anzugreifen. In der Zwischenzeit fiel dieWehrmacht am 1. Sept. 1939 in Polen ein. Auch Russland marschierte in Polen ein.Zögerlich erklärten die französische und britische Regierung Deutschland zweiTage später den Krieg. Die italienische Armee eroberte Albanien. Ohne förmlicheKriegserklärung landete die Wehrmacht im April 1940 in Norwegen.
Die französische Armee begann die Saar-Offensive, aber sie kam nach dem Todvon Tausenden von Soldaten zum Stehen. Danach erklärte Stalin, der damit seineAnhänger zum Narren hielt, welche erklärt hatten, der Hitler-Stalin-Pakt seiein Pakt mit dem Teufel, um Hitler vom Angriff gegen Westeuropa abzuhalten:"Nicht Deutschland hat Frankreich und Großbritannien angegriffen, sondernFrankreich und Großbritannien haben Deutschland angegriffen.... Nach dem Beginnder Feindseligkeiten machte Deutschland Frankreich und Großbritannien Friedensangebote,und die Sowjetunion unterstützte offen die deutschen Vorschläge. Die führendenPolitiker Frankreichs und Großbritanniens verwarfen die deutschen Friedensvorschlägeschroff und die Versuche der Sowjetunion, den Krieg schnell zu beenden".
Niemand wollte gegenüber der Arbeiterklasse die Verantwortung für die Auslösungdes Krieges übernehmen. Nach dem Krieg gab es plötzlich keine"Kriegsministerien" mehr sondern nur noch"Verteidigungsminister". Auch fällt auf, dass der Nazi-Staat starkdaran interessiert war, als der "angegriffene Staat" zu erscheinen.Albert Speer bemerkt in seinen Memoiren die folgende Erklärung Hitlers:"Wir werden nicht den gleichen Fehler machen wie 1914. Wir müssen jetztunserem Feind die Schuld in die Schuhe schieben". Am Vorabend desKrieges mit Japan wiederholte Roosevelt die gleiche Aussage: "DieDemokratien dürfen nie als der Aggressor erscheinen". 9 Monate Abwarten, mit Gewehr bei Fuß, bestätigendieses Zögern all der Kriegsteilnehmer. Der Historiker Pierre Miquel stelltfest, dass Hitler den Angriff gegen den Westen nicht weniger als 14-malaufgrund mangelnder deutscher Vorbereitungen und schlechter Wetterbedingungenaufschob.
Am 22. Juni 1941 marschierte Deutschland in die Sowjetunion ein, wodurchder "brillante" Stratege Stalin völlig überrascht wurde. Am 8.Dezember, nachdem der amerikanische Imperialismus seine eigenen Soldaten inPearl Harbour hatte umbringen lassen (die US-Geheimdienste hatte den japanischenAngriff vorhergesagt), erklärten die USA, und nachdem sie sich als Opfer der japanischen Angriffedarstellten, Japan den Krieg. Schließlich erklärten dann Deutschland undItalien am 11. Dezember 1941 den USA den Krieg.
Einige Bemerkungen sind hier notwendig nach dem kurzen Überblick über den"diplomatischen Weg" zum Weltkrieg, nachdem die Arbeiterklasse zumSchweigen gebracht worden war. Die beiden lokalen Kriege (Äthiopien undSpanien) hatten schließlich die Faschisten nach Jahren der Medienpropaganda inEuropa als "Kriegstreiber" dargestellt. Die militärischen Aufmärscheund Paraden Hitlers und Mussolinis waren sicher besser organisiert als diefranzösischen Feiern zum 14. Juli oder die amerikanischen und britischenNationalfeiern, aber sie waren nicht weniger absurd. Zwei weitere Kriege imHerzen Europas (Tschechoslowakei und Polen) führten zur schnellen Niederlageder mit ihnen verbündeten "Demokratien". Nachdem der Tschechoslowakei(und Spanien) keine Unterstützung gewährt wurde, zwang sich die"Verteidigung der Demokratie" und der bürgerlichen Freiheiten nachder Besetzung Polens durch die "totalitären Regime" Russlands undDeutschlands geradezu auf. Politisch-diplomatische Manöver können sich überJahre hinziehen. Aber bewaffnete Konflikte können Auseinandersetzungen innerhalbkürzester Zeit durch Waffen regeln - zum Preis eines gewaltigen Abschlachtens.Der Krieg wurde erst wirklich nach einem Jahr zu einem Weltkrieg, nachdemDeutschland Großteile Europas erobert hatte. Mehr als 4 Jahre lang unternahmendie USA keinen entscheidenden Schlag gegen die Invasoren, womit die deutscheWehrmacht in Europa den Gendarmen spielen konnte. Die USA, die weit entferntvon Europa sind, waren anfänglich mehr um ihre Vorherrschaft wegen der japanischenBedrohung im Pazifik besorgt. Der Weltkrieg dauerte länger als die vorherigenlokalen Kriege, und dies kann nicht allein aufgrund der Stärke der Wehrmachterklärt werden oder der verschiedenen Wendungen der imperialistischen Diplomatie.Es ist zum Beispiel gut bekannt, dass ein Teil der amerikanischen Bourgeoisieviel lieber mit der deutschen Bourgeoisie zusammengegangen wäre, anstatt sichmit dem "kommunistischen" Regime Stalins zusammenzuschließen. Genausohatte die deutsche Bourgeoisie vergeblich versucht, sich mit Frankreich undEngland gegen Stalin zusammenzuschließen. 1940 und 1941 erhielt die englischeBourgeoisie von Hitler Friedensangebote, bevor es zur Operation"Barbarossa", dem Feldzug gegen Russland, kam. Das Gleiche, als MussolinisArmee in Nordafrika eine Niederlage erlitt. Die britische Regierung zögerte umsomehr, da sie dazu neigte, alles zu tun, damit die beiden großen "totalitärenRegime" sich gegenseitig dezimierten. Aber es wäre ein Fehler hierstehenzubleiben und zu glauben, dass die Hauptkraft, die dem Kriegstreiben derBourgeoisie entgegensteht, das Proletariat, einfach von der Bildflächeverschwunden wäre, nur weil die Herrschenden einen das Volk"vereinigenden" Krieg wollten.
Die Marxisten können nicht einfach abstrakt den Krieg als solchenuntersuchen, unabhängig von der jeweiligen historischen Phase. Im 19.Jahrhundert, in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, war der Krieg einunabdingbares Mittel zur Eröffnung neuer Entwicklungsmöglichkeiten. Kanonenwurden damals zur Eroberung neuer Märkte eingesetzt. Dies wurde von der GaucheCommuniste de France (GCF) im Jahre 1945 aufgezeigt. Sie war eine der wenigenGruppen, die während des Krieges dem proletarischen Internationalismus treugeblieben war. "In der Dekadenzphase, wo der Kapitalismus historischgesehen alle Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, bietet der moderne,d.h. der imperialistische Krieg, der Ausdruck dieser Dekadenz ist, keineweitere Entwicklungsmöglichkeit der Produktion. Der Krieg führt nur zur Zerstörungder Produktivkräfte und zum Aufhäufen einer Ruine nach der anderen... Je mehrdie Märkte schrumpfen, desto verbissener wird der Kampf um den Besitz anRohstoffen und die Kontrolle des Weltmarktes. Der wirtschaftliche Kampf zwischenverschiedenen kapitalistischen Gruppen spitzt sich mehr und mehr zu; er nimmtimmer mehr die Gestalt des Kampfes zwischen den Staaten an. Der auf die Spitzegetriebene ökonomische Kampf zwischen Staaten kann letzten Endes nur durchmilitärische Gewalt gelöst werden. Der Krieg wird zum einzigen Mittel, mit demjedes nationale Kapital versucht, die Schwierigkeiten zu lösen, vor denen essteht. Dies geht nur auf Kosten der imperialistischen Rivalen"[4].
DIE NATIONALE EINHEIT WÄHREND DESKRIEGES
Die bürgerlichen Historiker hängten die schnelle Niederlage der altenkontinentalen Großmacht Frankreich nicht besonders hoch an die Glocke. Nichtnur die klimatischen Bedingungen hatten den Angriff der Wehrmacht hinausgezögert.Der deutsche Staatsapparat hatte Hitler nicht zufällig gewählt, denn diedeutsche Staatsführung, das waren keine Dummköpfe. Es wurden geheime diplomatischeVerhandlungen geführt. Selbst mitten während des Krieges kann es zu einerUmkehr von alten Allianzen kommen. Darüberhinaus war sich die deutscheBourgeoisie immer dessen bewusst, dass ausgehend von Erinnerungen an denAufstand der Arbeiter und Soldaten 1918, die Ernährungsfrage von hochrangigerBedeutung ist. 1938 befand sich eine herrschende Klasse in Deutschland an derMacht, welche das Erbe der 1. Weimarer Republik übernommen hatte, die dank derNiederschlagung der proletarischen Revolution von 1918/1919 entstanden war.Die Bataillone der SS waren aus den alten Freikorps zusammengestellt, die dieMassaker an den aufständischen Arbeitern 1918/1919 übernommen hatten. Wederder Aufstand der Kommune von Paris 1870, noch die Oktoberrevolution 1917, nochdie Kämpfe in Deutschland 1919 waren vergessen worden. Auch wenn sie politischgeschlagen war, blieb die Arbeiterklasse für die Bourgeoisie eine gefährlicheKlasse.
Der schnelle Sieg des deutschen Imperialismus in der Tschechoslowakei warein Ergebnis des Nervenkriegs, des Bluffs, geschickter Manöver und vor allemder Spekulation um die Angst aller Regierungen wegen der Folgen einesKrieges gewesen, falls dieser zu schnell ohne entsprechende Unterwerfung derArbeiterklasse ausgedehnt worden wäre. Während die französischen Generalenoch mit dem alten Konzept des Stellungskriegs von 1914 verbunden waren, hatteder deutsche Generalstab seine Kriegsstrategie "modernisiert" unddie Taktik des Blitzkrieges eingeführt. Nur langsam vorzurücken, ohne hartzuzuschlagen, bedeutet aus dieser Blitzkriegssicht (während des Golfkriegeswurde dies wieder bestätigt) eine sichere Niederlage anzusteuern. Schlimmernoch, denn je zerbrechlicher die Unterstützung für den Krieg innerhalb derBevölkerung ist, bedeutet jeder Zeitverschub, jedes Hinauszögern, dass diekriegsführenden Soldaten selbst untereinander über die Fronten hinwegKontakt aufnehmen können und damit das Risiko von Erhebungen und sozialen Explosionenanwächst. Im 20. Jahrhundert ist die Arbeiterklasse zweifelsohne zum erstenBataillon gegen den imperialistischen Krieg geworden. Hitler selbst meinte gegenüberAlbert Speer, die "Industrie ist ein Faktor, der für die Entwicklung desKommunismus günstig wirkt". Hitler ging auch davon aus, dass nach derEinführung von Zwangsarbeitsmaßnahmen in Frankreich im Jahre 1943 die Möglichkeitvon Arbeitsniederlegungen und Streiks, welche die Produktion bremsen würden,ein Risiko sei, das man in Kriegszeiten eingehen müsse. Die deutscheBourgeoisie hatte also so etwas wie einen bismarckschen Reflex. Denn Bismarckwar während des Aufstands der Pariser Arbeiter in der Pariser Kommune gegendie französische Bourgeoisie mit dieser Erfahrung konfrontiert worden.Damals war der Vormarsch der deutschen Truppen blockiert worden. Die deutscheBourgeoisie fürchtete damals die Ausbreitung dieses Aufstandes unter dendeutschen Arbeitern und Soldaten. 1918 hatten schließlich auch die deutschenArbeiter und Soldaten, angespornt durch die Revolution in Russland, durch dieEntfaltung des Bürgerkrieges gegen ihre eigene Bourgeoisie reagiert.
In Frankreich fand jedoch so etwas wie ein Ermüdungskrieg nach demabrupten Ende der ersten deutschen Militäroffensive statt. Deutschland wolltesich vor allem einen Lebensraum im Osten eröffnen und zog es sogar vor, sicheher mit den beiden westlichen "demokratischen" Ländern zu verbünden,anstatt einen Großteil seiner militärischen Kapazitäten für deren Besetzungzu verschwenden. Deutschland unterstützte die Kriegspartei Lavals und Doriots,die alte Pazifisten waren und sich zuvor auf den Sozialismus berufen hatten.Diese pro-faschistischen Fraktionen waren jedoch eine Minderheit, die für eindeutsch-französisches Bündnis eintrat. Die gesamte Bourgeoisie war sehr besorgtwegen der mangelnden Mobilisierung des französischen Proletariats für denKrieg. Die Arbeiterklasse war in Frankreich nicht mit Bajonetten undFlammenwerfern niedergeworfen worden wie die Arbeiterklasse in Deutschlandzwischen 1918-23.
Die deutsche Bourgeoisie musste also auch in Frankreich vorsichtigvorgehen, denn sie wusste, dass Frankreich sowohl militärisch als auch gesellschaftlichzerbrechlich war. Der Beweis war das langsame Auseinanderfallen der französischenBourgeoisie zwischen auf der einen Seite den feigen Militärs und denPazifisten, die sich bald als Kollaborateure mit dem Besatzungsregimeherausstellten, und die für die Kontrolle der Arbeiter zu sorgen hatten.
Die Volksfront hatte entscheidend zur Aufrüstung beigetragen und damitauch zur politischen Entwaffnung der Arbeiter. Aber sie hatte es nicht geschafft,die nationale Einheit vollständig herzustellen. Die Polizei hatte vieleStreiks zerschlagen und Hunderte militante Arbeiter verhaftet, die zwar nichtalle klare Vorstellungen davon hatten, wie sie sich dem Kriege entgegenstellensollten, die aber trotzdem gegen den Krieg waren. Der linke Flügel der französischenBourgeoisie hatte die Arbeiter mit dem Schwindel der Volksfront beruhigt, diein dieser Situation den Arbeitern den "bezahlten Urlaub" zugestand,während die Arbeiter in diesem Urlaub für den Krieg selbst mobilisiert wurden.Der Einfluss der pazifistischen links-extremen Fraktionen des Kapitalsverhinderte gleichzeitig, dass eine wahre Klassenalternative aufkam. In Ergänzungzur Sabotagearbeit der Stalinisten veröffentlichten die Anarchisten, die inden Gewerkschaften noch über großen Einfluss verfügten, im September 1939 einFlugblatt "Frieden sofort!", das von einer Handvoll von Intellektuellenunterzeichnet war: "Keine Blumen am Gewehr, keine Heldenlieder, keineHurra-Rufe an die Soldaten, die an die Front ziehen. Es wird behauptet, dassdies in allen kriegsführenden Ländern so sei. Der Krieg wird vom ersten Tag anvon allen Seiten - vor und hinter der Front verurteilt -. Schließen wirschnell den Frieden".
Der "Frieden" kann aber nicht die Alternative gegenüber demKrieg im dekadenten Kapitalismus sein. Solche Resolutionen dienen nur dazu,die Tendenz zu stärken, "Rette sich wer kann", m.a.W. dass individuelleLösungen wie Flucht ins Ausland für die Bessergestellten angestrebt werden. DieVerwirrung in den Reihen der Arbeiter nimmt damit nur zu, ihre Sorgen und ihrBestreben etwas zu tun, können nicht wirklich zum Ausdruck kommen, sondernverfangen sich in den Reihen der linken und extrem-linken Parteien und Gruppierungen,die diese wiederum dann auf ein antifaschistisches Terrain ziehen, auf demangeblich ihre Interessen verteidigt werden.
Die französische Gesellschaft brach jedoch so stark auseinander, dass diedeutsche Armee kurz nach der ersten großen Bombardierung von Rotterdam (40.000Tote) am 10. Mai 1940 ohne auf großen Widerstand zu stoßen die zerbrechlicheMaginot-Linie in Frankreich überschreiten konnte. Die Offiziere der französischenArmee flüchteten als erste und ließen ihre Truppen zurück. Die niederländische,belgische, luxemburgische Bevölkerung wie des Nordens Frankreichs, Pariseingeschlossen, flüchtete in großen Scharen Richtung Süden und nach Mittel- undSüdfrankreich. So kam es zu einer der größten Massenfluchtbewegungen. Diese"mangelnde Widerstandsbereitschaft" der Bevölkerung wurde ihr spätervon den Ideologen des Maquis (unter denen viele wie Mitterand und die"sozialistischen" Führer Belgiens und Italiens erst von 1942 ihreWeste gewechselt haben) vorgeworfen, um nach dem Krieg alle möglichen Erpressungsversuchezu unternehmen, damit die Arbeiterklasse sich für den Wiederaufbau opferte.
Der Blitzkrieg hinterließ jedoch mehr als 90.000 Tote und mehr als 120.000Verletzte auf französischer und 27.000 Tote auf deutscher Seite. DieserBlitzkrieg brachte für mehr als 10 Millionen Menschen unvorstellbare Lebensbedingungen.1.5 Millionen Menschen wurden als Gefangene nach Deutschland verfrachtet. Natürlichist das wenig im Vergleich zu den 50 Millionen Kriegstoten insgesamt.
In Europa litt dann die Zivilbevölkerung unter den schlimmsten Verlusten,die es jemals in Kriegszeiten gegeben hatte. Noch nie waren so viele Frauen undKinder im Krieg gefallen. Die Zahl der zivilen Opfer überstieg zum ersten Malin der Weltgeschichte die Zahl der toten Soldaten.
Mit einem nahezu bismarckschen Reflex ging die deutsche Bourgeoisie dazu über,Frankreich in zwei Teile zu spalten: eine besetzte Zone, der Norden mit derHauptstadt, um direkt in Lauerstellung gegenüber England gehen zu können. Undeine "freie" Zone, der Süden, an deren Spitze der General Petain,genannt der Tölpel, stand, und der ehemalige "Sozialist" Laval,Mitglied der ehrenwerten Internationale. Dieser Staat der Kollaboration unterstütztedie Deutschen bis es den Alliierten bei ihrem Vormarsch gelang, den deutschenImperialismus zurückzudrängen.
Die ständige Angst vor einer Erhebung der Arbeiter gegen den Krieg, auchwenn diese noch so schwach waren, war selbst bei denjenigen zu spüren, die dieLinken als "antisozial" darstellen. Die Kollaborationszeitung"L’Oeuvre" spricht grobschlächtig von der Notwendigkeit von Gewerkschaften- diese sog. sozialen Errungenschaften der Volksfront - die in den Dienst derBesatzer treten sollen. Sie schlugen damit mehr oder weniger die gleichen Töneein wie irgendeine linke oder trotzkistische Gruppierung: "Die Besatzersind stark daran interessiert, dass es zu keinem Widerstand der Arbeiter kommt.Sie wollen, dass die Arbeiter nicht den Kontakt verlieren, und dass sie ineine gut organisierte gesellschaftliche Bewegung integriert werden... DieDeutschen wünschen, dass die Arbeiter in Berufsorganisationen eingegliedertwerden. Zu diesem Zweck müssen die notwendigen Führungskräfte zur Verfügunggestellt werden, die das Vertrauen der Arbeiter genießen... Und diese Führungskräftemüssen dann eine Autorität ausstrahlen und der Gefolgschaft der Arbeitersicher sein"[5],(L’OEUVRE, 29.08.1940).
Ab dem Jahr 1941 fingen einige Mitglieder der französischenKollaborationsregierung an, sich über die Zeit nach der Besatzung Gedanken zumachen und die Frage der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung aufzuwerfen.Die Bourgeoisie um Petain und der im Exil befindliche De Gaulle, der als der Führerdes "freien Frankreichs" auftrat, nahmen diskret Kontakteuntereinander auf. Ihr Hauptanliegen bestand darin, die gesellschaftliche undpolitische Ordnung beim Übergang zwischen den beiden Regierungsformenaufrechtzuerhalten. Die Ideologie der sehr schwachen Résistance-Bewegung, dievon der liberalen, in Großbritannien im Exil befindlichen Fraktion und von den Stalinisten der KPF inFrankreich verbreitet wurde, stieß anfänglich auf große Schwierigkeiten, alses darum ging, die Arbeiter für die nationale Union, für die "Befreiungdes Landes" zu mobilisieren. 1943 half die Bourgeoisie gegen ihren Willennach, die Reihen der "Terroristen" zu verstärken, indem sie eineneue Regelung einführte, der zufolge für jeden nach Deutschland verschicktenZwangsarbeiter ein Kriegsgefangener nach Frankreich zurückkehren könnte. Abergrundsätzlich waren es die linken und extrem-linken Parteien, die es schafften,die Arbeiter für die Résistance auf der Grundlage des Sieges der"Schlacht um Stalingrad" zu mobilisieren.
Änderungen der imperialistischen Bündnisse und die mögliche Reaktion desProletariats waren zu dieser Kriegszeit die Hauptfragestellungen der Bourgeoisie.Formell trat der Wendepunkt im Krieg 1942 ein, als die japanische Expansion imOsten zum Halten gekommen war, und die Schlacht um El Alamein, die zurEntscheidung über die Ölfelder führte, stattfand. Im gleichen Jahr fing dieSchlacht um Stalingrad an, wo der stalinistische Staat dank der US-militärischenUnterstützung einen Sieg verzeichnen konnte (die USA lieferten Waffen undPanzer, die technisch höher entwickelt waren als die russischen Geräte). Ingeheimen Verhandlungen hatte Stalin sein Versprechen der Kriegserklärung anJapan als ein Faustpfand eingebracht. Der Krieg hätte damals schnell zu Endegebracht werden können, insbesondere nachdem ein Teil der deutschenBourgeoisie stark daran interessiert war, Hitler wieder loszuwerden und ihn1944 zu ermorden versuchte. Die Alliierten ließen jedoch die Drahtzieher desAttentates gegen Hitler isoliert, wodurch der Nazi-Staat mit uneingeschränkterGewalt gegen die Attentäter vorgehen konnte (Admiral Canaris Valkyrie Plan).
Aber die Reaktion des italienischen Proletariats musste nun berücksichtigtwerden. Der Krieg musste noch zwei Jahre fortgeführt werden, bevor die bestenKräfte des Proletariats abgeschlachtet worden waren, und um einen so überhastetenFriedensabschluss wie den von 1918 zu vermeiden, der damals mit der Revolutionauf seinen Fersen abgeschlossen worden war.
Nach der Erhebung des italienischen Proletariats trat 1943 ein Wendepunktim Krieg ein. Weltweit benutzte die Bourgeoisie die Isolation und die Niederlageder italienischen Arbeiter dazu, der Résistance in den besetzten LändernAuftrieb zu verschaffen, um die Unterstützung der Bevölkerung für den zukünftigenkapitalistischen Frieden zu erreichen. Bis dahin bestanden die meisten Gruppender Résistance hauptsächlich aus kleinen Minderheitsgruppen vonnationalistischen Kleinbürgern, die terroristische Methoden benutzten. Dieanglo-amerikanische Bourgeoisie verherrlichte dann die Ideologie der Résistance.Sie erhielt Auftrieb nach dem Sieg in Stalingrad und nachdem die KPs sich inden meisten Ländern pro-westlich orientiert hatten. Die Arbeiter sahen keinengroßen Unterschied zwischen der Ausbeutung durch einen deutschen und französischenUnternehmer. Sie hatten keinen Wunsch gezeigt, im Namen des englisch-französischenImperialismus Polen zu unterstützen und dabei ihr Leben zu lassen. Sie hattensich nicht für einen Krieg mobilisieren lassen, der nicht ihren Interessen entsprach.Sie jetzt für die "Verteidigung der Demokratie" einzuspannen,erforderte, dass sie von ihrem Klassenstandpunkt aus dabei für sich einePerspektive erkennen müssten. Stalingrad als Wendepunkt des Krieges und die Möglichkeitder Herrschaft der Besatzungsarmeen ein Ende zu setzen, die"Freiheit" wiederzuerlangen, selbst mit "eigenen Polizeikräften",ließ die Hoffnungen der Arbeiter ansteigen, wobei gleichzeitig der"befreiende Kommunismus" - verkörpert durch Stalin - sein Gift ausstieß.Ohne diese Lüge wären die Arbeiter den bewaffneten Résistance-Bandenfeindselig gegenüber eingestellt geblieben, deren Handlungen die Gewalt desNazi-Terrors nur noch erhöhten. Ohne die Unterstützung der Stalinisten undTrotzkisten hätte die Bourgeoisie in London und Washington keine Aussichtdarauf gehabt, die Arbeiter für den Krieg mobilisieren zu können. Im Gegensatzzum Krieg von 1914 ging es jetzt nicht darum, die Arbeiter in Reih und Gliedzu zwingen, um sie zur Schlachtbank zu führen, sondern ihre Unterstützung auf"zivilem Boden" zu gewinnen, sie in das Netz der Résistance einzugliedern,den Enthusiasmus nach dem Stalingrad-Sieg auszunutzen.
In Italien und Frankreich schlossen sich viele Arbeiter dem Maquis an,weil sie die Illusion hatten, somit wieder zum Klassenkampf zurückfinden zu können.Die Stalinisten und Trotzkisten stellten gar den Vergleich an mit der PariserKommune (denn damals erhoben sich die Arbeiter gegen ihre eigene Bourgeoisie -angeführt von dem neuen Thiers - Pétain - während die Deutschen seinerzeitFrankreich besetzt hielten). Die Bevölkerung wurde seit dem Kriegsbeginnterrorisiert und musste sich somit hilflos gegenüber dem Krieg vorkommen. VieleArbeiter schlossen sich den Banden der Résistance an und wurden unter demEindruck in den Tod geschickt, dass sie für eine "sozialistische Befreiung"Frankreichs oder Italiens kämpften. Mit anderen Worten: dass sie einen"neuen Bürgerkrieg gegen ihre eigene Bourgeoisie führten". Genausowie 1914 deutsche und französische Arbeiter an die Front unter dem Vorwandgeschickt worden waren, dass Deutschland und Frankreich "den Sozialismusexportierten". Die stalinistischen und trotzkistischen Gruppen der Résistancesprachen bei dieser Erpressung davon, dass die Arbeiter an "vordersterStelle beim Kampf für die Unabhängigkeit der Völker" zu stehen hätten.Dies traf insbesondere auf einen Schlüsselbereich der Wirtschaft zu, welcherdie Wirtschaft hätte lahmlegen können: die Eisenbahnen.
Gleichzeitig wurde ohne das Wissen vieler Arbeiter ein Kampf um dieVorherrschaft innerhalb der rechten Fraktionen der Résistance darüber geführt,wie die alte kapitalistische Ordnung nach dem Krieg wiederhergestellt werdenkönnte. Teams von amerikanischen Geheimagenten aus dem AMGOT (Allied MilitaryGovernment for the Occupied Territories) waren nach Frankreich und Italien geschicktworden (dies war der Beginn der P2 Loge und der Komplizenschaft der italienischenund amerikanischen Bourgeoisie mit der Mafia). Sie sollten sicherstellen, dassdie Stalinisten nicht zu viel Macht bekämen, um sich dem russischenImperialismus anzuschließen. So wurde den Stalinisten immer deutlicher ihre ihnenzugeteilten Rolle aufgezeigt. Dies wurde besonders in dem Bereich klar, wosie wahre Experten sind: der Sabotage von Arbeiterkämpfen, der Entwaffnungvon eher "utopisch" eingestellten Résistancegruppen und der Niederschlagungder Arbeiter, die gegen die Erfordernisse des Wiederaufbaus protestierten.Sofort nach der "Befreiung" und als Beweis der Komplizenschaft allerBourgeoisien gegen das Proletariat rekrutierte die westliche herrschendeKlasse - bei gleichzeitiger Verurteilung einiger Kriegsverbrecher - um dasGesicht zu bewahren - eine Reihe von ehemaligen Nazi- und stalinistischenFolterexperten als nützliche Geheimagenten in den meisten europäischenHauptstädten. Die erste Aufgabe dieser neu Rekrutierten bestand natürlichdarin, der russischen Seite entgegenzutreten. Aber es ging auch darum, den"Kampf gegen den Kommunismus" (Arbeiteraufstände) zu führen, um denWiderstand der Arbeiter selber auszuhöhlen, denn diese Gefahr bestand für dasKapital selbst noch nach den Schrecken des Krieges.
DIE MASSIVE ZERSTÖRUNG DES PROLETARIATS
Wir überlassen es den Bürgerlichen, über die Zahl der Toten in denjeweiligen Ländern zu streiten[6]. Aber es gibt keinenZweifel, dass die russische Bevölkerung am meisten gelitten hat. Mehr als 20Millionen Tote an der europäischen Front. Diese Opfer wurden bei den Feierlichkeitenanlässlich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandienicht erwähnt. Heute beschuldigen russische Historiker weiterhin die USA, dieLandung in der Normandie herausgezögert zu haben, um die UdSSR in Anbetrachtdes heraufziehenden kalten Krieges weiter auszubluten: "Die Landung fandstatt, als das Schicksal Deutschlands schon durch die sowjetische Gegenoffensivean der Ostfront besiegelt war"[7].
Am Ende der fetten Jahre des Wiederaufbaus fingen die bürgerlichenLiberalen mit ihrem hohen Priester Solschenizyn an, entrüstet über dieMillionen Toten in Stalins Gulags zu lamentieren. Sie gaben vor zu vergessen, dassdie wirkliche Krönung der Konterrevolution nur mit der vollen Komplizenschaftdes Westens im Krieg vollzogen worden war. Wir wissen, wie gnadenlos dieBourgeoisie nach einer Niederlage der Arbeiterklasse vorgeht (Zehntausende vonKommunarden wurden mit ihren Frauen und Kindern abgeschlachtet und nach derNiederlage von 1871 verschleppt). Die Art und Weise, wie der 2. Weltkriegdurchgeführt wurde, ließ der Bourgeoisie freien Spielraum, um dieArbeiterklasse noch mehr zu massakrieren, als sie es schon 1917 getan hatte.Die Russen trugen das Gewicht des 4 Jahre dauernden Kriegs in Europa alleinauf ihren Schultern. Erst Anfang 1945 betraten die Amerikaner deutschenBoden, wodurch die Zahl ihrer eigenen Toten gering gehalten, und der sozialeFrieden in den USA aufrechterhalten werden konnte. Die Millionen russischenOpfer verdeutlichten in der Tat ein tragisches Heldentum, denn ohne amerikanischeMilitärhilfe wäre das rückständige stalinistische Regime von dem industrialisiertenDeutschland besiegt worden.
Nach solch einem Aderlass hatte es der russische Staat nicht nötig,"eine demokratische Maske" zu zeigen, um seine Ordnung aufzuzwingen.Die Alliierten ließen die russischen Soldaten an Millionen Deutschen Vergeltungüben. Sie ließen Russland den Status einer "Siegermacht" einnehmen,denn die Erfahrung seit 1914 bewies, dass solch ein Schritt dazu beitrug, densozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Die russische Regierung und ihr Diktatorließen der deutschen Armee ausreichend Spielraum, damit diese den Aufstand vonWarschau niederschlagen konnte. Genauso wie sie Hunderttausende von Zivilistenin Stalingrad und Leningrad vor Hunger und Kälte umkommen ließen. Souvarinzufolge verheizten sie Millionen Menschenleben in den Arbeitslagern.
Um den siegreichen imperialistischen Appetit Russlands zu befriedigen (dasstalinistische Regime demontierte zahlreiche Fabriken in Osteuropa, währendder Westen von der Wiederaufbauhilfe durch die USA profitierte), war esnotwendig, dass die Arbeiterklasse daran gehindert wurde, nicht von der"Befreiung" der Bourgeoisie zu profitieren.
Eine intensive Propagandakampagne wurde sowohl im Westen als auch im"totalitären" Russland anlässlich des Völkermords an den Judendurchgeführt, über den die Alliierten seit dem Beginn des Krieges im Bildegewesen waren. Wie einige ernsthaftere Historiker anerkannt haben, liegt dieErklärung für diesen Völkermord nicht im Mittelalter, sondern ist im Rahmendes kalten Krieges zu finden. Das Massaker erreichte solche Ausmaße nach demBeginn des Krieges mit Russland. Das Problem der großen Massen von Gefangenenund Flüchtlingen musste von der deutschen Bourgeoisie "gelöst"werden. Der Nazi-Staat machte sich die größten Sorgen um die Ernährung seinereigenen Truppen, auch wenn das bedeutete, dass ein Teil der Bevölkerung, der fürdie Kriegsaufwendungen eine Belastung war, früher in den Tod geschickt werdenmusste (Kugeln und Munition mussten für die russische Front gehortet werden,insbesondere nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Massenerschießenselbst für die Erschießungskommandos einen demoralisierenden Effekt hatte).Auf der Bermuda-Konferenz 1943 beschlossen die Alliierten nichts für die Judenzu unternehmen. Damit zogen sie es vor, dass die Juden eher ausgelöschtwurden, als dass die Alliierten sich um die gewaltige Flüchtlingsmasse kümmernwürden, die entstanden wäre, wenn die Nazis diese Massen von Judenausgewiesen hätten. Eine Reihe von Verhandlungen wurde mittels Rumänien undUngarn geführt. Alle stießen auf die höfliche Ablehnung Roosevelts. Der meistbekannte Vorschlag, der heute hinter der humanitären Aktion eines Schindlersverdeckt wurde, war der von Eichmann an Vertreter der Alliierten. DerVorschlag lautete: Wir tauschen 100.000 Juden gegen 10.000 LKWs. Die Alliiertenlehnten diesen Tausch ab. Ein britischer Staatsrepräsentant sagte: "DerTransport von so vielen Menschen würde nur unseren Kriegsbemühungenschaden"[8].
Der Völkermord an den Juden, die ethnische "Säuberung" durch dieNazis, war eine perfekte Ausrede für die Barbarei, die von den siegreichenAlliierten ausgeübt wurde. Die Konzentrationslager wurden der Öffentlichkeitgeplant und mediengerecht inszeniert zugänglich gemacht. Dieser Berg von Lügen,der dazu diente, von den Besiegten ein Bild des Teufels zu malen, sollte jedeInfragestellung der alliierten Terrorbombenangriffe unmöglich machen. Diesealliierten Terrorangriffe verfolgten nämlich das Ziel, die Arbeiterklasse aufder ganzen Welt zum Schweigen zu bringen. Einige Zahlen verdeutlichen diesenHorror.
- Juli 1943, Hamburg, 50.000 Tote,
- 1944: Darmstadt, Königsberg, Heilbronn 24.000 Tote, Braunschweig 23.000Tote,
- 13-14. Februar 1945: Bombardierung Dresdens, Folgen: ca. 250.000 Tote,
- innerhalb von 18 Monaten wurden 45 der 60 größten deutschen Städte zerstört,mehr als 650.000 Tote,
- März 1945: Bombardierung Tokios, 80.000 Tote,
- August 1945: Hiroshima und Nagasaki,
- in Frankreich wie woanders war die Arbeiterklasse die Hauptzielscheibe:Tausende wurden in Le Havre und Marseille getötet, während der Landung derAlliierten führten die Bombardierungen von Caen und anderen Städten neben den20.000 Toten unter den Soldaten zu hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung,
- 4 Monate, nachdem sich das deutsche Reich ergeben hatte, nachdem sichJapan praktisch auf den Knien befand, zerstörten die schlimmsten Waffen allerZeiten Hiroshima und Nagasaki. Der Vorwand: amerikanisches Leben solltegerettet werden. Der Arbeiterklasse sollte für immer vor Augen geführt werden,dass die herrschende Klasse eine "allmächtige Klasse" sei.
In einem weiteren Artikel werden wir die Reaktionen der Arbeiterklasse währenddes Krieges behandeln, die von all den Historikern verschwiegen werden. Dabeiwerden wir auch die Haltung, die Positionen und Aktivitäten der revolutionärenMinderheiten aufgreifen.
Damien
(aus International Review, Nr. 78,3. Quartal 1994).
[1] siehe INTERNATIONALE REVUE Nr. 13, "DieMassaker und Verbrechen der großen Demokratien", 3. Quartal 1991,
[2] "The Secret War", A.C.Brown,
[3] 34-39: L`Avant-guerre, Michel Ragon, Ed. Denoel, 1968
[4] Bericht zur internationalen Situation, 14.07.1945
[5] L`Oeuvre, 29.8.1940
[6] siehe Internationale Revue, Manifest des9. Kongresses der IKS
[7] Le Figaro, 6.6.1944
[8] Siehe "Die Geschichte Joel Brands" vonAlex Weissberg. Ein halbes Jahrhundert später verhält sich der Kapitalismusgegenüber dem Flüchtlingsproblem noch immer gleich: "Aus ökonomischenund politischen Gründen (jeder Flüchtling kostet $ 7.000) will Washingtonnicht, dass die Quota der Juden auf Kosten der Flüchtlinge aus Lateinamerika,Asien und Afrika steigt, die mit keiner Unterstützung rechnen können undvielleicht mehr "verfolgt" sind (Le Monde, 4.10.1989, "Diesowjetischen Juden wären am meisten von Einwanderungsbeschränkungenbetroffen“). Das Europa Maastrichts steht dem in nichts nach: "aus europäischerSicht sind die meisten Asylbewerber keine wirklichen Asylanten, sondern Wirtschaftsflüchtlinge,die man auf einem schon gesättigten Arbeitsmarkt nicht aufnehmen kann"(Libération, 9.10.1989).
Das ist derdekadente Kapitalismus. Da er die Entfaltung der Produktivkräfte fesselt, musser in Kriegs- und Friedenszeiten einen Großteil der Menschen eines langsamenTods sterben lassen. Die Heuchelei in Anbetracht der "ethnischen Säuberungen"auf dem Balkan und des Mordes an über 1 Millionen Einwohnern Ruandas innerhalbweniger Wochen zeigen die "wahren Fähigkeiten" des Kapitalismusauf. Indem sie die Massaker geschehen lassen, genauso wie sie damals denGenozid an den Juden zugelassen haben, tun die westlichen Demokratien so, alsob sie damit nichts zu tun hätten; in Wirklichkeit aber sind sie nicht nurKomplizen, sondern heute sind sie noch stärker als im Fall der Juden direktbeteiligt.
In den beiden vorhergehenden Artikeln haben wir aufgezeigt, daß alle Produktionsweisen von einem aufsteigenden und einem dekadenten Zyklus bestimmt werden (International Review, Nr.55), und daß wir uns heute inmitten der kapitalistischen Dekadenz befinden (Internationale Review, Nr.54). Der vorliegende Artikel will ausführlich die Elemente darstellen, die es dem Kapitalismus ermöglichten, in seiner Niedergangsphase weiterzuleben. Insbesondere hat der Artikel das Ziel, eine Grundlage dafür zu schaffen, die Wachstumsraten in der Zeit nach 1945 (die höchsten in der Geschichte des Kapitalismus) verstehen zu können. Vor allem wollen wir aufzeigen, daß dieser vorübergehende Aufschwung ein `gedoptes' Wachstum war, ist, daß es nichts anderes ist als der verzweifelte Kampf eines Systems in seinem Todesringen. Die Mittel, die dafür benutzt wurden, um dies zu erreichen (massive Verschuldungen, Staatsinterventionismus, wachsende Rüstungsproduktion, unproduktive Ausgaben, etc.) sind erschöpft. Dadurch wird der Weg zu einer nie gekannten Krise eröffnet.
"Im Prozesse der Produktion aber ist das entscheidende: In welchem Verhältnisse stehen die Arbeitenden zu ihren Produktionsmitteln?" (Luxemburg Werke Bd.5, S.644) Im Kapitalismus sind die Arbeiter durch das Lohnverhältnis mit den Produktionsmitteln verbunden. Das ist das fundamentale gesellschaftliche Produktionsverhältnis, welches dem Kapitalismus seine Dynamik verleiht, wie auch seine unüberwindbaren Widersprüche enthält (1). Es ist ein dynamisches Verhältnis in dem Sinne, daß das System, angestachelt von der Tendenz der fallenden Profitrate und ihrer Angleichung durch die Wert- und Konkurrenzgesetze, fortwährend wachsen, akkumulieren, expandieren und die Lohnausbeutung bis an die Grenzen treiben muß. Es ist ein widersprüchliches Verhältnis in dem Sinne, daß der eigentliche Mechanismus zur Produktion von Mehrwert mehr Werte produziert, als er zu verteilen imstande ist, Mehrwerte, die aus der Differenz zwischen dem Produktionswert der produzierten Ware und dem Wert der Ware Arbeitskraft, den Löhnen, stammen. Indem die Lohnarbeit sich verallgemeinert, schränkt der Kapitalismus selbst seine Absatzmöglichkeiten ein und ist ständig gezwungen, Käufer außerhalb seiner Sphäre von Kapital und Arbeit zu suchen.
"....je mehr sie [die kapitalistische Produktion] sich entwickelt, um so mehr gezwungen ist, auf großer Stufenleiter zu produzieren, die mit der immediate demand [unmittelbaren Nachfrage] nichts zu tun hat, sondern von einer beständigen Erweiterung des Weltmarkts abhängt...Er [Ricardo] übersieht, daß die Ware in Geld verwandelt werden muß. Die demand [Nachfrage] der Arbeiter genügt nicht, da der Profit ja grade dadurch herkommt, daß die demand der Arbeiter kleiner als der Wert ihres Produkts, und um so größer ist, je relativ kleiner diese demand. Die demand der capitalists untereinander genügt ebensowenig...." (MEW 26.2, S.469) "...Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja nur selbst unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt...." (MEW 25, S.269f) "....Das bloße Verhältnis von Lohnarbeiter und Kapitalist schließt ein:
1. daß der größte Teil der Produzenten (die Arbeiter) Nichtkonsumenten (Nichtkäufer) eines sehr großen Teils ihres Produkts sind, nämlich der Arbeitsmittel und des Arbeitsmaterials;
2. daß der größte Teil der Produzenten, die Arbeiter, nur ein Äquivalent für ihr Produkt konsumieren können, solang sie mehr als dies Äquivalent - die surplus value [den Mehrwert] oder das surplus produce [Mehrprodukt] - produzieren, um innerhalb der Schranken ihres Bedürfnisses Konsumenten oder Käufer sein zu können." (MEW26.2, S.520) "Die Überproduktion speziell hat das allgemeine Produktionsgesetz des Kapitals zur Bedingung, zu produzieren im Maß der Produktivkräfte (d.h. der Möglichkeit, mit gegebener Masse Kapital größtmögliche Masse Arbeit auszubeuten) ohne Rücksicht auf die vorhandenen Schranken des Markts oder der zahlungsfähigen Bedürfnisse...." (dito, S.535)
Marx zeigte einerseits deutlich die unvermeidliche Jagd des Kapitalismus nach Erhöhung der Mehrwertmenge auf, um den Fall der Profitrate auszugleichen (Dynamik), und er wies andererseits auf das dem gegenüberstehende Hindernis hin: den Ausbruch von Krisen, die dem schrumpfenden Markt, auf dem die Produkte verkauft werden können (Widerspruch), geschuldet sind, lange bevor der an dem Fall der Profitrate geknüpfte Mangel an Mehrwert auftritt:
"Aber in dem selben Maße, worin seine Produktion sich ausgedehnt hat, hat sich das Bedürfnis des Absatzes für ihn ausgedehnt. Die mächtigeren und kostspieligeren Produktionsmittel, die er ins Leben gerufen, befähigen ihn zwar, seine Ware wohlfeiler zu verkaufen, sie zwingen ihn aber zugleich, mehr Waren zu verkaufen, einen ungleich größeren Markt für seine Waren zu erobern..." (Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW6) "Sie [die Krisen] werden häufiger und immer heftiger schon deswegen, weil in demselben Maße, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausgedehnten Märkten wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusammenzieht, immer weniger neue Märkte zur Exploitation übrigbleiben, ja jede vorhergehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Handel nur oberflächlich ausgebeuteten Markt dem Welthandel unterworfen hat." (dito)
Diese Analyse wurde von Rosa Luxemburg systematisiert und vollständiger entwickelt, die zur Schlußfolgerung gelangte, daß das Wachstum des Kapitalismus von der kontinuierlichen Eroberung vor-kapitalistischer Märkte abhängt, da die Gesamtheit des vom globalen Kapital produzierten Mehrwerts seinem eigentlichen Charakter entsprechend nicht in rein kapitalistischen Bereichen realisiert werden kann. Die Erschöpfung der Märkte, die den Bedürfnissen der Akkumulation entsprechen, werde das System in seine dekadente Phase stürzen:
"Durch diesen Prozeß bereitet das Kapital aber in zweifacher Weise seinen Untergang vor. Indem es einerseits durch seine Ausdehnung auf Kosten aller nichtkapitalistischen Produktionsformen auf den Moment lossteuert, wo die gesamte Menschheit in der Tat lediglich aus Kapitalisten und Lohnproletariern besteht und wo eben deshalb weitere Ausdehnung, also zugleich Akkumulation, unmöglich wird. Zugleich verschärft es, im Maße wie diese Tendenz sich durchsetzt, die Klassengegensätze, die internationale wirtschaftliche und politische Anarchie derart, daß es, lange bevor die letzte Konsequenz der ökonomischen Entwicklung - die absolute, ungeteilte Herrschaft der kapitalistischen Produktion in der Welt - erreicht ist, die Rebellion des internationalen Proletariats gegen das Bestehen der Kapitalsherrschaft herbeiführen muß.... Der heutige Imperialismus.... ist das letzte Stadium in seinem historischen Prozeß: die Periode der verschärften und generalisierten weltweiten Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Staaten um die letzten Überreste an nichtkapitalistischen Gebieten auf dem Planeten." (Luxemburg Werke Bd.5, S.430f)
Abgesehen von ihrer Analyse der unzertrennlichen Einheit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und des Imperialismus, die aufzeigt, daß das System nicht überleben kann, ohne sich auszuweiten, und daß es daher imperialistisch an sich sei, liegt der Hauptbeitrag von Rosa Luxemburg in der Schaffung von analytischen Werkzeugen zum Verständnis dafür begründet, wie, wann und warum das System in seine Dekadenzperiode eintrat. Rosa beantwortete diese Fragen mit dem Ausbruch des I.Weltkrieges 1914-18, indem sie erkannte, daß der weltweite inter-imperialistische Konflikt die Periode eröffnete, in der der Kapitalismus zu einer Fessel der Weiterentwicklung der Produktivkräfte wird: "Die Notwendigkeit des Sozialismus ist völlig gegeben, sobald die Herrschaft der Bourgeoisie den historischen Fortschritt nicht mehr befördert, und zu einer Fessel und Gefahr für die weitere Entwicklung der Gesellschaft wird. Was die kapitalistische Ordnung betrifft, ist genau das, was der gegenwärtige Krieg zeigt."
Wie auch immer die mannigfaltigen `ökonomischen' Erklärungen waren, diese Analyse wurde von der gesamten revolutionären Bewegung geteilt.
Ein klares Verständnis dieses unlösbaren Widerspruchs im Kapital verschafft uns einen Ansatzpunkt zum Verständnis dafür, wie das System in seiner Dekadenz bisher überlebt hat. Die Geschichte der kapitalistischen ™konomie seit 1914 ist die Geschichte der Entwicklung von Linderungsmitteln gegen die Engpässe, die von der Ungleichheit des Weltmarkts geschaffen wurden. Nur mit solch einem Verständnis können wir die zeitweilige 'Leistunsfähigkeit' des Kapitalismus (wie die Wachstumsraten nach 1945) auf ihre eigentliche Größe zurechtstutzen. Die Kritiker unseres Standpunktes (s. International Review Nr.54 und 55) sind von den Zahlen dieser Wachstumsraten geblendet, was sie blind gegenüber deren NATUR macht. Sie entfernen sich somit von der marxistischen Methode, die darauf abzielt, die wirkliche Natur der Dinge hervorzukehren, die versteckt hinter ihrer Existenz liegt. Diese wirkliche Natur ist es, die wir hier aufzuzeigen beabsichtigen (2).
Während der aufsteigenden Periode übertraf die Nachfrage im allgemeinen das Angebot; der Preis der Waren wurde von den höchsten Produktionskosten bestimmt, jenen nämlich der am wenigsten entwickelten Bereiche und Länder. So war es möglich, daß letztere Profite erzielten, die eine reale Akkumulation erlaubten, wohingegen die entwickeltsten Länder in der Lage waren, Superprofite zu realisieren. In der Dekadenz ist das Gegenteil der Fall: Insgesamt ist das Angebot größer als die Nachfrage, und die Preise werden von den niedrigsten Produktionskosten bestimmt. Eine Folge davon ist, daß die Bereiche und Länder mit den höchsten Produktionskosten gezwungen sind, zu einem verringerten Profit oder gar mit Verlust zu verkaufen oder sich dem Wertgesetz zu entziehen, um zu überleben (s. unten). Dies senkt ihre Akkumulationsrate auf ein äußerst niedriges Niveau. Auch die bürgerlichen ™konomen haben in ihrer eigenen Sprache (jene des Verkaufs- und des Kostpreises) diese Umkehrung bemerkt: "Wir werden von der heutigen Umkehrung des Verhältnisses zwischen Kostpreis und Verkaufspreis heimgesucht.... Langfristig wird der Kostpreis seine Rolle behalten.... Aber während es früher so war, daß der Verkaufspreis immer über dem Kostenpreis gehalten werden konnte, erscheint er heute üblicherweise dem Marktpreis untergeordnet. Unter diesen Umständen, in denen nicht mehr die Produktion, sondern der Verkauf das wesentliche ist, in denen die Konkurrenz immer härter wird, wählen die Betriebe den Verkaufspreis zum Ausgangspunkt, um sich dann schrittweise dem Kostpreis anzunähern.... Um zu verkaufen, neigen die Betriebe heute dazu, zuallererst den Markt und damit den Verkaufspreis zu berücksichtigen..... Dies ist so schlagend, daß wir es heute des öfteren mit dem Paradoxon zu tun haben, daß es immer weniger der Kostpreis ist, der den Verkaufspreis bestimmt, sondern immer häufiger das Gegenteil der Fall ist. Das Problem ist: entweder die Produktion aufzugeben oder unterhalb des Marktpreises zu produzieren" (J.Fourastier und B.Bazil, Pourquoi les prix baissent).
Ein spektakuläres Anzeichen dieses Phänomens tritt in den wild durcheinandergewürfelten Proportionen der Verteilung und Vermarktung in den endgültigen Kosten des Produkts auf. Diese Funktionen werden vom Handelskapital ausgeübt, das sich seinen Anteil bei der allgegenwärtigen Verteilung des Mehrwerts nimmt, so daß seine Ausgaben in die Produktionskosten eingehen. In der aufsteigenden Phase trug auch das Handelskapital, solange es die Steigerung der Mehrwertmenge und der jährlichen Profitrate durch die Verkürzung des Waren- und Kapitalumlaufs sicherte, zum allgemeinen Preisverfall bei, der diese Periode kennzeichnete (s. Graphik 4). In der dekadenten Phase änderte sich seine Rolle. Da die Produktivkräfte an die Grenzen des Marktes stoßen, besteht die Rolle des Handelskapitals nicht darin, die Mehrwertmengen zu steigern, sondern vielmehr ihre Realisierung zu sichern. Dies wird durch die konkrete Realität des Kapitalismus ausgedrückt: einerseits durch das Anwachsen der Zahl jener Leute, die in der Verteilung beschäftigt sind, und im allgemeinen durch den zahlenmäßigen Rückgang der Mehrwertproduzenten im Verhältnis zu anderen Arbeitern; andererseits durch das Anwachsen der Gewinnspanne des Handelskapitals am endgültigen Mehrwert. Es wird geschätzt, daß in den wichtigsten kapitalistischen Ländern die Verteilungskosten heute zwischen 50 und 70% der Warenpreise betragen. Investitionen in die parasitären Bereiche des Handelskapitals (Marketing, Sponsoring, Lobbyismus, etc.) erhalten ein wachsendes Gewicht im Verhältnis zu Investitionen in die Produktion von Mehrwert. Dies führt letztlich zu einer Zerstörung des produktiven Kapitals, was die wachsende parasitäre Natur des System enthüllt.
"Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhergrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruches, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise." (MEW25, S.457)
In der aufsteigenden Phase war der Kredit ein mächtiges Mittel zur Beschleunigung der Entwicklung des Kapitalismus, indem er den Kreislauf der Kapitalakkumulation verkürzte. Der Kredit, der einen Fortschritt bei der Realisierung einer Ware darstellte, konnte seinen Kreislauf vervollständigen dank der Möglichkeit, neue außerkapitalistische Märkte zu durchdringen. In der Dekadenz ist dieses Resultat immer weniger möglich; der Kredit wird somit zu einem Linderungsmittel gegen die wachsende Unfähigkeit des Kapitals, die Gesamtheit des produzierten Mehrwertes zu realisieren. Die Akkumulation, die durch den Kredit zeitweise ermöglicht wird, entwickelt lediglich einen Abszeß, der unvermeidlicherweise zu einem allgemeinen imperialistischen Krieg führt.
Der Kredit hat nie eine zahlungsfähige Nachfrage für sich gebildet, und dies gilt noch weniger in der Dekadenz - im Gegensatz zu dem, was uns Communisme ou Civilisation (CoC) erzählt: "Der Kredit ist nunmehr in den Kreis jener Ursachen aufgerückt, die es dem Kapital erlauben zu akkumulieren; man kann genausogut sagen, daß die kapitalistische Klasse in der Lage ist, dank einer zahlungsfähigen Nachfrage, die aus der kapitalistischen Klasse herrührt, den Mehrwert zu realisieren. Auch wenn dieses Argument nicht in dem Pamphlet der IKS über die Dekadenz des Kapitalismus auftaucht, ist es mittlerweile Teil der Aufnahmekriterien dieser Sekte geworden. Sie stimmt nun zu, was sie zuvor unnachgiebig abgestritten hatte: die Möglichkeit der Realisierung des für die Akkumulation bestimmten Mehrwerts." (CoC, Nr.22) (3). Der Kredit dient zur Förderung der Realisierung von Mehrwert und ermöglicht so eine beschleunigte Vollendung des gesamten Kreislaufes kapitalistischer Reproduktion. Marx zufolge enthält dieser Kreislauf - wie so oft vergessen wird - sowohl die Produktion als auch die Realisierung der produzierten Waren. Was die aufsteigende Phase des Kapitalismus von seiner dekadenten unterscheidet, das sind die Bedingungen, unter denen der Kredit wirkt. Die weltweite Sättigung der Märkte verlangsamt die Wiedererlangung des investierten Kapitals in steigendem Maße und macht sie zunehmend unmöglich. Daher befindet sich das Kapital auf einem wachsenden Schuldenberg, der immer astronomischere Ausmaße annimmt. Der Kredit macht es also möglich, die Fiktion von einer Ausweitung der Akkumulation aufrechtzuerhalten und den endgültigen Tag der Abrechnung hinauszuschieben, an dem das Kapital die Zeche zahlen muß. Da es zu einer anderen Handlungsweise unfähig ist, treibt das Kapital unerbittlich Handelskriegen und schließlich dem inter-imperialistischen Krieg entgegen. Der Krieg ist die einzige `Lösung' für die Überproduktionskrisen in der Dekadenz (s. dazu International Review, Nr.54). Die Zahlen der Tabelle 1 und der Graphik 1 veranschaulichen dieses Phänomen.
Konkret zeigen die Zahlen der Tab.1, daß die USA Schulden in Höhe des zweieinhalbfachen jährlichen Bruttosozialproduktes (BSP), Deutschland in Höhe des einfachen jährlichen BSP angehäuft haben. Sollten diese Schulden jemals zurückbezahlt werden, müßten die Arbeiter dieser Länder zweieinhalb Jahre bzw. ein Jahr umsonst arbeiten. Diese Zahlen zeigen auch, daß die Schulden schneller wachsen als das BSP, was ein Anzeichen dafür ist, daß seit einiger Zeit die wirtschaftliche Entwicklung immer mehr durch Kredite stattfindet.
Diese beiden Beispiele sind keine Ausnahme, sondern veranschaulichen die weltweite Verschuldung des Kapitalismus. Zwar sind Kalkulationen vor allem angesichts des Mangels an vertrauenswürdigen Statistiken äußerst gewagt, aber man kann annehmen, daß die Schulden zwischen dem anderthalb bis zweifachen weltweiten BSP betragen. Zwischen 1974 und 1984 wuchsen die weltweiten Schulden um ungefähr 11 %, während die Wachstumsrate des weltweiten BSP ungefähr um 3,5 % zunahm!
Nachfolge Zahlen illustrieren die Wachstums- und Schuldenentwicklung, wie sie in den meisten Ländern zu beobachten ist. Die Schulden wachsen ersichtlich schneller als die Industrieproduktion. Während früher das Wachstum in steigendem Maße vom Kredit abhängig war (1958-74: Produktion 6,01%, Kredite 13,26%), hängt heute schon die bloße Fortsetzung der Stagnation von Krediten ab (1974-81: Produktion 0,15%, Kredite 14,08%).
Entwicklung der Verschuldung im Kapitalismus
Öffentliche und private Verschuldung
Verschuldung der Haushalte
BRD USA USA
Statistik wird noch eingestellt
Seit Beginn der Krise wurde jede wirtschaftliche Erholung von ständig größeren Kreditmassen getragen. Die Konjunktur 1975-79 wurde von Krediten stimuliert, die der `Dritten Welt' und den sogenannten `sozialistischen' Ländern gewährt worden waren. Jene von 1983 wurde von einem Wachstum in der Schuldenaufnahme von Seiten der amerikanischen Behörden getragen (hauptsächlich im Interesse der Rüstungsausgaben). Die CoC versteht diesen Prozeß in keiner Weise und unterschätzt völlig die Ausweitung des Kredites als die Überlebensweise des Kapitalismus in der Dekadenz.
Wir haben bereits gesehen (s. International Review, Nr.54), daß die Dekadenz des Kapitalismus nicht durch das Verschwinden der außerkapitalistischen Märkte charakterisiert wird, sondern durch ihre Unverhältnismäßigkeit gegenüber den Bedürfnissen einer expandierenden Akkumulation des Kapitalismus. Das heißt, daß die außerkapitalistischen Märkte nicht mehr ausreichen, um die Gesamtheit des vom Kapitalismus produzierten und für die Reinvestierung vorgesehenen Mehrwerts zu realisieren. Angespornt von einer immer begrenzteren Akkumulationsbasis, versucht der dekadente Kapitalismus, das Betätigungsfeld, das von den Überresten dieser Märkte gebildet wird, so effektiv wie möglich auszubeuten, und zwar auf dreierlei Weise.
Erstens durch eine beschleunigte und geplante Eingliederung der verbliebenen Bereiche merkantilistischer Wirtschaft innerhalb der entwickelten Länder.
Anteil der aktiven Bauernbevölkerung an der gesamten beschäftigen Bevölkerung
Grande-Bretagne: GB, Allemagen: BRD, Espagne: Spanien
Grafik wird noch eingestellt
Obige Grafik zeigt, daß in einigen Ländern die Integration der merkantilen Bauernwirtschaft in die kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bereits mit 1914 vollendet war, wohingegen sie in anderen Ländern (Frankreich, Spanien, Japan, etc.) erst während der Dekadenz und beschleunigt nach 1914 stattfand.
Bis zum 2.Weltkrieg wuchs die Produktivität in der Landwirtschaft langsamer als in der Industrie, was die Folge einer langsameren Entwicklung in der Arbeitsteilung war, entsprechend u.a. dem immer noch großen Gewicht der Bodenrente, die einen Teil des für die Mechanisierung benötigten Kapitals abzweigte. Nach dem 2.Weltkrieg wuchs die Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft schneller als in der Industrie. Dies nahm die Form einer Politik an, die alle möglichen Mittel benutzte, um die Subsistenzwirtschaft der kleinbäuerlichen Familien zu ruinieren, die noch immer an die merkantile Kleinproduktion gebunden waren, und um sie in ein rein kapitalistisches Geschäft umzuwandeln. Soweit der Prozeß der Industrialisierung der Landwirtschaft.
Angespornt von der Suche nach neuen Märkten, ist die Periode der Dekadenz gekennzeichnet durch eine verbesserte Ausbeutung der verbliebenen außerkapitalistischen Märkte.
Einerseits erleichterten verbesserte Techniken, verbesserte Kommunikationsmittel und fallende Transportkosten die Penetration - sowohl in Inhalt und Umfang - und Zerstörung der merkantilistischen ™konomie in der außerkapitalistischen Sphäre.
Andererseits entlastete die sich entfaltende Politik der `Dekolonialisierung' die Metropolen von einer kostenträchtigen Bürde und erlaubte ihnen, den Umsatz ihres Kapitals zu verbessern und ihren Absatz in den alten Kolonien zu steigern (der durch die Überausbeutung der eingeborenen Bevölkerung bezahlt wurde). Ein großer Teil dieses Absatzes bestand aus Waffen, das erste und absolute Bedürfnis für den Aufbau einer lokalen Staatsmacht.
Der Rahmen, in dem sich der Kapitalismus während seiner aufsteigenden Periode entwickelt hatte, ermöglichte die Vereinheitlichung der Produktionsbedingungen (technische und soziale Bedingungen, die durchschnittliche Arbeitsproduktivität, etc.). Im Gegensatz dazu hat die Dekadenz die Ungleichheiten in der Entwicklung zwischen den entwickelten und unterentwickelten Ländern gesteigert (s. International Review, Nr.23 und 54).
Während in der Aufstiegsperiode die Profite, die den Kolonien entzogen worden waren (Verkauf, Anleihen, Investitionen), größer waren als jene, die aus dem ungleichen Austausch resultierten (4), findet in der Dekadenz das Gegenteil statt. Die Entwicklung der Austauschverhältnisse über einen langen Zeitraum zeigt diese Tendenz auf. Seit dem zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts haben sie sich deutlich zuungunsten der sog. `Dritten Welt' verschlechtert.
2.3 Staatskapitalismus
Wir haben bereits gesehen (s. International Review, Nr.54), daß die Entwicklung des Staatskapitalismus eng mit der kapitalistischen Dekadenz verknüpft ist. (5) Der Staatskapitalismus ist eine weltweite Politik, die dem System in jedem seiner Bereiche des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens aufgezwungen wird. Der Staatskapitalismus hilft, die unüberwindbaren Widersprüche des Kapitalismus abzuschwächen: auf der gesellschaftlichen Ebene durch eine bessere Kontrolle einer Arbeiterklasse, welche mittlerweile entwickelt genug ist, um eine reale Gefahr für die Bourgeoisie zu sein; auf der politischen Ebene durch die Beherrschung der wachsenden Spannungen zwischen den bürgerlichen Fraktionen; auf der ökonomischen Ebene durch die Besänftigung der sich häufenden explosiven Widersprüche. Auf dieser letztgenannten Ebene, die uns hier angeht, interveniert der Staat mit einer Reihe von Mechanismen:
Wir haben gesehen, daß in der Dekadenz ein immer wichtigerer Anteil der Produktion der strikten Bestimmung des Wertgesetzes entflieht (International Review, Nr.54). Zweck dieses Prozesses ist es, Aktivitäten, die ansonsten an dem gnadenlosen Verdikt des Wertgesetzes scheitern würden, am Leben zu erhalten. Dem Kapitalismus gelingt es so für eine Weile, aber nur für eine Weile, dem eisernen Gesetzen des Marktes zu entgehen.
Permanente Inflation ist eines der Mittel, um letzteren zu begegnen. Sie ist zudem ein typisches Phänomen einer dekadenten Produktionsweise (6).
Entwicklung der Großhandelspreise in fünf entwickelten Ländern von 1750 bis 1950-70
Statistik wird noch eingestellt
Entwicklung der Einzelhandelspreise in Frankreich von 1820 - 1982
Einzelhandelspreise in Frankreich
Statistik wird noch eingestellt
Nachdem sie ein Jahrhundert lang stabil geblieben waren, explodierten die Preise nach dem 1. Weltkrieg, vor allem nach dem 2. Weltkrieg. Zwischen 1914-1982 stiegen sie um das Tausendfache an. Quelle INSEE
Wenn eine periodische Senkung und Neuordnung der Preise zum Wertaustausch (Produktionspreis) durch das Anschwellen der Kredite und der Inflation künstlich verhindert wird, dann kann eine ganze Reihe von Betrieben, deren Arbeitsproduktivität unterhalb des Durchschnitts ihrer Branche gefallen ist, nichtsdestotrotz der Entwertung ihres Kapitals und dem Bankrott entkommen. Auf lange Sicht jedoch kann dies nur das Ungleichgewicht zwischen den Produktionskapazitäten und der zahlungsfähigen Nachfrage steigern. Die Krise wird verzögert, nur um später noch stärker zurückzukehren. In der Geschichte der entwickelten Länder erschien die Inflation zum ersten Mal, als der Staat rüstungs- und kriegsgebundene Ausgaben machte. Später kam noch die Entwicklung des Kredits und der unproduktiven Ausgaben zu den Waffenausgaben hinzu und wirkte als Hauptursache der Inflation.
Die Bourgeoisie hat eine ganze Reihe antizyklischer Maßnahmen ergriffen. Ausgerüstet mit der Erfahrung der Krise von 1929, die durch den Isolationismus beträchtlich erschwert worden war, hat sich die herrschende Klasse von ihrem verbliebenen Irrglauben über den Freihandel, wie vor 1914, losgesagt. Die 30er Jahre und erst recht die Periode nach 1945, mit dem Höhepunkt des Keynesianismus, waren durch eine Serie konzertierter staatskapitalistischer Maßnahmen gekennzeichnet. Es ist schlechterdings unmöglich, hier auf alle von ihnen einzugehen, aber sie alle hatten dasselbe Ziel: die Kontrolle über die Schwankungen in der ™konomie zu erlangen und die Nachfrage künstlich zu stützen.
Der Grad der Staatsinterventionen in der Wirtschaft ist gewachsen. Dieser Punkt wurde bereits in vorherigen Ausgaben von International Review breit abgehandelt; hier wollen wir uns nur mit einem Gesichtspunkt befassen, mit einem Aspekt, der bisher lediglich angedeutet worden war: die staatlichen Eingriffe im gesellschaftlichen Bereich und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Während der Aufstiegsphase des Kapitalismus waren steigende Löhne, die Reduzierung der Arbeitszeit und verbesserte Arbeitsbedingungen "Konzessionen, dem Kapital abgerungen durch einen erbitterten Kampf.... Das Englische Gesetz über den Zehnstundenarbeitstag war in der Tat das Ergebnis eines langwierigen Kampfes zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse." (Marx, Das Kapital). In der Dekadenz stellten die Zugeständnisse der Bourgeoisie an die Arbeiterklasse während der revolutionären Erhebungen 1918-23 zum ersten Mal Maßnahmen dar, die dazu dienten, eine soziale Bewegung, deren Ziel nicht mehr war, dauerhafte Reformen innerhalb des System zu erlangen, sondern die Macht zu ergreifen, zu besänftigen (8-Stunden-Arbeitstag, allgemeines Wahlrecht, Sozialversicherung, etc.) und zu kontrollieren (Tarifverträge, Gewerkschaftsrechte, Betriebsräte, etc.). Gerade die letztgenannten Maßnahmen, die eigentlich nur eine Begleiterscheinung des Kampfes waren, werfen ein Schlaglicht auf die Tatsache, daß in der kapitalistischen Dekadenz der Staat mit Hilfe der Gewerkschaften soziale Maßnahmen organisiert, kontrolliert und plant, um die proletarische Bedrohung abzuwenden. Dies wird unterstrichen durch das Anschwellen der staatlichen Ausgaben, die dem sozialen Bereich gewidmet werden (indirekte Löhne, die der Gesamtlohnmenge entzogen werden).
Staatliche Sozialausgaben (Anteil am BSP)
BRD Frank. GB USA
Statistik wird noch eingestellt
In Frankreich ergriff der Staat in einer Periode des sozialen Friedens eine ganze Reihe von Maßnahmen: Krankenversicherung ab 1928-30, unentgeltliche Erziehung ab 1930, Kindergeld ab 1932. In Deutschland wurde die Krankenversicherung auf Büroangestellte und Landarbeiter ausgeweitet, ab 1927 wurde den Arbeitslosen eine finanzielle Hilfe gewährt. Das gegenwärtige System der sozialen Sicherheit in den entwickelten Ländern wurde während und gleich nach dem 2.Weltkrieg (7) entworfen, diskutiert und geplant: in Frankreich 1946, in Deutschland 1954-57 (Montangesetz 1951), etc.
Alle diese Maßnahmen zielten zuvorderst auf eine bessere soziale und politische Kontrolle über die Arbeiterklasse und auf die Steigerung ihrer Abhängigkeit von Staat und Gewerkschaften (indirekte Löhne) ab. Aber auf der ökonomischen Ebene hatten sie einen zweiten Effekt: Sie verminderten die Schwankungen in der Nachfrage des Sektors II (Konsumgüter), wo die Überproduktion zuerst auftritt.
Die Einrichtung von Einkommenshilfen, automatischen Lohnerhöhungen (8) und die Entwicklung von sogenannten Verbraucherkrediten sind alle Teil desselben Mechanismus.
In der Periode der kapitalistischen Dekadenz besitzen Kriege und Rüstungsproduktion keinerlei Funktion mehr in der kapitalistischen Gesamtentwicklung. Sie sind weder Akkumulationsfelder des Kapitals noch ein Moment in der politischen Vereinheitlichung der Bourgeoisie (wie in Deutschland nach dem Deutsch-französischen Krieg von 1871: siehe dazu International Review, No.51, 52, 53).
Kriege sind der höchste Ausdruck der Krise und Dekadenz des Kapitalismus. A Contre Courant (ACC) weigert sich, dies einzusehen. Für diese `Gruppe' besitzen Kriege, mit Blick auf die Zerstörungen, die sie anrichten und die die wachsende Heftigkeit der Krisen in einem sich konstant weiterentwickelnden Kapitalismus ausdrücken, eine ökonomische Funktion bei der Entwertung von Kapital. Kriege in der aufsteigenden und in der dekadenten Periode des Kapitalismus würden daher keinerlei qualitative Unterschiede aufweisen. "Auf dieser Ebene möchten wir selbst der Idee eines Weltkrieges eine Perspektive verschaffen.... Alle Kriege im Kapitalismus haben somit einen im wesentlichen internationalen Inhalt.... Was sich geändert hat, ist nicht der unveränderte globale Inhalt des Krieges (ob dies nun die Dekadentisten mögen oder nicht), sondern sein Umfang und seine Tiefe, die noch weltweiter und katastrophaler sind" (A Contre Courant, Nr.1). ACC führt zwei Beispiele an, um ihre These zu stützen: die Periode der Napoleonischen Kriege (1795-1815) und die, im Vergleich zum 2. Weltkrieg, noch lokale Natur (sic!) des 1. Weltkrieges. Diese beiden Beispiele beweisen überhaupt nichts.
Graphik 5. Entwicklung der Einzelhandelspreise in Frankreich 1820-1982
Statistik wird noch eingestellt
Nachdem sie ein Jahrhundert lang stabil geblieben waren, explodierten nach dem 1. Weltkrieg die Preise in Frankreich noch stärker als nach dem Zweiten; sie sind zwischen 1914 und 1982 um das 1000-fache gestiegen.
Quelle: INSEE
Während in der aufsteigenden Periode die Tendenz der Preise insgesamt stabil blieb oder fiel, hat sich in der Dekadenz die Tendenz in ihr Gegenteil verkehrt. 1914 fing die Phase der permanenten Inflation an.
Die Napoleonischen Kriege wurden am Wendepunkt zwischen zwei Produktionsweisen ausgefochten; sie sind tatsächlich die letzten Kriege des Ancien Régime ( Dekadenz des Feudalismus) gewesen und können nicht in einem Atemzug mit den charakteristischen Kriegen des Kapitalismus genannt werden. Obwohl Napoleons Wirtschaftsmaßnahmen die Entwicklung des Kapitalismus ermutigten, engagierte er sich auf politischer Ebene, in bester Tradition des Ancien Régime, in einem militärischen Feldzug. Die Bourgeoisie hegte keine Zweifel darüber; nachdem sie ihn eine Zeitlang unterstützt hatte, stürzte sie ihn, weil sie seine Feldzüge zu teuer fand und seine Kontinentalblockade eine Behinderung ihrer Entwicklung darstellte. Auch das zweite aufgeführte Beispiel erfordert entweder eine außerordentliche Phantasie oder eine nicht minder außergewöhnliche Ignoranz. Es geht nicht um einen Vergleich zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg, sondern um den Vergleich beider mit den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts - ein Vergleich, den die ACC mit Bedacht nicht anstellt. Würden sie ihn nämlich anstellen, wäre die Schlußfolgerung so deutlich, daß niemand sie übersehen kann.
Nach der Tollheit des Ancien Régime wurde der Krieg den Bedürfnissen des Kapitalismus nach Welteroberung angepaßt (wie wir in einiger Ausführlichkeit in der International Review, Nr.54, erklärt haben), nur um einst wieder zurückzukehren, die Irrationalität des dekadenten kapitalistischen Systems zu vervollständigen. Angesichts der sich vertiefenden Widersprüche des Kapitals war der 2.Weltkrieg unvermeidlicherweise weitergehend und zerstörerischer als der 1., aber beider Hauptkennzeichen sind identisch und den Kriegen des letzten Jahrhunderts entgegengesetzt.
Was die Erklärung der ökonomischen Funktion des Krieges mit der Kapitalentwertung (Anstieg der Profitrate - MW / KK + VK - dank der Zerstörung von konstantem Kapital) (VK= variables Kapital, KK= Konstantes Kapital) angeht, so bricht sie nach genauer Prüfung zusammen. Erstens, weil der Krieg auch Arbeiter (VK) auslöscht, und zweitens, weil sich der Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals auch während des Krieges fortsetzt. Das zeitweise Wachstum der Profitrate in der unmittelbaren Nachkriegsperiode entspricht einerseits der Niederlage und der Überausbeutung der Arbeiterklasse und andererseits dem Anstieg des relativen Mehrwerts infolge der Entwicklung der Arbeitsproduktivität.
Am Ende des Krieges sieht sich der Kapitalismus immer noch der Notwendigkeit gegenüber, die Gesamtheit seiner Produktion zu verkaufen. Was sich jedoch geändert hat, ist erstens der zeitweise Rückgang der für die Reinvestition bestimmten Mehrwertmenge, die realisiert werden muß (entsprechend der durch den Krieg verursachten Zerstörungen), und zweitens die Schrumpfung des Marktes durch die Eliminierung von Konkurrenten (die USA schnappten sich die meisten Kolonialmärkte der europäischen Metropolen).
Was die Waffenproduktion anbetrifft, so ist sie primär von der Notwendigkeit des Überlebens in einer Umgebung inter-imperialistischer Konkurrenz motiviert, gleich, wieviel sie kostet. Erst danach spielt sie auch eine ökonomische Rolle. Obwohl auf der Ebene des globalen Kapitals die Waffenproduktion für eine Verzehrung von Kapital sorgt, ohne der Bilanz am Ende des Produktionszyklus etwas hinzuzufügen, erlaubt sie dem Kapital, seine Widersprüche sowohl in Raum als auch in Zeit auszubreiten. In der Zeit, weil die Waffenproduktion zeitweise die Fiktion einer kontinuierlichen Akkumulation am Leben erhält, und im Raum, weil das Kapital durch das ständige Entfachen von lokalen Kriegen und durch den Verkauf eines großen Teils der produzierten Waffen an die `Dritte Welt' einen Transfer von Werten der letztgenannten an die entwickelteren Länder betreibt.(9)
Von den von uns oben geschilderten Maßnahmen, die bereits nach der Krise von 1929 teilweise in die Praxis umgesetzt wurden (New Deal, Volksfront, DeMan-Plan, etc.), um den Schritt in die Todeszone der fundamentalen Widersprüche des Kapitalismus hinauszuzögern, wurde schon in der Nachkriegsperiode bis zum Ende der 60er Jahre ausgiebig Gebrauch gemacht. Heute sind sie erschöpft, und die Geschichte der letzten 20 Jahre ist die Geschichte ihrer wachsenden Unwirksamkeit.
Das Streben nach militärischem Wachstum bleibt eine Notwendigkeit (weil es seinerseits von den wachsenden imperialistischen Bedürfnissen vorangetrieben wird), aber es verschafft nicht einmal mehr zeitweise Erleichterung von den wirtschaftlichen Problemen. Die massiven Kosten der Waffenproduktion erschöpfen nun direkt das produktive Kapital. Aus diesem Grunde verlangsamt sich heute ihr Wachstum (außer in den USA, wo die Rüstungsausgaben in der Periode von 1976-80 um 2.3% und in der Periode von 1980-86 um 4.6% wuchsen) und fällt der Anteil der `Dritten Welt' an Rüstungsausgaben, selbst wenn die militärischen Ausgaben immer mehr versteckt werden, insbesondere unter dem Titel der `Forschung'. Nichtsdestotrotz setzt sich der Anstieg der Militärausgaben in jedem Jahr fort (um 3.2% von 1980-85), und zwar mit einer schnelleren Rate als das globale BSP (2.4%).
Der massive Gebrauch von Krediten hat den Punkt erreicht, wo er ernste finanzielle Beben provoziert (z.B. Oktober 1987). Der Kapitalismus hat keine andere Wahl mehr, als auf des Messers Schneide zwischen der Gefahr eines Rückfalls in die Hyperinflation (die Kredite geraten außer Kontrolle) und der Rezession (entsprechend dem Ansteigen des Zinssatzes, was die Kreditaufnahme verringert) zu wandeln. Mit der Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise wird die Produktion in steigendem Maße vom Markt getrennt; die Realisierung des Warenwerts und damit des Mehrwerts wird immer komplizierter. Es wird immer schwieriger für den`Produzenten' zu wissen, ob seine Waren Absatz, einen `Endverbraucher' finden.. Er weitet seine Produktion ohne jegliche Rücksicht auf die Fähigkeit des Marktes aus, seine Produkte aufzunehmen. Kredite, die den Ausbruch der Krise aufschieben, erschweren nur das Gleichgewicht im System, was bedeutet, daß, wenn die Krise einmal ausbricht, dies um so gewalttätiger geschieht.
Der Kapitalismus ist immer weniger imstande, eine solche inflationistische Politik aufrechtzuerhalten, die die Wirtschaftsaktivitäten auf künstliche Weise unterstützt. Solch eine Politik setzt hohe Zinssätze voraus (denn wenn die Inflation erst einmal reduziert worden ist, gibt es kein großes Interesse am Geldverleihen mehr). Hohe Zinssätze beinhalten jedoch eine hohe Profitrate in der realen Ökonomie (es ist ein allgemeines Gesetz, daß die Zinssätze niedriger sein müssen als die durchschnittliche Profitrate). Dies aber ist immer weniger möglich, da die Krise der Überproduktion und der Absatzmangel die Profitabilität des investierten Kapitals senkt, so daß nicht mehr eine Profitrate erreicht werden kann, die ausreicht, um die Bankzinsen zu zahlen. Dieses Dilemma konkretisierte sich im Oktober 1987 in Gestalt der Börsenpanik.
Alle außerkapitalistischen Märkte sind unter einem immensen Druck überausgebeutet worden und völlig außerstande, für einen Ausweg zu sorgen.
Heute hat die Entwicklung der unproduktiven Bereiche einen Punkt erreicht, wo eine inflationistische Politik die Dinge eher verschlimmert als lindert. Die Zeit ist daher gekommen, um die Ausgaben für den Überbau zu reduzieren.
Schon die Linderungsmittel, die seit 1948 benutzt worden sind, standen auf keinem gesunden Fundament, ihre heutige Erschöpfung jedoch bildet eine ökonomische Todeszone von unvorhergesehenem Ausmaß. Heute besteht die einzig mögliche Politik in einem Frontalangriff auf die Arbeiterklasse, einen Angriff, der von jeder Regierung mit Hingabe ausgeführt wird, ob rechts oder links, Ost oder West. Dennoch verschafft diese Austerität, dank derer die Arbeiterklasse täglich im Namen der `Wettbewerbsfähigkeit' eines jeden nationalen Kapitals teuer für die Krise zahlt, keine `Lösung' der allgegenwärtigen Krise; im Gegenteil, sie verringert die zahlungsfähige Nachfrage nur noch weiter.
Wir haben die verschiedenen Elemente, die das Überleben des Kapitalismus erklären, nicht von einem akademischen Standpunkt aus, sondern als Militante betrachtet. Was uns beschäftigt, ist, die Bedingungen für die Entwicklung des Klassenkampfes besser zu verstehen, indem wir ihn in dem einzig gültigen und kohärenten Rahmen plazieren - der Dekadenz des Kapitalismus -, indem wir uns mit den verschiedenen Maßnahmen auseinandersetzen , die vom Staatskapitalismus eingeführt wurden, und indem wir die Eindringlichkeit und die Gefahren der gegenwärtigen Lage anerkennen, die auf die Erschöpfung der Linderungsmittel des Kapitalismus gegen die Krise zurückzuführen sind (s. International Review, Nr.23, 26, 27, 31).
Marx wartete nicht bis er das `Kapital' geschrieben hatte, ehe er sich dem Klassenkampf anschloß. Rosa Luxemburg und Lenin warteten nicht auf die Bestätigung der ökonomischen Analyse des Imperialismus, ehe sie für die Notwendigkeit der Gründung einer neuen Internationale eintraten, ehe sie den Krieg durch die Revolution bekämpften, etc. Denn hinter ihren Meinungsverschiedenheiten (Lenin erklärte den Imperialismus mit der fallenden Profitrate und dem Monopolkapitalismus, Luxemburg mit der Sättigung der Märkte) verbarg sich eine profunde Übereinstimmung in allen Hauptfragen des Klassenkampfes und besonders in der Anerkennung des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise, der die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setzte: "Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, daß er charakterisiert werden muß als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus.... Parasitismus und Fäulnis kennzeichnen das höchste Stadium des Kapitalismus, den Imperialismus...." (Ausgewählte Werke Bd.2, LW22, S.768) "Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats. Das hat sich seit 1917 im Weltmaßstab bestätigt." (dito S.653)"
Wenn diese beiden großen Marxisten wegen ihrer ökonomischen Analysen so heftig angegriffen wurden, dann nicht wegen der ökonomischen Analysen als solche, sondern wegen ihrer politischen Positionen. Gleichermaßen verbergen sich hinter dem gegenwärtigen Angriff auf die IKS in bezug auf die ökonomischen Fragen eine Verweigerung der militanten Verantwortung, eine rätekommunistische Auffassung von der Rolle der Revolutionäre, eine Nicht-Anerkennung des gegenwärtigen historischen Kurses hin zu Klassenkonfrontationen und ein Mangel an Überzeugung vom historischen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise.
C.Mcl.
(aus International Review, Nr. 56, 1. Quartal 1989)
(Es handelt sich um den 6. Teil einer Polemik zur Frage der Dekadenz. Einige Teile sind in der Internationalen Revue Nr. 10,11 auf deutsch und die anderen Teile auf engl./franz./span. erhältlich)
Fußnoten:
1) Deshalb war sich Marx stets sehr klar über die Tatsache, daß, um über den Kapitalismus hinaus zur Schaffung des Sozialismus zu schreiten, die Abschaffung der Lohnarbeit Vorbedingung ist: "Statt des konservativen Mottos: `Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!', sollte sie [die Sozialdemokratie] auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: `Nieder mit dem Lohnsystem!'." (MEW16, S.152)
2) Wir nehmen hier nicht für uns in Anspruch, eine detaillierte Erklärung der ökonomischen Mechanismen und Geschichte des Kapitalismus seit 1914 zu liefern, sondern wollen lediglich die Hauptelemente herausstellen, die ihm erlaubt haben zu überleben, indem wir uns auf die Mittel konzentrieren, die er benutzt hat, um den Tag der Abrechnung seiner fundamentalen Widersprüche zu umgehen.
3) An dieser Stelle sollten wir hervorheben, daß von einigen `legitimen', wenn auch akademischen Fragen abgesehen, dieses Pamphlet nichts anderes ist als eine Reihe von Entstellungen, die auf dem Grundsatz basieren: `Derjenige, der seinen Hund töten will, behauptet zunächst, er habe die Tollwut'.
4) Das Wertgesetz regelt den Austausch auf der Basis des gleichen Arbeitsaufwands. Aber innerhalb des nationalen Rahmens kapitalistischer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und unter dem gegebenen Anstieg der nationalen Unterschiede in den Produktionsbedingungen in der Dekadenz (Arbeitsproduktivität und -intensität, organische Zusammensetzung des Kapitals, Löhne, Mehrwertraten, etc.) findet die Egalisierung der Profitraten, die den Produktionspreis bilden, wesentlich im nationalen Rahmen statt. Es existieren somit verschiedene Preise für dieselbe Ware in verschiedenen Ländern. Dies bedeutet, daß im internationalen Handel das Tageswerk einer entwickelteren Nation gegen jenes einer weniger entwickelten Nation oder eines Niedrig-Lohn-Landes ausgetauscht wird.... Länder, die Fertigprodukte exportieren, können ihre Waren über den Produktionspreis verkaufen, wobei er immer noch unterhalb des Produktionspreises des importierenden Landes bleibt. Erstere realisieren somit durch den Werttransfer einen Superprofit. Zum Beispiel: 1974 kostete ein Doppelzentner (100 Kilo) US-Weizen vier Stundenlöhne eines Arbeiters in den USA, aber 16 Stunden in Frankreich, was einer höheren Arbeitsproduktivität in den USA entsprach. Die amerikanische Agrarindustrie konnte also ihren Weizen in Frankreich oberhalb des Produktionspreises (4 Stunden) verkaufen und blieb immer noch konkurrenzfähiger als der französische Weizen (16 Stunden) - was den beeindruckenden Schutz ihres landwirtschaftlichen Marktes durch die EU und die unaufhörlichen Streitereien über diese Frage erklärt.
5) Für die EFICC trifft dies nicht mehr zu. Die Entwicklung des Staatskapitalismus wird mit dem Übergang von der formalen zur realen Herrschaft des Kapitals erklärt. Wenn dies der Fall wäre, müßten wir rein statistisch eine kontinuierliche Weiterentwicklung des staatlichen Anteils in der Wirtschaft beobachten können, da dieser Übergang sich über eine lange Periode erstreckte, und darüber hinaus müßten wir seinen Anfang bis in die aufsteigende Periode zurückverfolgen können. Dies ist ersichtlich nicht der Fall. Die Statistiken, die wir veröffentlichten, zeigen einen deutlichen Bruch im Jahr 1914. Während der aufsteigenden Phase war der Staatsanteil in der Wirtschaft konstant klein (er schwankte um 12% herum), doch während der Dekadenz wuchs er soweit, daß er heute im Durchschnitt über 50% des BSP beträgt. Dies bekräftigt unsere These der untrennbaren Verbindung zwischen der Dekadenz und der Entwicklung des Staatskapitalismus und entkräftet kategorisch jene der EFICC.
6) Nach dieser Artikelserie kann nur jemand, der so blind wie unsere Kritiker ist, den klaren Bruch in der kapitalistischen Existenzweise übersehen, der vom Ersten Weltkrieg dargestellt wird. All die langfristigen statistischen Aufstellungen, die wir in diesem Artikel veröffentlicht haben, demonstrieren diesen Bruch: Weltindustrieproduktion, Welthandel, Preise, Staatsinterventionen, Austauschverhältnis und Bewaffnung. Allein die Analyse der Dekadenz und ihre Erklärung mit der weltweiten Sättigung des Marktes machen diesen Bruch nachvollziehbar.
7) Auf Wunsch der britischen Regierung stellte der liberale Abgeordnete Sir William Beveridge einen Bericht zusammen, der, 1942 veröffentlicht, als Basis des Sozialversicherungssystems in Großbritannien diente, aber auch die Sozialversicherungssysteme in allen entwickelten Ländern inspirierte. Vorrang hatte, gegen einen direkt vom Lohn abgezogenen Beitrag, die Sicherung einer finanziellen Unterstützung im Falle "sozialer Risiken" (Krankheit, Unfall, Tod, Alter, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, etc.).
8) Ebenfalls während des Zweiten Weltkrieges plante die niederländische Bourgeoisie mit den Gewerkschaften eine progressive Lohnsteigerung in Verbindung mit, auch wenn sie darunter blieb, der Produktivitätssteigerung.
9) CoC mag es, wenn 2 plus 2 gleich 4 sind; wenn ihnen gesagt wird, daß eine 4 auch durch die Subtrahierung der 2 von der 6 rauskommt, sehen sie darin einen Widerspruch. Daher kommt die CoC auf "die IKS und ihre widersprüchlichen Betrachtungen über die Aufrüstung (zurück). Während einerseits die Aufrüstung für den Absatz der Produktion in einem Ausmaß sorge, daß beispielsweise die Wirtschaftskonjunktur nach der Krise von 1929 allein auf die Rüstungsindustrie zurückzuführen sei, lernen wir andererseits, daß die Waffenproduktion keine Lösung der Krisen sei und daß Rüstungsausgaben daher eine unglaubliche Verschwendung von Kapital für die Entwicklung der Produktivkräfte darstellen, daß die Rüstungsproduktion auf die Minusseite des allgegenwärtigen Gleichgewichts angesiedelt werden sollte." (CoC, Nr.22)
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