Intellektuelle und Arbeiterbewegung (1.+2. Teil)

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 Die IKS organisiert nicht nur regelmäßig öffentliche Diskussionsveranstaltungen zu bestimmten, vorher festgelegten Themen, sondern darüberhinaus auch Diskussionsrunden ohne besonderes Thema. Hier können die verschiedensten Fragen von den Teilnehmern zur Sprache gebracht werden. Die Organisation nimmt zu diesen Problembereichen Stellung. Bei der letzten Diskussionsrunde warf ein Genosse aus dem Rheinland die Frage der Intellektuellen auf. Er bezog sich auf die Position von Lenin in ‘Was Tun’, derzufolge die Arbeiterklasse im Rahmen ihrer ökonomischen Verteidigungskämpfe spontan lediglich ein gewerkschaftliches Bewußtsein entwickeln kann. Damit die Arbeiterklasse darüberhinaus zu einem sozialistischen, auf der wissenschaftlichen Grundlage des Marxismus ruhenden Bewußtsein gelangen kann, sei das Eingreifen der sozialistischen Intellektuellen erforderlich. Im Gegensatz zu den bis auf die Knochen ausgebeuteten Arbeitern haben diese Intellektuellen sowohl den notwendigen Bildungsstand als auch die erforderliche Freizeit und Muße, um sich den wissenschaftlichen Marxismus anzueignen. So die Meinung des Genossen in Anlehnung an Lenin.

In seinem vor der Revolution von 1905 verfaßten Werk ‘Was Tun’ übernahm Lenin dieses Argument von Kautsky. Sowohl Lenin als Kautsky setzten dieses Argument gegen den opportunistischen Flügel der Arbeiterbewegung ein, der damals die Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes und eines unabhängigen politischen Kampfes des Proletariats gegen das Kapital zu verneinen begann. Auf den täglichen Lohnkampf käme es an, sagten die Opportunisten, nicht auf Politik oder Marxismus. Die Überschätzung der revolutionären Theorie und der marxistischen Klassenpartei sei ein Ausdruck intellektuellen Revoluzzertums und nicht Sache der Arbeiter - so die Reformisten von damals. So argumentierten die Anhänger von Bernstein in Deutschland, für die die Bewegung (der Lohnkampf) alles, das Ziel (die Revolution) nichts war. So argumentierten die ‘Ökonomisten’ in Rußland. Es war damals das große Verdienst von Lenin und Kautsky, diesem Verrat am revolutionären Marxismus den Kampf angesagt zu haben. Dabei haben diese Genossen in ihrer Argumentation - in der Hitze der Polemik - einen Fehler gemacht. Zwar waren die Opportunisten typische Beispiele für die Art kleinbürgerlicher Intellektueller, welche sich damals der Arbeiterbewegung anschlossen, ohne vom revolutionären Klassenkampf wirklich überzeugt zu sein. Aber diese kleinbürgerlichen Intellektuellen und Karrieristen setzten geschickt intellektuellen- und theoriefeindliche Argumente ein, um den rückständigsten Arbeiterschichten, welche über den Tageskampf in der einzelnen Fabrik nicht hinausblicken wollten, zu schmeicheln und sie zu gewinnen. Lenin und Kautsky, welche damals den Marxismus glänzend verteidigt haben, sind nun in einem Punkt sozusagen in die Falle der Opportunisten gegangen. Sie griffen nämlich die Behauptung der Reformisten auf, daß die großen Theoretiker der Arbeiterbewegung bis dato alle Intellektuelle gewesen seien und schleuderten zurück: Und wenn schon, dann brauchen wir halt diese revolutionären Intellektuellen, welche eine wissenschaftliche marxistische Methode, welche ein sozialistisches Bewußtsein von außen in die Arbeiterklasse hineintragen.

An dieser Stelle haben Kautsky und Lenin in ihrer Verteidigung des Marxismus selber den Boden des Marxismus verlassen. Nirgendwo in den Schriften der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, bei Marx und Engels, finden wir auch nur ein Wort über ein sozialistisches Bewußtsein, das von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden müßte. Sie zeigten ja gerade das Gegenteil. Die großen sozialistischen Utopisten wie Saint Simon, Fourier und Owen glaubten ja, daß der Sozialismus ein Produkt einzelner Denker sei, von der die Arbeiter ‘von außen’ überzeugt werden müssen. Wissenschaftlich ist der Sozialismus erst geworden, als erkannt wurde, daß der Sozialismus keine außerhalb der Geschichte stehende ‘Idee’ ist, die irgendwelche klugen Intellektuellen ausgetüftelt haben, sondern eine historische Notwendigkeit. Das Proletariat selbst, durch seine Position im Kapitalismus, durch sein Wesen als eigentumslose aber produktive, internationale und kollektiv-assoziiert arbeitende Klasse verkörpert und trägt die neue, kommunistische Gesellschaft in sich. Deshalb ist diese Klasse selbst, und kein "Außenstehender" in der Lage, das Wesen des Kommunismus zu begreifen, indem es ihr eigenes Wesen begreift. Deshalb konnten Marx und Engels, obwohl keine Arbeiter, nur unter dem Einfluß der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung zu einem sozialistischen Bewußtsein gelangen.

Auch das Argument, die großen Theoretiker seien keine Arbeiter gewesen, hat nicht viel zu sagen. Die überragende Rolle einzelner Theoretiker ist nur für die Anfangszeit der Arbeiterbewegung gültig. Außerdem zeigten gerade Marx und Engels wiederholt die theoretische Überlegenheit der Arbeiter auf, sobald sie politisiert werden. Z.B. die deutsche Arbeiterklasse nach 1870: "In ihrem Kampf mit den Behörden wie mit den einzelnen Bourgeois zeigten sich die Arbeiter überall als die intellektuell und moralisch Überlegenen und bewiesen namentlich in ihren Konflikten mit den sogenannten ‘Arbeitgebern’, daß sie, die Arbeiter, jetzt die Gebildeten und die Kapitalisten die Knoten sind"..."Ohne theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist." (Engels, Ergänzung der Vorbemerkung von 1870 zu "Der deutsche Bauernkrieg").

Um zu zeigen, daß die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse mit der revolutionären Theorie nicht mit ihrer Stellung in der Gesellschaft, sondern mit dem Gewicht des Kleinbürgertums zu tun haben, fügt Engels hinzu: "Und welch ein unermeßlicher Vorzug dies ist, zeigt sich einerseits an der Gleichgültigkeit gegen alle Theorie, die eine der Hauptursachen ist, weshalb die englische Arbeiterbewegung, trotz aller ausgezeichneten Organisation der einzelnen Gewerke, so langsam vom Flecke kommt, und andererseits an dem Unfug und der Verwirrung, die der Proudhonismus in seiner ursprünglichen Gestalt bei Franzosen und Belgiern, in seiner durch Bakunin weiter karikierten Form bei Spaniern und Italienern angerichtet haben." (Engels, ibid, Marx-Engels-Werke Band 18, S. 515, 516).

Die Massenkämpfe von 1905 in Rußland erlaubten Lenin, seine Position von 1902 in ‘Was Tun’ zu überwinden. Die spontane Entstehung von revolutionären Arbeiterräten als revolutionäre Organisationsform und Leitung der Massenstreiks zeigte erneut und unmißverständlich, daß die Arbeiterklasse sehr wohl, auch ‘spontan’ und in ihren Abwehrkämpfen weit über ein rein ‘ökonomisches’ (man sagte damals ‘gewerkschaftliches’) Bewußtsein hinausgeht. Lenin selbst erkannte dies, indem er sagte, daß hinter jedem Streik "das Gespenst der Revolution" stecke. Kautsky hingegen fiel es nach 1905 sehr schwer, die Lehren aus den Massenstreiks in Rußland und anderswo zu ziehen. Er begann, eine formalistische und dogmatische Karikatur einer marxistischen ‘Orthodoxie’ zu verteidigen, welche den Weg zu seinem späteren Verrat an der Arbeiterklasse ebnen sollte.

In Wirklichkeit beschränkte sich weder die damalige Auseinandersetzung mit dem Opportunismus im allgemeinen, noch die Debatte über die Rolle der Intellektuellen auf die Frage, wie sich das sozialistische Klassenbewußtsein innerhalb das Proletariat entwickelt. Der Kampf gegen den Opportunismus wurde ebenfalls um die Frage der Organisation der Revolutionäre geführt. Auch hierbei ging es nicht zuletzt darum zu klären, welche Rolle die Intellektuellen innerhalb der Partei spielen. Gerade zu dieser Frage haben Lenin und Kautsky damals glänzende Beiträge geliefert, von denen die Marxisten heute noch zehren. Die Frage nach der Rolle der Intellektuellen hat damals in der Auseinandersetzung zwischen Marxisten und Opportunisten in der 2. Internationale eine entscheidende Rolle gespielt - vor allem in Rußland, wo sie 1903 mit die entscheidende Trennungslinie zwischen Bolschewismus und Menschewismus zog. Auch heute in der Debatte innerhalb der IKS, wo die Organisationsfrage im Mittelpunkt steht, spielt diese Frage eine herausragende Rolle. Deshalb wollen wir auf diese Frage in der nächsten Ausgabe von Weltrevolution zurückkommen und dabei die Argumente wieder aufgreifen, welche in der Debatte bei unserer öffentlichen Diskussionsrunde dazu gegeben worden sind.

Weltrevolution


Intellektuelle und Arbeiterbewegung – Teil 2


Die Frage, welche Rolle die radikale bürgerliche Intelligenz im proletarischen Klassenkampf spielt, ist nicht neu. Bei einer öffentlichen Diskussionsrunde der IKS hat ein Teilnehmer aus dem Rheinland diese Frage aufgeworfen. Er bezog sich auf die Position Lenins in "Was Tun?" (1902), um sein Argument zu untermauern, daß die Intelligenz eine entscheidende Rolle bei der Befreiung der Arbeiterklasse spielen muß. In "Was Tun?" hat Lenin, in Anlehnung an Kautsky, zu beweisen versucht, daß die sozialistische Theorie "von Außen" durch die Intellektuelle in die Arbeiterklasse hineingetragen wird.

In ersten Teil dieses Artikels (WR68) haben wir nachgewiesen, daß diese Auffassung völlig im Gegensatz zum marxistischen Verständnis der Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse steht. Lenin selbst überwand später diesen falschen Standpunkt. Er kehrte damit auf den Boden des Marxismus zurück, der davon ausgeht, daß "die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selber sein kann".

Dies bedeutet aber nicht, daß die "sozialistische Intelligenz" nicht eine bestimmte "Sonderrolle" in der Arbeiterbewegung zu spielen neigt. Allerdings eine negative Rolle. Die kleinbürgerlichen Intellektuellen und Literaten haben in der Tat stets die Rolle übernommen, in der Arbeiterbewegung gegen die kollektive, disziplinierte, auf ein gemeinsames Ziel gerichtete Arbeitsweise der Klassenpartei zu rebellieren. Diese Funktionsweise der Arbeiterpartei, welche dem kollektiven, gemeinsamen, auf-einander-angewiesenen Charakter der Fabrikarbeit entspricht (Marx spricht hier von " vergesellschafteter Arbeit"), empfindet der individualistisch lebende und denkende Intellektuelle als Zwang, als Unfreiheit. Dies war z.B 1903 beim zweiten Parteitag der russischen Sozialdemokratie der Fall. Dort nahmen die Intellektuellen in der Partei eine anarchistische Haltung zu Organisationsfragen ein. Sie weigerten sich, die Beschlüsse des Parteitages anzuerkennen, bildeten eine Partei innerhalb der Partei (die Menschewiki) und betrieben eine Spaltung. Die Bolschewiki um Lenin verteidigten hingegen die Einheit und die marxistischen Prinzipien der Partei. In diesem Zusammenhang zitierte Lenin in seinem Buch "Ein Schritt vorwärts, Zwei Schritte zurück" (1903) die marxistische Auffassung zu dieser Frage, welche Kautsky in seinem Artikel über Franz Mehring 1903 in „Die Neue Zeit" (zitiert von Lenin Bd 7, Kap.: Die Wahlen. Das Ende des Parteitags.) darlegte:

"Der Literat steht also in keinem ökonomischen Gegensatz zum Proletariat. Aber seine Lebenslage und seine Arbeitsbedingungen sind keine proletarischen, und daraus erwächst ein Gegensatz im Empfinden und Denken.

Der Proletarier ist nichts als isoliertes Individuum. Seine ganze Kraft, sein ganzes Fortschreiten, alle seine Erwartungen und Hoffnungen schöpft er aus der Organisation, aus dem planmäßigen Zusammenwirken mit seinen Genossen. Er fühlt sich groß und stark, wenn er den Teil eines großen und starken Organismus bildet. Dieser ist ihm die Hauptsache, das Individuum gilt demgegenüber sehr wenig. Er kämpft mit vollster Hingabe als Stück der anonymen Masse, ohne Aussicht auf persönlichen Gewinn oder persönlichen Ruhm, erfüllt seine Pflicht auf jedem Posten, auf den er gestellt wird, in freiwilliger Disziplin, die sein ganzes Fühlen und Denken erfüllt.

Ganz anders der Literat. Er kämpft nicht mit Machtmitteln, sondern mit Argumenten. Seine Waffen sind sein persönliches Wissen, sein persönliches Können, seine persönliche Überzeugung. Er kann nur zur Geltung kommen durch seine Persönlichkeit. Vollste Freiheit für sie erscheint ihm als die erste Vorbedingung gedeihlichen Wirkens. Nur schwer fügt er sich einem Ganzen als dienendes Glied ein, nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Die Notwendigkeit der Disziplin erkennt er nur für die Masse, nicht für auserlesene Geister an. Und zu diesen rechnet er sich natürlich auch........

Nietzsches Philosophie mit ihrem Kultus des Über- oder Herrenmenschen, dem das Ausleben der eigenen Persönlichkeit alles ist und jede Unterordnung der Person unter einen großen gesellschaftlichen Zweck ebenso abgeschmackt wie erbärmlich erscheint, diese Philosophie ist die richtige Lebensanschauung des Literaten, sie macht aber völlig untauglich zur Einreihung in den Klassenkampf des Proletariats". (Karl Kautsky, "Franz Mehring").

Lenin fügt in einer Fußnote hinzu: "Ich übersetze die deutschen Ausdrücke Literat und Literatentum mit Intellektueller und Intellektueller und Intelligenz, weil damit nicht nur die Schriftsteller gemeint sind, sondern überhaupt alle Gebildeten, Vertreter freier Berufe Kopfarbeiter (brain worker, wie die Engländer sagen) zum Unterschied von den Handarbeitern." Um zu beweisen, daß einzelne Intellektuelle dennoch völlig in der Arbeiterbewegung aufgehen können, führt Kautsky Mehring, Wilhelm Liebknecht und natürlich Marx an, "der sich nie vordrängte und dessen Unterwerfung unter die Parteidisziplin in der Internationale, wo er gar manches Mal in der Minorität blieb, musterhaft war" (ibid).

Die Frage ist heute aktueller den je. Die neue Generation der Revolutionäre nach 1968 war in besonderem Maße dem Gewicht der kleinbürgerlichen, anarchistischen Intelligenz ausgesetzt. Diese revolutionäre Generation war natürlich das Produkt der historischen, weltweiten Wiederaufnahme des Kampfes der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre. Obwohl die Arbeiter damals Massenkämpfe entfalteten, waren die Arbeiter wegen der vorangegangenen jahrzehntelangen bürgerlichen Konterrevolution noch sehr wenig politisiert. Dieser Bruch mit den Traditionen der vergangenen Arbeiterbewegung schuf besonders günstige Bedingungen für das Sich-Ausbreiten des kleinbürgerlichen Individualismus in den Reihen der Arbeiterbewegung. Heute stellt auch die IKS fest, wie wenig es uns bis jetzt gelungen ist, die Reste dieses kleinbürgerlichen Anarchismus in Organisationsfragen auszumerzen. Deshalb haben die verschiedenen Kongresse und Konferenzen der IKS in jüngster Zeit, wie die Konferenz von Weltrevolution 1994, sich vor allem damit auseinandergesetzt, wie wir heute den Kampf Lenins gegen den kleinbürgerlichen Individualismus, gegen den Literaten-Menschewismus erfolgreich zu Ende führen können. Wir werden auf diese Frage in unserer Presse selbstverständlich zurückkommen.