Veröffentlicht auf Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Startseite > Internationale Revue - 1970s > Internationale Revue - 1979 > Internationale Revue Nr. 3

Internationale Revue Nr. 3

  • 2711 Aufrufe

Iran: Die Lehren aus den Ereignissen

  • 1913 Aufrufe

Nach mehreren Monaten der Aufstände, Streiks und der vergeblichen Versuche der Schah-Regierung, die Unzufriedenheit des Volkes durch eine blutige und massive Repression zum Schweigen zu bringen, übernimmt eine neue, bisher aus der offiziellen politischen Spiel ausgeschlossene, manchmal sogar unter­drückte und exilierte Mannschaft die Ge­schäfte des iranischen Kapitals.

Der Umfang der Unruhen, die die iranische Gesellschaft erlebte und die den spektakulären und brutalen Wechsel der führenden Mann­schaft verursachte, die wichtige Stellung, die dieses Land in den strategischen Bedürfnissen des stärksten imperialistischen Blocks einnimmt – ein Faktor größter Sorge für den Block -, die große internationale Reichweite der Ereignisse im Iran, mehr in dem Sinn, wofür sie stehen, als für ihre unmittelbaren Folgen, und schließlich – und am wichtigsten – der Part, der vom Proletariat in diesen Ereignissen gespielt wird – all dies macht es notwendig, eine gewisse Zahl von Lehren aus diesen Ereignissen für den Kampf des Weltproletariats zu ziehen.

1. Im Gegensatz zu gewissen Behaup­tungen - von der liberalen Presse bis hin zu den Bordigisten - hat es im Iran keine "Revolution" gegeben, weder eine "demokratische" noch eine "islamische". Genauso wenig wie die englische Queen oder Kaiser Bokassa der Erste war der iranische Schah Ver­treter irgendeines "Feudalismus", der von den „progressiven“ Kräften des Ayatollah Khomeini überwältigt worden sei. Hauptursache des Bruchs zwischen der Monarchie und der schiitischen Elite war – Ironie der Geschichte - die Landreform, die von der Monarchie unter­nommen wurde und den Grundbesitzinteressen der Kirche schadete. In der Tat repräsentieren die neuen Machthaber Irans weder politisch noch ökonomisch irgendeine Art von „progressiver“ oder „radikalbürgerlicher“ Kraft. Welche bürgerliche Revolution der Vergangenheit wurde im Namen der "religiösen Tradi­tion" gemacht oder bedeutete nichts anderes als einen Kleiderwechsel für das Regime? Welchen "revolutionären" Charakter hat die "Ver­staatlichung" der Ölindustrie – eine Industrie, die in Wirklichkeit eh schon verstaatlicht ist?

Was die angebliche iranische "Revolution" veranschaulicht, ist die Tatsachen, dass im dekadenten Kapitalismus weltweit die Zeit der bürger­lichen und demokratischen Revolutionen, in welcher Form auch immer, seit langem vorüber ist. Es gibt kein Land (und keine "Ära") mehr, so unter­entwickelt es auch immer sein mag, in denen die der Gesellschaft gestellten Aufgaben die gleichen wären wie jene, die 1789 erfüllt wurden.

2. Die Ereignisse im Iran bestätigen nicht nur, dass nirgendwo auf der Erde - und noch weniger in den unterentwickelten Län­dern – revolutionäre, demokratische Bourgeoi­sien existieren, sondern sie illustrieren gleichermaßen, dass in diesen Ländern die Armee die einzige Kraft der Gesellschaft ist, die ein Minimum an Einheit zu Gunsten des na­tionalen Kapitals garantieren kann. Kaum hat das Khomeini-Bāzargān-Regime die Macht übernommen, ist es schon gezwungen, an diese Kraft zu appellieren, die noch vor einigen Wochen die größte Stütze des Schah-Regimes gewesen war. Und die Hinrichtung ei­niger Generäle, die die Wut der Massen be­ruhigen sollte, wird nichts an der Realität ändern, dass die Armee intakt bleibt – sowohl die Armee als Institution als auch die militärische Hierarchie. Wie in allen Ländern, in denen der kapitalistische Staat seine Macht nicht auf eine starke und historisch entwickelte ökonomische Grund­lage abstützen kann, und in denen die herr­schende Klasse nicht über juristischen Institutionen und einen politischen Appa­rat verfügt, die flexibel genug wären, die Konflikte, die sie zerreißen und alle Gesellschaftsschichten ins Chaos werfen, innerhalb der Grenzen der „Legalität“ und „Demokratie“ einzudämmen, unterstreichen die Entwicklungen im Iran eine fundamentale Lehre bezüglich der Armee. Da sie die hierarchische, zentralisierte Gewalt der auf Ausbeutung und Unterdrückung basierenden Gesellschaftsverhältnisse repräsentiert und die allumfassende Tendenz im dekadenten Kapitalismus zur Militarisierung der Gesellschaft ausdrückt, bildet die Armee praktisch ständig die einzige Garantie für das Überleben und die Stabilität des bürgerlichen Regimes, ob es sich „völkisch“, „islamisch“ oder „revolutionär“ nennt.

3. Die Ereignisse im Iran machen deutlich, dass heute in den unterent­wickelten Ländern wie überall auf dieser Welt einzig die proletarische Revolution auf der Tagesordnung steht. Entgegen der Legende, die von jenen so gern fortgeschrieben wird, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben, haben die Ereignisse im Iran nicht nur klar bewiesen, daß in den rückständigen Länder ein Proletariat existiert, sondern auch, daß es – wie das Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern - in der Lage ist, sich kämpfend und auf seinem eigenen Terrain zu mobilisieren. Im Kielwasser der Arbeiter­kämpfe in verschiedenen Ländern Lateiname­rikas, in Tunesien, in Ägypten usw. zum Ausbruch gekommen, waren die Streiks der iranischen Arbeiter das wichtigste politische Element, das zum Sturz des Schah-Regimes führte. Als trotz der Massenmobilisierungen die Kräfte der „Volks“-Bewegung– die fast alle unterdrückten Schichten im Iran um sich scharte – zu schwinden begannen, verlieh der Eintritt des Proletariats, insbesondere der Ölarbeiter, in den Kampf nicht nur der Agi­tation neuen Schwung, sondern stell­te das nationalen Kapital dieses Landes wegen des fehlenden Ersatzes für das alte Regierungsteam vor ein fast unlösbares Problem. Während die Repression ausreichte, Klein­händler, Studenten oder halbproletarische Arbeitslose zum Rückzug zu veranlassen, erwies sie sich als wirkungslose Waffe der Bourgeoisie, als diese sich mit der durch die Arbeiterstreiks ausgelösten wirtschaftlichen Lähmung konfrontiert sah. So zeigte das Proletariat selbst in einem Land, wo es zahlenmäßig schwach ist, welche große Macht es aufgrund seiner Stellung im Herzen der kapitalistischen Produktion auf die Gesellschaft ausübt.

4. Die fundamentale Stärke des Proletariats bestätigend, demonstrieren die Ereignisse im Iran auch, daß das Pro­letariat die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die fähig ist, sich der einen Lösung zu widersetzen, die der Kapitalismus für seine Krise hat, die Lösung des imperialistischen Krieges. Gerade weil der Iran eine wichtige Position in der militärischen Aufstellung des westlichen Blocks innehält, ist er zum Gegenstand großer Aufmerksamkeit vonseiten des Blocks geworden. Die Probleme, die die Klassenbewegung nicht nur für das nationale Kapital, sondern auch für die Kriegsvorbereitungen des imperialistischen Blocks schafft, machen deutlich, warum die Aktion des Proletariats heute wie in der Vergangenheit das einzige und entscheidende  Hindernis bildet, das der Bourgeoisie im Weg steht, um ihrem Kurs zum imperialistischen Krieg zu folgen.

5. Seine Rolle in den iranischen Ereignissen stellt das Proletariat vor ein grundsätzliches Problem, das es zur Durch­führung der kommunistischen Revolution wird lösen müssen: das Problem seiner Be­ziehungen zu allen anderen nichtausbeuten­den Schichten der Gesellschaft, vor allem zu jenen ohne Arbeit. Diese Ereignisse beweisen, dass:

- diese Schichten trotz ihrer Anzahl keine wirkliche Kraft in der Gesellschaft dar­stellen;

- sie viel mehr als das Proletariat für die verschiedenen Formen von Mystifikationen und kapitalistischer Kontrolle, ein­schließlich der überholtesten wie die Reli­gion, anfällig sind;

- aber in dem Maße, wie die Krise auch die Arbeiterklasse trifft, wie sie diese Schichten angreift, Letztere zu einer zusätzlichen Kraft im Kampf gegen den Kapitalismus werden können, vorausgesetzt, das Proletariat kann sich an die Spitze des Kampfes stellen und tut es auch.

Gegenüber allen Versuchen der Bour­geoisie,  ihre Unzufrieden­heit in hoffnungslosen Sackgassen zu kanalisieren, muss es das Ziel des Proletariats im Umgang mit diesen Schichten sein, ihnen aufzu­zeigen, dass keine der vom Kapitalismus vorgeschlagenen "Lösungen", ihr Elend zu beenden, ihnen irgendwelche Erleichterung bringen wird. Nur im Kielwasser der revolutionären Klasse können sie ihre Sehnsüchte befriedigen, nicht als eine besondere - historisch zum Untergang verurteilte - Schicht, sondern als Mitglieder der Gesellschaft. Solch eine politische Perspektive setzt die organisatorische und politische Autonomie des Proletariats voraus, d.h. insbesondere die Ablehnung jeglicher „Bündnisse“ mit diesen Schichten. Das Proletariat kann diese Schichten nicht hinter sich ziehen, indem es sich hinter ihre spezifischen Forderungen stellt. Im Gegenteil, die Geschichte hat gezeigt, daß diese Schichten dazu neigen, der dynamischsten Kraft der Gesellschaft zu folgen. Daher wird allein die ent­schlossene Behauptung seines revolutionären Projekts dem Proletariat es erlauben, sein Ziel zu erreichen, nämlich diese Schichten hinter seinen Kampf zu ziehen, indem zunächst diese Sektoren von anderen Schichten, die dem Kapital nahe stehen, abgespalten werden.

6. Es gibt im Iran keine bürgerliche Revolution, aber auch keine proletarische. Trotz ihrer unbestreitbaren Kampfbereit­schaft hat die Arbeiterklasse ihre wirk­liche Autonomie nicht durchgesetzt. Weder hat sie gegen die Bourgeoisie um die Macht gekämpft, noch hat sie ihre eigenen Einheitsorganisation, die Arbeiterräte, errichtet. Darin besteht eine andere Lehre aus den Ereignissen im Iran. Trotz der numerischen, orga­nisatorischen und politischen Schwächen des Proletariats, die es heute der Bourgeoisie erlauben, allumfassende Kontrolle auszuüben, haben die Kämpfe der Arbeiterklasse dennoch einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der weltpolitischen Situation gehabt. Die Ereignisse im Iran waren in diesem Sinne eine Vorwegnahme der Zukunft. Nach einer Periode der Verdunkelung im Anschluß an die Welle von Klassenkämpfen, die zwischen 1968 und 1973 stattgefunden hatten, neigt heute der Arbeiterkampf immer mehr dazu, sich selbst zur Geltung zu bringen und zu verallgemeinern. Das Pro­letariat besetzt zusehends die erste Reihe auf der politischen Bühne in der Gesellschaft, zum Nachteil aller inneren Widersprüche, die die kapitalistische Klasse aufreiben (ihre wirtschaftlichen und politischen Krisen, die militärische Aufrüstung der Blöcke). Doch das Proletariat im Iran kann, wie jedes Proletariat in einem unterentwickelten Land, das Problem nur stellen, wird es aber nie lösen können. Nur die Tat des gesamten Weltproletariats und an erster Stelle das der mächtigsten Länder wird das Problem lösen, indem es den Angriff gegen den Kapitalismus verallgemeinert und das gesamte System zerstört.

INTERNATIONALE KOMMUNISTISCHE STRÖMUNG

17. Februar 1979

Stahlarbeiterstreik

  • 2078 Aufrufe

Gegen die Arbeitslosigkeit ist der Kampf gegen die Gewerkschaft!

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist der Kampf gegen die Gewerkschaft!

Noch vor einigen Monaten redete der DGB von einem Arbeitskampf, der in die Sozialge­schichte eingehen werde: der Kampf um die 35 Stunden-Woche - die"endlich gefundene Lö­sung" des Problems der Arbeitslosigkeit. In­zwischen haben die Stahlarbeiter die Arbeit längst wiederaufgenommen. Ihre Arbeitsplätze aber sind so gefährdet wie zuvor und ihr Lebensstandard wird abermals durch den Lohn­abschluss der IG Metall gesenkt. Des DGB's loyalste Verteidiger - wie etwa die trotzkistische GIM - reden von einer "schwe­ren Niederlage" für die Gewerkschaften. Aber es sind die Arbeiter selber, die eine Niederlage erlitten haben - geschlagen durch die vereinigten Kräfte von Staat, Bossen und Gewerkschaften.

Der Streik derStahlarbeiter ist vorbei

Und dies trotz der Kampfbereitschaft der Arbeiter, ihrer Entschlossenheit, die Arbeitslosigkeit und die Auswirkungen der weltweiten Krise zu bekämpfen. Es hieß, dies sei der "erste offizielle Streik in der Stahlindustrie seit einem halben Jahrhundert". Soll das heißen, dass die Gewerkschaften der Metall­arbeiter - um bei diesem Beispiel zu bleiben - ­niemals gekämpft haben? Zum Beispiel:

-     gegen die Inflation und die Arbeitslosig­keit, die unseren Lebensstandard seit Ende der sechziger Jahre ständig mehr angreifen?

-     gegen die in den Betrieben nach dem Krieg erzwungene mörderische Ausbeutung, die grau­samere Arbeitsbedingungen als im "Dritten Reich" bedeuteten?

-     gegen die Auswirkungen der galoppierenden Inflation, die die Arbeiter 1923 der Hun­gersnot auslieferten?

-     oder gegen die Arbeitslosenwelle nach 1929, in der Millionen auf die Straße geworfen wurden?

Jawohl, genau das heißt es! Mehr noch: gerade sie standen an der Spitze der Kampagne, die Arbeiterklasse für die Armut zu gewinnen. Die Gewerkschaften und Bosse, die miteinander die Niederlage der Stahlarbeiter so"erbittert" und "unausweichlich" ausgehandelt haben, reden aber nicht von den Stahlarbeiterstreiks von 1969 und 1973, die, un­abhängig von den Gewerkschaften, durch die von Vollversammlungen gewählten Streikkomitees geführt wurden. Und sie sprechen auch nicht über die Massaker, die Gewerkschaften und Sozialdemokratie vor 50 Jahren in eben jenem Ruhrpott, wo sie heute feierlich ihre"kämpferischen" Lügen verbreiten, unter den Arbeitern angerichtet haben.

Der Streikaufruf der Gewerkschaften - von ihren Knechten der extremen Linken unter­stützt - kam zum richtigen Zeitpunkt für das nationale Kapital. Die BRD - dominierende Macht der europäischen Wirtschaft - kann dem ökonomischen Zusammenbruch nicht widerstehen. Die Tage, in denen Bonn durch den Rausschmiss der Gastarbeiter, den Export der Krise in die schwächeren Länder und den Angriff gegen die Mittelschichten eine Scheinstabilität aufrechterhalten konnte, sind vorbei. Der Bankrott der Länder der Peripherie, die Zahlungsunfähigkeit des Comecons, die Notwendigkeit, die "kranken Männer" der atlan­tischen Allianz zu unterstützen und den Krieg vorzubereiten, zwingen Bonn (und Tokio) dazu, die Stabilisierung des westlichen Blocks zu finanzieren.

Gleichzeitig üben die USA einen immer größeren Druck auf die BRD aus, damit diese ihre Wirtschaft wiederankurbelt, um den Fall des Dollars aufzuhalten, ihre militärischen Ausgaben zu vergrößern und die durch die USA aufgezwungenen Einschrän­kungen der Exporte und in der Energiepolitik zu akzeptieren. Um ihre dominierende Stellung gegenüber einer immer schärferen Konkurrenz auf dem wackelnden Weltmarkt zu verteidigen, ist die deutsche Bourgeoi­sie immer mehr dazu gezwungen, die deutsche Arbeiterklasse anzugreifen. Es ist notwen­dig geworden, die brutalen Rationalisierungsprogramme der Schmidt-Regierung zu beschleunigen und die Löhne drastisch zu reduzieren.

Nach der Textil- und Druckindustrie wird jetzt die Stahlindustrie von Massenent­lassungen bedroht (laut der IGM sind in den nächsten Jahren 100.000 Stellen davon be­troffen). Die wachsende Unzufriedenheit, die schon in den letzten Jahren zu zahlreichen kurzen Streiks und Demonstrationen geführt hatte[1],musste von den Gewerkschaften aufgefangen werden, bevor spontane, von den Gewerkschaften nicht kontrollierte Kämpfe ausbrechen. Ende November rief die IGM zu einem Streik auf, der möglichst Weihnachten be­endet werden sollte. Dieser Streik sollte die Arbeiter durch die Drohung der Arbeits­losigkeit beängstigen; sie sollten den Fall ihres Lebensstandards akzeptieren. Darüber hinaus sollten die Arbeiter demoralisiert werden ("der Kampf lohnt sich nicht") und exempla­risch die anderen Sektoren für die nachfolgenden Tarifverhandlungen von vornherein vom Kampf abhalten. Außerdem sollte das be­rühmte Rezept der 35 Stunden-Woche ("der Kampf um die Verteilung der Arbeitsplätze unter den Arbeitern", wie die Trotzkisten es nennen) erprobt werden. Nach dem beliebten Motto "Teile und herrsche" wurde der Streik bei den Stahlarbeitern auf die Gebiete Nie­derrhein und Ruhrgebiet begrenzt, dann auf Bremen ausgeweitet. Schließlich wurden die Fabri­ken aufgeteilt: die streikenden, die ausge­sperrten und die arbeitenden (37.000 Arbei­ter von 200.000 habengestreikt, 40 Betrie­be von 50 weiter produziert; drei Tage nach Streikbeginn wurden die streikenden Arbei­ter und 30.000 zusätzliche in sieben Betrieben ausgesperrt.) Damit die Industrie möglichst wenig Schaden durch den Streik erleidet, wurden die streiken­den Fabriken von den Gewerkschaften sorgfältig ausgesucht: Von den Öfen, die qualitativ hochwertigen Stahl produzieren, nahm nur eine sehr kleine Fabrik in Dillenburg am Streik teil; die Blechproduktion für die Autoindustrie wurde trotz der Entschlossenheit der streikwilligen Ar­beiter weitergeführt (Krupp/Bochum und Klöckner/Bremen); mit der Zustimmung der Gewerkschaft wurden Überstunden in zahl­reichen Stahlwerken geleistet, um den Schlüsselindustrien zu helfen. Die Situa­tion des Stahlgiganten Hoesch ist bedeutend: von den drei Hoesch-Öfen in Dortmund wurde ei­ner bestreikt, einer ausgesperrt und der dritte produzierte weiter.

Nachdem es den Gewerkschaften gelungen war, die Stahlarbeiter vonm Rest der Ar­beiterklasse in der BRD und diese Arbeiter selbst voneinander zu isolieren (streiken­de, ausgesperrte und produzierende), musste jede autonome Organisierung des Kampfes verhindert werden: Die Streikposten wurden - meistens ohne Erfolg - auf Gewerkschafter und Vertrauensleute begrenzt, nachher durch "Beobachter" ersetzt. Damit die Arbeiter je­doch ihre Unzufriedenheit "austoben" konn­ten, wurden Demonstrationen organisiert, die zu bloßen Spaziergängen durch die Städte verkamen. Jedoch gelang es den Gewerk­schaften nicht, aus diesen Demonstrationen unkämpferische, demoralisierende Straßenaufzüge zu machen: Tausende Arbeiter anderer Industrien legten die Arbeit nieder, um ihre Solidarität mit den Stahlarbeitern zu de­monstrieren; in Essen, Duisburg, Mülheim usw. streikten spontan die Nahverkehrsarbeiter. Die Müllabfuhrarbeiter schlossen sich - mit Solidaritätstrans­parenten auf ihren Lastwagen - den Demonstrationen an; in Dortmund hatte die Gewerkschaft Mühe, als sie die Arbeiter, die zu Hoesch gehen woll­ten, um die Arbeiter zur Teilnahme an ihrer Demonstration aufzurufen, überreden wollte, lediglich zum Rathaus zu marschieren.

Nach den Aussperrungen der Bosse wurde das Bedürfnis, die Bewegung zu erweitern, stärker. Die Gewerkschaft musste in mehreren Fabriken eingreifen, um die Arbeiter von Streiks und Fabrikbesetzungen abzuhalten. Einige spontane Streiks fanden statt. In Mannesmann/Mülheim z.B., wo 6.000 Arbeiter ausgesperrt wurden, streikten die restlichen 3.000, die im rentablen Sektor hätten weiterarbeiten sollen.

Der Erfolg der Gewerkschaften bestand auf der anderen Seite in der Mobilisierung zur passiven Teilnahme am Streik unter der Parole der 35 Stunden-Woche. Laut den Zahlen des DGB über die Arbeitslosigkeit in derStahlindustrie müssten die Arbeiter 20 Stunden pro Woche weniger arbeiten, um die Entlassungen dadurch zu stoppen und die Arbeitslosen wiedereinzustellen. Aber mit der Entwicklung der Krise müsste die Arbeits­zeit noch weiter gekürzt werden. Vielleicht dann die Fünftundenwoche bei vollem Lohnausgleich, um "die Arbeitslosigkeit zu stoppen"? Trotz aller Parolen über die 35 Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich stellt der DGB in den Vordergrund, dass mehr Lohn, mehr Urlaub usw. doch nicht so wichtig seien wie die "Erhaltung der Arbeitsplätze". Was die Gewerkschaften wirk­lich in den Vordergrund stellen, lässt die Türen offen für eine Kürzung der Reallöhne gegen ein paar Stunden Urlaub in ei­nigen Abteilungen. Die Ziele der Kampagne für die 35 Stunden-Woche waren:

1)   die Entlassungswelle in der Stahlindus­trie zu bremsen, damit die notwendige Ra­tionalisierung ohne soziale Reaktionen ermöglicht wird;

2)   die Ausbeutungsrate in der Stahlindustrie zu steigern (z.B. die Diskussion über ein mörderisches System von fünf Schichten);

3)   die Idee in der Klasse zu verbreiten, dass man die Not teilen muss, anstatt sie zu bekämpfen.

Aber gerade die SPD und die Gewerkschaften, diese 'Vorkämpfer der Arbeiterklasse", haben vor kurzem die Gesetze über die Arbeitslosigkeit erlassen, die die Arbeitslosen militarisieren und terrorisieren sollen. Jetzt müssen wir unseren Wohnort in Hamburg oder Bremen verlassen, um Arbeit in Stutt­gart oder München anzunehmen. Jetzt müssen Arbeitslose die Straßen kehren, falls sie nicht schnell genug eine andere Arbeit finden.

Wir müssen verstehen, wie die Gewerk­schaften militanten und kampfbereiten Arbei­tern eine solche Niederlage (die Demonstrationen wurden abgebrochen, die Verhandlungen fortgesetzt, und nach kurzer Zeit wurden die Arbeiter mit einer miserablen 3,2 %igen Jahreslohnerhöhung zur Arbeit zurückgeschickt) aufzwingen konnten, da uns das Verständnis der Ursachen der Niederlage Waffen für die zukünftigen Kämpfe gibt.

In dieser Frage spielen die Vertrauensleute eine wichtige Rolle, um zu verstehen, warum die Streiks sich nicht auf andere Fabriken und Gebiete ausgedehnt haben und warum die Streikenden in gewissem Maße gegen­über der Gewerkschaft passiv geblieben sind und ihren Kampf nicht in die eigenen Hände genommen haben.

Die Vertrauensleute haben die sponta­nen Diskussionen unter den Arbeitern über die Arbeitslosigkeit auf die technische Ebene des Managements (wie man z.B. in der Abteilung X oder Y eine oder zwei Stellen retten bzw. schaffen könnte) umgeleitet: Die Frage der Arbeitslosigkeit wird auf das Problem, wie man mit Hilfe der Gewerkschaften und der 35 Stunden-Woche die Einstellungspolitik besser führen könnte, - die nur durch den wachsenden Kampf gelöst werden kann - reduziert.

Die Mobilisierung der Arbeiter durch die Vertrauensleute, zur Sitzung der Großen Tarifkommission zu gehen, war ein typischer Versuch, den Arbeitern klar zu machen, dass die Gewerkschaften ihre Interessen besser vertreten würden, wenn sie am Leben "ihrer" Gewerkschaft aktiver teilnehmen würden.Natürlich wollten die Arbeiter, die nach Mülheim gefahren sind, ihre Wut gegen die Organisierung und die Durchführung des Streiks Ausdruck verleihen.

Dadurch erreichte die Gewerkschaft, was sie wollte: dass die unzufriedenenArbeiter sich letztendlich doch noch an die Gewerkschaft wenden und von ihr eine bessere Füh­rung der Verhandlungen erwarten, anstatt selbst und autonom die Führung des Kampfes und der Verhandlungen zu übernehmen, selbst die Unterstützung der anderen Arbeiter zu gewinnen, um den Kampf auszubreiten.

Diese Notwendigkeit der aktiven Solidarität der nicht-streikenden Arbeiter mit den streikenden wurde von den Vertrauensleuten durch lächerliche, unwirksame Aktio­nen abgelenkt (Geschenkpäckchen oder pompöse"Solidaritätserklärungen"). Diese rein sym­bolische Form der"Solidarität" ist die ein­zige, die die Gewerkschaften billigen und propagieren, da sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was die Arbeiter wollten: Sie verhindert eine aktive Solidarität durch den Kampf.

Die Vertrauensleute waren überall aktiv. Bei Hoesch in Dortmund beschlossen sie, dass nur Vertrauensleute und Betriebsratsmitglie­der die Streikposten stellen. Dies wurde damit gerechtfertigt, dass der Öffent­lichkeit gezeigt werden müsse, dass die Ar­beiter bei Hoesch keine Linksradikalen sind.In den Fabriken, in denen die Arbeiter am kämpferischsten waren und am längsten ge­streikt hatten, haben sie sich unter dem Druck der Arbeiter für eine "Nein"-Stimme ausgesprochen. Dies war aber keineswegs eine radikale Verteidigung der Interessen der Arbeiter (wie sie es hochgespielt ha­ben), sondern ein Versuch, das Vertrauen der Arbeiter in die Gewerkschaften zu bewahren. Denn letzten Endes ist es wohl das Wichtigste, dass die Arbeiter überhaupt wäh­len. Weniger interessant ist es, ob sie nun für oder gegen ein bestimmtes Angebot stimmen. Eine Nicht-Teilnahme an einer solchen Ab­stimmung, ob es sich dabei um einen bewussten Boykott oder einfach um fehlende Begeiste­rung für das Stimmzettel-Theater handelt, wäre für die Gewerkschaften insofern gefährlich, als sie ihren Einfluss zu verlieren drohen und damit auch ihre Fähigkeit, die Interessen des nationa­len Kapitals durch die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens zu verteidigen. Gerade um dieser Gefahr zu begegnen, haben die Ver­trauensleute zu Maßnahmen gegen die Streik­führer aufgerufen, die zu schnell "kapitu­liert" haben. Es ist eben nicht so wichtig, wer die schmutzigen Geschäfte mit den Bossen aushandelt, viel wichtiger ist, dass die Arbeiter auf ihre Vertrauensleute hören und weiter an die "innergewerkschaftliche Demokratie" und an den angeblich proletarischen Charakter der Gewerkschaften glauben.

Die Funktion der Gewerkschaften heute ist es, die Friedhofsruhe der kapitalistischen Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzu­stellen. Da Reformen unmöglich sind, da die Arbeiter mehr und mehr durch die Infla­tion, die Arbeitslosigkeit und die steigende Arbeitshetze - alles Auswirkungen der perma­nenten  internationalen Krise des Systems - angegriffen werden, kann die Regelung des Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapi­tal (darin besteht die Funktion der Gewerk­schaften) nichts anderes heißen, als die Sicherung der steigenden Ausbeutung der Arbeiterklasse.

Während des Stahlarbeiterstreiks haben die Linken die Gewerkschaften in ihrer Kam­pagne um die 35 Stunden-Woche völlig unter­stützt und dabei die Illusion verbreitet, die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können, ohne ihre Wurzeln anzugreifen. Sogar die KPD/ML, die letztes Jahr über eine Opposi­tion außerhalb des DGB getönt hatte, zeigt sich wieder einmal durch ihre Unterstützung der Kampagne für die 35 Stunden-Woche, der Vertrauensleute und der "innergewerkschaftlichen Demokratie" als guter Helfershelfer des DGB.

Kaum ist der Streik zerschlagen, setzen sich die Linken mit den Vertrauensleuten aktiv und lautstark für die Absetzung der Gewerkschaftsführer ein: Sie verbreiten das Märchen, dass durch die Ersetzung der "Verrä­terführer" und eine wirkliche gewerkschaft­liche Demokratisierung diese"Arbeiterorga­nisationen" den Lebensstandard und die Inte­ressen der Arbeiter tatsächlich verteidigen können.

Um das Problem der Arbeitslosigkeit und seine einzige Lösung - die Zerschlagung des kapitalistischen Systems - zu begreifen, muss man auf das letzte Jahrhundert zurück­blicken, als der Kapitalismus noch ein ex­pansives, fortschrittliches System war. Ar­beitslosigkeit gab es damals auch, dennoch existierte sie in einem wesentlich kleine­ren Maßstab. Sie kam mit den zyklischen Wirtschaftskrisen und verschwand wieder mit dem Ende der Krise. Die Booms des letzten Jahrhunderts schufen sogar eine relative und absolute Vergrößerung des Proletariats als Teil der Gesellschaft. Das System hatte sich nach jeder Rezession weiterentwickelt. Heute ist die Arbeitslosigkeit ein permanentes und wachsendes weltweites Problem, das weder durch die 35 Stunden-Woche noch durch die Militarisierung der Gesellschaft - wie in den dreißiger Jahren - überwunden werden kann. Die Arbeitslosigkeit ist die größte Bedrohung der Interessen der Arbeiterklasse, aber gerade deswegen bedroht sie gleichzeitig auch die Bourgeoisie, denn sie veranlasst eine Radikalisierung des Proletariats, das durch seinen Kampf lernt, dass nur die proletarische Revolution die Arbeitslosigkeit erledi­gen kann. Die Geschichte zeigt, dass die Arbeitslosen - trotz aller Versuche seitens der Bourgeoisie, sie zu isolieren - oft die militantesten Teile der Klasse waren: z.B. während der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg oder in den dreißiger Jahren. Die Arbeitslosen, als Teil einer revo­lutionären Klasse, sind fähig, sich im Kampf zu organisieren. Die autonomen Arbeits­losenkomitees, die heute in vielen Ländern auftauchen, beweisen, dass das Proletariat noch nicht zerschlagen ist. Die Arbeiter können und müssen die Arbeitslosigkeit be­kämpfen, sonst werden sie wohl als Soldaten, als Kanonenfutter in einem dritten Welt­krieg - die einzige kurzfristige "Lösung" der Bourgeoisie für dieses Problem - eine Beschäftigung finden.

Heute versucht die Bourgeoisie, die Ar­beiterklasse an die nationale Wirtschaft zu binden, indem der kapitalistische Staat als einziger Retter gegen die Verbreitung der Arbeitslosigkeit auftritt. Jeder Lohnraub, jede neue Investition, jeder Versuch, die Kriegswirtschaft zu stärken, wird als eine Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit angekündigt. "Und würden die Arbeiter nur etwas härter arbeiten, dann wären ihre Arbeits­plätze sicherer."

Die staatskapitalistischen Programme der Bourgeoisie und vor allem ihrer linken Fraktionen mit ihrem Ruf nach Verstaatlichung und "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen", erklären uns, dass die Arbeitslosigkeit ein nationales Problem sei, das auf nationaler Ebene gelöst werden könne. Aber die Arbeitslosigkeit ist in der Tat so international wie der Kapita­lismus selbst. Der Arbeitsmarkt ist nicht mehr national, sondern international. Nach1929 führte die offene Krise des kapitalis­tischen Systems zu Pogromen, Massakern, offe­nen Völkermorden, zu Konzentrationslagern und Atombomben, zu dem Mord von Millionen auf den Schlachtfel­dern des Zweiten Weltkrieges. Diese Barbarei entsteht, wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit den Produktivkräften in Konflikt kommen, wenn es zu viele Men­schen gibt, die nicht mehr in die Produktion integriert werden können und die dadurch zu einer Belastung der in ihren Todeszuckungen liegenden Wirtschaft geworden sind. Nach dem Krieg wurden Millionen von rbeitern aus Asien, Nordafrika und Zentralamerika in die kapitalistischen Kernländer gebracht, um dort für den Nachkriegswiederaufbau zu schwitzen. Nach ein paar Jahrzehnten, als die Aufgabe erfüllt war, wurden sie dahin zurückgeschickt, wo sie herkamen. In diesen Kernländern selbst wächst und wächst die Zahl der Arbeitslosen trotz des berühmten Wiederaufbaubooms, der gerade in den USA, Europa und Japan stattfand. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt, vor allem als der Wiederaufbau zu Ende war, führte zu einer weiteren Rationalisierung in den schwachen landwirtschaftlichen und industriellen Sektoren, zu der Entstehung von Millionen zusätzlicher und nutzloser Men­schen, zu der Verelendung von drei Vierteln der Menschheit. Nicht einmal die Kriege und Massaker, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Dritten Welt andauernd stattfanden, konnten die Zunahme dieser Zahlen bremsen. Nun ist der Nachkriegswiederaufbau längst vorüber; die Arbeitslosigkeit dehnt sich auf alle Länder der Welt aus. Die Kon­kurrenzfähigkeit der japanischen Bourgeoi­sie z.B. stützte sich auf ihrer Fähig­keit, ihre eigene Arbeiterklasse anzugrei­fen. Firmen erhalten Zuschüsse des japani­schen Staates, wenn sie unrentable Betrie­be schließen. Die offizielle Rekordarbeits­losenzahl von 0,25 Million erfasst nicht die Ausländer, die Frauen und Jugendlichen, die schon aus der Produktion herausgedrängt wurden oder die 4,6 Millionen älteren Arbeiter, die nicht ersetzt werden, wenn sie - oft frühzeitig - aufhören.

In Osteuropa und in China werden jetzt die Erhaltung der sog. "Vollbeschäftigung" durch die Kriegswirtschaft und eine weitgehende Militarisierung der Gesellschaft immer schwieriger. Auch hier gibt es - laut der offiziellen Planung - meistens keine Stellen mehr für jüngere Menschen. In Polen wurde von Teilen der Bour­geoisie die Forderung nach einer offeneren und besser kontrollierten "Reservearmee" gestellt.Obwohl die Bourgeoisie in allen Ländern unermüdlich über die Notwendigkeit der Beibehaltung oder Schaffung von Arbeitsplätzen redet, forciert die kapitalistische Krise neue Entlassungen. In der BRD hat der DGB seine Arbeitslosen-Kampagne schnell ad acta gelegt, weil dieses Thema die gesamte Klasse sehr tief berührt und er befürchtete, seine Kontrolle zu verlieren.Seine Manöver sind ein weiterer Ver­such der Bourgeoisie, die Bedrohung durch die Arbeitslosigkeit auszunutzen, um die noch beschäftigten Arbeiter zu terrorisieren und die Produktivität in die Höhe zu trei­ben. Aber der unbarmherzige Aufmarsch der Arbeitslosigkeit zeigt die absolute Sinnlo­sigkeit aller Versuche, durch harte Arbeit und Loyalität gegenüber der Firma seinen Arbeitsplatz zu sichern. Wenn die Wirt­schaft weiter in die Krise sinkt, machen große Fabriken und sogar ganze Industrie­bereiche zu. Dann versteht auch jeder, was seine Zukunft ist: arbeitslos zu sein. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit führt zu der Radikalisierung nicht nur der Arbeitslosen, sondern des ganzen Proletariats.

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit fordert Methoden, die viel weitgehender sind als die, die von den Arbeitern seit der Eröffnung der neuen Krise 1968 ange­wendet wurden. Damals wurde der Widerstand gegen die Inflation und die steigende Ar­beitshetze meistens isoliert geführt: jede Fabrik, jeder Industriezweig oder jedes Land für sich selbst. Diese Methoden konn­ten der Kontrolle der Gewerkschaften, des Staates nicht entkommen. Aber es ist offensichtlich, dass die Arbeitslosigkeit so nicht bekämpft werden kann.Wenn Streiks gegen Entlassungen nur in den Fa­briken stattfinden, die geschlossen werden sollen, dann werden wir wenig wirksam sein - die Betriebe werden so oder so dichtge­macht. Die Arbeitslosigkeit stellt uns auf konkrete Weise vor der Notwendigkeit, den Kampf auszudehnen, aus unserer Isolation herauszubrechen, um wieder zu lernen, als eine vereinigte Klasse zu kämpfen.Und die­ser Kampf muss, wie bei den Stahlarbeitern in Frankreich, zu einer Konfrontation mit dem Staat führen. Ihre Kämpfe gegen die Polizeireviere usw. haben die Regierung in Paris dazu gezwungen, ihre Entlassungspläne zu verändern[2].Die eisernen Notwendigkeiten der Krise streben danach, dass sie doch irgendwann entlassen werden. Trotzdem haben sie für ihre Arbeitsplätze gekämpft und sie erhalten - wenn man auf der Straße lan­den muss, dann lieber morgen als heute. Der Kampf und nur der Kampf lohnt sich heute - dafür müssen wir aber vor allem lernen, uns nicht auf die Bourgeoisie zu stützen.

Arbeiter, Genossen! Die Kampagne für die 35 Stunden-Woche, die der DGB geführt hat, ist nichts anderes als ein Versuch, den Widerstand der Arbeiterklasse dem Erdboden gleichzumachen. Heute gibt es keine si­cheren Arbeitsplätze mehr. Jede Entlassung, jede gewerkschaftliche Verhandlung, jede neue Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit ist nichts anderes als ein Angriff gegen uns alle. Was ist die Arbeiterklasse heute, wenn nicht die augenblicklichen Arbeitslosen und die zukünftigen Arbeitslosen? Wir wer­den keine einzige Entlassung durch eine 35 Stunden-Woche vermeiden. Und trotz des Geredes der Linken über die Aufteilung der Austerität müssen wir sagen, auch wenn wir umsonst arbeiten würden, würde dies die kapitalistische Krise nicht lösen. Die einzige Waffe des Proletariats gegen die Arbeitslosigkeit ist seine eigene Klassensolidarität, der Kampf aller Arbeiter, der gesamten Klasse gegen Entlassungen, eine generalisierte Klassenverteidigung der Arbeitslosen. Die Arbeiter an der Ruhr sind wegen der Arbeitslosigkeit auf die Straße gegangen.Aber heute muss es klar werden, dass der wahre Kampf gegen die Arbeitslosig­keit der Kampf gegen die Gewerkschaften, gegen die Sozialdemokratie, gegen den kapi­talistischen Staat ist.

M./Kr., März 79

 

[1] Siehe weitereAngaben über diese Streiks der letzten Jahre in "World Revolution"Nr. 22 (Februar/März 79).

[2] Siehe ausführlicheTexte über diese Streiks in "Revolution Internationale", Nr. 59, März79.

Eine Karikatur der Partei : die bordigistische Partei -Antwort an ”Kommunistisches Programm”

  • 3035 Aufrufe

Die für die Befreiung der Arbeiter­klasse unabdingbare Entwicklung des Klassenbewußtseins ist ein fortdauernder und unaufhörlicher Prozeß. Er wird be­stimmt durch das soziale Wesen des Pro­letariats als eine historische Klasse, das als einzige Klasse die Lösung der unüberwindbaren Gegensätze des Kapitalis­mus in sich birgt, wobei der Kapitalis­mus selbst die letzte Klassengesellschaft ist. So wie die historische Aufgabe, die die menschliche Gesellschaft zerreißenden Klassengegen­sätze aufzulösen, nur das Werk der Arbei­ter selbst sein kann, kann das Bewußtsein über diese Aufgabe dem Proletariat keineswegs von außen „importiert“ oder einge­trichtert werden, sondern es ist das Pro­dukt seines wahren Seins, seiner eigenen Existenz. Es ist die wirtschaftliche, so­ziale und politische Stellung in der Gesellschaft, die die praktischen Handlun­gen und den historischen Kampf des Prole­tariats bestimmt.

Diese unaufhörliche Bewegung hin zu einem Bewußtwerdungsprozeß drückt sich in den Versuchen des Proletariats, sich selber zu organisieren, und in der Bil­dung politischer Gruppen innerhalb der Arbeiterklasse, die in der Bildung der Partei gipfelt, aus.

Gerade dieser Frage, der Bildung der Partei, wird in der Nummer 76 von Programme Communiste (März '78), dem theoretischen Organ der IKP (Internationale Kommununistische Partei), ein sehr langer Artikel gewidmet: „Auf dem Wege zur ‚kompakten und starken‘ Partei von Morgen"(1). Es muß zunächst festgestellt werden, daß man wegen des üblichen Schwulstes der bordigis­tischen Sprache, der auf vielen Seiten zu findenden Drehungen und Wendungen - nach denen man sich schließlich am Ausgangspunkt wiederfindet -, des Einrennens offener Türen und der sich wiederholenden Bestätigungen, die eine Argumentation er­setzen sollen, die wirklich zur Diskussion stehenden Probleme viel schwerer und um­ständlicher begreifen kann. Das Vorgehen, eine Behauptung dadurch zu beweisen, indem man die frühe­ren Behauptungen zitiert, welche selbst wieder auf vorherigen Bestätigungen auf­gebaut sind – so daß es einem fast schwindelig wird -, mag sicherlich eine Kontinui­tät in den Behauptungen beweisen, sie kann aber keine schlüssige Beweisführung ersetzen. Unter diesen Umständen und trotz unserer festen Absicht, uns nur mit den Behauptungen auseinanderzusetzen, die die bordigistischen Positionen hinsicht­lich der Partei ausdrücken und die wir für falsch halten, können wir es nicht vollständig vermeiden, auf eine Anzahl anderer Punkte zu sprechen zu kommen, die mit diesen Behauptungen zusammenhängen.

Über die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linke

Es wäre sicherlich keine kleine Überraschung für die Mehrzahl der Leser von Kommunistisches Programm und wahr­scheinlich auch für die Mehrzahl der Mit­glieder der IKP, plötzlich zu erfahren, daß „trotz ihrer objektiven (?) Grenzen, die ‚Linke Fraktion im Ausland‘ ein Teil der Geschichte“ (2) der Italienischen Lin­ke ist und daß man sich auf sie bezieht als „unsere Fraktion im Ausland zwischen 1928 und 1940“. In diesem Punkt hatte uns Kommunistisches Programm eher an eine große Zurückhaltung, ein beredtes Schweigen, wenn nicht gar einfach an eine Mißbilligung der Fraktion gewöhnt. Wie sollte man sonst verstehen, daß innerhalb der 30 Jahre, die die IKP schon existiert, sie keine Mühe gescheut hat, in ihren Zeitungen, theoretischen Zeit­schriften, Broschüren und Büchern die Texte der Linken von 1920-1926 wiederauf­zulegen und erneut zu veröffentlichen, aber gleichzeitig weder die Zeit noch die Mittel noch den Platz gefunden hat, auch nur einen einzigen Text der Fraktion zu veröffentlichen, die das Bulletin d'Information, die Zeitschrift Bilan, die Zeitung Prometeo, die Bulletins Il Seme und so viel andere Texte veröffentlicht hatte? Es ist kein reiner Zufall, daß Kommu­nistisches Programm keinen Verweis, keine Erwähnung der politischen Positionen, die „unsere“ Fraktion vertreten hat, enthielt, daß es niemals aus Bilan zitierte. Einige Genossen der IKP, die irgendwann einmal Leute vage über Bilan sprechen gehört hatten, behaupteten, daß die Partei sich weder auf die politische Aktivität noch auf die Schriften "Bilans" berufe, während andere Genossen der gleichen Partei noch nicht einmal von der Existenz von Bilan wußten.

Heute entdeckt man das „Verdienst unserer Fraktion“, ein Verdienst, welches - das stimmt - ziemlich begrenzt ist, aber immer noch groß genug, um davor den Hut zu ziehen. Warum heute? Ist es deshalb, weil die Lücke in der organischen Konti­nuität (ein von der IKP so geschätzter Begriff), die von 1926 bis...1952 dauerte, etwas störend geworden ist und weil man diese Lücke mehr schlecht als recht stopfen mußte? Oder ist es deshalb, weil die IKS so lange schon davon gesprochen hat, daß man jetzt nicht mehr das Schwei­gen aufrechterhalten kann? Und warum wird die Fraktion zwischen 1928 und 1940 plaziert, zumal sie sich - irrigerweise - erst im Juli 1945 aufgelöst hatte, um sich dann in die „Partei“ zu integrieren, die schließlich in Italien wiedergegründet worden war? (Dies geschah, nachdem die Fraktion das italienische antifaschistische Komitee in Brüssel verurteilt und seinen Vorkämpfer Vercesi ausgeschlossen hatte - derselbe Vercesi, der später ohne Diskussion wieder in die IKP und sogar noch in die Führung aufgenommen wurde.) Geschieht all dies aus Ignoranz oder weil die Fraktion während des Krieges noch viel weiter in die Richtung gegangen war, die Bilan schon vor dem Kriege eingeschlagen hatte, ins­besondere in der Frage Rußlands, in der Frage des Staates und der Partei – eine Entwicklung, die ein noch helleres Licht auf die Distanz zwischen Kommu­nistisches Programm und den von der Fraktion vertretenen Posi­tionen wirft. Jedenfalls werden die Bilan zugestandenen „Verdienste“ schnell durch eine umso schärfere Kritik relativiert.

"Die Unmöglichkeit“, schreibt Kommunis­tisches Programm, „aus dem sozusagen sub­jektiven (?!) Kreis der Konterrevolution auszubrechen, führte in der Fraktion zu bestimmten Abweichungen, wie z.B. in der nationalen und kolonialen Frage oder in Bezug auf Rußland, nicht so sehr in der Einschätzung, was aus Rußland geworden war, als vielmehr in der Suche nach einem unterschiedlichen Weg gegenüber dem der Bolschewisten in der Ausübung ihrer Dik­tatur (…) ein Weg, der in der Zukunft eine Wiederholung der Katastrophe der Jahre 1926-27 verhindern sollte (…) wollte die (Fraktion) auf die Rückkehr der Massenkonfrontationen mit den feindlichen Kräften warten, ehe die Partei neu konstituiert wird.“ (1).

Wenn es stimmt, daß die Treue zu den revolutionären Grundlagen des Marxismus in Zeiten der Niederlage ein großes Verdienst ist, so liegt das besondere Verdienst der Fraktion, wodurch sie sich besonders von den damaligen Gruppen unterschied, gerade in dem, was der Ar­tikel des Kommunistischen Programms „Schwächen“ nennt. Wie die Fraktion formulierte: „Der Rahmen für die zukünftigen Parteien des Proletariats kann nur aus dem tiefen Verständnis der Ursachen der Niederlagen hervorgehen. Und dieses Ver­ständnis darf weder durch Verbote noch  durch Ächtung beeinträchtigt werden.“ (3)

Für all jene, die meinen, dass das Programm etwas „Vollendetes und Unveränderbares“ ist, die den Marxismus in ein Dogma verwan­delt und Lenin zu einem unantastbaren Propheten gemacht haben, müssen es als unhaltbar betrachten, daß die Fraktion es gewagt hat (Brrr, da läuft es einem kalt den Rücken runter!), die politischen und programmatischen Positionen der bolschewistischen Partei und der Komintern im Lichte der Realität zu überprüfen, und nicht etwa die Grundlagen des Marxismus. Wenn man innerhalb des theoretischen Rahmens und der kommunistischen Bewegung eine Über­prüfung der politischen Positionen, die eine Rolle in Niederlagen gespielt haben, verlangt, die „weder durch Verbote noch durch Ächtung beeinträchtigt werden darf“, dann ist das die schlimmste Ketzerei; eine „Abweichung“, wie das Kommunistisches Programm dazu sagen würde.

Das große Verdienst der Fraktion, neben ihrer Loyalität zum Marxismus und ihren Stellungnahmen zu den großen, wich­tigen Fragen damals - gegen die von Trotzki befürwortete Einheitsfront, gegen die Volksfront, gegen die Kollaboration im und die Unterstützung des Spanienkrieges, gegen die infamen Mystifikationen des Antifaschismus -, lag darin, es gewagt zu haben, mit der Methode zu brechen, die damals in der revolutionären Bewegung die Oberhand gewonnen hatte; eine Me­thode, die die Theorie in ein Dogma, die Prinzipien in Tabus verwan­delt und jedes politische Leben erstickt hat. Ihr Verdienst war es, die Revolutionäre zu Debatten und Diskussionen aufgeru­fen zu haben, was sie nicht zu „Abweichungen“ verleitet, sondern in die Lage versetzt hat, reiche und wertvolle Bei­träge zum revolutionären Projekt zu leisten.

Bei all ihrer Standhaftigkeit zu ihren Überzeugungen war die Fraktion bescheiden genug, nicht vorzugeben, alle Probleme gelöst und auf alle Fragen Antworten zu haben: „Wenn wir jetzt mit der Veröffentlichung die­ses Bulletins beginnen, glaubt unsere Fraktion nicht, endgültige Lösungen für die schrecklichen Probleme gefunden zu haben, vor denen die Proletarier aller Länder stehen.“ (4) Und selbst dann, wenn sie überzeugt war, Antworten zu haben, verlangte sie nicht von Anderen die einfache Anerkennung dieser Antworten, sondern rief sie dazu auf, diese zu untersuchen, zu konfrontieren und zu diskutieren: „Sie (die Fraktion) beabsichtigt nicht, die politisch ‚Nahestehenden‘ dazu zu drängen, mit den von ihnen befürworteten Lösungen für die aktuelle La­ge einverstanden zu sein. Im Gegenteil, sie ruft alle Revolutionäre dazu auf, die von ihr verteidigten Positionen und grundlegenden politischen Dokumente im Lichte der Ereignisse zu überprüfen.“ Und im gleichen Geiste schrieb sie: „Unsere Fraktion hätte es vorgezogen, daß solch eine Arbeit (die Publizierung von Bilan) von einem internatio­nalen Organismus ausgeführt worden wäre, weil wir von der Notwendigkeit der politischen Konfrontation zwischen den Gruppen, die die Arbeiterklasse in den verschiedenen Ländern repräsentieren, überzeugt sind.“ (Bilan, Nr.1)

Um die enorme Distanz zwischen den Vorstellungen der Fraktion und den der bordigistischen Partei hin­sichtlich der Art und Weise, wie die Be­ziehungen zwischen den kommunistischen Gruppen aussehen sollen, voll zu würdigen, genügt es, das oben aufgeführte Zitat von Bilan mit dem nach­folgenden Zitat aus Kommunistisches Pro­gramm zu vergleichen. So schreibt Kommu­nistisches Programm über die eigene Gruppe, die unter dem selbst vergebenen Titel „Partei“ ächzt: „‘Parteikern‘? Im Vergleich zur ‚kompak­ten und starken Partei von morgen‘, ganz gewiß. Aber Partei; eine Partei, die nur auf ihren eigenen Grundlagen wachsen kann, nicht durch die ‚Konfrontation‘ verschie­dener Standpunkte, sondern durch den Kampf selbst gegen diejenigen, die ihr ‚nahezu­stehen‘ scheinen." (Kommunistisches Programm, Nr.18, S. 20). Wie kürzlich ein Sprecher der IKP auf einer öffentlichen Veranstaltung von Révolution Internatio­nale (Sektion der IKS in Frankreich) in Paris sagte: „Wir kommen nicht, um zu diskutieren, auch nicht um unsere Standpunkte mit Euren zu konfrontieren, sondern nur um hier unseren Standpunkt kundzutun. Wir kommen zu eurer Veranstaltung, so wie wir zu den Veranstaltungen der stalinistischen Partei gehen.“

Solch eine Einstellung beruht nicht auf der Standhaftigkeit von Überzeugungen, sondern auf Selbstgefälligkeit und Arroganz. Das sogenannte „vollendete und invariante“ Programm, als dessen Erben und Bewahrer die Bordigisten sich ausgeben, kaschiert nichts anderes als einen enormen Größen­wahn.

Je mehr ein Bordigist von Zweifeln und Unverständnis erschüttert wird, desto mehr schwanken seine Überzeugungen; und so fühlt er immer stärker das Bedürfnis, morgens nach dem Aufstehen sich auf die Erde zu knien, den Kopf auf die Erde zu beugen, sich auf die Brust zu schlagen und die Litanei des Islam aufzu­sagen: „Allah ist der einzige Gott und Mohammed sein Prophet“. Oder wie Bordiga irgendwo sagte: „Um Mit­glied der Partei zu sein, braucht man nicht alles zu verstehen und von allem überzeugt zu sein; es genügt, daß man glaubt und der Partei gehorcht.“

Es geht hier nicht darum, ausführlich auf die Geschichte der Frak­tion einzugehen, auf ihre Verdienste und Feh­ler, auf die Gültigkeit und die Irrtümer ihrer Positionen. Wie sie selbst sagte, habe sie auf dem Weg zur Klarheit oft nur herumtasten können, aber ihr Bei­trag war umso größer, als sie ein lebendiger politischer Körper war, der es wagte, die Debatte zu eröffnen, ihre Positionen mit anderen zu konfrontieren, sie anderen ge­genüberzustellen; sie war keine verkalkte und größenwahnsinnige Sekte wie die bordigistische „Partei“. So konnte die Fraktion für sich korrekterweise eine Kontinuität mit der Italienischen Linken beanspruchen, während die bordigistische Partei groben Mißbrauch betrieb, als sie über „unsere Fraktion im Exil“ sprach.

Die Konstituierung der Partei

Die für das Proletariat unabdingbare Partei wird auf den soliden Fundamenten eines kohärenten Programms, klarer Prinzipien und einer allgemeinen Orientierung aufgebaut, die es ermöglichen, detaillierte Antworten auf die im Klassenkampf auftauchenden politischen Probleme zu geben. Dies hat überhaupt nichts gemein mit dem mythischen „vollendeten und invarianten“ Programm der Bordigisten.

„In jeder Periode sehen wir, daß die Mö­glichkeit der Bildung der Partei bestimmt wird durch die Grundlage der vorherigen Erfahrung und der neuen Probleme, vor denen das Proletariat steht.“ (Bilan, Nr.1, S.15)

Was für das Programm zutrifft, ist auch für die lebendigen politischen Kräfte gültig, die die Partei physisch bilden. Die Partei ist sicher keine Ansammlung aller möglichen Gruppen und heterogenen politischen Tendenzen. Aber sie ist auch nicht der „monolithische Block“, von dem die Bordigisten sprechen und der übri­gens nie bestanden hat, außer in ihrer Einbildung.

„In jeder Periode, in der die Bedingungen für die Bil­dung der Partei vorhanden sind, in der sich die Arbeiter­klasse als Klasse organisieren kann, wird die Partei auf folgende zwei Elemente gegründet: 1) auf ein Bewußtsein der fort­geschrittensten Positionen, die das Proletariat aufgreifen muß; 2) auf die wachsende Kristallisierung der Kräfte, die für die proletarische Revolution handeln können.“ (Bilan, Nr.1)

Nur sich selbst und niemand anderen aus Prinzip und á priori als einzige für die Revolution handelnde Kraft anzuer­kennen zeugt nicht von revolutionärer Standhaftigkeit, es ist das Verhalten einer Sekte.

Als Engels die Bedingungen, unter denen die Erste Internationale gegründet wurde, schilderte, schrieb er: „Die Ereignisse und Wechselfälle im Kampf gegen das Kapital, die Niederlagen noch mehr als die Siege, konnten nicht verfeh­len, den Menschen die Unzulänglichkeit ihrer diversen Lieblingsquacksalbereien zum Bewußtsein zu bringen und den Weg zu vollkommener Einsicht in die wirkli­chen Voraussetzungen der Emanzipation der Arbeiterklasse zu bahnen.“ („Vorrede zum ‚Manifest der Kommunis­tischen Partei‘“, MEW, Bd. 21, S. 353, 1888).

Die Wirklichkeit hat nichts zu tun mit diesem Spiegel, vor dem die bordigistische „Partei“ die meiste Zeit verbringt und der ihr nichts anderes zeigt als ihr eigenes Bild. In der ganzen Geschichte der Arbeiterbewe­gung, d.h. in der Wirklichkeit, zeichne­te sich die Bildung der Parteien durch einen Zusammenschluß bei gleichzeitiger Abgrenzung der Kräfte aus, die für die Revolution handeln können. Andern­falls müßte man schlußfolgern, daß nie­mals eine andere Partei als die bordigis­tische existiert hat. Einige Beispiele: der Bund der Kommunisten, dem sich Marx und Engels sowie ihre Freunde anschlossen, war der ehemalige Bund der Gerechten gewesen, der sich nach der Eliminierung der Weitling-Tendenz aus mehreren Gruppen in Deutschland, Frankreich, Belgien, Eng­land und der Schweiz zusammensetzte. Die Erste Internationale beinhaltete sowohl die Eliminierung von Sozialisten wie Louis Blanc und Mazzini als auch die Annäherung anderer Strömungen. Die Zweite Internatio­nale gründete sich auf den Ausschluss der Anarchis­ten und der Umgruppierung der marxisti­schen sozialdemokratischen Parteien. Die Dritte Internationale kam nach der Auflösung der Sozialdemokraten und fasste die revolutionären kommunistischen Strö­mungen zusammen. Das Gleiche finden wir bei der Bildung der sozialdemokra­tischen Partei in Deutschland, die aus der Eisenacher und Lassalles Partei hervorgegangen war, und bei der sozialistischen Partei Frankreichs vor, die sich aus der Partei Gues­des und Lafargues sowie aus der Partei Jaures entwickelt hatte. Dasselbe auch bei der Bildung der sozialdemokratischen Partei in Rußland, die auf der Grundlage einer Annäherung von Gruppen entstanden war, die  isoliert und zerstreut in den Städten und Regionen Rußlands existiert hatten, wobei die Tendenz Struves allerdings ausgeschlossen wurde. Man könnte hier weitere Beispiele aus der Geschichte der Parteigründungen aufführen, die dasselbe Phänomen von Ausschluss und Annäherung zeigen. Die Kommunistische Partei Italiens konstituierte sich nach der Auflö­sung der Maximalisten Seratis rund um die abstentionistische Fraktion Bordigas und Gramscis Gruppe.

Es gibt keine Kriterien, die absolut gültig und in allen Zeiten identisch sind. Es kommt darauf an, in jeder Epo­che klar zu definieren, was die politischen Krite­rien für die Annäherung und was die Kriterien für die Abgrenzung sind. Und genau das weiß die bordigisti­sche „Partei“ nicht, die sich ohne Kri­terien und in Form eines vagen Amalgams von Kräften konstituiert hatte: die im Norden gegründete Partei, Gruppen aus dem Süden unter Einbeziehung von Partisanenelementen, Vercesis Tendenz im Antifa­schistischen Komitee Brüssels, die Minderheit, die 1936 wegen ihrer Teilnahme an den republikanischen Milizen im Spanischen Bürgerkrieg aus der Fraktion ausgeschlossen worden war, und die 1945 vorzeitig aufgelöste Fraktion. Wie man sehen kann, hat das Kommunisti­sche Programm allen Grund dazu, von Un­nachgiebigkeit und organischer Kontinuität zu sprechen sowie Lehren über revolutionäre Standhaftig­keit und Reinheit zu er­teilen! Seine Verunglimpfung jeglicher Versuche der Konfrontation und Debatte zwischen revolutionären kommunistischen Gruppen beruht nicht auf Prinzipienfestigkeit, auch nicht auf politischer Kurzsichtigkeit, sondern schlicht und einfach auf der Sorge um den Schutz der eigenen, kleinen Kapelle.

Im Übrigen variiert (entschuldigt die Invarianz) diese unheimliche - tatsächlich nur verbale - Unnachgiebigkeit der Bordigis­ten gegen jede Konfrontation und erst recht gegen jede Umgruppierung, die von vornherein und ohne jedes Kriterium als ein konfuses Unterfangen abgestempelt wird, je nach dem Augenblick und nach Geschmack. So hatten sie 1949 einen „Auf­ruf zur internationalen Reorganisierung der revolutionären marxistischen Bewegung“ veröffentlicht, den sie 1952 und 1957 wiederholten und in dem man lesen kann:

„In Übereinstimmung mit der marxisti­schen Auffassung richten heute die Kommu­nisten der Italienischen Linken einen Auf­ruf an die revolutionären Arbeitergruppen aller Länder. Sie fordern sie dazu auf, sich auf einen langen und schwierigen Weg zu be­geben und sich auf internationaler und strikter Klassengrundlage zu sammeln…“ (Programme Communiste, Nr.18/19 der franz. Ausgabe).

Aber es ist unbedingt notwendig, zwischen der bordigistischen Partei und jeder anderen Organisation zu unterscheiden; man würde einen schweren Feh­ler begehen, wenn man glaubte, daß das, was der Partei erlaubt ist, die allein über das vollendete und invariante Programm wacht, ebenfalls für eine simple sterbliche Organisation von Revolutionären zulässig ist. Die Partei hat Gründe, die die Vernunft nicht kennt und auch nicht kennen kann. Wenn die Bordigisten zu einer „interna­tionalen Zusammenkunft“ aufrufen, dann ist das reines, pures Gold, doch wenn andere revolutionäre Organisationen zu einer ein­fachen internationalen Konferenz zur Kontaktaufnahme und Diskussion aufrufen, dann ist das selbstverständlich die größte Scheiße, „Prin­zipienhandel“, ein konfuses Unterfan­gen. Aber kommt das nicht eher daher, daß die Bordigisten sich heute mehr denn je in ihrer Verkalkung verrannt haben und daß sie fürchten, ihre schwankenden Positionen mit den lebendigen, revolu­tionären Strömungen zu konfrontieren, die heute existieren und sich entwickeln? Ist das nicht der Grund dafür, daß sie sich lieber verschließen und isoliert bleiben?

Es ist lohnenswert, die für diese „Zusammenkunft“ vorgestellten Kriterien in Erinnerung zu rufen, die erneut in dem neulich erschienenen Artikel (eingangs dieses Artikels erwähnt) bekräftigt wurden:

„Die Internationale Kommunistische Partei schlägt den Genossen aller Länder die fol­genden Grundprinzipien und -voraussetzungen vor:

1) Bejahung der Waffen der proletarischen Revolution: Gewalt, Diktatur, Terror…

2) vollständiger Bruch mit der Tradition der Kriegsbündnisse, den Partisanenfron­ten und den 'nationalen Befreiungen'...

3) historische Negation des Pazifismus, des Föderalismus zwischen den Staaten und der 'nationalen Verteidigung'…

4) Verurteilung der üblichen Sozial­programme und der politischen Bündnisse mit den nichtlohnabhängigen Klassen…

5) Proklamierung des kapitalistischen Charak­ters der Gesellschaftsstruktur Rußlands;(‚Die Macht ist in die Hände einer hybriden und konturenlosen Koalition von inneren Interessen der niedrigen und höheren Mittelschichten, halb-unabhängigen Geschäftsleuten und der internationalen kapitalistischen Klassen gelegt worden‘?)

6)  Schlußfolgerung: Mißbilligung jeder Unterstützung des russischen imperialen Militarismus, kategorischer Defätismus gegen den Militarismus Amerikas..."

Wir haben die sechs Kapitelüberschrif­ten zitiert, die alle durch Kommentare näher erläutert werden; sie hier wiederzugeben wäre allerdings zu lang. Es handelt sich auch nicht darum, im einzelnen diese Punkte hier zu behan­deln, obgleich ihre Formulierungen viel zu wün­schen übrig lassen, insbesondere was die Frage des Terrors als Hauptwaffe der Revolution angeht (5) oder dieser subtile Unterschied in der Schlußfolge­rung über die Haltung gegenüber den USA (Defätismus) und gegen­über Rußland (Mißbilligung) oder diese – gelinde gesagt – kuriose Definition der Macht in Rußland, die nicht schlicht Staatskapitalismus genannt wird, sondern eine „hybride und konturenlose Koalition von inneren Interessen der niedrigen und höheren Mittelschichten (…)  und der internationalen kapitalistischen Klassen“. Man könnte ebenso auf die vielsagende Abwesenheit anderer Kriterien hinweisen, insbesondere auf die Forderung nach der Anerkennung des proletarischen Charak­ters der Oktoberrevolution oder die Notwendigkeit der Klassenpartei. Uns kommt es hier jedoch darauf an zu betonen, daß diese Kriterien in der Tat eine ernst­hafte Grundlage darstellen, wenn auch nicht für eine unmittelbare „Zusammenkunft“, so doch mindestens für eine Kontaktaufnahme und Diskussion zwischen den bestehenden revo­lutionären Gruppen. Dies ist eine Orientierung, wie sie einst auch die Fraktion verfolgt hatte, und es ist eine Orientierung, die wir heute nach wie vor fortführen: Sie war die Grundlage des internationalen Treffens in Mailand im letzten Jahr.

Doch umnachtet durch ihre Invarianz benötigen die Bordigisten heute nichts von alledem mehr, weil… sie ja schon die Partei konstituiert haben („mikroskopisch klein, aber dennoch eine Partei“).

Aber ist dieser Aufruf damals nicht auch von der IKP unterzeichnet worden, werden sich naive Leser fragen? Ja,... aber es war damals nur die Internationa­listische Kommunistische Partei und noch nicht die Internationale Kommunistische Partei – ein subtiler Unterschied. Aber war diese Inter­nationale Kommunistische Partei nicht integraler Bestandteil der damaligen Internationalis­tischen Kommunistischen Partei, hat sie nicht gar behauptet, ihre Mehrheit zu sein? Ja.. aber, …aber …, aber…

Da wir gerade bei diesem Punkt sind: kann man ein für allemal erfahren, seit wann diese „tapfere, mikroskopische Par­tei“ besteht? Es ist heute Mode – aus welchen Gründen auch immer - zu bestätigen, daß die Partei erst im Jahre 1952 konstituiert wurde, und der oben zitierte Artikel be­steht auf dieses Datum.(6) Jedoch werden in dem Artikel auch „fundamentale Texte“ von 1946 zitiert, die Plattform stammt aus dem Jahre 1945, an­dere grundlegende Texte aus den Jahren 1948, 1949 und 1951. Diese Texte, der eine so grundlegend wie der andere, von wem stammen sie genau? Von einer Partei, von einer Gruppe, von einer Frak­tion, von einem Kern, von einem Embryo?

In Wirklichkeit konstituierte sich die IKP nach dem Sturz Mussolinis 1943 im Norden Italiens. Dann wurde sie ein zweites Mal nach der „Befreiung“ des Nordens von der deutschen Besatzung „rekonstituiert“; dies erlaubte den Gruppen, die sich in der Zwischenzeit im Süden gebil­det hatten, sich in die im Norden beste­hende Organisation zu integrieren. Um sich in diese Partei zu integrieren, beschloss die Italieni­sche Fraktion der Kommunistischen Linken fast einstimmig, sich selbst aufzulösen. Diese Selbstauflösung wie auch die Proklamierung der „Partei“ lösten erbitterte Diskussionen und Polemiken in der GCI (Internationalen Kommunistischen Linken) aus, was in Frankreich zu einer Spaltung in der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken führte, in der nur eine Min­derheit dieser Politik zustimmte und sich von der Mehrheit trennte. Die Mehrheit erklärte ihre Opposition gegen die vorschnelle Auflösung der Italienischen Fraktion, verurteilte die Proklamation der Partei in Italien kategorisch und öffentlich als willkürlich und volunta­ristisch und wies auf die opportunistische politische Grundlage der neuen Partei hin. (7) Ende 1945 fand der erste Kongreß dieser Par­tei (IKP) statt. Er veröffentlichte eine politische Plattform und ernannte die zentrale Führung der Partei sowie ein internationales Büro, das aus Vertretern der IKP, der französischen und belgischen Sektion zusammengesetzt war. Der Artikel von Kommunistisches Programm bezieht sich auf „Elemente einer marxistischen Orientierung, unser Text aus dem Jahr 1946“. 1948 gab es noch mehr programma­tische Texte der Partei, und weitere folgten. 1951 brach die erste Krise in der Partei aus, die in einer Spaltung kulminierte, die zwei IKPs hinterließ, von denen jede beanspruchte, in Kontinuität mit der alten Partei zu stehen, eine Behauptung, die Kommunistisches Programm nie aufgegeben hat.

Heute erfindet man ein neues Gründungsdatum der bordigistischen Partei. Warum? Kommt es daher, daß erst 1951 „unsere Strömung dank der Kontinuität ihres Kampfes dieses kritische Bewußtsein hat erreichen können, um eine Linie zu vertreten, die wahrhaft allgemein und nicht zufällig war“, so daß sie sich „als organisiertes, kritisches Be­wußtsein, als handelnder militanter Or­ganismus, als Partei konstituieren konn­te“ (Kommunistisches Programm, Nr.18, „Auf dem Weg zu einer kompakten und mächtigen Partei von Morgen“, S. 15)? Aber wo waren dann die Bordigisten und Bordiga zwischen 1943/45 und 1951? Was wurde aus dem Programm, das seit 1848 unverändert geblieben war? War es während dieser Jahre abhanden gekommen, und mußten sie bis 1951 ausharren, um „das kritische Bewusstsein zu erlangen“, das ihnen erlaubte, die „Partei“ zu konstituieren? Aber waren sie nicht seit 1943/45 als Mitglieder, und zwar als führende Mitglieder, in der IKP organisiert? Es ist schwierig, sehr schwierig, über solch eine schwerwiegende Frage mit Leuten zu disku­tieren, die alle ihre Begriffe durcheinanderbringen, die nicht zwischen dem Augenblick der Schwangerschaft und dem der Geburt un­terscheiden können, die nicht wissen, wer sie selbst sind und in welchem Stadium sie sich befinden, die sich „Die Partei“ nennen und gleichzeitig die Notwendigkeit der Konstituierung der Partei vertreten. Wie kann man Leute ernst nehmen, die, je nachdem wie es ihnen in den Kram passt, den Zeitpunkt der Geburt auf 1943, 1945, 1952 oder gar auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft festlegen.

So wie mit dem Gründungsdatum der IKP verhält es sich auch mit der Links-Fraktion im Ausland. Entweder wird sie akzeptiert oder sie wird abgelehnt, je nachdem wie es passt. Doch welches Datum auch immer, was die Bildung der Partei angeht, „können (wir) auf Anhieb sagen, daß die Erlangung dieses kritischen Bewußtseins nicht von einer aufsteigenden Bewegung getragen wurde, sondern ganz im Gegenteil ihr weit vorausging." (Kommunistisches Programm, Nr.18, 5.15).

Dies scheint klar zu sein. Die Konstituierung der Partei wird keineswegs durch eine aufstrebende, wachsende Bewegung im Klassenkampf bestimmt, „sondern sie geht ihr im Gegen­teil weit voraus“. Aber warum dann dieser Eifer, gleich hinzufügen, daß es darauf ankomme, „die wahre Partei (…) die kompakte und starke Partei aufzubauen, die wir noch nicht sind“? Kurz gesagt: eine Partei,...die die Partei vorbereitet! Mit anderen Worten, eine Partei, die keine ist. Aber warum ist diese Partei, die ein „vollendetes und invariantes“ Programm besitzt, die das notwendige kritische und organisatorische Bewußtsein erreicht hat -  warum ist sie nicht die „wahre Partei“? Was fehlt ihr also? Sicher ist es keine Frage der Anzahl der Mitglieder, aber zu sagen, daß die „Partei im Bau“ anerkennt, daß sie sich „im Geburtsprozeß“ befindet und nicht vollendet ist, weil „die Klassenpartei stets im Bau ist, vom Tag ihres ersten Auftretens bis zum Moment ihres Verschwindens“ (Programm Communiste, Nr. 76, unsere Unterstreichungen), bedeutet ganz offensichtlich nur ein Jonglieren mit Worten; sie vermeidet es, die erforderlichen Antworten zu geben, indem sie die Fragen unter den Teppich kehrt. Es ist eine Sache zu sagen, daß der Eisprung Vorbedingung einer späteren Geburt ist, es ist allerdings eine andere Sache zu sagen, daß der Eisprung die eigentliche Geburt sei, die faktische Entstehung von Leben. Die geniale Originali­tät von Kommunistisches Programm besteht darin zu behaupten, daß beide ein und das­selbe sind. Mit solch einer Scheinargumen­tation kann man alles Mögliche, einschließlich der Quadratur des Kreises, beweisen. Die Notwendigkeit, die Partei konstant weiterzuentwickeln und zu stärken, wenn sie wirklich existiert, beweist nicht, daß sie bereits existiert, genauso wenig wie die Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Stärkung des Kindes beweist, daß das Ei schon ein Kind ist. Nur unter bestimmten präzisen Voraussetzungen kann aus dem Ei ein Kind werden. Die Pro­blemstellung des einen unterscheidet sich stark von den Problemen, die sich dem anderen stellen.

Diese ganzen Spitzfindigkeiten über die Partei, die existiert, weil sie konstant im Bau ist, und über den ständigen Aufbau einer Partei, die bereits existiert, dienen dazu, verstohlen eine andere bordigistische Theorie einzuführen: die reale Partei und die for­male Partei. Dies ist eine weitere Spitzfindigkeit, die zwischen der realen Partei, einem rein „historischen“ Phantom, das zwangsläufig nicht in der Realität existiert, und der formalen Partei unterscheidet, die tatsächlich in der Realität existiert, aber nicht zwangsläufig Ausdruck der realen Partei ist. In der bordigisti­schen Dialektik ist die Bewegung kein Zustand der Materie und somit etwas Mate­rielles, sondern eine metaphysische Kraft, die die Materie schafft. So wird aus der Wendung im Kommunistischen Manifest: „die Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“ in der bordigistischen Weltanschauung: „die Konstituierung der Partei macht das Proletariat zur Klasse“. Das führt zu widersprüchlichen Schlußfolgerun­gen, die gleichzeitig auf die Scholastik der Argumentation hinweisen: Entweder bestätigt man entgegen jeder Vernunft, daß die Partei seit ihrem ersten Auftreten (sagen wir seit Babeuf und seit den Chartisten) nie zu existieren aufge­hört hat, oder man geht von der offensichtlichen Tatsache aus, daß die Par­tei während längerer Zeiträume in der Geschichte nicht existiert hat, und man ge­langt (wie Vercesi, Camatte)  zur Schlußfolgerung, daß die Klasse dauernd oder zeitweilig verschwunden ist. Das einzige Bestän­dige am Bordigismus ist sein Lavieren von einem scholastischen Pol zum nächsten.

Um mehr Klarheit zu erzielen, könnte man vielleicht die Frage auf eine andere Art stellen. Die Bordigisten definieren die Partei als eine Doktrin, als ein Pro­gramm und als eine Fähigkeit zur prakti­schen Intervention, als einen Willen zur Handlung. Diese etwas kurzgefaßte Defini­tion der Partei wird heute durch ein ande­res Postulat vervollständigt: Das Bestehen der Partei hängt nicht ab von einem ge­gebenen Zeitraum, ja muß im Gegen­teil absolut unabhängig davon sein. Nun sagt man uns, daß von den beiden Grundlagen der Partei - das Programm und der Willen zum Handeln - die erste, das Programm, seit dem Kommunistischen Manifest 1848 vollendet und invariant ist. Hier stehen wir vor einem offensicht­lichen Widerspruch: das Programm, die Essenz der Partei, ist vollendet, aber die Partei, die Materialisierung des Programms, befindet sich im unaufhörlichen Aufbau. Mehr noch: sie verschwindet zeitweise sogar ganz und gar. Wie ist das möglich und warum?

1852 löste sich der Bund der Kommunis­ten auf und verschwand. Warum? Haben die Gründer des Programms, Marx und Engels, das Programm aus den Augen verloren? Man könnte vielleicht gegen sie vorgeben, daß sie den Willen zur Handlung verloren haben, indem man auf die Spaltung, die von ihnen gegen die Minderheit (Willich-Schapper) arrangiert wurde, und auf ihre Anprangerung des voluntaristischen Aktionismus dieser Minderheit verweist. Aber hieße das nicht, von einer Absurdität zur nächsten, noch größeren Absurdität zu springen? Was bleibt uns also anders übrig, als diese Auflösung durch eine tiefgreifende Änderung der Situation zu erklären - ob es den Bordigisten paßt oder nicht? Engels, der wußte, worüber er sprach, erklärte das Ver­schwinden des Bundes so:

„Die Niederschlagung der Pariser Juni-Insurrektion von 1848 - dieser ersten großen Schlacht zwischen  Proletariat und Bourgeoisie - drängte die sozialen und politischen Bestrebungen der Ar­beiterklasse Europas zeitweilig wieder in den Hintergrund (...) Die Arbeiterklasse wurde beschränkt auf einen Kampf um po­litische Ellbogenfreiheit und auf die Position eines äußerlich linken Flügels der radikalen Bourgeoisie. Wo selbständige proletarische Bewegungen fortführen, Lebenszeichen von sich zu geben, wurden sie erbarmungslos nieder­geschlagen (…) Sofort nach dem Urteilsspruch (des Prozesses der Kölner Kommunisten im Oktober 1852) wurde der Bund durch die noch verbliebenen Mitglieder formell aufgelöst.“ (MEW, Bd. 21, S. 353).

Diese Erklärung scheint unsere Bordi­gisten nicht zu überzeugen, die sie nur völlig überflüssig finden können, denn für sie hat sich die Partei nie wirklich aufgelöst – sie bestand in der Person von Marx und Engels fort. Um dies zu beweisen, zitieren sie aus einem skurrilen Auszug aus einem Brief von Marx an En­gels, und wie jedes Mal wenn es ihnen zweckmäßig erscheint, machen sie aus einem Wort, aus einem Satzteil und selbst aus einem skurrilen Einfall in einem Brief eine ab­solute Wahrheit, ein invariantes und unwan­delbares Prinzip.(8) Geschah zwischen der Auflösung des Bundes 1852 und der Geburt der Internationalen 1864  irgendetwas Relevantes für die Parteiexistenz? Gemäß den Bordigisten überhaupt nichts; das Programm blieb immer noch invariant, der Willen zur Handlung war vor­handen, Marx und Engels waren da und die Partei mit ihnen. Nichts, überhaupt nichts Wichtiges schien passiert zu sein. Das scheint aber nicht die Meinung Engels ge­wesen zu sein, der schrieb:

„Als die euro­päische Arbeiterklasse wieder genügend Kraft zu einem neuen Angriff auf die herr­schende Klasse gesammelt hatte, entstand die Internationale Arbeiterassoziation.“ (MEW,Bd, 21, S.353) Wenn Kommunistisches Programm in sei­nem Artikel schreibt: „… die revolutionäre marxistische Partei (ist) nicht das Produkt  der unmittelbaren Bewegung, d.h. der Auf­stiegs- und Rückflußphasen...“ (S.20), ver­fälscht es entweder aus Unverständnis oder aus Absicht die Debatte, indem dieses klei­ne Wort „Produkt“ - im franz. Text unter­strichen - eingeführt wird. Selbstverständ­lich, die Notwendigkeit einer Partei resul­tiert nicht aus besonderen Situationen, son­dern aus der allgemeinen historischen Lage der Klasse (dies lernt man im Grundkurs des Marxismus und erfordert keine großen Kenntnisse). Die Kontroverse geht nicht darum, sondern darum, ob die Exis­tenz der Partei an die Wechselfälle des Klassenkampfes gebunden ist oder nicht, ob spezifische Bedingungen notwendig sind, damit die Revolutionäre tatsächlich - und nicht nur in Worten - die Rolle er­füllen können, die der Partei obliegt. Es reicht nicht aus zu sagen, daß ein Kind ein menschliches Produkt ist, um daraus zu folgern, daß die notwendigen Lebensbedingungen - Luft zum Atmen, Lebensmittel zur Ernährung, Fürsorge durch andere - gegeben sind. Ohne diese Bedingungen ist das Kind unwiderruf­lich zum Tode verurteilt. Partei zu sein heißt, wirksam zu intervenieren, eine wachsende Wirkung, einen wirklichen Einfluß auf den Klassenkampf zu haben, und dies ist nur möglich, wenn der Klassen­kampf sich im Anstieg befindet. Darin liegt der Unterschied zwischen der Partei und ihrer realen Existenz sowie der Fraktion oder Gruppe. Das hat die IKP noch nicht ver­standen und will es auch nicht verstehen.

Der Bund der Kommunisten konstituier­te sich zu einer Zeit des wachsenden Klassen­kampfes, der der Welle von revolutionären Kämpfen 1848 vorausging, und er verschwand, wie Engels‘ Zitat gezeigt hat, mit der Niederlage und dem Zurückweichen des Klassenkampfes. Dies ist keine vorüber­gehende, sondern eine allgemeine Tatsache, die sich in der ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung bewahrheitet hat, und es konnte auch nicht anders sein. Die Erste Internationale entstand, „als die europäische Arbeiterklasse wieder genügend Kraft zu einem neuen Angriff auf die herrschende Klasse gesammelt hatte“ (Engels). Und wir können uns voll und ganz den Worten des Berichterstatters des Generalrates auf dem Ersten Kongreß der Internationale anschließen, der auf die Angriffe der bürgerlichen Presse antwortete: „Nicht die Internationale hat die Streiks der Arbeiter ausgelöst, sondern es sind die Arbeiterstreiks, die der Internationa­le solche Stärke verleihen.“ Wie der Bund der Kommunisten überlebte auch die Internationale nicht lan­ge die blutige Niederlage der Pariser Kommu­ne. Sie brach kurz darauf zusammen, trotz der Präsenz von Marx und Engels und des „vollendeten und invarianten“ Programms.

Um das Gegenteil dessen zu beweisen, was wir gerade festgestellt haben, versucht der Artikel vergeblich zurückzugreifen auf: „…konkrete Belege (...), daß es ganze Gebiete (wie England oder Amerika) gab, wo ausgesprochen heftige Kämpfe stattge­funden haben, obwohl die Partei überhaupt nicht existierte“ (Kommunistisches Programm, S. 20). Hier handelt es sich um ein Argument, das überhaupt nichts beweist, außer die Tatsa­che, daß es keine mechanische Verbindung zwischen den Kämpfen der Klasse und der Absonderung einer Partei gibt bzw. daß andere Faktoren bestehen, die dem Prozeß der Kon­stituierung der Partei entgegenwirken; daß im allgemeinen eine Kluft zwischen den objektiven und den subjektiven Bedingungen, zwischen dem Sein und der Entwicklung von Bewusstsein be­steht. Wenn das Argument Gültigkeit haben soll, dann muss Kommunistisches Programm Fälle zitieren, die das Gegenteil beweisen, d.h. Beispiele, wo die Partei sich außerhalb von Ländern und Perioden konstituiert hat, in denen der Kampf auf dem aufsteigenden Ast war. Doch es gibt keine Beispiele. Das einzige Beispiel (überflüssig, über die trotzkistische IV. Internationale zu reden), das sie aufführen können, ist die IKP. Aber das ist eine ande­re Geschichte, die Geschichte mit der Maus, die so groß sein wollte wie der Elefant. Die IKP war niemals eine Partei, außer dem Na­men nach.

Nach den Beispielen des Bundes der Kommunisten und der Ersten Internationalen gibt es noch das Beispiel der II. Internationalen und ihres ehrlosen Niedergangs und, noch schlimmer, das Beispiel der Gründung der III. Internationalen und ihres würdelosen Endes im Stalinismus. Diese Beispiele sind eine eindeutige Bestätigung der von der Italienischen Fraktion vertretenen These, eine These, der wir voll und ganz beipflichten: die Unmöglichkeit, die Partei in einer Periode des zurückweichen­den Klassenkampfes zu konstituieren.(9) Ganz anders lautet natürlich die Vorstellung von Kommunisti­sches Programm: die Rekonstituierung der Partei müsse stattfinden, „bevor das Pro­letariat aus dem Abgrund, in dem es hinab­gestürzt war, wiederaufsteigt. Es muss festgestellt werden, daß diese Wiedergeburt zwangsläufig, wie dies stets der Fall gewesen war, diesem Wiederaufleben des Proletariats vorausgeht“ (S.17).

Man versteht, warum der Artikel sich mit solch einem Nachdruck auf Lenins Was tun? bezieht, vor allem auf den Teil über das gewerkschaftliche Bewußtsein der Arbeiter­klasse. Denn was der ganzen Argumentationskette in dem Artikel zugrunde liegt, ist nicht so sehr eine Überschätzung der Rolle der Partei und die dem Bordigismus eigentümliche Neigung zum Größenwahn, sondern eine himmelschreiende Unterschätzung der Fähigkeit der Klasse, bewusst zu werden, ein tiefer Mangel an Vertrauen in die Klasse, ein kaum verhülltes Mißtrauen gegen die Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit, die Welt zu verstehen:

„Wenn die Zukunft, die von der Partei wissenschaftlich vorausgesehen wird, für uns Materialisten gewiss und unvermeidlich ist, so wird dies nicht durch irgendeine ‚Reifung‘ des Bewusstseins in der Klasse über ihre historische Mission bestimmt, sondern weil die Arbeiterklasse von objektiven Determinanten gedrängt wird, bevor sie es weiß und ohne zu wissen, wie man für den Kommunismus kämpft.“ (S.21, Nr.18, Kommunistisches Programm)

Im Artikel findet man durchweg diese misstrauischen Kom­plimente für die Arbeiterklasse: eine rohe und abgestumpfte Masse, die ohne zu wissen und ohne zu verstehen handelt, die aber glücklicherweise von einer Partei geführt wird, die alles versteht, ja die das personifizierte Ver­ständnis ist. Man gestatte uns, diesem erstickenden Misstrauen die frische Luft des Urteils des alten Engels gegen­überzustellen:

„Für den schließlichen Sieg der im 'Manifest' aufgestellten Sätze ver­ließ sich Marx einzig und allein auf die intellektuelle Entwicklung der Arbeiter­klasse, wie sie aus der vereinigten Aktion und der Diskussion notwendig hervorgehen mußte.“ (Vorrede für das Kommunistische Manifest, vierte deutsche Ausgabe, London, I. Mai 1890).

Jeder Kommentar erübrigt sich. Fahren wir fort. Gemäß der bordigistischen Vorstellung erfordert die Rekonstituierung der Partei - die vollständig losgelöst von den konkreten Bedingungen ist - die theoretische Rei­fe und den Willen zum Handeln. So fällt der Artikel folgendes Urteil über die Fraktion

„Wenn (die Fraktion) noch nicht die Partei, sondern erst ihr Vorspiel war, so nicht mangels praktischer Aktivitäten, sondern eher infolge der Unzulänglichkeit ihrer theoretischen Arbeit.“ (S.25)

Gut, das ist ihr Urteil. Aber was versteht der Artikel unter ausreichender theoretischer Arbeit? Zweifellos die Wiederherstellung, die Wieder­aneignung, die Konservierung des vollendeten und invarianten Programms. Vor allem aber ohne die Positionen der Vergangenheit zu überprüfen, ohne eine Antwort auf die neuen Probleme zu suchen. Dies ist die Art von Arbeit, die der Artikel der Fraktion vorwirft, dies ist es, was er als ihre größte Schwäche ansieht. Diese Museumskonservatoren, die ihre eige­ne Sterilität zum Ideal erhoben haben, wür­den gern glauben machen, daß Lenin genau wie sie niemals etwas anderes gemacht hatte, als die vollendete Theorie von Marx zu „restaurieren“. Vielleicht könnten sie einmal darüber nachdenken , was Lenin zur Fra­ge der Theorie gesagt hat :

„Wir betrachten die Theorie von Marx keineswegs als etwas Abgeschlossenes und Unantastbares: wir sind im Gegenteil davon überzeugt, daß sie nur das Fundament der Wissenschaft gelegt hat, die die Sozia­listen nach allen Richtungen weiterent­wickeln müssen (von Lenin unterstrichen), wenn sie nicht hinter dem Leben zurück­bleiben wollen.“.

Der Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, nennt sich… „Unser Programm“.

Und wie messen unsere Päpste des Marx­ismus den Grad der theoretischen Reife? Gibt es irgendwelche festgelegten Maßstäbe? Um nicht willkürlich vorzugehen, müssen auch die Maßstäbe gemessen werden, und es gibt keinen besseren Weg, dies zu tun, als diese theoretische Reife im Licht der konkreten Positionen, die man vertritt,  zu verifizieren.

Wenn man durch dieses Mittel die Rei­fe messen kann und wenn dies das Haupt­kriterium für die Bildung der Partei ist, dann können wir ruhig, aber mit aller notwendigen Überzeugung sagen, daß die Bordigisten die Partei nicht 1943, auch nicht 1945 und vor allem aber nicht 1952 hätten konstituieren sollen, sondern daß sie besser bis zum Jahr 2000 gewartet hätten. Jeder hätte dabei gewonnen, vor allem sie selbst.

Wir können noch nicht sagen, wie sich die kompakte und starke Partei von morgen bilden wird, aber was schon heute feststeht, ist, daß die IKP es nicht sein wird. Das Drama des Bordigismus ist, das sein zu wollen, was er nicht ist, die Partei, und das nicht sein zu wollen, was er ist: eine politische Gruppe. So erfüllt die IKP nicht - außer in Worten - die Funktionen der Partei, weil sie sie nicht erfüllen kann, und verwirk­licht auch nicht die Aufgaben einer poli­tischen Gruppe - die in ihren Augen belanglos sind. Wenn man ihre politische Reife an ihren Positionen mißt und dabei ihre Entwicklung beobachtet, dann sieht es ganz danach aus, daß sie niemals ihr Ziel errei­chen wird, denn mit jedem Schritt vorwärts macht sie gleichzeitig zwei oder drei Schritte zurück.

M.C.

FUSSNOTEN :

(1) Diesen Artikel gibt es in deutscher Sprache in Kommunistisches Programm, Nr.18, Mai 1978.Soweit die deutsche Übersetzung der IKP mit dem Originaltext übereinstimm­te, haben wir diese Version ver­wendet. Andernfalls haben wir selbst den Originaltext übersetzt.

(2) Programme Communiste, Nr.76, 5.5. Dieser Satz ist in der deutschen Über­setzung nicht zu finden.

(3) Bilan, Nr.1, Vorwort, S.3.

(4) Ebenda.

(5) Siehe unseren Artikel "Terror, Terro­rismus und Klassengewalt" in dieser Nummer, in dem dieses Thema ausführ­lich behandelt  wird.

(6) Der Proletarier (franz. Ausgabe "Le Proléaire" vom 8/21 April 1978, Nr. 264) drückt sich noch deutlicher aus: „...die charakteristischen Thesen aus dem Jahre 1951, die den Geburtsakt und die Zugehörigkeitsgrundlagen dar­stellen...“

(7)) Siehe L'Etincelle und Internatio­nalisme, Publikationen der Linkskommunisten Frankreichs bis 1952.

(8) Es ist höchste Zeit, diesem unglaub­lichen Mißbrauch ein Ende zu setzen, den manche mit Zitaten betreiben, in­dem sie mit ihnen alles Mögli­che ausdrücken wollen. Dies trifft besonders auf die Bordigisten hinsichtlich der Vorstellung von Marx über die Partei zu. Es wäre möglicherweise lohnenswert, sie aufzufordern, über diesen irgendwie überraschenden und rätselhaften Satz im Kommunistischen Manifest nachzusinnen und ihn zu deuten: „Die Kommunisten sind keine besondere Par­tei gegenüber den anderen Arbeiter­parteien.“ (Kapitel II, "Proletarier und Kommunisten").

 (9)  Es ist übrigens bekannt, daß Bordiga sich zumindest sehr widerstrebend an der Konstituierung der Partei beteiligte und daß er nur widerwillig dem ihm gegenüber von allen Seiten ausgeübten Druck nachgegeben hat, sich ihr anzuschließen. Vercesi dagegen wartete nicht lange, bis er die Richtigkeit der Parteibildung öffentlich in Frage stellte. Aber wer A sagt, muß auch B sagen. Man kann ein Widerhall seiner Zurückhaltung in dem „Vorent­wurf der Prinzipienerklärung für das Internationale Büro der (neuen) inter­nationalen Kommunistischen Linken“ fin­den, den er entworfen und in Bel­gien Ende 1946 veröffent­licht hat. Darin kann man lesen: „Der Prozeß der Umwandlung der Frak­tionen in eine Partei wurde von der kommunistischen Linke in seinen großen Linien nach einem Schema festgelegt, das besagt, daß die Partei erst dann in Erscheinung treten kann, wenn die Arbeiter Kampfbewegungen begonnen ha­ben, welche den Rohstoff zur Machtero­berung liefern.“ (Kommunistisches Pro­gramm, S. 24)

Terror, Terrorismus und Klassengewalt

  • 3154 Aufrufe

Einleitung:

Die eindrucksvollen, ideologischen Kampagnen der europäischen Bourgeoisie zum Thema Terrorismus (die Schleyer-Entführung in Deutschland, die Moro-Affäre in Italien) - Feigenblätter, die die massive Stärkung des Staates des bürgerlichen Staates verdecken sollen - haben das Problem der Gewalt, des Terrors und Terrorismus in den Fokus der  Revolutionäre gerückt. Diese Fragen sind nicht neu für Kommunisten. Jahrzehntelang haben sie die barbarischen Methoden angeprangert, die von der Bourgeoisie benutzt wurden, um ihre Macht über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die Brutalität, die selbst die demokratischsten Regimes bei der leisesten Bedrohung gegen die herrschende Ordnung entfesselten. Sie waren in der Lage gewesen zu betonen, dass die gegenwärtigen Kampagnen nicht wirklich den Mückenstichen einer Handvoll verzweifelter Elemente aus dem zerfallenden Kleinbürgertum galten, sondern der Arbeiterklasse, deren zwangsläufig gewaltsame Revolte die einzig ernsthafte Bedrohung für den Kapitalismus darstellt.

Die Rolle der Revolutionäre lag so­mit darin, diese Kampagnen als das zu entlarven, was sie sind, und gleichermaßen die stupide Unterwürfigkeit der linken Gruppen klar herauszustellen, die, wie z.B. einige trotzkistische Gruppen, ihre Zeit damit verbringen, die „Roten Brigaden“ anzuprangern, weil diese Aldo Moro „ohne ausreichende Beweise“ und „ohne Zustimmung der Arbeiterklasse“ verurteilt hätten. Wenn die Revolutionäre den bürgerlichen Terror verurteilen und die Notwendigkeit der Gewaltanwendung bei der Zerstörung des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse bejahen, müssen sie sich gleichzeitig besonders klar sein über:

-  die wahre Bedeutung des Terrorismus und

-  die zukünftige Form der von der Arbeiterklasse ausgeübten Klassenge­walt in ihrem Kampf gegen die Bourgeoisie. 

Und hier muss gesagt werden, dass es selbst in Organisationen, die Klassenpositionen vertreten, eine Reihe von irrigen Auffassungen geben kann, die Gewalt, Terror und Terrorismus als synonym betrachten und davon ausgehen:

- dass es einen „Arbeiterterrorismus“ geben kann;

- dass die Arbeiterklasse dem weißen Terror der Bourgeoisie ihren eigenen „revolutionären Terror“ entgegenstellen muss, der gewissermaßen die Symmetrie zu Ersterem herstellt.

Wahrscheinlich ist es die bordigistische Internationale Kommunistische Partei (IKP - Kommunistisches Programm), die sich am nachdrücklichsten zum Sprachrohr dieser Art von Konfusionen gemacht hat, denn sie schreibt:  

"Vom Stalinismus verwerfen die Marchais‘ und Pelikans nur die revolutionären Aspekte - die Einheitspartei, die Diktatur, den Terror -, die sie von der proletarischen Revolution geerbt hatten." (Aus: Programme Communiste, Nr.76, S. 87).  

So ist für diese Organisation der Terror, selbst wenn er vom Stalinismus benutzt wurde, dem Wesen nach revolutionär, und können die Methoden der proletarischen Revolution mit den Methoden der schlimmsten Konterrevolution, die jemals die Arbeiterklasse getroffen hat, identisch sein.

Außerdem neigte die IKP zur Zeit der Baader-Affäre dazu, die terroristischen Taten Baaders und  seiner Gefährten als Vorbote der zu­künftigen Gewalt der Arbeiterklasse dar­zustellen, trotz der Vorbehalte gegenüber diesen ausweglosen Aktionen. So steht in Le Prolétaire, Nr. 254: "In diesem Geiste haben wir mit Sorge den tragischen Epos Andreas Baaders und seiner Gefährten verfolgt, die an dieser Bewegung teilgenommen haben, einer Bewegung der langsamen Anhäufung der Voraussetzungen für das proletarische Wiedererwachen." Und etwas weiter: „Der proletarische Kampf wird weitere Märtyrer erleben…"

Schließlich taucht die Idee eines „Arbeiterterrorismus“ offen an einigen Stellen auf: „Kurzum, um revolutionär zu sein, genügt es nicht, die Gewalt und den Terror der bürgerlichen Staaten zu verurteilen, man muss auch die Gewalt und den Terrorismus als unabdingbare Waffen der Befreiung des Proletariats einfordern“ (Le Proletaire, Nr. 253).

Entgegen solcher Konfusionen versucht der nachfolgende Text über die bloßen lexikalischen Definitionen und den Sprachmissbrauch, den manche Revolutionäre in der Vergangenheit gelegentlich begangen haben, hinauszugehen und die unterschiedlichen Klasseninhalte von Terrorismus, Terror und Gewalt, insbesondere der Gewalt, die die Arbeiterklasse für die Verwirklichung ihrer Befreiung gebrauchen wird, zu ermitteln.

KLASSENGEWALT UND PAZIFISMUS  

Den Klassenkampf anzuerkennen bedeutet, die Gewalt direkt als eines seiner grundlegenden und ihm innewohnenden Elemente zu akzeptieren. Die Existenz von Klassen heißt, dass die Gesellschaft durch antagonistische Interessen, durch unversöhnliche Konflikte zerrissen ist. Die Klassen gründen sich auf der Basis dieser Antagonismen. Die zwischen den Klassen bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen sind deshalb zwangsläufig Verhältnisse des Widerstands und der Antagonismen, d.h. des Kamp­fes.

Das Gegenteil vorzutäuschen, zu behaupten, dass man diesen Sachverhalt durch den guten Willen, durch die Zusammenarbeit und die Harmonie zwischen den Klassen überwinden kann, hieße, sich außerhalb der Realität zu stellen, und wäre voll­kommen utopisch.

Dass die ausbeutenden Klassen sich zu solchen Illusionen bekennen und sie verbreiten, ist nichts Überraschendes: Sie sind „von Natur aus“ davon überzeugt, dass gar keine andere Gesellschaft, keine bessere Gesellschaft existieren kann als die Gesellschaft, in der sie die herrschende Klasse sind. Diese absolute, blinde Überzeugung wird ihnen durch ihre Interessen und Privilegien diktiert. Ihre Klasseninteressen und Klassenprivilegien stimmen mit dem Typ der Gesellschaft überein, die sie beherrschen; sie haben also ein Interesse daran, den beherrsch­ten und ausgebeuteten Klassen zu predigen, auf ihren Kampf zu verzichten, die bestehende Ordnung zu akzeptieren, sich den „historischen Gesetzen“ zu unterwerfen, die die Herrschenden als unveränderlich ausgeben. Diese herrschenden Klassen sind somit einerseits objektiv borniert, beschränkt und unfähig, die Dynamik des Klassenkampfes der unterdrückten Klassen zu verstehen. Andererseits sind sie subjektiv im höchsten Grade daran interessiert, die beherrsch­ten Klassen zur Aufgabe jeder Kampfbereitschaft zu bewegen, indem sie ihren Willen durch alle möglichen Mystifikationen brechen.

Aber die ausbeutenden Klassen sind nicht die einzigen, die solch eine Einstellung gegenüber dem Klassenkampf haben. Gewisse Strömungen haben es für möglich gehalten, den Klassenkampf zu vermeiden, indem sie an die Intelligenz und das Verständnis von Menschen guten Willens appellierten, um eine harmonische und brüderliche Gesellschaft der Gleichen zu schaffen. Dies war beispielsweise der Fall bei den Utopisten zu Anfang des Kapitalismus. Im Gegensatz zur Bourgeoisie und ihren Ideologen hatten die Utopisten kein Interesse, den Klassenkampf zu vertuschen, um die Privilegien der herrschen­den Klassen zu erhalten. Wenn sie den Klassenkampf umgingen, dann nur deshalb, weil sie die historischen Gründe für die Existenz von Klassen nicht verstanden. Hierin drückte sich eine Unreife im Verständnis der Realität aus, einer Realität, die bereits den Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie beinhaltete. Obwohl sie das unvermeidliche Hinterherhinken des Bewusstseins gegenüber dem Sein aus­drücken, sind sie das Produkt der ersten theoretischen Gehversuche der Klasse, der Bemühungen der Klasse, zum Bewusstsein zu gelangen. Deshalb wer­den sie mit vollem Recht als die Vorläufer der sozialistischen Bewegung betrachtet, als bedeutender Beitrag zu der Bewegung, die später mit dem Marxismus eine wissenschaftliche und historische Grundlage erlangte.

Mit den humanistischen, pazifistischen oder ähnlichen Bewegungen, die seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufgeblüht sind und die damit prahlen, den Klassenkampf nicht zur Kenntnis zu nehmen, verhält es sich ganz anders. Sie leisten überhaupt keinen Beitrag zur Befreiung der Menschheit. Sie sind schlicht der Ausdruck der kleinbürgerlichen Klassen und Schichten, die historisch anachronistisch und machtlos sind und in der modernen Gesellschaft, im Kampf zwischen dem Kapital und dem Proletariat zermalmt werden. Ihre Klassen übergreifende, gegen den Klassenkampf gerichtete Ideologie ist das Lamentieren einer todgeweihten Klasse, die weder im Kapitalismus noch in der Gesellschaft, die das Proletariat etablieren wird, eine Zukunft hat. Sie sind erbärmlich und lächerlich, ihre Ideen und ihre politischen Verhaltensweisen, ihr Wehklagen, ihre Gebete und absurden Illusionen können allenfalls den Weg und den Willen des Proletariats behindern. Aus dem gleichen Grunde sind sie im hohen Maße vom Kapitalismus, der alles, was er zu fassen kriegt, als eine Waffe der Mystifikation nutzt, verwendbar und werden auch von ihm verwendet.

Die Existenz der Klassen, des Klassenkampfes beinhaltet zwangsläufig Klassengewalt. Nur jämmerliche Waschlappen und ausgemachte Schwindler (wie die Sozialdemokraten) können dies leugnen. Im Allgemeinen ist die Gewalt ein Kennzeichen des Lebens; man findet sie in der gesamten Entwicklung des Lebens vor. Jede Handlung beinhaltet ein gewisses Maß an Gewalt, da sie das Erzeugnis einer dauernden Störung des Gleichgewichts ist, die aus dem Aufeinandertreffen entgegengesetzter Kräfte resultiert. Die Gewalt ist in den ersten Menschengruppen präsent; sie drückt sich nicht notwendigerweise in der Form offener, physischer Gewalt aus. Gewalt bedeutet alles, was eine Auferzwingung, einen Zwang, die Durchsetzung eines entsprechenden Kräfteverhältnisses, eine Drohung beinhaltet. Gewalt bedeutet die Zuhilfenahme von physischer oder psychischer Aggression, aber sie existiert auch, wenn eine bestimmte Situation oder Entscheidung durch die bloße Tatsache erzwungen wird, dass die Mittel zu einer solchen Aggression zur Verfügung stehen, selbst wenn diese Mittel faktisch nicht benutzt werden. Doch während Gewalt in der einen oder anderen Form existiert, sobald sich etwas regt oder lebt, macht die Spaltung der Gesellschaft in Klassen die Gewalt zu einer der Hauptgrund­lagen von gesellschaftlichen Verhältnissen, die im Kapitalismus infernalische Ausmaße annehmen.

Jedes System der Ausbeutung von Klassen gründet seine Macht auf Gewalt, auf eine ständig wachsende Gewalt, die dazu tendiert, zum Hauptpfeiler zur Aufrechterhaltung des gesamten sozialen Gebildes zu werden. Ohne sie würde die Gesellschaft sofort zusammenbrechen. Als ein zwangsläufiges Produkt der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere wird die Gewalt, die in ihrer ausgereiften Form im Staat organisiert, konzentriert und institutionalisiert ist, dialektisch zu einer grundsätzlichen Vorbedingung für die Existenz einer ausbeuterischen Gesellschaft. Dieser immer blutigeren und mörderischeren Gewalt der ausbeutenden Klassen können die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen nur mit ihrer eigenen Ge­walt begegnen, wenn sie sich befreien wollen. An die „menschlichen“ Ge­fühle der ausbeutenden Klassen zu appellieren, wie es die Religiösen à la Tolstoi und Gandhi oder die Sozialisten, jene Wölfe im Schafspelz, getan haben, hieße, an Wunder zu glauben; es hieße, die Wölfe zu bitten, nicht mehr Wölfe zu sein um sich in Lämmer zu verwandeln. Es hieße, die Kapitalistenklasse zu bitten, nicht mehr Kapitalistenklasse zu sein, um sich in die Arbeiterklasse zu verwandeln.

Die Gewalt der ausbeutenden Klassen ist dem Wesen dieser Klasse immanent; ihr kann nur durch die revolutionäre Gewalt der unterdrückten Klassen ein Ende gesetzt werden. Dies zu verstehen, es vor­herzusehen, sich darauf vorzubereiten, sie zu organisieren ist nicht nur eine entscheidende Vorbedingung für den Sieg der unterdrückten Klassen, sondern es garantiert auch den Sieg mit dem geringsten Leid. Jeder, der die geringsten Zweifel und Bedenken daran hat, ist kein Revolutionär.

DIE GEWALT DER AUSBEUTENDEN UND HERRSCHENDEN KLASSEN: TERROR

Wir haben gesehen, dass Ausbeutung ohne Gewalt undenkbar ist, dass beide organisch, untrennbar miteinander verbunden sind. Obgleich man sich Gewalt außerhalb von Ausbeutungsverhältnissen vorstellen kann, kann die Ausbeutung nur mit und durch Gewalt verwirklicht werden. Das eine verhält sich zum anderen wie die Lungen zur Atemluft - die Lungen können nicht ohne Sauerstoff funktionieren.

Wie der Kapitalismus beim Übergang zum Imperialismus erreicht auch die mit der Ausbeutung verbundene Gewalt eine neue und besondere Qualität. Sie ist nicht mehr eine zufällige oder zweitrangige Tatsache, sondern wird zu einem dauerhaften Zustand in allen Bereichen des Gesellschaftslebens. Sie durchtränkt alle Beziehungen, dringt in alle Poren der Gesellschaft sowohl auf allgemeiner Ebene als auch in sogenannten persönlichen Beziehungen ein. Ausgehend von der Ausbeutung und ihrem Bedürfnis nach Unterwerfung der produzierenden Klasse zwingt sich die Gewalt allen Beziehungen zwischen den Klassen und Schichten der Gesellschaft auf; den Beziehungen zwischen den industrialisierten und unterentwickelten Ländern, zwischen den industrialisierten Ländern selber, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen den Individuen, zwischen Regierenden und Regierten. Sie spezialisiert, strukturiert, organisiert und konzentriert sich in einem abgesonderten Organismus: im Staat mit seinen Armeen, seiner Polizei, seinen Gefängnissen, seinen Gesetzen, seinen Beamten und Folter­knechten, und dieser Organismus neigt dazu, sich über die Gesellschaft zu erheben und sie zu dominieren.

 Um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sicherzustellen, wird die Gewalt zur ersten Handlung der Gesellschaft, die ihr einen ständig steigenden Teil ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Mittel widmet. Die Gewalt erlangt den Status eines Kultes, einer Kunst, einer Wissenschaft. Eine Wissenschaft, die nicht nur auf die militärische „Kunst“ angewendet wird, auf die Waffentechnik, sondern auf alle Bereiche und Ebenen, auf die Organisierung von Konzentrationslagern, auf die Einrichtung von Gaskammern, die „Kunst“ der schnellen und massiven Auslöschung ganzer Bevölkerungen, die Schaffung von wahren Universitäten der wissenschaftlichen und psychologischen Folter, in denen eine Unzahl von Folterern Diplome erwerben und ihre Fertigkeiten verfeinern kann. Eine Gesellschaft, die nicht nur, wie Marx feststellte, „Kot und Blut aus allen Poren schwitzt“, sondern die außer­halb einer vergifteten Atmosphäre von Kadavern, Tod, Zerstörung, Massakern, Leid und Folter weder leben noch atmen kann. In solch einer Gesellschaft potenziert sich die Gewalt unendlich und ändert ihre Qualität - Gewalt wird zu Terror.

Von der Gewalt im allgemeinen zu sprechen, ohne sich auf die konkreten Bedingungen zu beziehen, auf die historischen Epochen, auf die Klassen, die sie ausüben, heißt, nichts vom wahren Gehalt der Gewalt zu verstehen, der aus ihr eine unterschiedliche und spezifische Qualität in ausbeuterischen Gesellschaf­ten macht. Auch versteht man nicht den Grund dieser grundlegenden Umwandlung der Gewalt zu Terror, wenn man sie auf eine Frage der simplen Quantität reduziert. Wenn man diesen qualitativen Unterschied zwischen Gewalt und Terror nicht begreift, begeht man den gleichen Fehler wie jener, der, wenn er von der Ware spricht, zwischen der Antike und dem Kapitalismus nur einen quantitativen Unterschied sieht und nicht den grundlegend qualitativen Unterschied zwischen den beiden Produktionsformen.

In dem Maße wie die in antagonistische Klassen gespaltene Gesellschaft sich weiterentwickelt, wird die Gewalt in den Händen der ausbeutenden und herrschenden Klasse einen neuen Charakter annehmen: den Terror. Der Terror ist keine Eigenschaft und auch kein Mittel von revolutionären Klassen zur Durchführung ihrer Revolution. Es ist eine sehr oberflächliche und rein formale Vorstellung, den Terror als die revolutionäre Tat par excellence zu glorifizieren. Auf diese Weise gelangt man zur folgenden Maxime: „Je stärker der Terror, desto tiefgreifender und radikaler ist die Revolution.“ Dies wird jedoch durch die Geschichte voll­ständig widerlegt. Die Bourgeoisie hat den Terror ihre ganze Existenz hindurch, und nicht nur in Zeiten ihrer Revolution (1848 und die Pariser Commune 1871), benutzt und perfektioniert. Der Terror erreichte aber genau dann seinen Höhepunkt, als der Kapitalismus in die Dekadenz eintrat. Der Terror ist nicht der Ausdruck des revolutionären Wesens und Handelns der Bourgeoisie zur Zeit ihrer Revolution, selbst wenn er in der bürgerlichen Revolution gelegentlich spektakuläre Formen annahm. Er ist vielmehr ein Ausdruck ihres Wesens als Ausbeuterklasse, die wie jede ausbeutende Klasse ihre Herrschaft nur auf Terror stützen kann. Die Revolutionen, die den Übergang von einer ausbeuterischen Gesellschaft zur nächsten sicherstellten, waren keineswegs die Vorläufer des Terrors, sondern übertrugen lediglich den Terror von einer ausbeuterischen Klasse auf die nächste. Die Bourgeoisie perfektionierte und verstärkte ihren Terror nicht, um die alte herrschende Klasse loszuwerden, sondern vielmehr, um ihre Herrschaft über die Gesellschaft im allgemeinen und gegen die Arbeiterklasse im besonderen zu behaupten. Der Terror in der bürgerlichen Revolution war daher kein Endpunkt, sondern eine Fortsetzung, weil die neue Gesellschaft eine Fortsetzung der Gesellschaften der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist. Die Gewalt in den bürgerlichen Revolutionen ist nicht das Ende der Unterdrückung, sondern ihre Fortsetzung. Deshalb konnte sie nur die Form des Terrors annehmen.

Zusammenfassend können wir den Terror als eine Gewalt definieren, die spezifisch ist für die ausbeuten­den Klassen. Er wird nur verschwinden, wenn sie verschwinden. Seine besonderen Kennzeichen sind:

1.   organisch an die Ausbeutung gebunden zu sein und zu ihrer Durchsetzung gebraucht zu werden;

2.   die Tat einer privilegierten Klasse zu sein;

3.   die Tat einer Klasse zu sein, die gesellschaftlich in der Minderheit ist;  

4.   die Tat eines spezialisierten Organismus zu sein, der streng ausgewählt wurde, in sich selbst ab­geschlossen ist und dazu neigt, sich jeder Kontrolle der Gesellschaft zu entziehen;

5.   sich endlos zu reproduzieren und zu perfektionieren, sich auf alle Be­reiche, auf alle gesellschaftlichen Beziehungen auszudehnen;

6.   keine andere Daseinsberechtigung zu haben als die Unterwerfung und Niederschlagung der menschlichen Gemeinschaft;

7.   feindliche Gefühle und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln: Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus und andere Monstrositäten;

8.   egoistische Gefühle und Verhaltens­weisen zu entwickeln, sadistische Aggressivität, Rachegefühle, einen endlosen Kleinkrieg aller gegen alle zu entfachen, was die ganze Gesellschaft in einen Zu­stand des Terrors stürzt.

DER TERRORISMUS DER KLEINBÜRGERLICHEN KLASSEN UND SCHICHTEN

Die kleinbürgerlichen Klassen (Bauern, Handwerker, kleine Geschäftsleute, freiberuflich Tätige, Intellektuelle) bilden keine grundlegende Klasse in der Gesellschaft. Sie weisen weder eine spezifische Produktionsweise auf, noch bieten sie ein Gesellschaftsprojekt an. In marxistischen Begriffen betrachtet, sind sie keine historische Klasse. Sie sind die am wenigsten homogene Gesellschaftsklasse. Selbst wenn ihre oberen Ränge ihre Einkommen aus der Ausbeutung fremder Arbeitskraft beziehen und somit zu den Privilegierten gehören, sind sie in ihrer Gesamtheit der Herrschaft der Kapitalistenklasse unterworfen, die ihnen ihre Gesetze aufzwingt und sie unterdrückt. Sie haben keine Zukunft als Klasse. In ihren oberen Rängen besteht das Größte, wonach sie streben können, darin, individuell in die Kapitalistenklasse aufzusteigen. Die unteren Schichten sind unerbittlich dazu verurteilt, jegliches „unabhängige“ Eigentum an Produktionsmittel zu verlieren und sich zu proletarisieren. Die übergroße Mehrheit ist zum Dahinvegetieren verurteilt und wird ökonomisch sowie politisch von der Herrschaft der Kapitalistenklasse aufgerieben. Ihr politisches Verhalten wird durch das Kräfteverhältnis zwischen den beiden grundlegenden Klassen, den Kapitalisten und dem Proletariat, bestimmt. Ihr aussichtsloser Widerstand gegen die erbarmungslosen Gesetze des Kapitals führt sie zu einer fatalistischen und passiven Verhaltens- und Denkweise. Ihre Ideologie ist das individualistische „Rette-sich-wer-kann“; kollektiv gibt sie sich auf der Suche nach einem jämmerlichen Trost in unfähigen und lächerlichen humanistischen und pazifistischen Predigten allen Arten von pathetischen Wehklagen hin.

Materiell niedergeschlagen, ohne irgendeine Zukunft und sich im Kleingeist suhlend, sind sie in ihrer Verzweiflung ein leichtes Opfer für all die Mystifikationen, angefangen von den pazifistischen (religiöse Sekten, Naturalisten, Gewaltlose, Atombombengegner, Hippies, Umweltschützer, Kernkraftwerkgegner) bis zu den blutrünstigsten Elementen (Schwarzhundertschaften, Pogromisten, Rassisten, Ku-Klux-Klan, faschistische Banden, Gangster und Söldner aller Art). Es sind vornehmlich Letztere, die Blutrünstigen, bei denen sie einen Ausgleich einer illusorischen Würde für ihren persönlichen Niedergang suchen, der sich mit der Entwicklung des Kapitalismus von Tag zu Tag immer mehr verschärft. Es ist der Heldenmut der Feigen, die Courage der Angsthasen, der Ruhm der schäbigen Mittelmäßigkeit. Nachdem der Kapitalismus sie ins größte Elend gestürzt hat, findet er nun in diesen Schichten ein unerschöpfliches Reservoir für die Rekrutierung der Helden seines Terrors.

Auch wenn es im Verlauf der Geschichte zu Wut- und Gewaltausbrüchen seitens dieser Klassen gekommen war, waren diese Explosionen sporadisch geblieben und nie über Bauernaufstände und Revolten hinausgegangen, weil sie keine Perspektive besaßen, außer zermalmt zu werden. Im Kapitalismus verlieren diese Klassen vollständig ihre Unabhängigkeit; sie dienen nur als Kanonenfutter für die Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse sowohl innerhalb als auch außerhalb der nationalen Grenzen. In Zeiten der revolutionären Krise und unter bestimmten günstigen Umständen kann die gewaltige Unzufriedenheit eines Teils dieser Klassen als eine Kraft wirken, die den Kampf des Proletariats unterstützt.

Der unvermeidliche Prozess der Verarmung und Proletarisierung der unteren Schichten dieser Klassen ist ein extrem schwieriger und schmerzvoller Weg und bewirkt eine besonders verschärfte Form der Revolte. Die Kampf­bereitschaft dieser Elemente, besonders jener, die von den Handwerkern und den deklassierten ­Intellektuellenkreisen stammen, beruht eher auf ihren verzweifelten Lebensbedingungen als auf dem Kampf des Proletariats, dem sie sich nur schwer anschließen können. Was die­se Kreise vorwiegend auszeichnet, ist ihr Individualismus, ihre Ungeduld, ihr Skeptizismus und ihre Demoralisierung. Ihre Taten zielen eher auf spektakulären Selbstmord ab als auf ein besonderes Ziel. Nachdem sie ihre einstige Stellung in der Gesellschaft verloren und nun keine Zukunft mehr vor sich haben, leben sie in einer Gegenwart des Elends und der erbitterten Revolte gegen dieses Elend, und dies in einer Unmittelbarkeit, die auch als solche empfunden wird. Selbst wenn sie durch Kontakt mit der Arbeiterklasse und deren historischen Aufgaben angeregt werden, so erlangen sie nur eine entstellte Vorstellung dieser Ideen, die selten  über die Ebene der Fantasie und Träume hinausgeht. Ihr wahres Wirklichkeitsbild bleibt borniert und dem Zufall überlassen. Die politische Ausdrucksweise dieser Bewegung nimmt extrem unterschiedliche Formen an, die von der strikten Einzeltat bis zu den diversen geschlossenen Sekten, von den Verschwörungen, Komplotten, dem Putschismus, den „exemplarischen Aktionen“ bis zum Äußersten reichen, dem Terrorismus.

Was all diese Vielfalt gemeinsam hat, ist ihre Unkenntnis des objektiven und historischen Determinismus hinter der Bewegung des Klassenkampfes und des historischen Subjekts der modernen Gesellschaft, das allein die gesellschaftliche Umwälzung bewältigen kann, das Proletariat.

Die Erklärung für die fortgesetzten Manifestationen dieser Strömung liegt in dem unaufhörlichen Prozess der Proletarisierung dieser Schichten in der Geschichte des Kapitalismus. Ihre Vielfalt ist das Produkt ihrer lokalen und ungewissen Situation. Dieses gesellschaftliche Phänomen hat die historische Formierung der Arbeiterklasse „begleitet“ und hat sich in unterschiedlichem Maße mit der Arbeiterbewegung vermischt, in die dieses gesellschaftliche Phänomen Ideen und Verhaltensweisen einführt, die der Arbeiterklasse fremd sind. Dies trifft besonders auf den Terrorismus zu.

Wir müssen auf diesem Hauptpunkt bestehen und dürfen keinen Raum für Zweideutigkeiten lassen. Es stimmt, dass zu Beginn der Bildung der Arbeiterklasse das Proletariat in seinem Bestreben, sich zu organisieren, noch nicht die passende Form fand und konspiratorische Organisationsformen nutzte - die Geheimgesellschaften, die das Erbe der bürgerlichen Revolution waren. Aber das ändert überhaupt nichts an dem Klassencharakter dieser Organisationsformen und an der Unzulänglichkeit gegenüber dem neuen Inhalt, dem Klassenkampf des Proletariats. Das Proletariat wurde schnell davon über­zeugt, sich von diesen Organisationsformen und Handlungsweisen zu lösen und sie endgültig zu verwerfen.

So wie die theoretische Ausgestaltung unvermeidlich ein utopisches Stadium durchlaufen musste, musste auch die Bildung  politischer Klassenorganisationen unvermeidlich die Stufe der konspirativen Sekten durchmachen. Aber es ist wichtig, nicht die Konfusionen noch zu verstärken, aus der Not keine Tugend zu machen und die verschiedenen Phasen der Bewegung zu verwechseln. Wir müssen zwischen den verschiedenen Phasen der Bewegung und den Formen, die sie entstehen ließen, zu unterscheiden wissen.

So wie sich der utopische Sozialismus in einem bestimmten Augenblick in der Arbeiterbewegung von einem großen, positiven Beitrag in eine Fessel für ihre Weiterentwicklung verwandelt hatte, so sind auch die konspirativen Zirkel zu negativen Symbolen geworden, die für die Sterilisierung der Bewegung stehen.

Von nun an konnte die Strömung, die die auf dem Weg zur Proletarisierung befindlichen Schichten repräsentiert hatte, keinen Beitrag mehr zu der bereits entwickelten Klassenbewegung leisten. Diese Strömung befürwortete nicht nur die Sektenform der Organisation und konspirative Methoden, sondern wurde - bei einer immer größeren Diskrepanz zur realen Bewegung - dazu verleitet, diese Ideen und Methoden bis zum Äußersten zu treiben, wobei sie sie zu einer Karikatur machte, die in der Befürwortung des Terrorismus endete.

Der Terrorismus ist nicht schlicht ein Akt des Terrors. Es dabei zu belassen hieße, auf einer rein begrifflichen Ebene zu bleiben. Was wir zeigen wollen, ist die gesellschaftliche Bedeutung und die Unterschiede, die hinter diesen Begriffen stecken. Der Terror ist ein konstruiertes, permanentes, von den ausbeutenden Klassen ausgeübtes Herrschaftssystem. Der Terrorismus dagegen ist eine Reaktion jener unterdrückten Klassen, die keine Zukunft haben, gegen den Terror der herrschenden Klasse. Es handelt sich um vorübergehende Reaktionen ohne Kontinuität, um Racheakte ohne Zukunft.

Wir finden eine anregende Schilderung dieser Art von Bewegung bei Panait Istrati und seinen Heiducken in Rumänien Ende des 19. Jahrhunderts. Das Gleiche finden wir im Terrorismus der russischen Narodniki und ebenfalls, selbst wenn sie als unterschiedlich erscheinen, bei den Anarchisten und der „Bonnot-Gang“. Sie haben alle das gleiche Wesen: die Rache der Machtlosen. Sie kündigen nie etwas Neues an, sondern sind der verzweifelte Ausdruck eines Endes, nämlich des eigenen Endes.

Als gewaltsames Aufbegehren der Machtlosen kann der Terrorismus nicht den Terror der herrschenden Klasse überwinden. Er ist eine Mücke, die den Elefanten sticht. Dagegen ist der Terrorismus oft vom Staat zur Rechtfertigung und Verstärkung des eigenen Terrors benutzt worden.

Wir müssen unbedingt den Mythos verurteilen, dass der Terrorismus als Zündfunken des proletarischen Kampfes dienen kann. Es wäre zumindest einzigartig, dass eine Klasse mit historischer Zukunft auf eine zukunftslose Klasse als Zündfunken ihres eigenen Kampfes bauen muss.

Es ist vollkommen absurd, vorzugeben, dass dem Terrorismus der radikalisierten Schichten der Kleinbourgeoisie das Verdienst zukommt, die Auswirkungen der demokratischen Mystifikationen in der Arbeiterklasse zu zerstören, die bürgerliche Legalität zu zerstören, der Arbeiterklasse die Unvermeidbarkeit der Gewalt zu lehren. Für das Proletariat gibt es keine Lehren aus dem radikalen Terrorismus zu ziehen, außer die, sich von ihm zu distanzieren und ihn abzulehnen, denn die im Terrorismus enthaltene Gewalt befindet sich grundsätzlich auf bürgerlichem Bo­den. Zu einem Verständnis der Notwendigkeit und Unabdingbarkeit der Gewalt gelangt das Proletariat durch seine eigene Existenz, durch seinen eigenen Kampf, durch seine eigenen Erfahrungen, durch seine Konfrontationen mit der herrschenden Klasse. Dies ist Klassengewalt, die sich im Wesen und Inhalt, in der Form und den Methoden sowohl vom kleinbürgerlichen Terrorismus als auch vom Terror der herrschenden Klasse unterscheidet.

Es ist ganz gewiss, dass die Arbeiterklasse im allgemeinen eine Haltung der Solidarität und der Sympathie einnimmt, nicht gegenüber dem Terrorismus, den sie als Ideologie, als Organisationsform und als Methode verurteilt, sondern gegenüber den Elementen, die in den Terrorismus hineingezogen werden. Dies aus nachvollziehbaren Gründen:

1.   weil diese Elemente gegen die bestehende Ordnung des Terrors revoltieren, die das Proletariat vom Scheitel bis zur Sohle zu zerstören beabsichtigt;

2.   weil diese Elemente, wie die Arbeiterklasse, Opfer der entsetzlichen Ausbeutung und Unterdrückung durch die Todfeinde des Proletariats sind - die Kapitalistenklasse und ihr Staat. Der einzige Weg für das Proletariat, seine Solidarität mit diesen Opfern zu zeigen, besteht darin, zu versuchen, sie vor den Händen der Henker, vor dem herrschenden Staatsterror zu schützen, und sich zu bemühen, sie vor der tödlichen Sackgasse - dem Terrorismus – zu bewahren.

DIE KLASSENGEWALT DES PROLETARIATS

Wir müssen hier nicht auf die Notwendigkeit der Gewalt im Klassenkampf des Proletariats hinweisen. Wir würden da­mit offene Türen einrennen, denn seit fast zwei Jahrhunderten, seit Babeufs „Gesellschaft der Gleichen“, verfügen wir über die theoretische Erklärung und über die praktische Erfahrung ihrer Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit. Es ist ebenso Zeitverschwendung, dies bis zum Geht-nicht-mehr zu wiederholen, als sei es eine neue Erkenntnis, dass alle Klassen Gewalt anwenden müssen, das Proletariat eingeschlossen. Wenn man sich mit diesem mittlerweile zu Banalitäten gewordenen Allgemeinplätzen zufrieden gibt, kommt man schließlich dazu, eine Art Gleichung ohne jeglichen Inhalt aufzustellen: „Gewalt gleich Gewalt“. Damit wird absurderweise die Gewalt des Kapitals schlicht mit der Gewalt des Proletariats gleichgesetzt und der wesentliche Unterschied vertuscht: Die eine ist unterdrückerisch, die andere ist befreiend.

Endlos die Tautologie „Gewalt gleich Gewalt“ zu wiederholen, weiterhin zu demonstrieren, dass alle Klassen Gewalt benutzen, und zu zeigen, dass diese Gewalt im Kern dieselbe ist – all dies ist so intelligent und genial, wie die Handlung des Chirurgen, der einen Kaiserschnitt vornimmt, um einem Neugeborenen das Leben zu schenken, mit der Handlung des Mörders gleichzusetzen, der seinem Opfer den Bauch aufschlitzt, um es umzubringen, einfach weil beide ein ähnliches Instrument – ein Messer – benutzen und weil beide scheinbar eine ähnliche Technik ausüben, um den Unterleib zu öffnen.

Worauf es am meisten ankommt, ist nicht, damit fortzufahren, „Gewalt, Gewalt“ zu brüllen, sondern die grundlegenden Unterschiede deutlich herauszustellen, so deutlich wie möglich aufzuzeigen, warum und worin sich die Gewalt des Proletariats vom Terror und Terrorismus anderer Klassen unterscheidet.

Wir machen nicht aus begrifflichen Gründen, aus Zimperlichkeit, aus schüchterner Jungfräulichkeit oder aus Abneigung gegen das Wort Terror einen Unterschied zwischen Terror und Klassengewalt. Wir tun dies, um den unter­schiedlichen Klassencharakter, den unter­schiedlichen Inhalt und die unterschiedliche Form besser hervorzuheben, die hinter diesem Wort stecken. Das Vokabular hinkt stets den Tatsachen hinterher, und oft ist der Mangel an Genauigkeit der Begriffe ein Zeichen von unzureichend entwickelten Ge­danken, der zu weiteren Zweideutigkeiten führen kann. Zum Beispiel entsprach das Wort „Sozialdemokratie“ keineswegs dem revolutionären Wesen - den kommunistischen Zielen - der politischen Organisation des Proletariats. Das Gleiche trifft auf das Wort „Terror“ zu. Manchmal findet man das Wort in der sozialistischen Literatur, selbst bei den Klassikern, wo es den Wörtern „revolutionär“ oder „Proletariat“ beigefügt ist. Wir müssen uns vor dem Missbrauch hü­ten, der begangen wird, wenn wörtliche Zitate verwendet werden, ohne sie in ihren Zusammenhang zu setzen oder zu beachten, unter welchen Umständen oder gegen wen sie geschrieben wurden. Dies kann darin enden, die wahren Gedanken ihrer Autoren zu verfälschen. Wir müssen unterstreichen, dass in den meisten Fällen die Autoren vorsichtig vorgingen und beim Gebrauch des Wortes Terror immer darauf bedacht waren, die grundlegenden Unter­schiede zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, zwischen der Pariser Kommune und Versailles, zwischen der Revolution und der Konterrevolution im Bürger­krieg in Russland herauszustellen. Wenn wir es als notwendig erachten, diese beiden Begriffe zu unterscheiden, dann deshalb, weil wir die Zweideutigkeit beseitigen wollen, die durch die Gleichsetzung beider Begriffe entsteht; eine Zweideutigkeit, die lediglich Unterschiede in der Quantität und Intensität sieht, aber keinen Klassenunterschied. Und selbst wenn es sich um eine Frage der quantitativen Veränderung handelt, würde dies für die Marxisten - die sich auf die dialektische Methode berufen - eine qualitative Veränderung nach sich ziehen.

Wenn wir den Terror zugunsten der Klassengewalt des Proletariats ablehnen, so wollen wir nicht nur unsere Klassenfeindschaft gegenüber der wahren Bedeutung der Ausbeutung und Unterdrückung, die im Terror steckt, zum Ausdruck bringen, sondern ebenso die haarspalterischen und heuchlerischen Feinheiten darüber beseitigen, wie „der Zweck die Mittel heiligt“.  

Jene bedingungslosen Verteidiger des Terrors, jene Calvinisten der Revolution - wie die Bordigisten – haben nur Verachtung übrig für die Frage der Organisationsformen, der Mittel. Für sie existiert nur das „Ziel“, für das alle Formen und alle Mittel unterschiedslos verwendet werden können. „Die Revolution ist eine Frage des In­haltes und nicht der Organisationsform", wiederholen sie unermüdlich. Mit Ausnahme des Terrors natürlich. Was diesen Punkt an­geht, sind sie kategorisch: „Keine Revolution ohne Terror. Man ist kein Revolutionär, wenn man keine Kinder töten würde.“ Hier wird der Terror, der als Mittel betrachtet wird, zu einer absoluten Vorbedingung, zu einem kategorischen Imperativ der Revolution und zu ihrem Inhalt. Warum diese Ausnahme? Man könnte die Frage auch anders herum stellen: Wenn die Fragen von Mittel und Formen von keinerlei Bedeutung für die proletarische Revolution sind, wieso kann die Revolution dann nicht durch die monarchistische oder parlamentarische Form verwirklicht werden kann? 

In Wahrheit ist es vollkommen absurd, den Inhalt und die Form, den Zweck und die Mittel voneinander zu trennen. In Wirklichkeit sind Inhalt und Form dem Wesen nach miteinander verbunden. Ein Ziel kann nicht mit irgend­welchen Mitteln erreicht werden. Es erfordert spezifische Mittel. Ein vorgegebenes Mittel ist nur auf ein entsprechendes Ziel anwendbar. Jede andere Vorgehensweise führt zu spitzfindigen Spekulationen.  

Wenn wir den Terror als Existenzform der Gewalt des Proletariats zurückweisen, geschieht dies nicht aus irgendeinem moralischen Grund, sondern weil der Terror als Inhalt und Methode aufgrund seines Wesens dem Ziel entgegengesetzt ist, das das Proletariat verfolgt. Glauben diese Calvinisten der Revolution wirklich, wollen sie uns wirklich davon überzeugen, dass für das Erreichen unseres Zieles, den Kommunismus, das Proletariat Konzentrationslager, die systematische Ausrottung ganzer Völker, die Einrichtung eines riesigen Netzes von Gaskammern, die wissenschaftlich noch perfekter wären als die Gaskammern Hitler, nutzen kann? Ist der Völkermord Teil des Programms des „calvinistischen Weges" zum Sozialismus?  

Es genügt, die von uns gemachte Aufzählung der Hauptcharakteristiken des Inhalts und der Methoden des Terrors auf­zugreifen, um auf den ersten Blick die Kluft zu sehen, die das Proletariat vom Terror unterscheidet:

1.   „organisch an die Ausbeutung gebunden zu sein, um zu ihrer Ausübung gebraucht zu werden“. Das Proletariat ist eine ausgebeutete Klasse und kämpft für die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

2.   „die Handlung einer privilegierten Klasse zu sein“. Das Proletariat hat keine Privilegien und kämpft für die Abschaffung aller Privilegien.

3.   „die Handlung einer Klasse zu sein, die gesellschaftlich in der Minderheit ist“. Das Proletariat stellt die große Mehrheit der Gesellschaft dar. Manche mögen in diesem Kriterium unseren unverbesserlichen Hang zu den Prinzipien der Demokratie, zum Mehrheitsprinzip sehen, dabei sind es gerade sie selbst, die von diesem Problem besessen sind – und überdies sind für sie Minderheiten, die sich aus lauter Horror vor der Mehrheit behaupten, das Kriterium der revolutionären Wahrheit. Der Sozialismus ist nicht durchführbar, wenn er nicht auf der historischen Möglichkeit beruht und wenn er nicht den grundlegenden Interessen und dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft entspricht. Dies ist eines der Schlüsselargumente Lenins in „Staat und Revolution“ und auch von Marx, als er sagte, dass das Proletariat sich nicht befreien kann, wenn es nicht gleichzeitig die gesamte Menschheit befreit.

4.   „die Handlung eines spezialisierten Organismus zu sein“. Das Proletariat hat auf seine Fahnen die Zerstörung der permanenten Armee und der Polizei sowie die allgemeine Bewaffnung des Volkes und vor allem des Proletariats geschrieben. „… und dazu neigt, sich jeder Kontrolle der Gesellschaft zu entziehen“. Das Proletariat lehnt jegliche Spezialisierung ab, und weil es unmöglich ist, dies unmittelbar durchzuführen, wird die Arbeiterklasse darauf bestehen, dass Spezialisten der vollständigen Kontrolle durch die Gesellschaft unterworfen werden.

5.   „Sich endlos zu reproduzieren und zu perfektionieren“. Das Proletariat wird all dem ein Ende setzen und fängt damit an, sobald es die Macht übernommen hat.

6.   „Keine andere Daseinsberechtigung zu haben als die Unterwerfung und Niederschlagung der menschlichen Gemeinschaft“. Das Ziel des Proletariats ist dem diametral entgegengesetzt. Seine Daseinsberechtigung ist die Befreiung und die freie Entfaltung der menschlichen Gesellschaft.

7.   „Feindliche Gefühle und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln: Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und andere Monstrositäten“. Das Proletariat schafft all diese historischen Anachronismen ab, die zu Ungeheuerlichkeiten und Fesseln der harmonischen Vereinigung der ganzen Menschheit geworden sind, die möglich und notwendig ist.

8.   „Egoistische Gefühle und Verhaltensweisen zu entwickeln, sadistische Aggressivität, Rachegefühle, einen endlosen Kleinkrieg aller gegen alle zu entfachen usw...“ Im Gegensatz dazu entwickelt das Proletariat ganz neue Gefühle - der Solidarität, des gemeinschaftlichen Lebens, der Brüderlichkeit - „alle für einen und einer für alle“ - die freie Assoziierung der Produzenten, eine vergesellschaftete Produktion und Konsumtion. Und während der Terror „die ganze Gesellschaft in einen Zustand des Terrors ohne Ende“ stürzt, ruft das Proletariat zur Initiative und zur Kreativität eines Jeden auf, so dass alle im Zustand des allgemeinen Enthusiasmus ihr Leben und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können.

Die Klassengewalt des Proletariats kann kein Terror sein, da ihre Daseinsberechtigung gerade darin liegt, den Terror zu zerschlagen. Man betreibt ein Wortspiel, wenn man Gewalt und Terror als gleich betrachtet, so als sei das Verhalten des Mörders, der sein Messer zieht, und die Hand, die das Messer abwehrt und den Mord verhindert, das Gleiche. Das Proletariat kann nicht auf das Organisieren von Pogromen, auf Lynchjustiz, auf die Schaffung von Folterschulen, auf Vergewaltigungen, auf die Moskauer Prozesse als Mittel und Methoden für die Verwirklichung des Sozialismus zurückgreifen. Es überlässt diese Methoden dem Kapitalismus, weil sie Bestandteil des Kapitalismus sind, weil sie zu seinen Zielen passen und weil sie zur Gattung Terror gehören.

Weder Terror noch Terrorismus vor der Revolution, noch der Terror nach der Revolution können Waffen des Proletariats für die Befreiung der Menschheit sein.       M.C.    1979

Theoretische Fragen: 

  • Terrorismus [1]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/822/internationale-revue-nr-3

Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/3/51/terrorismus