Massenverarmung wie in Griechenland kommt auf uns alle zu

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Die jüngsten, von der Troika (IWF, EU, EZB)  durchgeboxten Maßnahmen sind noch brutaler als die bislang schon beschlossenen. Während der Proteste wurde überall der gleiche Ruf laut: „Wir können unsere Familien nicht mehr ernähren und das Geld für unsere Kinder aufbringen. Wir wollen nicht mehr ausgepresst werden“.  Hier ein Ausschnitt aus der Liste:

 

- Kürzung des Mindestlohns um 22% (er wird von 750 auf 480 Euro gesenkt) und eine Kürzung um 32% für die unter 25jährigen, mit Konsequenzen für all diejenigen, deren Einkommen durch die Entwicklung des Mindestlohns bestimmt wird – für viele Beschäftigte bedeutet dies eine Halbierung ihrer Löhne.

- 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst werden in den nächsten zwei Jahren gestrichen, deren Löhne sollen auf 60% des bisherigen Niveaus gesenkt werden.

- Rentenkürzungen,

- Das Arbeitslosengeld wird auf ein Jahr beschränkt,

- keine automatischen Lohnanpassungen mehr, keine Berücksichtigung der Dauer der Betriebszugehörigkeit,

- Die Sozialausgaben werden gesenkt, dadurch werden die Gesundheitskosten für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr erstattet.

- Lohnabkommen werden in ihrer Dauer auf drei Jahre Laufzeit beschränkt.

Das ist noch nicht alles. Im November 2011 betrug die offizielle Arbeitslosigkeit 20.9% (ein Anstieg um 48.7% gegenüber dem Vorjahr). Die Arbeitslosenrate beträgt bei Jugendlichen in der Altersgruppe 18-25 Jahre 50%.

Innerhalb von zwei Jahren stieg die Zahl der Obdachlosen um 25%. Immer mehr Menschen wissen nicht wie sie sich ernähren sollen; es erinnert sie an die Hungertage des 2. Weltkriegs. Ein für ein NGO tätiger Arzt berichtete in Libération (30.1.12): „Ich wurde wirklich besorgt, als ich bei Arztbesuchen immer häufiger feststellte, dass immer mehr Kinder zu Arztbesuchen kamen, nachdem sie seit einiger Zeit nichts zu essen bekommen hatten.“

Die Zahl der Selbstmorde hat sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, insbesondere junge Leute nehmen sich häufiger das Leben. Und die Zahl der an Depression Erkrankten ist sprunghaft angestiegen.

Aufgrund der breiten Ablehnung der jüngsten Sparbeschlüsse durch die Bevölkerung haben sich ca. 100 Parlamentsabgeordnete der Stimme enthalten oder mit Nein gestimmt; dazu gehörten auch ca. 40 Abgeordnete der beiden großen Parteien vom rechten und linken Flügel. Sie beugten sich nicht der von ihnen verlangten Parteidisziplin. Die Lage wird immer chaotischer, da die beiden traditionellen großen Parteien, die in der Zeit nach dem Krieg abwechselnd die Macht ausübten, total diskreditiert sind. Große Stimmenverluste für sie sind zu erwarten. Auf diesem Hintergrund wird es den Herrschenden schwer fallen, die für April angekündigten Parlamentswahlen zu ihren Gunsten durchzuführen.

Die Proteste in Griechenland haben zu Solidarisierungen und zu Eigeninitiativen der Betroffenen  geführt. In vielen Stadtvierteln und in Dörfern kommen die  Nachbarn zusammen. Die Besetzung der Novicki-Universität dient als Diskussionsforum. Ministerien wurden ebenso besetzt (so das Arbeits-, Gesundheits- und Wirtschaftsministerium), sowie Regionalbehörden, das Megalopolis Kraftwerk, das Rathaus in Holargos. Firmen haben Milch und Kartoffeln verteilt. Arbeiter haben die Zeitungsdruckerei Eleftherotypia, in der 800 Arbeiter beschäftigt sind, besetzt. Während des Streiks haben sie ihre eigene Zeitung gedruckt.

Schwächen und Illusionen der Bewegung

Aber die deutlichste Reaktion, die die Entschlossenheit der Bewegung in Griechenland zum Ausdruck bringt, spiegelt ebenso all ihre Schwächen und Illusionen wider. Dies wird anhand der Reaktion im Kilkis-Krankenhaus in Zentralmazedonien in Nordgriechenland ersichtlich. In einer Vollversammlung beschlossen die Beschäftigten in den Streik zu treten und das Krankenhaus zu besetzen, um ausstehende Löhne einzufordern. Sie stellten gleichzeitig Notoperationen und freie Behandlung für die Mittellosen sicher. Die Beschäftigten haben einen Aufruf an andere Beschäftigte verfasst: „Die einzig legitimierte, entscheidungsbefugte Instanz wird die Vollversammlung der Arbeiter sein.“ Wir haben diesen Aufruf auf unserer (englischen) Webseite veröffentlicht, weil dieser die Absicht zum Vorschein bringt, nicht isoliert bleiben zu wollen. Die Beschäftigten richten sich nicht nur an die Beschäftigten anderer Krankenhäuser, sondern an alle Beschäftigten, damit diese sich ihrem Kampf anschließen. Aber dieser Aufruf bringt auch viele demokratische Illusionen an den Tag, weil man sich auf „die Reaktionen der Bürger“ stützen möchte und auf eine schwammige Kraft wie „Arbeitergewerkschaften“, oder die „Zusammenarbeit aller Gewerkschaften und fortschrittlicher politischer Organisationen und wohl gesonnener Medien.“  Im Aufruf kommt ebenso eine Menge Patriotismus und Nationalismus zum Vorschein. „Wir sind entschlossen weiterzumachen, bis die Verräter, die unser Land verschachert haben, weg sind.“  Dies ist ein echtes Gift für die Kämpfe [1].

Hier handelt es sich um eine Hauptschwäche der “Volksbewegung” in Griechenland.  Sie steckt in der Fall des Nationalismus und nationaler Spaltungen, die von Politikern und Gewerkschaften systematisch verschärft werden. Alle Parteien und Gewerkschaften schimpfen zunehmend über den „verletzten Nationalstolz“. An erster Stelle steht dabei die KKE (die stalinistische Partei), die überall die nationalistische Karte spielt und die Regierung des Ausverkaufs des Landes beschuldigt und dass diese die Nation verraten habe. Sie behaupten, die Ursache der jetzigen Entwicklung sei nicht das kapitalistische System selbst, sondern es liege alles an Europa, Deutschland oder den USA.

Durch dieses Gift wird der Abwehrkampf der Klasse in den Grabenkrieg der nationalen Spaltungen hineingezogen, der wiederum ein Ergebnis kapitalistischer Spaltungspolitik ist. Dies ist nicht nur eine Sackgasse, sondern ein Haupthindernis für die unerlässliche Entwicklung des proletarischen Internationalismus. Wir haben kein Vaterland zu verteidigen. Unsere Kämpfe müssen sich ausdehnen und auf internationaler Ebene zusammenschließen.  Es geht darum, dass die ArbeiterInnen anderer Länder ebenso in den Kampf treten und allen anderen vor Augen führen, dass die Antwort der Ausgebeuteten auf der ganzen Welt, die mit den Angriffen der Kapitalisten konfrontiert sind, nicht aus nationalistischer Sicht erfolgen darf, sondern nur mit einer internationalistischen Perspektive.  W 18/2/12

Siehe auch: Workers take control of the Kilkis hospital in Greece

"In order to liberate ourselves from debt we must destroy the economy"

[1] Die Erklärung der Besetzer der Athen Rechtsschule, die wir ebenso auf unserer (englischen) Webseite veröffentlicht haben, wendet sich direkt gegen alle nationalistischen und staatskapitalistischen „Lösungen“. Sie bezeichnen die ‚Schuldenkrise’ richtigerweise als einen Ausdruck der globalen Krise des Kapitalismus. Diese Auffassung spiegelt sicherlich die Meinung einer Minderheit in der gegenwärtigen Bewegung wider, aber  diese Minderheit scheint an Zahl zuzunehmen.

 

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