Kommunismus oder Anarchismus: Welche Perspektive für die Arbeiterklasse?

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 Mitte Dezember hielt die IKS in Zürich eine öffentliche Veranstaltung ab zum Thema: ”Welche Alternative zum Kapita­lismus? Anarchismus oder Kommunis­mus?”

Der Anarchismus findet in letzter Zeit wieder vermehrten Zulauf, insbesondere von jüngeren Menschen. Dies findet in einer Situation statt, wo der Kapitalismus immer offensichtlicher auf die Zerstörung der Menschheit zusteuert. Viele Leute, die sich Gedanken über eine Alternative zu diesem zerstörerischen System machen, wissen heute nicht, wo sie ansetzen sollen. Der Marxismus scheint gescheitert zu sein, die Arbeiterklasse ist nicht wahr­nehmbar als eine Klasse, die der Mensch­heit eine neue Perspektive geben kann. So stösst man am ehesten noch auf den Anar­chismus, der in seiner Radikalität und Unbeflecktheit sich scheinbar als Alterna­tive zum Kapitalismus anbietet. Ist der Anarchismus aber tatsächlich eine Alter­native zum Kapitalismus?

Zur Veranstaltung kamen Leute mit sehr verschiedenen Auffassungen und Vorstel­lungen.

Was tun?

Anarchistische Elemente und Gruppierun­gen engagieren sich heute stark in den sogenannten antikapitalistischen Bewegun­gen, die an verschiedenen Brennpunkten der Welt gegen die WTO, die EU oder allgemein gegen die ”Globalisierung” auftreten.

Die ”Globalisierung” ist aber schon seit Anbeginn ein permanentes Merkmal des Kapitalismus gewesen. Der Wunsch nach dem Schutz von kleinen Betrieben und Entwicklungsländern drückt zwar die Hoffnung von bestimmten kleinbürgerli­chen Schichten innerhalb des Kapitalismus aus, einen vernünftigen Kapitalismus zu errichten, entspricht aber keineswegs dem Werdegang und der Entwicklung des Ka­pitalismus. Ein Kapitalismus ohne Aus­schaltung der Konkurrenten, ohne Zentra­lisierung bis zur heutigen Entwicklung und Stufe des allesfressenden Staatskapitalis­mus ist eine bare Illusion.

Die von den Anarchisten hochgehaltene ‚Propaganda der Tat‘ als politisches Pro­gramm bietet der Menschheit keineswegs einen gangbaren Weg, um den Kapitalis­mus zu verändern. Die aus dem Mittelalter entlehnten Konzepte der Bauernaufstände zur Zeit der kleinwirtschaftlichen Produk­tion oder des auslaufenden Handwerker­tums im 18. und 19. Jahrhundert werden als die letzten Errungenschaften der revo­lutionären Theorie und Praxis verkauft.

Die Arbeiterklasse und ihre politischen Bewegungen, die sich vor allem in ihren internationalen Organisationen manifestie­ren (Erste, Zweite und Dritte Internatio­nale, besonders ihre linken Flügel) haben diese Konzepte und Auffassungen aber schon längst auf den Müllhaufen der Ge­schichte geworfen.

Dass der Anarchismus mit seinen über­holten Entwürfen der Theorie und Praxis der Arbeiterklasse nichts anbieten kann, war der Ausgangspunkt unserer Veran­staltungen.i Wir halten weiterhin an der Arbeiterklasse als der einzig revolutionä­ren Klasse im Kapitalismus fest, die auch eine Alternative zum Kapitalismus er­kämpfen kann.

Mit unseren Veranstaltungen in mehreren Ländern bieten wir den politisierten Men­schen eine Möglichkeit, die einzig wirkli­che, historische Perspektive kennenzuler­nen. Der Gleichsetzung von Stalinismus und Kommunismus, wie das die herr­schende Klasse propagiert und auch von den Anarchisten unterstützt wird, setzen wir unsere Auffassung des Kommunismus entgegen, die mit diesen ideologischen Verzerrungen aufräumt.

Lebendige Diskussion als ein Mittel der politischen Klärung

Die IKS eröffnete die Veranstaltung mit einer ausführlichen Einleitung über die Geschichte des Anarchismus.

Nach einigen Diskussionsbeiträgen zeigte sich, dass Teilnehmer mit unterschiedli­chen Interessen anwesend waren. Die meisten von ihnen aber stellten die Frage in den Vordergrund: ”Wie soll man den Kapitalismus bekämpfen?” Es lag auch auf der Hand, dass nicht alle mit unseren Positionen und Ausführungen einverstan­den waren. Es dauerte nicht lange, bis ein Teilnehmer engagiert andere Ansichten über den Anarchismus in die Diskussion einbrachte. Wir fanden es wichtig, dass einer der ersten Beiträge die Position der Anarchisten verteidigte. Solche Interven­tionen beleben Diskussionsveranstaltungen und zeigen, dass es in der Arbeiterklasse üblich ist, kontroverse politische Auffas­sungen einander gegenüberzustellen.

Es gab aber auch ganz grundsätzliche Fragen. Einige Teilnehmer wollten wis­sen, was den Anarchismus vom Kommu­nismus unterscheidet. Die IKS hob hervor, dass das Ziel einer humanen und klassen­losen Gesellschaft sowohl dem Anarchis­mus als auch dem Kommunismus eigen ist. Was uns allerdings von den Anarchi­sten unterscheidet, ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer Übergangsphase nach dem Sturz des Kapitalismus. Diese Über­gangsgesellschaft hat noch Merkmale der alten Gesellschaft, wie Marx festgestellt hatte. Sie hat aber nichts zu tun mit den stalinistischen staatskapitalistischen Mon­stren des ehemaligen Ostblocks. Ganz anders als diese totalitären Bürokratien muss der Staat in der Übergangsperiode absterben.

Schon der historische Anarchismus hat nie begriffen, weshalb es eine Übergangs­phase nach der proletarischen Machtüber­nahme braucht. Die Diktatur des Proleta­riats bedeutet nicht die Unterdrückung der ganzen Gesellschaft, sondern vor allem die Unterdrückung der ehemals herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Das Ziel ist letztlich die Auflösung der Klassen, somit auch des Übergangsstaates, der nur ein notwendiges Übel auf dem Weg zum Kommunismus ist.

Die Isolierung der proletarischen Bastion in Russland und der daraus folgende Nie­dergang der Russischen Revolution brachten einen neuen Staat hervor, der nichts mit dem eben beschriebenen abster­benden Übergangsstaat zu tun hatte. Im Gegenteil, der neue Staat in Russland begann sogleich die Bevölkerung und insbesondere die Arbeiterklasse mehr und mehr zu kontrollieren und zu terrorisieren.

Das war Wasser auf die Mühlen der anti-kommunistischen Propaganda, die sich die Anarchisten vor allem heute, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, wieder zu Nutze machen.

Jedem nach seinen Bedürfnissen statt Kleinhandel

Ein anderer Unterschied zu den anarchisti­schen Vorstellungen liegt in der Frage, wie der Kommunismus organisiert sein wird, bzw. ob schon innerhalb des Kapi­talismus ‚Inseln‘ des Kommunismus er­richtet werden könnten. Ein Teil der An­archisten ist der Auffassung, dass die Produktion in möglichst kleinen und von­einander unabhängigen Kollektiven orga­nisiert sein soll.

Der Kapitalismus ist eine weltumfassende Produktionsweise, die keine andere neben sich duldet. Solange dem so ist, wird es nicht möglich sein, andere ökonomische Produktionsweisen zu etablieren. Etliche historische Versuche haben das bewiesen. Bereits Marx und Engels haben dies in ihren Auseinandersetzungen mit Proudhon und Owen dargelegt. Zum Beispiel sind die Konsumgenossenschaften (wie Coop in der Schweiz), die damals von der Arbei­terbewegung gegründet wurden, heute normale bürgerliche Betriebe.

Das 20. Jahrhundert ist voller Beispiele, die belegen, dass weder die regionale und nicht einmal die landesweite Besetzung von Fabriken und Betrieben den Kapita­lismus erschüttern kann, solange er welt­weit das herrschende System ist.

Die politisch wichtigsten Beispiele, die aufzeigen, dass die Selbstverwaltung im Kapitalismus nicht funktioniert, kommen aus dem 20. Jahrhundert. Alle Versuche von Fabrikbesetzungen, wie anfangs der 20er Jahre in Italien oder in Deutschland, wo die Arbeiter vermeinten, es genüge, Betriebsrätegesetze zu entwickeln, sind kläglich gescheitert.

Das wohl bei den Anarchisten bekannteste Beispiel - die Kollektivierung in Spanien Mitte der 30er Jahre - endete gleichsam in einem Debakel.

Jener Teilnehmer, der die anarchistischen Positionen verteidigte, setzte die stalinisti­sche Planwirtschaft mit dem Kommunis­mus gleich und meinte, dass dies die ab­gehobene Sichtweise der Marxisten be­weise. Abgesehen davon, dass gerade in den 30er Jahren grosse Teile der anarchisti­schen Bewegung mit den Stalinisten zu­sammen die spanischen Republik anführ­ten, hat die staatskapitalistische Planung, die von zentralen Organen der Bourgeosie geleitet wird, nichts mit der Diktatur des Proletariats zu tun.

Die Diktatur des Proletariats, d.h. die Leitung der Übergangsgesellschaft von der unteren Phase des Kommunismus in die höhere Phase, wird von den Arbeiterräten ausgeübt. Die Planung findet also nicht etwa in abgehobenen Organen statt, wie das die Anarchisten behaupten, sondern wird durch die Arbeiterräte aufgestellt (siehe hierzu auch unsere Broschüre Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus).

Was aber klar sein muss: Eine Gesell­schaft, die nach den Bedürfnissen der Menschheit produziert (eben der Kommu­nismus, die klassenlose Gesellschaft), kann nicht aus autarken Kollektiven beste­hen. Im Kommunismus gilt: Jeder arbeitet nach seinen Fähigkeiten (so dass “Arbeit” auch nicht mehr mit dem gleichzusetzen ist, was wir heute als solche bezeichnen), und jedem wird gegeben, was er braucht. Die autarken Kollektive (wie sie vielen Anarchisten vorschweben) würden weiter­hin eine auf Tausch basierende Waren­wirtschaft aufrechterhalten, was ja letztlich auch die Grundlage des Kapitalismus ist. Man würde letztlich versuchen, das Rad der Geschichte ins Mittelalter zurückzu­drehen, wo diese kleinwirtschaftliche, kleinbürgerliche Produktionsweise ent­standen und die Geburtsstätte des Kapita­lismus gewesen war.

Ein Ort der Debatte

Ein wichtiger Teil der Diskussion berührte die Frage, wie man über solche kontro­versen Themen und historischen Positio­nen diskutiert. Ein Teilnehmer meinte, dass wir alle stalinistische Umgangsfor­men hätten, indem wir immer das Nega­tive der anderen Position hervorheben. Wir unterstützen die Sorge des Teilneh­mers insofern, als sie das Verlangen nach Diskussionsbereitschaft und Offenheit gegenüber anderen Position ausdrückt. Die marxistische Methode konfrontiert die unterschiedlichsten Positionen, aber sie vereint nicht Unvereinbares unter einem Hut. In diesem Sinne konnten in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts auch nur die Marxisten, namentlich die marxi­stische Linke, die richtigen Kritiken und Lehren aus dem Niedergang der Russi­schen Revolution und der revolutionären Welle ziehen. Die tragischen Fehler z. B. im Kronstädter Aufstand konnten nur von der Kommunistischen Linken in den 30er Jahren in den richtigen Rahmen gestellt werden.

Die anarchistischen Strömungen versu­chen, den Niedergang der Russischen Revolution, die negativen Entwicklungen und Erfahrungen, die in den 30er Jahren in Spanien gemacht wurden, dem angeb­lich autoritären Charakter des Marxismus unterzuschieben.

Dagegen analysierten die Marxisten ge­nauestens das Kräfteverhältnis zwischen Weltbourgeoisie und Proletariat. Daraus zogen sie den Schluss, dass im Falle Kronstadts die Partei sich auf die Seite des Proletariats hätte stellen müssen, weil der Staat sich verselbständigt hatte. Bezüglich des spanischen Bürgerkriegs war den Linkskommunisten klar geworden, dass dieser zwar noch ein letztes Aufbäumen der revolutionären Welle nach 1923 dar­stellte (wie in China der ”Aufstand von Schanghai” 1927), dass aber die Revolu­tion nicht mehr auf der Tagesordnung stand, weil in den wichtigsten Ländern des Kapitalismus die Arbeiterklasse niederge­schlagen war. So wie es einem weit grösseren Land wie der Sowjetunion nicht möglich gewesen war, den ”Sozialismus in einem Land” zu errichten, so unmöglich war es, ohne Rücksicht auf das internatio­nale Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoi­sie und Proletariat in Spanien autarke Kollektive aufzubauen. Die Genossen von Bilan beteiligten sich nicht an der Sack­gasse der ”Kollektive”, sondern hielten konsequent an den marxistischen Prinzi­pien fest: ”(...) da es nicht die Machtfrage stellen kann, muss sich das Proletariat in seinen Tageskämpfen um begrenztere, aber immer noch klassenmässige Ziele scharen (...) Statt sich der langfristigen Änderung der Arbeiterforderungen zu widmen, ist es die vordringliche Pflicht der Kommuni­sten, die Umgruppierung der Arbeiter­klasse um ihre Klassenforderungen und innerhalb ihrer Klassenorganisationen, den Gewerkschaftenii, zu betreiben.”

Auch in einer solchen Situation, wo die Arbeiterklasse zerschlagen war und die Tendenz Richtung Weltkrieg wies, konn­ten allein die Marxisten, die sich als Op­position in der Komintern, als Linkskom­munisten, gesammelt hatten, dem Proleta­riat die richtigen Antworten geben. Es ging zu dieser Zeit um die ‚Bilanzierung‘ der Niederlage der Arbeiterklasse und um die Verteidigung der unmittelbaren Le­bensverhältnisse des Proletariats.

Die Verkennung der Situation führte die Anarchisten wie schon so oft auf die Seite der Bourgeoisie. An der Führung der bürgerlichen Republik war ihr früherer politischer Erzfeind, der Stalinismus, mit beteiligt. Indem sie die bürgerliche Repu­blik gegen Franco verteidigten, verteidig­ten sie die stalinistischen Henker, die mit an der Spitze der Republik standen.

Die ”Propaganda der Tat”, der blinde Aktionismus, der nicht erkennt, wer Freund, wer Feind ist, führte die Anarchi­sten immer wieder in die Arme der Bour­geoisie. Die Lehren aus der Geschichte können uns nicht egal sein. Es kommt darauf an, die Geschichte nicht als etwas Abstraktes, sondern im Sinne einer Hand­lungsanleitung für das Proletariat gegen den Kapitalismus zu verwenden. Darum ist es äusserst wichtig, gerade in einer solchen Veranstaltung die historische Di­mension miteinzubeziehen.

Es ist uns klar, dass wir viele dieser Aus­führungen erst in diesem Bericht über die Veranstaltung machen können. Auch sind andere Themen, die sehr wichtig sind, wie ”Was tun?”, hier nicht mehr aufgegriffen und in der Veranstaltung selbst nicht gross diskutiert worden. Wir gehen aber wie Liebknecht davon aus, dass man ”zuerst Klarheit, dann Einheit” anstreben muss. In diesem Sinne freute uns natürlich der zum Platzen voll gefüllte Raum. Das zeigt auf, dass es viele suchende Menschen gibt, die eine Alternative zum Kapitalismus disku­tieren wollen. Dies wurde dann auch in der „Schlussrunde“ deutlich, die wir je­weils am Ende einer Veranstaltung ma­chen und wo die Teilnehmer ihre Ansicht über die Veranstaltung äus­sern können.

Es wurde ausnahmslos geäussert, dass das Diskussionsklima sehr gut gewesen sei. Andere bemängelten, dass man zu wenig über die aktuellen Entwicklungen disku­tiert habe.

Für uns ist klar, dass die historischen Lehren der Kämpfe und Niederlagen der Arbeiterklasse der politische Kompass für die zukünftigen Klassenkämpfe sein müs­sen. Die Klassenautonomie kann nur mit diesem politischen Kompass aufrechter­halten bleiben. 2.1.01, Re/Ko

  • i Zum gleichen Thema fanden und finden öffentliche Veranstaltungen der IKS auch in anderen Städten in verschiedenen Ländern statt.
  • ii Die Italienische Linke hatte ihre Position zu den Gewerkschaften noch nicht so weit geklärt wie die Deutsch-Holländische-Linke. Letztere ging davon aus, dass die Gewerkschaften Organe des Kapitals geworden waren, was auch unserer Position entspricht. Wichtig ist aber die Aussage von Bilan, nicht das Klassenterrain des Proletariats mit dem bürgerlichen Terrain zu vertauschen.