Mai 1968: Das Proletariat tauchte als einzig revolutionäre Klasse der Gesellschaft erneut auf

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 Seit 30 Jahren benutzt die Bourgeoisie regelmäßig die Erinnerungen an den Mai 1968, um die Geschichte zu verfälschen. Während dieses Ereignis mit internationaler Tragweite die Rückkehr des Proletariats auf die gesellschaftliche Bühne nach mehr als 40 Jahren Konterrevolution bedeutete, kommen in der bürgerlichen Propaganda immer nur die Studentenunruhen zur Sprache. Dieser Propaganda zufolge hätte Mai 68 nur den naiven Idealismus, der mehr oder weniger von revolutionären Utopien geprägt war, der ‘verwöhnten Jugend’ ans Tageslicht gebracht, die in der Zeit des ‘Babybooms’ geboren wurde. Das beharrliche Schweigen über die Millionen streikenden Arbeiter (während man den gesellschaftlichen Erfolg der damaligen Studentenführer, die mittlerweile in die 50 gekommen sind, ausführlich aufgreift) spiegelt die Angst wider, die der Bourgeoisie vor 30 Jahren nicht durch die Studentenrevolte, sondern durch das historische Wiedererwachen des Proletariats eingejagt wurde. Bei den Lügen über die Ereignisse vom Mai 68 geht die herrschende Klasse genauso vor wie bei der Erinnerung an den 80. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917. Das Blackout über die wirklichen Ereignisse, die Versessenheit, mit der die revolutionäre Erfahrung des Proletariats aus den Zusammenstößen mit der bürgerlichen Ordnung ausgelöscht werden soll, die Verleumdungen über die angeblichen ‘Verbrechen des Kommunismus’, der mit dem stalinistischen Henker in einen Topf geschmissen wird, zielen darauf ab, die Lüge einzutrichtern, daß die einzige revolutionäre Klasse der heutigen Gesellschaft weder Vergangenheit noch Zukunft habe. Deshalb ist es für die Arbeiterklasse absolut notwendig, sich ihre Geschichte wieder anzueignen, denn diese bestimmt weiterhin die Zukunft ihres Kampfes und damit auch den der gesamten Menschheit.

Nachfolgend veröffentlichen wir einen Artikel, den wir vor 10 Jahren in unserer Presse über die Mai-Ereignisse schrieben. Einen ausführlichen Artikel zur Einschätzung des Mai 68 gibt es in der International Revue Nr. 93 (engl./franz./span. Ausgabe).


Mai 68: Das Proletariat erscheint erneut auf der Bühne der Geschichte

Nachdem die Bourgeoisie die Arbeiterklasse in den 20er Jahren nach der Welle revolutionärer Kämpfe im Anschluß an den I. Weltkrieg physisch zerschlagen hatte, nachdem sie sie in den 30er Jahren demoralisiert und vollständig im Namen der ‘Verteidigung des sozialistischen russischen Vaterlandes’ und des ‘Antifaschismus’ desorientiert hatte, nachdem sie sie auf die Schlachtfelder des 2. Weltkriegs geschickt hatte, verwechselte die Bourgeoisie die Erschöpfung der Arbeiterklasse mit ihrer Unterwerfung. Durch ihre Siege berauscht, verblendet durch die ‘Blütezeit’ nach dem 2. Weltkrieg, die nur möglich war dank der Millionen von Kadavern, glaubte die herrschende Klasse, sie sei unsterblich geworden. Sie verhöhnte offen die Arbeiterklasse, die ihr Totengräber ist, und den Kommunismus.

Diese Illusion verbreiteten wortgewaltig die Intellektuellen, die Castoriadis, Marcuse und ihre Erben, die Enkel der stalinistischen Gangster, die allemal Grabesreden zur Beerdigung des Proletariats gehalten hatten. Diese Intellektuellen hatten ‘entdeckt’, daß der Kapitalismus sich ohne Krise werde entwickeln können. Aus ihrer Sicht war die Arbeiterklasse vereinnahmt worden, in das System integriert, verbürgerlicht. Der gleiche Kranz wurde dem Klassenkampf und dem revolutionären Wesen des Proletariates umgehängt. Doch all das waren die Illusionen der Bourgeoisie.

Mai 1968: Das Ende des Mythos der Auflösung der Arbeiterklasse

Die Bewegung des Mai 68 sollte diesen Illusionen ein Ende bereiten. Die Begräbnisfeier hatte noch nicht begonnen, da setzte ihr der Totgeglaubte jäh ein Ende. Und wie! Nach seinem ersten Erwachen nach Jahrzehnten des Erstarrens sollte das Weltproletariat in Frankreich den größten Streik seiner Geschichte auslösen: 9 Millionen Arbeiter, fast alle Arbeiter des Landes blockierten die Produktion fast einen Monat lang. Wie war das möglich?

Wir können natürlich im Rahmen dieses Artikels keinen genauen geschichtlichen Abriß der Ereignisse geben (1). Nur die wichtigsten Schritte können wir hier aufzeigen, damit sich die Leser, die an den Ereignissen nicht teilgenommen haben, eine Vorstellung davon machen können.

Selbst wenn der Streik vom Mai 68 fast alle überrascht hat, schlug er doch nicht ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Tatsächlich hatte sich in Frankreich im Jahr zuvor schon eine Reihe von sozialen Konflikten entfaltet, wie Streiks, Fabrikbesetzungen, Demos, Zusammenstöße mit der Polizei, die allemal eine wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter widerspiegelten. Aber das auslösende Ereignis im Mai 68 war die Repression, die gegenüber den Studenten Anfang des Monats ausgeübt wurde. Seit Ende März hatten die Studentenunruhen zugenommen; insbesondere an der Uni von Nanterre (Vorort von Paris). Am 2. Mai wurde diese Uni von den CRS (französische Bürgerkriegsarmee) besetzt und geschlossen. Aus Protest besetzten am darauf folgenden Tag einige Hundert Studenten das Gelände der Sorbonne, was wiederum zum Eingreifen der CRS führte, die Verhaftungen vornahm. Die Forderung nach der ‘Freilassung unserer Kommilitonen’ mobilisierte in den nächsten Tagen Tausende von ihnen, bis hin zu den Barrikaden am 10. Mai, als die Polizei eine blutige Repression ausübte. In Anbetracht der Wut, die sich in der Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere in der Arbeiterklasse ausbreitete, riefen die Gewerkschaftszentralen zu Demos für den 13. Mai auf. Trotz der schnellen Freilassung der Verhafteten nahmen diese Demos ein nie gekanntes Ausmaß an: fast eine Million Menschen strömten in Paris zusammen.

So führten die Studentenunruhen, die insgesamt von geringerem Ausmaß gewesen waren als in vielen anderen Ländern, aufgrund der ungeschickten Vorgehensweise einer Regierung, welche die Lage nicht mehr beherrschte, und aufgrund einer ebenso brutalen wie stupiden Repression zu der Mobilisierung von Millionen von Arbeitern. Aber die Unfähigkeit und die Überraschung der staatlichen Behörden erklären nicht alles. Unter dieser gewaltigen Mobilisierung schlummerte eine viel tiefer verwurzelte Unzufriedenheit, die bereit war auszubrechen. Streiks brachen spontan aus in Nantes bei der Sud-Aviation, dann in Renault-Cléon. Am 16. Mai trat die größte Fabrik Frankreichs, Renault-Billancourt, in den Streik, was wiederum eine Signalwirkung auf Millionen anderer Arbeiter hatte, die sich nun in den Kampf stürzten.


Wie die Bourgeoisie die Lage wieder unter Kontrolle bekam

Von diesem Streik überrascht, der sich wie ein Feuerball im ganzen Land ausdehnte, rief die CGT (der stalinistischen KP nahe stehende Gewerkschaft) am gleichen Tag zu ‘Widerstand’ auf. Damals reagierten die Arbeiter darauf, indem sie sagten: ‘Die CGT springt auf den fahrenden Zug’. Die anderen Gewerkschaftszentralen schlossen sich ihr an. Sie alle hatten die gleiche Sorge: wieder die Kontrolle über eine Bewegung auszuüben, die unabhängig, wenn nicht gar gegen ihren Willen ausgelöst worden war. Sie traten für Fabrikbesetzungen ein, die, abgesperrt durch gewerkschaftliche Streikposten, zu wahren Gefängnissen für die Arbeiter wurden. Für die Gewerkschaften und die KP kam es darauf an, im Namen der ‘Verteidigung des Arbeitsinstruments’ gegen die ‘Provokateure’, welche sich unter die Studenten geschlichen hätten, zu verhindern, daß die linksextremen Gruppen der Maoisten und Trotzkisten, deren Konkurrenz sie fürchteten, vor allem aber die Revolutionäre unter den Arbeitern Anhang fänden. Sie strebten vor allem danach, die verschiedenen Bereiche der Klasse zu spalten, sie voneinander zu isolieren, jeder Bereich in seiner Ecke, um zu verhindern, daß die Arbeiter als Klasse, als vereinigte Kraft auftraten. Aber diese Manöver reichten nicht aus, um die Ausdehnung der Bewegung abzubrechen, oder um die zahlreichen Diskussionen zu verhindern, an denen sich Tausende von Arbeitern (oft in den besetzten Unis) beteiligten, und in denen eine Vielzahl von Themen angeschnitten wurden, die die Arbeiterklasse interessierte: die Rolle der Gewerkschaften, die Arbeiterräte, die Revolution, wie heute kämpfen usw... Mit Verspätung gegenüber der KP und der CGT traten die anderen Teile des politischen Apparates der Bourgeoisie auf den Plan. Am 24. Mai schlug die Regierung gleichzeitig mit der provokativen Ausweisung des Studentenführers von Nanterre D. Cohn-Bendit Verhandlungen vor, die von den Gewerkschaften schon lautstark gefordert worden waren. Am 25. und 26. Mai schlossen alle Führer der Gewerkschaftszentralen und der Unternehmerverbände unter der Führung Pompidous des Premierministers, das Abkommen von Grenelle ab, das zur Abwürgung des Streiks diente. Obgleich dieses Abkommen eine 35% Steigerung des Mindesteinkommens vorsah (wofür nur 7% der Arbeiter in Frage kamen), sollten die anderen Löhne nur um 10% steigen, was in Anbetracht eines 4%igen Lohnverlustes infolge des Streiks und aufgrund der Preissteigerungen eine viel geringere Erhöhung als in den vorangegangenen Jahren war (die schon nicht berühmt gewesen waren).

Die Arbeiter empfanden dieses Abkommen als einen Schlag ins Gesicht. Als er dieses Abkommen in Renault-Billancourt am Morgen des 27. Mai präsentieren wollte, wurde Seguy, der Generalsekretär der CGT, stark ausgepfiffen. Er konnte nur sein Spiel gewinnen, indem er sich von einem Text distanzierte, den er zuvor zwei Tage lang mit den Arbeitgebern und der Regierung ausgearbeitet hatte, und nachdem er noch einige Stunden zuvor den Journalisten erklärt hatte, daß die ‘Wiederaufnahme der Arbeit kurz bevorstünde’. Um nicht die Kontrolle über die Lage zu verlieren, gab die CGT die Parole aus: ‘Der Kampf geht weiter’. Unterdessen reihten sich andere Kräfte der Linken in diese Sabotagearbeit ein. Am gleichen Tag fand in dem Stadion in Charlety in Paris eine Großveranstaltung statt, die eine Unterstützung für eine ‘linke Alternative’ sein sollte und dazu gedacht war, die von den Manövern der CGT angeekelten Arbeiter wieder auf die ‘richtige Bahn’ zu lenken. Auf dieser Großveranstaltung traten die CFDT (der sozialistischen Partei nahe stehende Gewerkschaft), die linken Gruppen (Maoisten, Trotzkisten, Anarchisten) Cohn-Bendit und Mendes-France Seite an Seite nebeneinander auf. Die CGT selber organisierte am 29. Mai eine große Demo in Paris, wo sie die Parole ausgab: ‘Volksregierung’.

Am 30. Mai gingen die offiziellen Autoritäten erneut zum Angriff über. De Gaulle hielt eine Rede, in der er die Auflösung der Nationalversammlung und Wahlen für Ende Juni ankündigte, gleichzeitig wurde sein Fußvolk in Paris mobilisiert, und man organisierte eine große Demo auf den Champs Elysées. Die Regierung rief zu branchenweisen Verhandlungen auf. Die Gewerkschaften und insbesondere die CGT stürzten sich auf diese Gelegenheit, um so wieder die Kontrolle über die einzelnen Branchen zu erlangen. Unter allen möglichen Vorwänden riefen sie zum Ende der Streikbewegung auf, unter anderem wäre es nötig die Streiks zu beenden, weil die Wahlen als angeblicher Sieg der Arbeiter unter normalen Umständen stattfinden sollten. Trotz des Lügengeschwafels der CGT gab es aber noch viele Teile der Klasse, in denen sich der Widerstand hielt, wie bei Renault-Flins, Peugeot-Sochaux, wo die Repression durch den Staat mehrere Tote gefordert hatte, wie auch bei Citroen-Javel, wo die Arbeit erst wieder nach der ersten Wahlrunde am 23. Juni aufgenommen wurde. Schließlich mußte die große Streikwelle vom Mai-Juni 1968 zu einer Niederlage für die Arbeiterklasse führen. Aber es handelte sich um eine unvergleichbare Erfahrung, wo Millionen von Arbeiter mit Problemen konfrontiert wurden, die sich der ganzen Klasse stellten, wo sie insbesondere sehen mußten, wie sie mit der Sabotage durch die Gewerkschaften fertig wurden (im Juni 68 wurden viele Gewerkschaftskarten zerrissen). Aber vor allem bewies der Mai 68 aufgrund seiner Ausdehnung, daß es sich nicht um eine rein ‘französische Angelegenheit’ der Studentenrevolte der 60er Jahre handelte, der so genannten Revolte gegen die ‘Konsumgesellschaft’. Es handelte sich sehr wohl um einen neuen Zeitraum, der in der Geschichte der Weltarbeiterklasse eröffnet worden war.


Das historische Wiedererstarken des Weltproletariats

Nur die revolutionären Marxisten konnten diesen neuen Zeitraum voraussehen. Nur sie wußten, daß der dekadente Kapitalismus vollkommen unfähig ist, seine ökonomischen Widersprüche zu überwinden. So schrieben unsere Genossen aus INTERNACIONALISMO in Venezuela (es handelt sich um die Vorläufergruppe der IKS) im Januar 1968 in der Nr. 9 ihrer Revue: ‘1967 gab es den Sturz des Britischen Pfundes, 1968 gibt es die Maßnahmen Johnsons... hierdurch wird der Zerfall des kapitalistischen Systems deutlich, der jahrelang hinter diesem Bild des ‘Fortschritts’ nach dem 2. Weltkrieg verdeckt worden war’. Auf diesem Hintergrund begrüßten die Genossen das Jahr 1968, denn in diesem Jahr sollten die Arbeiterkämpfe überall infolge der Krisenentwicklung auftauchen.

Viele Intellektuelle, die auf die Rolle der Studenten in den Unruhen und das revolutionäre Gerede in ihren Reihen verwiesen, überschätzten vollkommen deren Rolle in den Mai-Ereignissen, um den Platz der Arbeiterklasse herunterzuspielen. So posaunte Castoriadis laut heraus: „Man muß es laut und deutlich sagen, daß das Proletariat im Mai 68 nicht die revolutionäre Avantgarde der Gesellschaft war, sondern stumm ‘hinten anstand’’’. Die Bourgeoisie selber aber erkannte, welche Gefahr die Arbeiterklasse darstellte, denn die Kampfwelle, die im Mai 68 Frankreich erschütterte, erfaßte bald viele andere Länder bis hin zum Jahr 1974: Italien und Argentinien, BRD 1969, Spanien und Polen 1971, Belgien und England 1972. Aber während viele das Wort Revolution im Mai 68 in den Mund nahmen, um nachher mit Ungeduld deren Unmöglichkeit zu verkünden, haben die Marxisten diese unmittelbare Erwartung an die Kämpfe damals nicht geknüpft. Denn obgleich das Proletariat nach 50 Jahren Konterrevolution erneut auf die Bühne getreten war, hatte es weder in Frankreich noch irgendwo anders die notwendige Reife erreicht, um sich gegenüber der Bourgeoisie durchzusetzen und ihr entscheidende Kämpfe zu liefern.

Die Revolution wird notwendigerweise das bewußte Werk der großen Mehrheit der Arbeiter sein, und dieses Bewußtsein kann nur durch eine lange Reihe von Kämpfen entstehen, die sich mehr und mehr als eine Reaktion auf die sich zuspitzende Krise und der damit verbundenen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse radikalisieren werden.

Dies ist die eigentliche Bedeutung der vielen Arbeiterkämpfe, die sich seit 1968 entwickelt haben. Diese Reifung des Bewußtseins der Klasse wird deutlich in dem immer größer werdenden Mißtrauen, der Verwerfung der Gewerkschaften. Auch die zahlreichen Versuche der Arbeiter, ihre Kämpfe nicht isoliert durchzuführen, sondern den Zusammenschluß mit anderen Arbeitern zu suchen, die Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen, sind Beweise dafür.

Die marxistische Methode ist lebendig, ihre Gegner sind um Argumente verlegen. Sie hatte es den Revolutionären ermöglicht, nicht den Lockrufen der Modernisten zu erliegen. Die marxistische Methode dient dazu, die Arbeiterkämpfe zu begreifen und zu verstehen, wie man in ihnen intervenieren soll. Weil sie einen internationalen und historischen Rahmen hat, ist die marxistische Methode als einzige dazu in der Lage, den Revolutionären zu ermöglichen, konkret und mit einem theoretischen Beitrag bei der Verwirklichung dieses Prozesses mitzuwirken, der 1968 durch die Arbeiterklasse wieder ausgelöst wurde, um so schließlich den Sieg der Weltrevolution möglich zu machen.

Erbe der kommunistischen Linke: