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Kommunismus - Keine schönes Ideal,sondern eine Notwendigkeit [Serie I - Teil 3]

Die Entfremdung der Arbeit ist die Vorbedingung für ihre Befreiung

Über die höheren Ziele des Kommunismus

Es wird oft behauptet, daß Marx nie daran in­teressiert war, konkrete Pläne für die zukünf­tige kommunistische Gesellschaft zu entwer­fen. Das stimmt insofern, als im Ge­gensatz zu den utopischen Kommunisten, aus deren Sicht der Kommunismus nur eine reine Erfindung einiger aufgeklärter Geister war, Marx ver­stand, daß es nutzlos war, detail­lierte Pläne der Struktur und der Funktions­weise der kommunistischen Ge­sellschaft zu entwerfen. Denn diese könnte nur hervorge­hen aus einer massiven ge­sellschaftlichen Bewegung, d.h. die prakti­sche Lösung für die bislang nie da­gewesene Aufgabe der Schaffung einer Ge­sellschaftsordnung, die qualitativ höher stünde als alle bisher dage­wesenen. Aber diese sehr berechtigte Ableh­nung, die wirkliche Bewe­gung der Ge­schichte in die Zwangsjacke eines vorher aufgezeichneten Schemas hineinzu­pressen, bedeutete nicht, daß Marx oder die marxisti­sche Tradition im allgemeinen kein Interesse daran gehabt hätte, die Endziele der Bewe­gung zu be­stimmen. Im Gegenteil. Dies ist eines der herausragenden Merkmale der Funktionen der kommunistischen Minderhei­ten, denn sie "haben theoretisch vor der übri­gen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die all­gemeinen Resultate der proletarischen Be­wegung vor­aus" (Manifest der Kommunisti­schen Partei, MEW 4, S. 474). Was den Marxismus von al­len Utopisten abhebt, ist nicht, daß die Marxi­sten keine Auffassung vom allgemeinen End­ziel hät­ten, sondern daß sie die wirkliche Ver­bindung zwischen den Ergebnissen und den Bedingungen und der Bewegung, die dorthin führt, aufzeigen. Mit anderen Worten: sie gründen ihre Auf­fassung von der zukünftigen Gesellschaft auf eine tief­schürfende Analyse der bestehenden Ge­sellschaft, daß z.B. die Forderung nach der Abschaffung der Markt­wirtschaft nicht aus irgendeiner rein morali­schen Abnei­gung  gegen Kauf und Verkauf abgeleitet wird, sondern aus der Erkenntnis, daß eine Gesell­schaft, welche auf allgemeiner Warenpro­duktion ruht, dazu gezwungen ist, unter dem Gewicht ihrer eigenen Widersprü­che zu­sammenzubrechen, daher die Notwen­digkeit einer höheren Gesell­schaftsform, in der Ge­brauchswerte pro­duziert werden. Gleichzei­tig entwickelt der Marxismus seine Auffas­sungen über den Weg, die Bewegung hin zu dieser höheren Form aus den eigentli­chen Erfahrungen des Arbeiterkampfes gegen den Kapitalis­mus. Während somit der Ruf nach der Diktatur des Proletariats schon am An­fang der marxistischen Bewegung erhoben wurde, wurde die Gestalt, die diese Dik­tatur annehmen würde, viel deutlicher durch die großen revolutionären Ereignisse in der Ge­schichte der Arbeiterklasse präzi­siert, insbe­sondere in der Pariser Kom­mune und in der Oktoberrevolution.
Ohne eine allgemeine Vorstellung von der Ge­sellschaft, die sie errichten will, würde die kommunistische Bewegung blind sein. An­statt die höchste Verkörperung dieser einzig­artigen menschlichen Fähigkeit des Planens zu sein, denn der Mensch kann sich Bau­pläne in sei­nem Kopf ausdenken, bevor er sie in der Pra­xis umsetzt, würde der Kom­munismus nicht mehr sein als eine instinktive Reaktion gegen die kapitalisti­sche Misere. In seinem ständigen Kampf gegen die Herr­schaft der bürgerlichen Ideologie würde der Kommunismus keine Kraft besitzen, die Ar­beiter und all die ande­ren unterdrückten Schichten der Ge­sellschaft zu überzeugen, daß ihre Hoff­nung nur in der kommunisti­schen Revolu­tion liegen kann. Und daß die scheinbar unlösbaren Probleme inner­halb der kapita­listischen Gesellschaft nur durch die kom­munistische Gesellschaft gelöst werden können. Und sobald die revolutionäre Um­wälzung in Gang gesetzt worden wäre, würde sie keinen Gradmesser haben, um den Fortschritt in Richtung seines Endziels zu messen.
Und trotzdem dürfen wir nicht vergessen, daß es einen Unterschied zwischen dem Endziel und den "allgemeinen Resultaten" der Bewe­gung dorthin gibt. Wie schon ge­sagt, ist letz­teres einer ständigen Klärung durch die prakti­sche Erfahrung der Klassen­bewegung unter­worfen. Die Pari­ser Kom­mune stellte für Marx und Engels klar, daß das Proletariat die alte Staatsma­schine zu zerstören hätte, bevor es seinen eigenen Machtapparat errichten könnte. Das Auftau­chen der Sowjets in den Jahren 1905 und 1917 überzeugte Trotzki und Lenin, daß sie die "endliche gefundene Form" der proletari­schen Diktatur seien. Die höheren Ziele des Kommunismus auf der anderen Seite müssen sehr allgemeine Schlußfolgerungen sein, die solange nur eine Kritik an der kapi­talistischen Gesell­schaft bleiben, bis die wirk­liche Bewegung der Klasse angefangen hat, sie praktisch zu lösen. Dies stimmt umso mehr, weil die proletarische Revolution per Definition zunächst eine politische und dann erst eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Um­wälzung darstellt. Da die wirklichen Bei­spiele/Erfahrungen der Arbeiterrevolution bislang nie weiter gegangen sind als bis zur  Eroberung der politischen Macht in einem  Land, beziehen sich die uns hin­terlassenen Lehren hauptsächlich auf die politischen Pro­bleme der Formen und Methoden der proleta­rischen Diktatur (die Beziehungen zwischen Partei, Klasse und Staat usw.). Nur in einem begrenzten Maße verfügen wir über Orientie­rungsrichtlinien hinsichtlich der wirtschaftli­chen und gesellschaftlichen Maß­nahmen, die ergriffen werden müssen, um die Grundlagen für die kommunistische Pro­duktion und Ver­teilung zu umreißen, wobei diese auch nur meist negativ abge­grenzt werden können (z.B. die Erkennt­nis, daß Verstaatlichung nicht Vergesell­schaftung be­deutet). Hinsichtlich der voll entwickelten kommunistischen Gesell­schaft, die nur nach einer mehr oder weni­ger langen Über­gangsperiode erscheinen wird, hat und konnte die historische Erfah­rung der Ar­beiterklasse keinen qualitativen Durchbruch bei den Vorstellungen der Kommunisten über solch eine Gesellschaft bringen.
Es ist deshalb kein Zufall, daß die meist inspi­rierten und inspirierenden Beschreibun­gen der höheren Ziele des Kommunismus zu Anfang des politischen Lebens von Marx aufgezeich­net wurden. Diese wurden näm­lich entwickelt, als Marx von der Sache des Proletariats über­zeugt wurde, und als er an­fing, sich 1844 als Kommunist zu bezeichnen. Diese er­sten Vor­stellungen, wie die Gesellschaft und die Menschheit ausse­hen könnte, so­bald die Fes­seln des Kapita­lismus und vor­hergehender Klassengesell­schaften über Bord geworfen sein würden, wurden kaum in Marxens späte­ren Schriften weiter prä­zisiert. Wir werden in Kürze auf das Ar­gument eingehen, demzu­folge Marx diese ersten Definitionen als ju­gendlichen Leichtsinn verwarf. Aber an dieser Stelle wollen wir nur unterstreichen, daß Mar­xens Vorgehensweise gegenüber den Proble­men mit seiner allgemeinen Methode voll­kommen übereinstimmt. Auf der Grundlage einer tief­greifenden Kritik der Verarmung und der Verunstaltung der menschlichen Tätigkei­ten unter den vor­herrschenden gesellschaftli­chen Bedingun­gen, zog er die Schlußfolgerung über die notwendigen Maßnahmen, um diese Ver­krüppelung zu verwerfen und zu überwin­den. Aber nachdem er die Endziele des Kom­munismus umrissen hatte, kam es vor allem darauf an, daß er sich in  die ent­stehende proletarische Bewegung stürzte, in das Getöse und den Tumult der politi­schen und ökonomi­schen Kämpfe, die als einzige dazu in der Lage waren, sicherzu­stellen, daß diese hoch­gesteckten Ziele zu einer Wirk­lichkeit wurden.

Die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte - und die Kontinuität in Marxens Denken

Im Sommer 1844 lebte Marx in Paris inmit­ten von zahlreichen kommunistischen Gruppie­rungen, die von solch ausschlagge­bender Be­deutung gewesen waren, daß sie ihn von der Sache des Kommunismus über­zeugten. Dort schrieb er die mittler­weile be­rühmt gewor­denen Ökonomisch-Philosophi­schen Manu­skripte, die er später auch als die Grundlagen für die "Grundrisse" und "Das Kapital" selber be­zeichnete. In ihnen ver­suchte er, sich mit der politischen Ökonomie vom Standpunkt der Ausgebeuteten aus zu beschäftigen. Auch stellte er erste Überle­gungen über so wichtige Fragen wie Lohn, Preis, Grund­rente und die Akkumulation des Kapitals; alles Themen, die später einen großen Platz in seinen Arbeiten einnehmen sollten; obgleich er in seinen Ein­leitungsbemerkungen zu den Manuskripten seinen Plan für eine umfangreiche Serie von "Broschüren" aufzeichnete, von denen der Teil zur Wirtschaft nur der Anfang sein sollte. In den gleichen Notizen unter­nahm Marx auch den ersten umfassenden Versuch, mit der idealistischen Philosophie Hegels abzurech­nen, die damals nicht mehr nützlich war, nachdem neue Grund­lagen durch das Auftau­chen einer materia­listischen Theorie der ge­schichtlichen Entwicklung gelegt wor­den wa­ren. Aber die "Manuskripte" sind wahrschein­lich am meisten für ihre Ab­handlung des Pro­blems der entfremdeten Arbeit bekannt und (vielleicht bislang nicht so stark) für ihre Be­mühungen, die Art ge­sellschaftlicher Tätigkeit zu definieren, die diese in der zukünftigen Ge­sellschaft erset­zen würde.
Die Ökonomisch-Philosophischen Manu­skripte wurden erst 1927 veröffentlicht. Mit anderen Worten: während der wichtig­sten revolutio­nären Periode in der Ge­schichte der Arbeiter­bewegung waren sie unbekannt. Ihre Veröf­fentlichung fand statt zu einem Zeit­punkt, als die revolutionäre Welle, die die kapitalistische Welt in den 10 Jahren nach 1917 erschüttert hatte, sich zum letzten Mal aufbäumte. 1927 kam es sowohl zur Nie­derlage der chinesi­schen Revolution als auch der linken Opposi­tion innerhalb der kommu­nistischen Parteien. Ein Jahr später kündigte die Kommunisti­sche Internationale ihren ei­genen Bankrott durch die Verabschiedung der berüchtigten "Theorie des Sozialismus in einem Land" an. Infolge dieser Ironie der Geschichte war es die Bour­geoisie und nicht so sehr die Arbeiterbewe­gung, die am mei­sten über die Ökonomisch-philosopischen Ma­nuskripte und deren Be­deutung sich ge­äußert hat. Insbesondere gab es eine Kontro­verse in der akademischen und linksbürgerli­chen "Theorie" hinsichtlich des angeblichen Bruchs zwischen dem "jungen" und "alten" Marx. Da Marx die philosophi­schen Manu­skripte nie selbst veröffentlichte, und da er in ihnen Ausfüh­rungen gemacht hatte, die spä­ter nicht mehr erweitert wurden, wird von einigen behauptet, daß die ÖPM einen unrei­fen, Feuerbachschen, sogar einen Hegel­schen Marx zeigen, der von dem späte­ren reifen und wissenschaftlicher arbeitenden Marx entschieden verworfen wurde. Die Haupt­vertreter dieser Richtung sind die ... Alt­stalinisten und vor allem dieser sehr ob­skure Althusser. Ihnen zufolge gab Marx die Auffassung des menschlichen Wesens, so wie sie in den ÖPM entwickelt worden war, und insbesondere den Begriff der Entfrem­dung auf.
Es sollte offensichtlich sein, daß solche Auf­fassungen nicht vom Klassenwesen des Stali­nismus getrennt werden können. Die Kritik an der entfremdeten Arbeit in den ÖPM ist eng verbunden mit einer Kritik an einem "Kasernenkommunismus", ein Kommunis­mus, in dem die Gesellschaft zu einem ab­strakten, lohnzahlenden Kapitali­sten wird. Es war  eine Auffassung vom Kommunismus, die von den damals sehr unreifen proletari­schen Strömun­gen wie den Blanquisten ver­breitet wurde. Marx verwarf diese Auffas­sung vom Kommu­nismus in den ÖPM insge­samt, denn aus sei­ner Sicht machte der Kommunismus nur einen Sinn, wenn er die Unterdrückung der schöpfe­rischen Fähig­keiten des Men­schen beendete und die Schinderei der Ar­beit zu einer freien, Ver­gnügen bereiten­den Aktivität werden ließ. Die Stalinisten dagegen zeichnen sich da­durch aus, daß für sie Sozialismus mit einer Gesell­schaft der Entbehrung und schreckli­chen Aus­beutung gleichzusetzen ist, die wir von den Bedingungen in den Fabriken und den Ar­beitslagern in den sog. "sozialistischen Län­dern" her kennen. Hier handelt es sich nicht mehr um einen Aus­druck der "Unreife" der proletarischen Be­wegung, sondern es ist ein Ausdruck der voll ent­wickelten Konterrevolu­tion. Da ent­fremdete Arbeit natürlich in dem "real exi­stierenden Sozialismus" im Osten vorhan­den war, überrascht es kaum, daß die Sta­linisten sich gegenüber dem ganzen Begriff über­haupt unwohl fühlen. Wir könnten hier jetzt damit fortfahren, daß z.B. Mar­xens Auf­fassung über die eigentliche Be­ziehung zwi­schen dem Menschen und der Natur in den ÖPM überhaupt nicht in Übereinstimmung steht mit der ökologi­schen Katastrophe, die die Praxis des Sta­linismus hier an den Tag ge­bracht. Jeden­falls läuft all dies auf den glei­chen Punkt hinaus: die Auffassung vom Kommunis­mus, die in den ÖPM entwickelt worden war, steht im direkten Gegensatz zu den Lügen vom "Sozialismus" der Stalini­sten, weil sie beide von unterschiedlichen Aus­gangspunkten ausgehen.
Am entgegengesetzten Ende des bürgerli­chen politischen Spektrums haben auch verschie­dene Varianten des liberalen Huma­nismus, protestantische Theologen und eine ganze Heerschar von Soziologen versucht, Marx in zwei Teile, zwei Ab­schnitte zu tren­nen. Aller­dings ziehen sie diesmal den warm-herzigen, romantischen, idealistischen jungen Marx ge­genüber dem kalten, mate­rialistischen Autor des "Kapitals" vor. Aber zumindest behaupten diese Leute nicht von sich, Marxisten zu sein.
In einer Schrift aus den 50er Jahren war Bor­diga einer der wenigen Stimmen in der prole­tarischen Bewegung, der versuchte, die ÖPM zu kommentieren. Und er ver­warf diese künstliche Spaltung: "Ein ande­rer weit ver­breiteter Gemeinplatz ist, daß Marx in seinen Jugendschriften ein Hege­lianer gewe­sen sei, und daß er erst später zu einem Theoretiker des historischen Ma­terialismus und mit zu­nehmenden Alter zu einem Vulgäropportuni­sten geworden sei(1)". Ge­genüber solchen Clichés vertei­digte Bordiga zurecht die Konti­nuität im Denken von Marx, das sich wie ein roter Faden von dem Zeitpunkt an erkennen läßt, als sich Marx der Sache des Proleta­riats anschloß. Aber bei seiner Reaktion gegen die verschiedenen Theorien der da­maligen Zeit, die entweder versuchten, den Marxismus als überholt dar­zustellen, oder ihn mit verschie­denen Zusät­zen auch "aufzupäppeln" wie der Existentia­lismus, verwechselte Bordiga diese Konti­nuität mit dem "Monolithismus des gan­zen Systems von seiner Geburt bis zum Tod Marx und selbst danach (die grundlegenden Kon­zepte der Invarianz, die grundlegende Ver­werfung der bereichernden Entwicklung der Parteidoktrin)" (ebenda). Diese Auffas­sung läßt den Marxismus zu einem staatlichen Dogma wie dem Islam werden, denn aus der Sicht eines wahren Moslems ist der Koran das Wort des Propheten, ge­rade weil kein einziges Komma oder Punkt an den Geboten geändert wurden, seitdem sie vom Propheten geschrie­ben wurden. Dies ist eine gefährli­che Auffas­sung, die dazu führt, daß die Bor­digisten die "wirklichen Bereicherungen" vergessen, die von der Strömung erarbeitet wurden, aus der sie hervorgegangen waren - die Fraktion der Italienischen Kommunisti­schen Linken. Und sie sind damit auf Posi­tionen zurückgefallen, die seit dem Beginn des Niedergangs des Ka­pitalismus vollkom­men überholt sind. Gegen­über der hier er­wähnten Schrift ist dies fehl­gegriffen. Wenn wir die ÖPM mit den Grund­rissen verglei­chen, die gewisserma­ßen der 2. Entwurf der gleichen großen Arbeit waren, erscheint die Kontinuität als ziemlich offen­sichtlich. Der Idee entge­gentretend, daß Marx das Konzept der Entfremdung aufgab, kann man sehen, daß sowohl das Wort als auch das Konzept immer wieder in dieser Arbeit des "reifen Marx" auftauchen, genauso wie im "Kapital" selber. Aber es gibt keinen Zweifel daran, daß die Grundrisse eine Be­reicherung ge­genüber den ÖPM darstellen. Z.B. werden einige grundlegende Fragen so wie der Unter­schied zwischen Arbeit und Arbeits­kraft be­leuchtet und auch das Geheimnis des Mehr­wertes wird aufge­klärt. Bei seiner Analyse des Problems der Entfremdung wird das Problem auch histo­risch besser darge­stellt als in den früheren Arbeiten, weil darin Bezug genom­men wird auf die Produktions­weisen, die dem Kapitalismus vorhergingen. Aus unserer Sicht besteht die richtige Herangehens­weise darin, sowohl die Konti­nuität als auch die schritt­weise Bereicherung der "Parteidoktrin" her­vorzuheben, weil der Marxismus sowohl eine tiefe historische Tradition als auch eine leben­dige Methode ist.
Wir bleiben davon überzeugt, daß das Kon­zept der Entfremdung wesentlich ist für die Ausarbeitung einer kommunisti­schen Kritik an der gegenwärtigen Gesell­schaft. Ohne eine tiefgreifende Untersu­chung des Pro­blems, das wir hier zu lösen versuchen; ohne zu begrei­fen, wie umfas­send das Problem ist, kann man hier keine Lösung formulie­ren. Deswegen werden wir hier Marxens Methode aus den ÖPM folgen, um die End­ziele der kommuni­stischen Umwälzung zu definieren, d.h. um die Umrisse einer wirk­lich menschli­chen Ge­sellschaft aufzuzeigen, müssen wir zunächst verdeutlichen, wieweit der Mensch sich von der eigenen Menschheit entfernt hat.

Das Konzept der Entfremdung - vom Mythos zur Wissenschaft

Die Auffassung, derzufolge sich der Mensch entfremdet und entfernt hat von der eigenen Macht und Kraft, ist sehr alt. Aber in allen, dem Kapitalismus vorherge­henden Gesell­schaften mußte diese Auffas­sung notwendi­gerweise in mythischen oder religiösen For­men erscheinen - insbeson­dere in dem My­thos der Vertreibung des Menschen aus ei­nem göttlichen Paradies, in dem er göttliche Kräfte besaß.
Dieser Mythos ist älter als die Klassengesell­schaften; er ist ein zentraler Punkt in den Auf­fassungen und Praktiken der primitiven kom­munistischen Gesell­schaften. Die austra­lischen Ureinwohner z.B. glaubten, daß ihre Vorfah­ren die verschwenderischen, schöpferi­schen We­sen der "Urzeit", der "Zeit der Träume" waren, und daß seit dem Ende dieser my­thischen Zeit die Macht und das Wissen der Menschen stark zurückge­gangen sind.
Wie die Religion, die daraus hervorgeht, ist der Mythos sowohl ein Protest gegen Ent­fremdung als auch ein Ausdruck der­selben. Bei beiden projiziert der Mensch die Kräfte, die tatsächlich ihm gehören, auf übernatürli­che Wesen außerhalb seiner selbst. Aber der Mythos ist die charakteri­stische Ideologie ei­ner Gesellschaft vor dem Entstehen von Klas­senspaltungen. In dieser ungeheuer lan­gen hi­storischen Epo­che gab es die Entfrem­dung nur in einer sehr embryonalen Form. Die brutalen Be­dingungen des Überlebens­kampfes brach­ten eine harte Herrschaft des Stamms über das In­dividuum hervor mittels der unver­änderten Gewohnheiten und Tradi­tionen, die von den mythischen Vorfahren entwic­kelt worden wa­ren. Aber dies ist noch keine Welt der  Klas­senherrschaft. Ideolo­gisch wird diese Lage durch einen zweiten Aspekt der "Zeit der Träume" widergespie­gelt: "Die Traumzeit" kann durch die ge­meinsamen Feste periodisch wiederherge­stellt werden, und jedes Mit­glied des Stamms besitzt eine geheime Identität und Brücke mit den Urvorfahren. Kurzum der Mensch fühlt sich noch nicht vollständig ge­trennt von sei­nen eigenen schöpferischen Kräften und Mächten.
Mit der Auflösung der primitiven Gemein­schaften und der Entwicklung der Klassenge­sellschaft spiegelte sich der Be­ginn der eigent­lichen Entfremdung in dem Auftauchen von eng religiösen Auffassun­gen wider. In Gesell­schaften wie dem alten Ägypten und Mesopo­tamien wird die nach Außen gerich­tete Form der alten zykli­schen Feste der Er­neuerung aufrechter­halten. Aber die Massen werden nun zu bloßen Beobachtern eines weit entwic­kelten Rituales, das von Priestern zele­briert wird mit dem Ziel der Verherrli­chung eines vergöttlichten Despoten. Somit war ein Gra­ben entstanden zwischen dem Menschen und den Göttern, der den wach­senden Graben zwi­schen den Menschen selbst zum Ausdruck brachte.
In den jüdisch-christlichen Religionen wird die zutiefst konservative zyklische Auffas­sung der primitiven und asiatischen Gesell­schaften er­setzt durch die revolutionäre Idee, daß das Drama der Vertreibung des Men­schen aus dem Paradies und seiner Erlösung eine stän­dige geschichtliche Weiterentwick­lung ist. Aber parallel zu dieser Entwicklung wurde der Graben zwi­schen dem Menschen und Gott na­hezu unüberwindbar. Gott befahl Adam, das Pa­radies Eden zu verlassen, ge­rade aufgrund der Sünde, daß er versucht hatte, selbst auch ein göttliches Niveau zu erreichen.
Innerhalb der westlichen religiösen Traditio­nen entstand jedoch eine Reihe von esoteri­schen und mystischen Strömungen, die die Vertreibung aus dem Paradies nicht so sehr als eine Bestrafung der Menschen infolge des Ungehorsams gegenüber einer weit ent­fernten Vaterfigur ansahen, son­dern als einen dynami­schen kosmischen Prozeß, in der der ur­sprüngliche Geist "sich selbst ver­gessen" hatte und in die Welt der Spaltung und der offen­sichtlichen Wirklichkeit einge­zogen war. Die­ser Auf­fassung zufolge war die Entfremdung zwi­schen der geschaffenen Welt und dem letzten Daseinsgrund keine absolute: für die entsprechend gebildeten Menschen be­stand weiterhin die Möglich­keit, sich an ihre ver­deckte Einheit mit dem "höchsten Geist" zu erinnern. Diese Auffas­sungen wurden z.B. von den jüdisch-kabba­listischen Traditionen und ihren zahlrei­chen christlichen, alchimisti­schen und esoteri­schen     Ablegern vertreten. Es ist bezeich­nend, daß solche Strömungen - die sehr oft in den Bereich der Ketzerei, des Pantheismus und Atheismus überwechsel­ten- mit dem Zu­sammenbruch der feudalen katho­lischen or­thodoxen Welt immer ein­flußreicher wurden  und man brachte sie, wie Engels in "Die Bauernkriege in Deutschland" aufzeigte, oft mit den sub­versiven gesellschaftlichen Be­wegungen in der Zeit des aufsteigenden Kapi­talismus in Verbindung.
Es gibt sicher eine, wenn auch wenig unter­suchte Verbindung zwischen dem Denken He­gels und einiger dieser esoteri­schen Traditio­nen, insbesondere in  den Schriften eines  ra­dikalen Protestanten, der visionäre Auffassun­gen hatte, und den Marx einmal als Jakob Boehme bezeich­nete (6). Aber He­gel war auch der am meisten fortgeschrittene Theoretiker der revolutionären Bourgeoisie und somit ein Erbe der rationalisierenden Philosophie der alten Griechen. Somit unter­nahm er einen großartigen Versuch, das ganze Problem der Entfremdung von der Ebene des My­thos und des Mystizismus her­auszulösen und es wissen­schaftlich zu stel­len. Aus Hegels Sicht bedeu­tete dies, daß das, was früher esoterisch und jeweils der geheime geistige Bereich einer pri­vilegierten Min­derheit gewesen war, bewußt klar, deut­lich und kollektiv  gemacht werden mußte: "Erst was vollkommen bestimmt ist, ist zugleich esoterisch, begreiflich, und fähig, gelernt und das Eigentum Aller zu sein. Die verständige Form der Wissenschaft ist der Al­len dargebotene und für Alle gleichge­machte Weg zu ihr" (Phänomenologie des Geistes, Vorrede S. 19, Frankfurt 1973, He­gel Werke, Bd. 2, 1832,1841).  Hegel unter­nahm somit den Versuch, die Entfremdung des Menschen von einem bewußt dialekti­schen und histori­schen Standpunkt aus zu begreifen, und Marx rechnete es ihm sogar hoch an, daß er gewisse Erkenntnisse über die Schlüsselrolle der Ar­beit in der Selbst­schöpfung, Selbstentstehung des Menschen erreicht hatte. Und trotzdem, wie Marx Feu­erbach folgend hervorhob, macht das Hegel­sche System nur ein oder zwei Schritte hin zur Wissenschaft, bevor es wieder zurück in den Mystizismus verfällt. Man kann schnell sehen, daß die Hegel­sche Auffassung von der Geschichte "als die Ent­fremdung von der absoluten Idee" eine Wie­derholung der kab­balistischen Vi­sion des ur­sprünglichen kos­mischen Falls ist. Dagegen war aus Marxens Sicht das Problem nicht die Geschichte Got­tes, son­dern der "Natur, die zum Menschen wurde", damit nicht der Über­gang von ei­nem ursprünglichen Bewußtsein in den ge­wöhnlichen Bereich der Materie, son­dern der materielle Aufstieg vom unbewußten zum bewußten Sein.
Als Hegel sich mit der Entfremdung als ei­nem Aspekt der konkreten menschlichen Er­fahrung befaßte, wurde diese erneut zeit- und ge­schichtslos dargestellt, weil als eine absolute Kategorie der menschlichen Bezie­hungen zu der äußeren Welt. Mit Marxens Begriffen: Hegel verwechselte Vergegen­ständlichung, die menschliche Fähigkeit, zwischen Subjekt und Objekt zu trennen - mit Entfremdung. Wenn also die Entfrem­dung zwischen dem Men­schen und der Welt überhaupt überwunden werden könnte, dann könnte dies nur im ab­strakten Bereich der "Gedanken", dem Be­reich der Welt der Phi­losophen geschehen, die aus Marxens Sicht nichts anderes als eine Wi­derspiegelung der Entfremdung war. Aber Marx überließ das Konzept der Entfrem­dung nicht den Hegelia­nern. Anstelle des­sen ver­suchte er es auf die materiellen Grundlagen zurückzuführen, in­dem er ih­ren Ursprung in der menschlichen Gesell­schaft ansiedelte. Feuerbach hatte er­klärt, daß Hegels absolute Idee, wie alle vorheri­gen Ausdrücke oder Er­scheinungen Gottes in Wirklichkeit die Vor­stellungen des Menschen waren, der unfähig sei, seine ei­gene Macht zu verwirklichen, da es sich um einen von sich selbst entfremdeten Menschen handelte. Aber Marx ging wei­ter, als er die Tatsache anerkannte, daß "die welt­liche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wol­ken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerris­senheit und dem Sich­selbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlagen zu erklären" (F. Engels, Re­digierte Thesen von Marx über Feuer­bach" Nr. 4). Das Konzept der Entfrem­dung blieb für Marx ein Schlüssel­element, denn es sollte zu einer Waffe bei seinem An­griff auf die "weltliche" Basis, d.h. auf die bürgerliche Gesellschaft werden, und vor al­lem gegen die bürgerliche politi­sche Ökono­mie. Mit dem siegreichen Einzug der bürgerli­chen Gesellschaft konfrontiert, mit all den "Wundern des Fortschritts", die sie mit sich gebracht hatte, benutzte Marx das Konzept der Entfremdung, um aufzuzei­gen, was all dieser Fortschritt für die wirkli­chen Produzenten des Wohl­stands, die Ar­beiter, Proletarier bedeu­tete. Er zeigte, daß der wachsende Wohlstand der kapitalisti­schen Gesellschaft tatsächlich die zuneh­mende Verarmung der Arbeiter mit sich brachte, nicht nur deren physische Verar­mung, sondern die Verarmung ihres ganzen  "inneren Lebens". "Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, umso mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innre Welt, um so we­niger ge­hört ihm zu ei­gen. Es ist ebenso in der Reli­gion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Ge­genstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Ge­genstand. Je grö­ßer also diese Tätigkeit, umso gegenstandslo­ser ist der Arbeiter. Was das Produkt sei­ner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer also dieses Produkt, je weniger ist er selbst. Die Entäuße­rung des Arbeiters in sei­nem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu ei­nem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm exi­stiert und eine selbständige Macht ge­genüber ihm wird, daß das Leben, was er dem Ge­genstand verliehen hat, ihm feind­lich und fremd gegenübertritt" (ÖPM, S. 77) (4)
Hier ist Marxens Vorgehensweise eindeu­tig: gegen die Abstraktionen Hegels (die eine kari­katurale Form bei den Arbeiten der jun­gen Hegelianer um Bruno Bauer annahm) siedelte Marx sein Konzept der Entfremdung in den "gegenwärtigen öko­nomischen Alltagstatsa­chen" an. Er zeigte auf, daß Ent­fremdung ein aus dem Lohn­arbeitsverhältnis, aus der kapi­talistischen Welt nicht wegzu­schaffendes und wegzu­denkendes Teil ist, was dazu führt, je mehr der Arbeiter produ­ziert, desto mehr be­reichert er nicht sich selbst, sondern das Ka­pital, diese über ihm stehende fremde Macht.
So hört die Entfremdung auf ein bloßer Be­wußtseinszustand zu sein, ein innewohnen­der Aspekt der Beziehungen der Menschen zur Welt (in diesem Fall könnte sie nie überwun­den werden) und wird zu einem be­sonderen Produkt der menschlichen, ge­schichtlichen Entwick­lung. Die Entfremdung begann nicht mit dem Kapitalismus: die Lohnarbeit, wie Marx in den "Grundrissen" aufzeigte, ist nur die höchste und Endform der Entfrem­dung. Aber weil sie ihre höchst entwickelte Form ist, lie­fert sie auch den Schlüssel für das Begreifen der Geschichte der Entfrem­dung im allgemei­nen, ebenso wie das Auftauchen der bürgerli­chen politi­schen Ökonomie es möglich machte, die ökono­mischen Grundlagen der vorherigen Pro­duktionsformen zu untersu­chen. Die Wur­zeln der Entfremdung werden unter den bürgerlichen Produktionsbedingun­gen offen­gelegt: sie fallen nicht irgendwo aus den Wolken oder aus den Vorstellungen der Menschen schlechthin, sondern sie lie­gen im Arbeitsprozeß, in den konkreten und prakti­schen Beziehungen zwischen den Menschen untereinander und zwischen den Menschen und der Natur. Nachdem dieser theoretische Durchbruch geschafft war, wurde es dann möglich aufzuzeigen, wie die Entfremdung des Menschen bei der Arbeit nach Außen in alle anderen Ak­tivitäten vordrang. Dadurch wird auch die Möglichkeit der Untersuchung der ge­schichtlichen Ursprünge der Entfrem­dung und ihrer Entwicklung in den vorherge­henden Gesellschaften möglich. Obgleich man betonen muß, daß Marx und die marxi­stische Bewegung hier nur die Grundlagen für solch eine Untersuchung geliefert haben, denn an­dere Aufgaben wa­ren vorrangiger als diese.

Die vier Gesichter der Entfremdung

Obgleich Marxens Theorie der Entfrem­dung überhaupt keine "abgeschlossene" Auffas­sung war, zeigten seine Schriften in den ÖPM, daß er keinesfalls darauf ab­zielte, beim Konzept der Entfremdung irgendwel­che Unklarheiten oder Unsicher­heiten zu belassen. In dem Ka­pitel über "entfremdete Arbeit" untersuchte er des­halb das Problem sehr präzise, wobei er 4 unterschiedliche, aber miteinander verbun­dene Aspekte der Entfremdung feststellte. Der erste Aspekt ist der, der schon in dem vorherigen Zitat aus den ÖPM aufgegriffen wurde und kurz an einer anderen Stelle wieder zusam­mengefaßt wird: "Das Ver­hältnis des Arbeiters zum Produkt der Ar­beit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand. Dies Verhältnis ist zugleich das Verhältnis zur sinnlichen Außen­welt, zu den Naturgegenständen als einer frem­den,  ihm feindlich gegenüberste­henden Welt" (ÖPM, S. 79).
Unter den Bedingungen der Entfremdung werden die Produkte der menschlichen Ar­beit gegen den Menschen selbst gerichtet, und ob­gleich dies auch auf vorhergehende Formen der Klassenausbeutung zutrifft, er­reichte dies im Kapitalismus eine neue Stufe. Der Kapita­lismus ist nämlich eine völlig un­persönliche, unmenschliche Macht, die von den Menschen selbst ge­schaffen wird, aber gleichzeitig deren Kontrolle vollkommen entweicht und die ganze Gesellschaft immer wieder in katastro­phale Krisen stürzt. Diese Defini­tion findet of­fensichtlich Anwendung auf den unmittelbaren Ablauf der Produk­tion: Kapital - in Gestalt der Maschinen und Technologie - beherrscht die Arbeiter, und anstatt seine Freizeit zu erhö­hen, wird seine Erschöpfung, der Verschleiß seiner Arbeits­kraft nur verschärft. Auch stellt die Kritik der Lohnarbeit, die per Definition entfrem­dete Arbeit ist, sich all den Versu­chen der Bourgeoisie entgegen, die beiden zu tren­nen. Z.B. die trügerischen Themen, die in den 60er Jahren sehr populär waren, und darauf abzielten, eine größere job sa­tisfaction, Zu­friedenheit mit der Arbeit zu schaffen, indem die für die Fabrikarbeit typische extreme Spe­zialisierung reduziert wurde durch die Schaf­fung von Ar­beitsteams oder anderen "Innovationen" dieser Art. Aus marxistischer Sicht ändert all dies nichts an der Tatsache, daß die Arbeiter Gegenstände produzieren, über die sie keine Kontrolle besitzen, und die nur dazu dienen, andere auf ihre Kosten zu bereichern, und dies bleibt gültig, egal wie "gut" die Arbeiter angeblich bezahlt sein sol­len. Aber diese ganze Problematik er­streckt sich viel weiter als der unmittelbare Produkti­onsprozeß. Es wird z.B. insbeson­dere in der Zeit der kapitalistischen Deka­denz immer of­fensichtlicher, daß der ge­samte bürokratische und militärische Ap­parat des Kapitals ein sol­ches Ausmaß er­reicht hat, daß er die Men­schen wie eine große Dampfwalze erdrücken kann. Die Atom­bombe verdeutlicht diese Ten­denz am klar­sten. In einer Gesellschaft, die von un­menschlichen Kräften - nämlich dem Markt und der kapitalistischen Konkurrenz - regiert wird, sieht es so aus, daß all das, was die Menschen produzieren, deren Kontrolle ent­weicht, und daß die Men­schen nunmehr von der Ausrottung be­droht sind. Das Gleiche trifft im Kapitalis­mus zu hinsichtlich des Ver­hältnisses Mensch - Natur: natürlich hat der Kapita­lismus als solcher nicht die Entfrem­dung zwischen Menschen und Natur geschaf­fen, denn dies hat viel tiefergreifende Ur­sprünge. Aber er trieb diesen Graben auf sei­nen Höhepunkt. Indem die Feindschaft zwi­schen dem Menschen und der Natur im­mer weiter ausgedehnt wurde, indem die ganze Welt der Natur auf den Status einer Ware re­duziert wurde, beinhaltet die Ent­wicklung der kapitalistischen Produktion jetzt die Gefahr, daß unsere Lebensgrundla­gen zerstört werden.  (siehe unsere Interna­tionale Revue, Nr.13, "Ökologie: Der Kapi­talismus vergiftet die Erde")
Die von Marx aufgegriffene zweite Dimen­sion der Entfremdung zeigt "sich nicht nur im Re­sultat, sondern im Akt der Produk­tion, inner­halb der produzierenden Tätig­keit selbst... Wenn also das Produkt der Arbeit die Entäu­ßerung ist, so muß die Produktion selbst die tätige Entäußerung, die Entäuße­rung der Tä­tigkeit, die Tätig­keit der Entäu­ßerung sein.... Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, son­dern verneint, nicht wohl, sondern un­glücklich fühlt, keine freie physische und geistige Ener­gie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Ar­beit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht ar­beitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwil­lig, sondern gezwungen, Zwangs­arbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung ei­nes Be­dürfnisses, sondern sie ist nur ein Mit­tel, um die Bedürfnisse außer ihr zu befriedi­gen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflo­hen wird" (S. 78/79).
Jeder, der irgendeine "normale" Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft gehabt hat, aber vor allem jeder, der jemals in ei­ner Fa­brik ge­arbeitet hat, kann sich in den oben zi­tierten Aussagen wiederfinden, es nachvoll­ziehen und ebenso nachempfinden. In einer kapitalisti­schen Gesellschaft, die seit langem ihre Herr­schaft über die Welt errichtet hat, wird die Tatsache, daß die Arbeit eine ver­haßte Sa­che für die große Mehrzahl der Mensch­heit ist, fast als ein Naturgesetz dar­gestellt. Aber für Marx und den Marxismus war und ist dies überhaupt nichts Natürli­ches. Bei früheren Produktionsformen (z.B. pri­mitive Gemein­schaftsarbeit, Handwerks­arbeit) war diese Spaltung zwischen der Handlung der Produk­tion und der Sinnes­freude noch nicht so weit entwickelt. Dies war ein Beweis dafür, daß die vollständige Trennung, die das Kapital herbei­geführt hat, eine historische war, aber kein natür­liches Ergebnis. Sich auf diese Erkennt­nis stützend, vermochte Marx die wirklich "skandalöse" Qualität dieser Situation, die durch die Lohnarbeit bewirkt worden war, aufzudec­ken. Und dies führt zum nächsten Aspekt der Entfremdung: der Entfremdung vom Gat­tungsleben.
Dieser 3. Aspekt der Marxschen Theorie der Entfremdung ist sicherlich der tiefst­greifende und am wenigsten verstandene. In dem Teil des gleichen Kapitels be­hauptet Marx, daß der Mensch sich vom menschlichen Wesen ent­fremdet hat. Aus der Sicht Althussers und an­derer Kritiker des "jungen Marx" sind diese Ideen  ein Beweis dafür, daß die Ma­nuskripte von 1844 keinen entscheidenden Bruch mit Feuerbach und der radikalen Phi­losophie im allgemeinen bedeuten. Wir stimmen damit nicht überein. Marx verwarf bei Feuerbach den Begriff einer "festgeformten und unverän­derlichen men­schlichen Natur". Da die Natur selbst nicht festgefügt und unveränderbar ist, wäre es si­cherlich eine theoretische Sack­gasse, tatsächlich eine Form der Abgötterei. Mar­xens Auffassung vom menschlichen We­sen entsprach dem überhaupt nicht. Sie war im Gegenteil dialektisch. Der Mensch war noch ein Teil der Natur. Die Natur war "der anor­ganische Körper des Menschen", wie er es in einem Teil der ÖPM formu­lierte. Der Mensch war immer noch eine Schöpfung der Instinkte, wie er es an einer anderen Stelle in der glei­chen Arbeit umriß (12). Aber der Mensch un­terschied sich von allen anderen Schöpfungen der Natur durch seine Fähig­keit, diesen Kör­per durch bewußte schöpfe­rische Aktivitäten umzuwälzen. Das tiefst­greifende menschli­che Wesen, das Gat­tungswesen, wie Marx es for­mulierte, be­stand darin, daß der Mensch als Schöpfer, als Umwälzer der Natur tätig wer­den konnte.
Vulgärkritiker des Marxismus behaupten manchmal, daß er den Menschen auf den "homo faber" reduzierte, der ein reines Ar­beitstier, nur eine wirtschaftliche Kate­gorie sei. Aber diese Kritiker werden durch die Charakteristiken der Lohnarbeit verblendet. Als er den Menschen als einen bewußten Pro­duzenten darstellte, führte ihn Marx ei­gentlich zum "Tor des Para­dies", denn ist Gott nichts anderes als das entfremdete Bild des Men­schen, des schöpferischen Men­schen? Für Marx war der Mensch nur ein Mensch, wenn er in Freiheit produziert. Da­gegen "produziert das Tier "nur unter der Herrschaft des unmit­telbaren physischen Be­dürfnisses, während der Mensch selbst frei vom physi­schen Be­dürfnis produziert und erst wahr­haft produ­ziert in der Freiheit von demsel­ben"(S. 81).
Dies ist sicherlich eine der radikalsten Aussa­gen, die Marx jemals machte. Wäh­rend die kapitalistische Ideologie meint, es sei  eine ewige Tatsache der Natur, daß Ar­beit eine Form der geistigen und körperli­chen Folter sei, behauptete Marx, daß der Mensch nur ein Mensch wird, nicht nur, in­dem er einfach produziert, sondern wenn er produziert aus reiner Freude an der Produk­tion, wenn er frei ist von der Peitsche der unmittelbaren physi­schen Bedürfnisse. An­dernfalls führt der Mensch nur eine Existenz wie ein Tier. En­gels hob Jahre später den gleichen Punkt bei seiner Schlußfolgerung seines Textes "Sozialismus - von der Utopie zur Wissen­schaft", als er sagte, daß der Mensch sich nicht wirklich vom Rest des Tierreiches unter­scheidet, solange er nicht in das Reich der Freiheit, die höchste Stufe der kommunisti­schen Gesellschaft einge­treten ist.
Man könnte sogar meinen, daß die entfrem­dete Arbeit den Menschen auf eine Stufe un­terhalb der Tierwelt herabdrückt: "Indem da­her die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produk­tion entreißt, entreißt sie ihm sein Gat­tungsleben, seine wirkliche Gattungsge­genständlichkeit, und verwandelt seinen Vorzug vor dem Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.

Ebenso indem die entfremdete Arbeit die Selbstätigkeit, die freie Tätigkeit, zum Mit­tel herabsetzt, macht sie das Gattungsleben des Menschen zum Mittel seiner physischen Exi­stenz" (ÖPM S. 82)
Mit anderen Worten, die Fähigkeit des Men­schen zur bewußten Arbeit läßt ihn zum Men­schen werden und ist das, was ihn von allen anderen Schöpfungen unter­scheidet. Aber un­ter den Bedingungen der Entfrem­dung wird dieser Fortschritt zu ei­nem Rück­schritt. Die Fähigkeit des Men­schen, das Subjekt vom Objekt zu trennen, das ein grundlegendes Moment in dem spezifisch menschlichen Be­wußtsein ist, wird in eine Beziehung der Feindschaft zur Natur, zu der sinnlichen ob­jektiven Welt pervertiert. Gleichzeitig hat die entfrem­dete Arbeit, ins­besondere die kapitali­stische Lohnarbeit die grundlegendsten und die am meisten geprie­senen Eigen­schaften - seine spontanen, freien, bewuß­ten Aktivitäten - zu einem blo­ßen Überle­bensinstrument wer­den lassen. Ja seine Aktivitäten sind zu etwas geworden, die auf dem Markt gekauft und verkauft wer­den können. Kurzum das "Normale" der Arbeit im Kapitalismus wird zur höchstent­wickelten Verzerrung und Ver­unstaltung des menschlichen Gattungswesen.
Der vierte Aspekt der Entfremdung geht di­rekt aus den vorherigen drei hervor. "Eine unmit­telbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstä­tigkeit, seinem Gattungswe­sen ent­fremdet ist, ist die Entfremdung des Men­schen von dem Menschen. Wenn der Mensch sich selbst ge­genübersteht, so steht ihm der andere Mensch gegenüber." (ÖPM, S. 82)
Die Entwicklung der Arbeit in ihrer voll aus­gereiften Form beinhaltet ein Ausbeutungsver­hältnis: die Aneignung der Mehrarbeit durch eine herrschende Klasse. In den ersten Klas­sengesellschaften (Marx erwähnte Ägypten, Indien, Peru; Beispiele, die er später als asiati­sche Produktionsfor­men einstufte) waren un­geachtet der Tatsa­che, daß dieser Mehrwert formell Göttern geweiht war, die wirkliche fremde Macht, die über die Arbeit der Ausge­beuteten herrschte, keine Götter, sondern Men­schen.

"Das fremde Wesen, dem die Arbeit und das Produkt der Arbeit gehört, in dessen Dienst die Arbeit und zu dessen Genuß das Produkt der Arbeit steht, kann nur der Mensch selbst sein" (ÖPM, S. 83)
Diese grundlegende Spaltung im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens schuf unver­meidbar eine grundlegende Entfremdung der Menschen untereinander. Vom Stand­punkt der herr­schenden Klassen in irgend­einer Klassenge­sellschaft sind die Erzeuger des Wohlstands, die Ausgebeuteten jeweils nur Kräfte, jeweils nur ein Gut, die nur zu ihrem Nutzen bestehen (obgleich man hier wieder sagen muß, daß nur unter dem Ka­pitalismus diese Entfremdung ih­ren Höhe­punkt erreicht hat, da in dieser Pro­duktionsform die Aus­beutungsverhältnisse ih­ren an Personen ge­bundenen Charakter verlie­ren und aus­schließlich zu un­menschlichen und mechani­schen Verhält­nissen werden).  Vom Stand­punkt der aus­gebeuteten Klasse werden die Herrscher der Gesellschaft auch hinter ei­nem Nebel von Verschleierungen versteckt, die einmal als "Götter", ein andermal als "Teufel", je nach den Umständen erschei­nen. Erst als das proletarische Klassenbe­wußtsein ent­stand, das ja die Verwerfung aller ideologi­schen Formen der Wahrneh­mung ist, wurde es der ausgebeuteten Klasse möglich, ihre Aus­beuter in einem klaren Licht zu erkennen, nämlich als reine Ergeb­nisse der gesellschaft­lichen und hi­storischen Beziehungen (2).
Aber diese Spaltung wird nicht auf das di­rekte Verhältnis zwischen Ausbeutern und Ausge­beuteten beschränkt. Aus Marxens Sicht ist das Typische der Gattung Mensch kein iso­liertes Wesen, das in jedem einzel­nen Indivi­duum enthalten ist, sondern es ist das Ge­meinwesen. Dies ist ein Schlüs­selbegriff, der zeigt, daß das menschliche Wesen zu­tiefst ge­sellschaftlich ist, und daß das Ge­meinwesen die einzig wirkliche Exi­stenzform ist. Der Mensch ist kein isolier­ter, individu­eller Er­zeuger. Per Definition ist er ein gesellschaftli­cher, kollektiver Produzent. Dennoch - dieses Element wird in den Grundrissen besonders ausführlich entwic­kelt -kann man die Ge­schichte der Menschen seit Stammeszeiten als eine fortgesetzte Auflösung der ursprünglichen gesellschaftli­chen Verbindungen ansehen, die die ersten menschlichen Gemeinschaf­ten zu­sammenhielten. Diese Entwicklung ist eng verbunden mit der Entfaltung der Warenbe­ziehungen, denn diese sind vor allem der auf­lösende Faktor der Existenz einer Gemein­schaft. Dies konnte man schon in den Zeiten der Antike beobach­ten, in denen das bis dahin unerreichte Wachsen der Handels­beziehungen die alten Gentilverbindungen untergraben hatte und in der Gesellschaft eine Entwicklung des Krieges, einen Kampf, wo "Jeder gegen Jeden" antritt em­porsprießen ließ. Diese Tatsache wurde von Marx schon sehr früh wie z.B.in seiner Dok­torarbeit über die griechische Philosophie her­vorgehoben. Aber die Vorherrschaft der Wa­renbeziehungen erreichte ihren Höhepunkt natürlich erst im Kapitalismus, der ersten Ge­sellschaft, in der die Warenbeziehungen sich im  eigentlichen Herzen des gesell­schaftlichen Organismus voll ausbreiteten. Dieser Aspekt der kapitalistischen Gesell­schaft als die Gesell­schaft des weltweiten, universellen Egoismus, in der die Konkur­renz einen Graben zwischen den Men­schen entstehen läßt, wodurch jeder mit jedem kämpft, war insbesondere schon in der frü­hen Schrift "Zur Judenfrage" aufgewor­fen worden, in der Marx seine erste Kritik an der bürgerlichen Auffas­sung einer rein politi­schen Befreiung äu­ßerte. "Keines der soge­nannten Menschen­rechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Men­schen, wie er Mitglied der bürgerlichen Ge­sellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatin­teresse und seine Privatwillkür zurückgezoge­nes und vom Gemeinwesen ab­gesondertes In­divdiuum ist. Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen auf­gefaßt wurde, er­scheint vielmehr das Gat­tungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuuen äußerli­cher Rahmen, als Beschränkung ihrer ur­sprünglichen Selb­ständigkeit" (Zur Juden­frage, MEW Bd. 1, S. 366)
Diese Atomisierung des Menschen in der bür­gerlichen Gesellschaft ist ein unabdingba­rer Schlüssel zur Untersuchung all der gesell­schaftlichen Fragen, die au­ßerhalb des unmit­telbaren Produktionspro­zesses liegen: das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und der Institution der Fa­milie, das Phäno­men der "Einsamkeit der Massen", das so viele Sozio­logen vor Rät­sel gestellt hat und das so cha­rakteristisch zu sein scheint für die Zivilisation dieses Jahrhundert und im all­gemeinen der ganze Bereich der zwischen­menschlichen Be­ziehungen. Aber sie hat auch eine direkte Auswirkung für den Kampf des Proletari­ats, denn sie ist von Bedeutung für die Art und Weise, wie der Kapitalismus das Pro­letariat selbst spaltet und jeden Ar­beiter zu einem Konkurrent gegenüber den anderen werden läßt; wodurch die in dem Proleta­riat innewoh­nende Tendenz zur Ver­einigung bei der Ver­teidigung seiner ge­meinsamen Interessen ge­gen die kapitalisti­sche Ausbeutung geschwächt wird.
Das Phänomen der Atomisierung ist beson­ders heute sehr weit entwickelt, d.h. in der End­phase der kapitalistischen Dekadenz, der Phase des allgemeinen Zusammenbre­chens der gesellschaftlichen Beziehungen. Wie wir in zahlreichen anderen Texten (3) hervorge­hoben haben, wird diese Phase vor allem ge­prägt durch die Flucht in den Individualis­mus und ein Verhalten des "jeder für sich selbst", und durch Ver­zweiflung, Selbst­mord, Drogenab­hängigkeit, Wahnsinn usw., ein Ausmaß wie noch nie zuvor in der Ge­schichte angenom­men haben. In dieser Phase der Gesellschaft, deren Motto Thatchers Parole "eine Gesell­schaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen und deren Familien" ist tatsächlich - wie die bluti­gen Ereignisse in der ehemaligen Sowjetunion beweisen - die eines weltweiten Kannibalis­mus, in der Mas­sen von Menschen in die irra­tionalsten und mörderischsten Konflikte, Po­grome, Bruder­kämpfe und Kriege getrieben wer­den. Da­durch entsteht eine direkte Bedro­hung für die Zukunft der Menschheit selbst. Es ist über­flüssig zu sagen, daß die Wurzeln dieser Ir­rationalität in der Ent­fremdung, d.h. im Her­zen der bürgerli­chen Gesellschaft selbst zu suchen sind, und daß ihre Lösung nur in de­ren Zentrum durch eine radikale Änderung der gesell­schaftlichen Produktionsverhält­nisse selbst liegt.

Die Entfremdung der Arbeit ist die Voraussetzung für die Befreiung

Wir dürfen nicht vergessen, daß Marx die Theorie der Entfremdung nicht entwic­kelte, um die Armut, die er um sich herum sah, zu bejammern, oder die Geschichte der Mensch­heit so wie es viele Arten des "wahren" und feudalen Sozialismus taten, als eine bedau­ernswerten Sturz aus dem ur­sprünglichen Zu­stand des Reichtums darzu­stellen. Aus Mar­xens Sicht war die Entfrem­dung des Men­schen das notwen­dige Ergeb­nis einer gesell­schaftlichen Entwicklung, und als solches be­hielt sie schon in sich den Keim für ihre ei­gene Überwindung: "Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert wer­den, damit es seinen in­neren Reichtum aus sich herausgebäre" (ÖPM, S. 103). Aber die Schaffung dieses äußeren Wohl­stands, der au­ßerhalb der Reichweite und des Zugriffs der­jenigen liegt, die ihn auch geschaffen haben, macht es da­mit auch für den Menschen mög­lich, daß sie aus der Entfremdung in das Reich der Frei­heit hinübertreten. Wie Marx es in den Grund­rissen formulierte: "Daß die äußerste Form der Entfremdung, worin, im Verhält­nis des Kapitals zur Lohnarbeit, die Arbeit, die produktive Tätigkeit zu ihren eigenen Bedin­gungen und ihrem eigenen Produkt er­scheint, ein notwendiger Durchgangs­punkt ist, und da­her an sich, nur noch in verkehr­ter, auf den Kopf gestellter Form schon ent­hält die Auflö­sung aller bornier­ten Voraus­setzungen der Produktion, und vielmehr die unbedingten Voraussetzungen der Produk­tion schafft und herstellt, daher die vollen materiellen Bedin­gungen für die totale, uni­verselle Entwicklung der Pro­duktivkräfte des Individu­ums..."(Grundrisse, S. 422) (5)
Hier muß man zwei Aspekte beachten: er­stens in Anbetracht der bislang unerreich­ten Pro­duktivität der Arbeit, die in der kapitalisti­schen Produktionsweise verzeich­net wird, kann der alte Traum von einer Ge­sellschaft des Überflusses, in der alle Men­schen und nicht nur einige wenige Privile­gierte das Ver­gnügen haben, sich der "totalen, universellen Entwicklung" ih­rer schöpferischen Kräfte zu widmen, auf­hören ein Traum zu sein, um Wirklichkeit zu wer­den. Aber die Möglichkeit des Kommunis­mus ist nicht nur eine Frage ei­ner rein tech­nischen Möglichkeit. Sie ist vor allem eine gesellschaftliche Möglich­keit, die sich ent­wickelt hat aufgrund der Existenz ei­ner Klasse, die ein materielles Interesse daran hat, daß diese Möglichkeit verwirklicht wird. Und hier zeigt Marxens Theorie der Entfrem­dung ebenfalls, daß sowohl trotz und aufgrund der Entfrem­dung, unter der das Proletariat in der bür­gerlichen Gesellschaft leidet, das Pro­letariat gezwungen ist, gegen seine Existenz­bedingungen Sturm zu laufen: "Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfrem­dung wohl und bestätigt, weiß die Ent­fremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Exi­stenz; die zweite fühlt sich in der Entfrem­dung ver­nichtet, erblickt in ihr ihre Ohn­macht und die Wirklichkeit ei­ner un­menschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu ge­brauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ih­rer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssitua­tion, welche die offenherzige, entschie­dene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, ge­trieben wird" (Marx & Engels, "Die heilige Familie", IV. Kapitel, S. 37, MEW Bd 2).
Die Theorie der Entfremdung ist nichts, wenn sie keine Theorie des Klassenwider­standes ist, eine Theorie der Revolution, der historischen Kämpfe für den Kommu­nismus. Im nächsten Artikel werden wir uns mit den ersten Umris­sen einer kom­munistischen Ge­sellschaft befas­sen, die Marx aus dieser Kri­tik an der kapita­listischen Entfremdung "ableitete".

CDW

(1) Bordiga, "Kommentare zu den Manuskrip­ten von 1844", in "Bordiga und die Leiden­schaft des Kommunismus", von Jacques Ca­matte, Edition Spartacus , 1974,),
(2) siehe insbesondere Lukacs "Geschichte und Klassenbewußtsein" sowie die Bro­schüre der IKS "Klassenbewußtsein und kommunisti­sche Organisationen"
(3) siehe "Zerfall - die letzte Phase der kapita­listischen Gesellschaft" in Internatio­nale Re­vue Nr. 13
(4) Marx-Engels Studienausgabe II, Frank­furt 1966,
(5) Grundrisse, MEW 42,

 

 

Der Kommunismus - Kein schönes Ideal, sondern eine Notwendigkeit [Serie I - Teil 5]

1848: Der Kommunismus als politisches Programm

Die zwei vorausgegangenen Artikel dieser Reihe (1) haben sich weitgehend auf die Öko­nomisch- und Philosophischen Manu­skripte (ÖPM) von 1844 konzentriert, weil letztere eine rei­che Ader mit Material zum Problem der ent­fremdeten Arbeit und zu den höchsten Zie­len des Kommunismus waren, wie sie von Marx ins Auge gefaßt wurden, als er sich erstmalig einer proleta­rischen Bewe­gung an­schloß. Aber auch wenn Marx schon 1843 das moderne Pro­letariat als den Träger der kom­munistischen  Umwälzung identifi­zierte, entwickelten die ÖPM hinsichtlich der praktischen so­zialen Bewegung, die von der Gesellschaft der Entfremdung in die echte menschliche Ge­meinschaft führt, noch nicht ein so genaues Bild. Diese fun­damentale Weiterentwicklung in Marx' Denken sollte durch das Zusammentreffen zweier vitaler Elemente eintreten: die Erar­beitung der Methode des historischen Mate­rialismus und die offenkundige Politi­sierung des kommuni­stischen Projekts 

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Die wirkliche Entwicklung der Geschichte

Die ÖPM enthalten bereits etliche Reflexio­nen über die Unterschiede zwi­schen euda­lismus und Kapitalismus, aber teilweise ver­mitteln sie ein irgendwie stati­sches Bild von der kapitali­stischen Gesell­schaft. Das Kapital und die mit ihm ver­knüpfte Entfremdung er­scheinen im Text manchmal als einfach exi­stierend, ohne wirkliche Erklärung ihres Entstehens. Infolge­dessen bleibt auch der aktuelle Pro­zeß des Niedergangs des Kapita­lismus eher verschwommen. Nur ein Jahr später je­doch hatten Marx und Engels in der Deut­schen Ideologie einen zusammenhän­genden Überblick über die praktischen und objektiven Grundlagen der geschichtlichen Entwicklung (und damit der mannigfaltigen Ebenen in der Entfremdung der Mensch­heit) entworfen. Die Geschichte war nun deutlich als eine Abfolge von Pro­duktionsweisen, vom Stammeskommunis­mus über die antike Gesellschaft bis hin zu Feuda­lismus und Ka­pitalismus, dargestellt; und das dynamische Element in dieser Entwicklung war nicht mehr irgendeine Idee, irgendeine Überzeu­gung der Men­schen, sondern die ma­terielle Produktion von Lebensbedürfnissen.
"Wir müssen .... damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Exi­stenz, also auch aller Geschichte konsta­tieren, nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um 'Geschichte machen' zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch eini­ges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeu­gung der Mittel zur Befriedi­gung dieser Be­dürfnisse, die Pro­duktion des materiellen Le­bens selbst".(MEW 3 S.28)
Diese einfache Wahrheit war die Grund­lage für das Verständnis, daß beim Wandel von ei­ner Gesellschaftsform zur anderen ".... eine bestimmte Produktionsweise oder indu­strielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesell­schaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine 'Produktivkraft', daß die Menge den Men­schen zugänglichen Produktivkräfte den ge­sellschaftlichen Zustand bedingt und also die 'Geschichte der Menschheit' stets im Zusam­menhange mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß".(MEW 3 S.30)
Von diesem Standpunkt aus hörten die Ideen und Kämpfe zwischen den Ideen, in der Poli­tik, für Moral und Religion auf, die bestim­menden Faktoren in der historischen Ent­wicklung zu sein:

"D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbil­den, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, ge­dachten, eingebildeten, vorge­stellten Men­schen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses darstellt .... Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußt­sein" (alle Zitate aus Die Deutsche Ideolo­gie, I. Feu­erbach MEW 3 S.26f).
Am Schlußpunkt dieser unermeßlichen histori­schen Entwicklung, so hob die Deut­sche Ideologie hervor, ist der Kapitalismus so wie die vorausgegangenen Produktions­weisen dazu verdammt zu verschwinden, nicht wegen seiner moralischen Verfehlun­gen, sondern weil seine inneren Widersprü­che ihn in die Selbstzerstörung treiben und weil er einer Klasse zur Ent­stehung verhalf, die in der Lage ist, ihn durch eine höhere Form der sozialen Or­ganisation abzulösen:
"... In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktions­kräfte und Verkehrsmittel her­vorgerufen wer­den, welche unter den be­stehenden Verhältnis­sen nur Unheil an­richten, welche keine Pro­duktionskräfte mehr sind, sondern Destrukti­onskräfte (Maschinerie und Geld) - und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse her­vorgerufen wird, welche alle La­sten der Ge­sellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vor­teile zu genießen, welche aus der Gesell­schaft heraus­gedrängt, in den ent­schiedensten Gegensatz zu allen andern Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschafts­mitglieder bil­det und von der das Bewußtsein über die Not­wendigkeit einer gründlichen Re­volution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht ...." (ebenda MEW 3 S.69).
Im Endeffekt ist "der Kommunismus für uns", in schroffem Gegensatz zu all den uto­pischen Visionen, die den Kommunis­mus als statisches Ideal ohne jeden Bezug zum tatsächlichen Prozeß der historischen Evolu­tion ansahen, "nicht ein Zustand, der herge­stellt werden muß, wonach die Wirk­lichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewe­gung, wel­che den jetzigen Zu­stand auf­hebt".(ebenda S.35)
Nachdem sie den allgemeinen Weg und Rah­men festgelegt hatten, konnten Marx und En­gels zu einer detaillierteren Prüfung der be­sonderen Widersprüche der kapitali­stischen Gesellschaft schreiten. Auch hier trug die in den ÖPM enthaltene Kritik an der bürgerli­chen Ökonomie viel zum Fun­dament bei, auf das Marx immer und im­mer wieder zurück­griff. Aber mit der Entwicklung des Kon­zeptes des Mehrwer­tes war ein entscheiden­der Schritt getan, der es möglich machte, die Entlarvung der kapitalistischen Entfremdung mit den trif­tigsten ökonomischen Tatsachen, mit dem Einmaleins der täglichen Ausbeu­tung zu un­termauern. Dieses Konzept be­schäftigte Marx natürlich in vielen seiner späteren Werke (Grundrisse, Das Kapital,  Theo­rien über  Mehrwert), welche wich­tige Klärungen zum Thema beinhalteten - ins­besondere die Unter­scheidung zwischen Arbeit und Arbeitskraft. Nichtsdestotrotz waren die wesentlichen Punkte des Konzep­tes bereits in "Das Elend der Philo­sophie" und in "Lohnarbeit und Kapital" 1847 geschrie­ben, umrissen worden.
Die späteren Schriften sollten auch das Ver­hältnis zwischen der Gewinnung und Realisie­rung von Mehrwert und den periodi­schen Überproduktionskrisen, die die kapi­talistische Gesellschaft von ihrer Gründung an alle zehn Jahre durchschüt­telten, gründli­cher studieren. Aber Engels hatte bereits 1844 in seiner Kritik der poli­tischen Ökono­mie die Bedeutung der "kommerziellen Kri­sen" begriffen und Marx sogleich von der Notwendigkeit überzeugt, sie als Vorboten des kapitalisti­schen Untergangs zu begreifen - als kon­krete Manifestationen der unlösba­ren Wi­dersprüche des Kapitalis­mus.

 Das Programm in Arbeit: Die Gründung des Bundes der Kommunisten

Nachdem der Kommunismus nun als eine Be­wegung - insbesondere als Bewegung des proletarischen Klassenkampfes - und nicht mehr nur als ein Ziel begriffen wurde, konnte er sich nur noch als prakti­sches Pro­gramm zur Befreiung der Arbeit, als ein re­volutionäres politisches Pro­gramm entfalten. Schon bevor er sich for­mell eine kommuni­stische Position an­eignete, hatte Marx all jene hochgeistigen "Kritiker" abgelehnt, die sich weigerten,   ihre Hände an den schmud­deligen Realitä­ten des politischen Kampfes schmutzig zu machen. Wie er in seinem Brief an Ruge im September 1843 erklärte: "Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Po­litik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüp­fen und mit ihnen zu identifizieren." (MEW 1 S.345)
Und tatsächlich war die Notwendigkeit, sich an den politischen Kämpfen zu betei­ligen, um eine durchgreifende soziale Umwälzung zu errei­chen, in der eigentli­chen Natur der proletari­schen Revolution eingebettet. "Man sage nicht, daß die ge­sellschaftliche Bewe­gung die politische ausschließt", schrieb Marx in seiner Pole­mik gegen den "anti-po­litischen" Proud­hon.

"Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftli­che wäre. Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesell­schaftlichen Evolutio­nen aufhören, politi­sche Revolutionen zu sein".(Das Elend der Philosophie MEW 4 S.182)
Anders ausgedrückt, unterschied sich das Proletariat von der Bourgeoisie darin, daß es als besitzlose, ausgebeutete Klasse nicht die ökonomische Basis einer neuen Gesell­schaft innerhalb der Schale der alten bilden konnte. Die Revolution, die allen Formen der Klas­senherrschaft ein Ende bereiten würde, konnte also nur als politischer An­griff gegen die alte Ordnung begonnen werden; ihr er­ster Akt würde die Erlan­gung der politischen Macht durch die be­sitzlose Klasse sein, wel­che auf dieser Ba­sis die ökonomischen und sozialen Um­wälzungen fortsetzen wird, die zu einer klassenlosen Gesellschaft führen.
Aber das genau definierte politische Pro­gramm der kommunistischen Revolution fiel nicht vom Himmel: Es mußte von den fort­schrittlichsten Elementen des Proletari­ats erar­beitet werden, von jenen, die sich selbst in verschiedenen kommunistischen Gruppen or­ganisiert hatten. So waren in den Jahren 1845-48 Marx und Engels in steigendem Maße am Aufbau einer solchen Organisation beteiligt. Auch hier war ihre Vorgehens­weise von ihrer Anerkennung der Notwen­digkeit diktiert, sich selbst ei­ner bereits exi­stierenden "realen Be­wegung" anzuschlie­ßen. Statt eine Organisa­tion "aus dem Nichts" zu kon­struieren, trach­teten sie da­nach, sich mit den fortschrittlich­sten proleta­rischen Strö­mungen zu verbinden, mit dem Ziel, sie für eine wissenschaftlichere Kon­zeption des kommunistischen Projekts zu gewin­nen. Dies führte sie konkret zu einer vor­nehmlich aus emigrierten deutschen Ar­beitern zusammengesetzten Gruppe, der Bund der Gerechten. Für Marx und Engels lag die Bedeutung dieser Gruppe in der Tatsache begründet, daß der Bund der Ge­rechten im Gegensatz zu den vielfältigen Sorten des kleinbürgerlichen "Sozialismus" ein wirklicher Ausdruck des kämpfenden Proletariats war. Gegründet in Paris 1836, hatte sie sich mit Blanquis "Société des Saisons" ("Vereinigung der Jahreszeiten") verbunden und mit ihr am erfolglosen Auf­stand von 1839 teilgenom­men. Sie war also eine Organisa­tion, die die Realität des Klassenkrieges und die Notwen­digkeit ei­nes gewaltsamen revo­lutionären Macht­kampfes anerkannte. Si­cherlich neigte sie wie Blanqui dazu, die Re­volution in einem verschwörerischen Rah­men zu sehen, als den Akt einer kleinen Minderheit, und auch ihr ei­gener Charakter als Geheimge­sellschaft spie­gelte solche Auf­fassungen wider. Auch war sie, besonders in den frühen 1840ern, von den halb-messiani­schen Konzepten Wilhelm Weit­lings beein­flußt.
Aber der Bund hatte auch die Fähigkeit an den Tag gelegt, sich theoretisch weiterzuentwic­keln. Eine der Auswirkun­gen ihres "Emigrantenstatus" war ihre Bekräfti­gung als, in Engels Worten, "erste internationale Arbeiterbewegung über­haupt" (MEW, 21, "Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten", S. 207, 1885). Dies bedeutete, daß sie für die wichtig­sten internationalen Entwicklungen im Klas­senkampf offen war. In den 1840er Jahren hatte sich  das Hauptzentrum der Liga nach London verlagert. Und durch ih­ren Kontakt mit der Bewegung der Charti­sten begannen sich ihre führenden Mitglieder von den alten verschwörerischen Auffassun­gen weg- und zu einer Betrach­tungsweise hinzubewegen, die den proleta­rischen Kampf als eine massive, selbstbe­wußte und organi­sierte Bewegung an­erkannte, in der die Schlüsselrolle von den In­dustriearbeitern ge­spielt werden würde.
Die Konzepte von Marx und Engels fielen somit auf fruchtbarem Boden, jedoch nicht ohne harte Auseinandersetzungen mit den Ein­flüssen Blanquis und Weitlings. 1847 war aus dem Bund der Gerechten der Bund der Kommunisten geworden. Sie hatte ihre Organisati­onsstruktur von der einer konspirativen Sekte in die einer na­hezu zen­tralisierten Organisa­tion mit klar definierten Statuten und gewähl­ten Komi­tees umgewan­delt. Und sie hatte Marx mit der Aufgabe betraut, eine Stellung­nahme zu den politi­schen Prinzipien ihrer Or­ganisation zu ent­werfen - ein Dokument, das besser bekannt ist als "Das Manifest der Kom­munistischen Partei" (2), zuerst in Deutschland veröffent­licht, 1848 in Lon­don, kurz vor dem Aus­bruch der Februar-Revolution in Frankreich.

Das Manifest der Kommunistischen Partei Aufstieg und Fall der Bourgeoisie

Das Manifest der Kommunistischen Partei stellt zusammen mit seiner "ersten Skizze", die Grundsätze des Kommunismus, die er­ste zusammenhängende Stellungnahme des wis­senschaftlichen Kommunismus dar. Obwohl  es für ein Massenpublikum und in einem auf­wühlenden, leidenschaftlichen Stil geschrie­ben worden ist, ist es an kei­ner Stelle vulgär oder oberflächlich. Tatsächlich eignet es sich als ständiges Nachschlagewerk, weil es auf ver­hältnismäßig wenigen Seiten die allge­meinen Aussagen der marxistischen Idee in einer gan­zen Reihe von miteinander ver­knüpften Fra­gen kristallisiert.
Der erste Teil des Textes befaßt sich mit der neuen Geschichtstheorie, eingeleitet mit dem berühmten Satz "Die Geschichte aller bisheri­gen Gesellschaft ist die von Klassen­kämpfen" (3). Es umreißt kurz den vielfälti­gen Wandel in den Klassenverhält­nissen, die Entwicklung von der antiken über die feu­dale zur kapitali­stischen Ge­sellschaft, um darauf hinzuweisen, daß "die moderne Bour­geoisie selbst das Pro­dukt eines langen Ent­wicklungsganges, ei­ner Reihe von Umwäl­zungen in der Pro­duktions- und Verkehrs­weise ist". (MEW 4 S.464). Der Text vermeidet jede ab­strakte, moralische Verurteilung der Aus­wüchse kapitalistischer Ausbeutung und be­tont die eminent revolutionäre Rolle der Bour­geoisie, die all die beschränkten, engstir­nigen Gesellschaftsformen hinweg­fegte und sie durch eine bisher unerreichte dy­namische und expansive Produktionsweise ersetzte; eine Produktionsweise, die durch ihre derart schnelle Eroberung und Verein­heitlichung des Globus und durch die Entfes­selung solch im­menser Produktiv­kräfte das Fundament für eine Gesellschaft legte, die endgültig die Klas­senantagonismen überwin­den wird. Einer­seits gilt für die ökonomische Krise:

"... die mo­derne bürgerliche Gesellschaft, die so gewal­tige Produktions- und Verkehrs­mittel hervor­gezaubert hat, gleicht dem He­xenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu be­herrschen ver­mag, die er heraufbeschwor. Seit Dezen­nien ist die Ge­schichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empö­rung der modernen Produktivkräfte gegen die mo­dernen Pro­duktionsverhältnisse, ge­gen die Ei­gentumsverhältnisse, welche die Lebensbedin­gungen der Bourgeoisie und ih­rer Herrschaft sind. Es genügt, die Han­delskrisen zu nennen, welche in ihrer peri­odischen Wiederkehr im­mer drohender die Existenz der ganzen bür­gerlichen Gesell­schaft in Frage stellen. In den Handelskri­sen wird ein großer Teil nicht nur der er­zeugten Produkte, sondern der bereits ge­schaffenen Produktivkräfte regelmäßig ver­nichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaft­liche Epi­demie aus, welche al­len früheren Epochen als ein Widersinn er­schienen wäre - die Epi­demie der Über­produktion. Die Gesell­schaft findet sich plötzlich in einen Zustand mo­mentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungs­krieg schei­nen ihr alle Lebensmittel abge­schnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum ? Weil sie zu­viel Zi­vilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Indu­strie, zuviel Handel besitzt". (MEW 4 S.467f). In den Grundsätzen des Kommu­nismus wird gesagt, daß die dem Kapita­lismus innewoh­nende Tendenz zur Über­produktionskrise nicht allein die Richtung zu seiner Zerstö­rung angibt, sondern auch erklärt, warum sie die Bedingungen für den Kommunismus schafft, in dem die Überproduktion, "statt Elend her­beizuführen, ... über die nächsten Bedürf­nisse hinaus die Befriedigung der Be­dürfnisse aller sicherstellen (wird)".(Grundsätze MEW 4 S.375)
Im Manifest sind die Überproduktionskri­sen natürlich  zyklische Krisen, die die ge­samte Periode des Aufstiegs den Kapita­lismus be­gleiten. Aber obgleich der Text feststellt, daß diese Krisen immer noch "durch die Erobe­rung neuer Märkte und die gründlichere Aus­beutung alter Märkte" überwunden wer­den konnten, neigt er zu der Schlußfolge­rung, daß die bürgerlichen Verhältnisse be­reits zu einer dauerhaften Fessel in der Ent­wicklung der Produktiv­kräfte geworden wa­ren - mit anderen Worten, daß der Kapita­lismus seine histori­sche Mission bereits er­füllt hatte und in die Epoche seines Zerfalls eingetreten war. Un­mittelbar nach den Zei­len, die die periodi­schen Krisen beschreiben, fährt der Text fort: "Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen,  dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigen­tumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Ver­hältnisse geworden, sie werden von ihnen ge­hemmt ... Die bürgerli­chen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fas­sen".(Manifest MEW 4 S.468)
Diese Einschätzung des Zustands der bürger­lichen Gesellschaft steht nicht in Einklang mit anderen Formulierungen im Manifest, insbe­sondere nicht mit den takti­schen Ausführun­gen, die zum Schluß des Textes erscheinen. Aber sie sollten einen wichtigen Einfluß auf die Erwartungen und Interven­tionen der kom­munistischen Min­derheit wäh­rend der großen Aufstände 1848 ausüben, die als Vorboten der nahe bevorstehenden proletarischen Revolu­tion angesehen wur­den. Nur wenig später soll­ten Marx und En­gels bei dem Entwurf ei­ner Bilanz dieser Aufstände die Idee revidie­ren, der Kapita­lismus hätte bereits die Gren­zen seines Auf­stiegs erreicht. Wir werden auf diesen Punkt in einem nachfol­genden Artikel zurückkom­men. 

 Die Totengräber des Kapitalismus

"Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waf­fen geschmiedet, die ihr den Tod brin­gen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waf­fen führen - die modernen Ar­beiter, die Pro­letarier".(Manifest MEW 4 S.468)
Hier wird in knapper Form auf den zwei­ten grundsätzlichen Widerspruch hinge­wiesen, der zur Überwindung der kapitali­stischen Gesell­schaft führt: der Wider­spruch zwi­schen Arbeit und Kapital. Und getreu der materialistischen Analyse der Antriebskräfte der bürgerlichen Gesell­schaft fährt das Mani­fest fort, die histo­rische Entwicklung des proletarischen Klas­senkampfes von seinen ersten unvoll­ständigen Anfängen über die Gegenwart bis hin zur Zu­kunft zu umreißen.
Es führt Buch über alle Hauptebenen die­ses Prozesses: die anfänglichen "Maschinenstürmer" als Antwort auf die em­porstrebende moderne Industrie, als Arbeiter noch hauptsächlich in kleinen Werkstätten tä­tig waren und noch häufig "ihre Angriffe nicht gegen die bürgerlichen Produktionsverhält­nisse (richten), sie richten sie gegen die Pro­duktionsinstrumente selbst"; (Manifest MEW S.470)die Entwicklung von Klassenorgani­sationen zur Verteidigung der unmittelbaren Arbeiterinteressen (Gewerkschaften) und als Mittel zur Homoge­nisierung und Vereini­gung der Klasse; die Teilnahme der Arbeiter an den bürgerlichen Kämpfen gegen den Ab­solutismus, was für eine politische Erzie­hung des Proletariats und somit für "Waffen gegen sie selbst (die Bour­geoisie)"  sorgte; die Entwicklung eines spezi­fisch proletarischen politischen Kampfes, der zunächst um das Behelfs­mittel der Reformen wie die der Zehnstun­denbill gefochten wurde, aber all­mählich die Form einer politischen Heraus­forderung der eigentlichen Fundamente der bürgerlichen Gesellschaft annahm.
Das Manifest stellt die Behauptung auf, daß die revolutionäre Situation eintreten wird, so­bald die ökonomischen Wider­sprüche des Ka­pitalismus einen Zustand der Lähmung er­reicht haben, wo die Bourgeoisie nicht ein­mal mehr fähig ist, "ihrem Sklaven die Exi­stenz selbst inner­halb seiner Sklaverei zu si­chern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage her­absinken zu lassen, wo sie ihn er­nähren muß, statt von ihm ernährt zu wer­den". (ebenda S.473)Gleichzeitig faßt der Text eine wach­sende Polarisierung der Gesell­schaft ins Auge, zwischen einer kleinen Minderheit von Ausbeutern und einer zu­nehmend ver­armenden proletarischen Mehrheit: "Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindli­che Lager, in zwei große, einander direkt gegenüber stehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat." (ebenda S.463), da die Entwicklung des Kapitalismus in stei­gendem Maße das Kleinbürgertum, die Bau­ernschaft und selbst Teile der Bour­geoisie in die Reihen des Proletariats treibt. Die Re­volution ist daher das Resul­tat dieser Kombi­nation von Wirtschaftse­lend und sozialer Pola­risierung.
Noch einmal, das Manifest erweckt manchmal den Anschein, als ob diese große Vereinfa­chung der Gesellschaft be­reits vollzogen ge­wesen sei; als ob das Proletariat bereits die überwiegende Mehr­heit der Be­völkerung sei. Tatsächlich war dies lediglich für ein Land (Großbritannien) der Fall, als dieser Text ge­schrieben wurde. Und da der Text, wie wir gesehen haben, Anlaß zu dem Ein­druck gibt, der Kapitalismus hätte bereits seinen Scheitel­punkt erreicht, neigt er dazu, den Eindruck zu erwecken, daß die ent­scheidende Konfronta­tion zwischen den "beiden großen Klassen" tatsächlich sehr nahe sei. Betrachtet man die tatsächliche Evolution des Kapitalismus, so war dies alles andere als der Fall. Aber trotz­dem ist das Manifest ein außergewöhnlich "prophetisches" Werk. Nur einige Monate nach seiner Veröffentlichung hatte die Ent­wicklung der Weltwirtschaftskrise eine Reihe von revolutionären Aufständen überall in Eu­ropa hervorgerufen. Und ob­wohl viele dieser Bewegungen eher der letzte Atemzug im Kampf der Bourgeoisie gegen den Feudalab­solutismus als die er­sten  Gefechte der proleta­rischen Revolu­tion waren, demon­strierte das Proletariat von Paris mit seinem eigenen poli­tischen Aufstand gegen die Bourgeoisie prak­tisch alle Argumente des Manifestes über die revolutionäre Natur der Arbeiterklasse als le­bendige Verneinung der kapitalistischen Ge­sellschaft. Der "prophetische" Charak­ter des Manifestes ist Zeuge für die grund­sätzliche Folgerichtigkeit nicht so sehr der unmittelba­ren Prognosen von Marx und Engels, sondern der allgemei­nen histori­schen Methode, mit der sie die soziale Wirklichkeit analysierten. Und des­halb ist das Kommunistische Manifest ent­gegen all der arroganten Behauptungen der Bour­geoisie, wonach die Geschichte Marx als falsch überführt hätte, in seinem Kern nicht überholt.

Von der Diktatur des Proletariats zum Absterben des Staates

Das Manifest erwartete somit, daß das Prole­tariat durch die Peitsche der wach­senden wirt­schaftlichen Verelendung zur Revolution ge­drängt wird. Wie wir er­wähnt haben, ist der erste Akt der Revolu­tion die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat. Das Proletariat muß sich selbst als herr­schende Klasse konsti­tuieren, um seine so­zialen und ökonomi­schen Programme durch­zuführen.
Das Manifest faßt diese Revolution aus­schließlich als "gewaltsamen Sturz der Bour­geoisie" auf, als den Höhepunkt eines "mehr oder minder verdeckten Bürger­kriegs". Es war unvermeidbar, daß die Details des We­ges, auf dem die Arbeiter­klasse die Bour­geoisie überwinden wird, relativ vage blie­ben, wurde der Text doch vor dem ersten of­fenen Auftre­ten der Klasse als unabhängige Kraft geschrie­ben. Der Text spricht tatsäch­lich von einem Proletariat, das "die Erkämp­fung der Demo­kratie" anstreben wird; die Grund­sätze sagen, daß die Revolution "eine de­mokratische Staatsverfassung und damit direkt oder indi­rekt die politische Herr­schaft des Proletariats herstellen" wird. Wenn wir einige von Marx' Schriften über die Charti­sten oder über die bürgerliche Republik be­trachten, erfahren  wir, daß er selbst nach  der Erfahrung von 1848 immer noch die Möglichkeit einer pro­letarischen Mach­tergreifung durch das allge­meine Wahlrecht und den parlamenta­rischen Prozeß in Erwä­gung zog (z.B. in seinem Arti­kel über die Chartisten in The New York Daily Tribune vom 25.August 1852, in dem Marx die Be­hauptung auf­stellte, daß die Ge­währung des Wahlrechts in England  die politische Vorherrschaft des Proletariats bedeuten würde. Dies öff­nete seinerzeit zumindest in einigen Län­dern Tür und Tor für Spekulationen über eine ins­gesamt fried­liche Machtergreifung . Wie wir sehen wer­den, wurden diese Spekulationen später von den Pazifisten und Reformisten in der Ar­beiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts aufgegriffen, um sämtli­che Arten der ideologischen Freiheit zu recht­fertigen. Nichtsdestotrotz gingen Marx' we­sentliche Gedanken nach der Erfahrung von 1848 und vor allem nach der Erfahrung der Pa­riser Kommune 1871 in eine andere Rich­tung, die die Notwendigkeit für das Proleta­riat aufzeigte, seine eigenen politi­schen Machtor­gane zu bilden und den bür­gerlichen Staat zu zerstören statt ihn zu übernehmen, ob  "demokratisch" oder ge­waltsam. Tatsächlich war dies in Engels' späteren Ein­führungen zum Manifest die wichtigste Än­derung, die hi­storische Er­fahrung in das kommunistische Programm eingebracht hat: "... gegenüber den prakti­schen Erfahrungen, zuerst der Februarre­volution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proleta­riat zum ersten­mal zwei Monate lang die poli­tische Ge­walt innehatte, ist heute dies Pro­gramm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß 'die Arbeiterklasse nicht die fertige Staats­maschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre ei­genen Zwecke in Bewegung set­zen kann'".(Vorwort zum Manifest von 1872 MEW 18 S.95)
Was aber gültig bleibt vom Manifest, ist die Bestätigung der gewalttätigen Natur der Machtergreifung und der Notwendig­keit für die Arbeiterklasse, ihre eigene po­litische Herrschaft auszuüben - die "Diktatur des Pro­letariats", worauf sich andere Schriften aus derselben Periode be­zogen.
Von gleicher Gültigkeit bis zum heutigen Tag ist die Aussicht auf das Absterben des Staates. Von seinen ersten kommunisti­schen Schriften an  hat Marx betont, daß sich die wirkliche Befreiung der Mensch­heit nicht nur auf den politischen Bereich beschränken kann. "Politische Befreiung" war die höchste Errun­genschaft der bür­gerlichen Revolution, aber für das Proleta­riat konnte diese "Befreiung" nur eine neue Form der Unter­drückung be­deuten. Für die ausgebeutete Klasse war die Politik nur Mittel zum Zweck - die kompro­mißlose soziale Befreiung. Staat und politi­sche Macht waren nur in einer Klassenge­sellschaft notwendig; da das Pro­letariat kein Interesse daran hat, sich selbst in eine neue ausbeutende Klasse zu verwan­deln, sondern gezwungen ist, für die Ab­schaffung aller Klassentrennungen zu kämp­fen, folgt daraus, daß die Machter­greifung des Kommunismus das Ende der Po­litik als abgesonderter Bereich und das Ende des Staates bedeutet. Oder mit den Worten des Manifestes:

"Sind im Laufe der Entwicklung die Klassen­unterschiede verschwunden und ist alle Pro­duktion in den Händen der assozi­ierten Indi­viduen konzentriert, so verliert die öffent­liche Gewalt den politischen Cha­rakter. Die politi­sche Gewalt im eigentli­chen Sinn ist die or­ganisierte Gewalt einer Klasse zur Unter­drückung einer andern. Wenn das Proleta­riat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich not­wendig zur Klasse vereint, durch eine Revo­lution sich zur herrschenden Klasse macht und als herr­schende Klasse gewaltsam die alten Pro­duktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Exi­stenzbedingungen des Klassengegen­satzes, die Klassen überhaupt, und damit seine ei­gene Herrschaft als Klasse auf".(Manifest MEW 4 S.482) 

Der internationale Charakter der proletarischen Revolution

Die Formulierung "assoziierte Individuen"  wirft eine Frage auf: Hielt das Manifest eine Revolution oder gar den Kommunis­mus in ei­nem einzelnen Land für möglich ? Es trifft si­cherlich zu, daß es hier und da im Text dop­peldeutige Formulierungen gibt, zum Beispiel wenn er sagt:  "Indem das Proleta­riat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Na­tion kon­stituieren muß, ist es selbst noch na­tional, wenn auch keines­wegs im Sinne der Bour­geoisie".(Manifest MEW 4 S.479) Tatsächlich hat aber die bittere historische Wahrheit gezeigt, daß es nur eine bürgerli­che Bedeutung für den Begriff "national" gibt und das Proletariat seinerseits die Verneinung aller Nationen ist. Dies ist je­doch vor allem die Erfahrung der dekaden­ten Epoche des Kapitalismus, in der Nationalis­mus und die Kriege um die Klein­staaterei ih­ren fortschrittlichen Cha­rakter verloren haben, den sie zu Marx' Lebzeiten noch besaßen, als das Proletariat  bestimmte nationale Bewegun­gen als Teil des Kampfes gegen den Feudalab­solutismus und andere reaktionäre Überbleib­sel aus der Vergangen­heit unter­stützen konnte. Im allgemeinen wa­ren sich Marx und Engels klar darüber, daß solche Bewegungen bürger­lich in ihrer Natur wa­ren. Dennoch schlichen sich unvermeid­lich Zweideutigkeiten in ihre Sprache und in ihr Denken , da dies eine Peri­ode war,  in der die Unvereinbarkeit der na­tionalen mit den  Klasseninteressen noch nicht in den Köpfen eingegangen war.
Nachdem dies gesagt ist, sollte auch er­wähnt werden, daß das Wesen des Mani­festes nicht im o.g. Zitat enthalten ist, son­dern in den Sät­zen unmittelbar zuvor: "Die Arbeiter ha­ben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht neh­men, was sie nicht haben", (MEW 4 S.479) und in den letzten Worten des Textes "Proletarier aller Länder, ver­einigt euch!". (MEW 4 S.493) Gleicher­maßen be­steht das Manifest darauf, daß die "vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisier­ten Länder,... eine der ersten Be­dingungen seiner Befreiung" (MEW 4 S.479) ist.

Die Grundsätze äußern sich weit ausdrückli­cher dazu:
"F(rage): Wird diese Revolution in einem ein­zigen Lande allein vor sich gehen kön­nen?
A(ntwort): Nein. Die große Industrie hat schon dadurch, daß sie den Weltmarkt ge­schaffen hat, alle Völker der Erde, und na­mentlich die zivilisierten, in eine solche Ver­bindung miteinander gebracht, daß je­des ein­zelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht. Sie hat ferner in allen zivili­sierten Ländern die gesellschaftli­che Ent­wicklung so weit gleich gemacht, daß in allen diesen Län­dern Bourgeoisie und Proletariat die bei­den entscheidenden Klas­sen der Gesell­schaft, der Kampf zwischen beiden der Hauptkampf des Tages geworden. Die kom­munistische Revolution wird daher keine bloße nationale, sie wird eine in al­len zivilisierten Ländern, d.h. wenigstens in England, Ame­rika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein .... Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein univer­selles Terrain haben".(MEW 4 S.374f)

Von Beginn wurde die proletarische Revolu­tion als eine internationale Revolu­tion angese­hen. Der Gedanke, daß der Kommu­nismus oder selbst die revolutio­näre Mach­tergreifung innerhalb der Gren­zen eines ein­zelnen Landes Wirklichkeit wird, lag Marx und Engels so fern wie den Bolschewiki, die die Oktoberre­volution 1917 anführten, und den internatio­nalistischen Fraktionen, die den Wider­stand gegen die stalinistische Konterrevo­lution lei­teten, welche sich genau in jener monströsen Theorie des "Sozialismus in einem Land" einigelten.

Kommunismus und der Weg dahin

Wie wir in früheren Artikeln gesehen ha­ben, war sich die marxistische Strömung von An­beginn klar über die Gestalt einer völlig ent­wickelten kommunistischen Ge­sellschaft, für die sie kämpfte. Das Mani­fest definierte sie knapp aber deutlich in dem Abschnitt, der dem über das Abster­ben des Staates folgt: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesell­schaft mit ihren Klassen und Klassengegen­sätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Ent­wicklung aller ist". (MEW 4 S.482) Der Kom­munismus wird also nicht nur eine Gesell­schaft ohne Klassen und Staat sein: er wird auch eine Gesellschaft sein (und dies ist bei­spiellos in der gesamten Menschheitsge­schichte bis heute), in der der Konflikt zwi­schen sozialen Bedürfnis­sen und den Be­dürfnissen des Individuums überwun­den sein wird, und die  ihre Reichtümer be­wußt der unbegrenzten Ent­faltung aller ihrer Mitglie­der widmen wird - all dies deutlich ein Echo, das von den Überlegungen über das Wesen wirklich freien Handelns in den Schriften von 1844 und 1845 ausging. Die Textpassa­gen im Manifest, die sich mit den bürgerli­chen Ein­wänden gegen den Kommunismus be­fassen, machen auch deutlich, daß der Kommunismus   das Ende nicht nur der Lohnarbeit, sondern aller Formen des Kau­fens und Verkaufens be­deutet. Der gleiche Abschnitt beharrt darauf, daß die bürgerliche Familie, die als eine Form le­galisierter Pro­stitution charakterisiert wird, ebenfalls dazu verdammt ist zu verschwin­den.
Die Grundsätze des Kommunismus räumen weiteren Aspekten der neuen Gesellschaft mehr Platz ein als das Manifest. Zum Bei­spiel heben sie hervor, daß der Kommunis­mus die Anarchie der Marktkräfte durch das Manage­ment der Produktivkräfte der Menschheit "nach einem aus den vorhan­denen Mitteln und den Bedürfnissen der ganzen Gesellschaft sich ergebenden Plan" ersetzen wird. Gleichzeitig greift der Text das Thema auf, daß die Ab­schaffung der Klassen in Zukunft möglich sein wird, da der Kommunismus eine Gesellschaft des Über­flusses ist: "... wird der Ackerbau, der auch durch den Druck des Privateigen­tums und der Parzellierung daran verhin­dert wird, sich die schon gemachten Verbesserun­gen und wissenschaftlichen Entwicklungen an­zueignen, einen ganz neuen Aufschwung nehmen und der Gesell­schaft eine vollständig hinreichende Menge von Produkten zur Ver­fügung stellen. Auf diese Weise wird die Ge­sellschaft Produkte genug hervorbringen, um die Verteilung so einrichten zu können, daß die Bedürfnisse aller Mitglieder befriedigt werden. Die Trennung der Gesellschaft in verschiedene, einander entgegengesetzte Klas­sen wird hiermit überflüssig".(MEW 4 S.375)

Noch einmal: Wenn der Kommunismus der "freien Entwicklung aller" gewidmet ist, dann muß es sich um eine Gesellschaft han­deln, die sich der Arbeitsteilung, wie wir sie heute ken­nen, entledigt hat: "Der gemein­same Betrieb der Produktion kann nicht durch Menschen geschehen wie die heutigen, deren jeder einem einzigen Pro­duktionszweig untergeordnet, an ihn ge­kettet, von ihm aus­gebeutet ist, deren jeder nur eine seiner An­lagen auf Kosten aller anderen entwickelt hat, ... Die gemeinsam und planmäßig von der ganzen Gesell­schaft betrie­bene Industrie setzt vollends Menschen vor­aus, deren Anla­gen nach al­len Seiten hin ent­wickelt sind, die imstande sind, das gesamte System der Pro­duktion zu überschauen" (Grundsätze des Kommu­nismus MEW 4 S.376).
Eine andere entbehrliche Trennung ist die zwischen Stadt und Land: "Die Zersplitte­rung der ackerbauenden Bevölkerung auf dem Lande, neben der Zusammendrängung der in­dustriellen in den großen Städten, ist ein Zu­stand, der nur einer noch unterentwic­kelten Stufe des Ackerbaues und der Indu­strie ent­spricht, ein Hindernis aller weiteren Entwick­lung, das schon jetzt sehr fühlbar wird".(ebenda S.376f)

Dieser Punkt wurde als so wichtig erach­tet, daß die Aufhebung der Trennung zwi­schen Stadt und Land faktisch zu den "Übergangs"maßnahmen zum Kommunis­mus gezählt wurde, sowohl in den Grundsät­zen als auch im Manifest. Und sie bleibt auch in der heutigen Welt der aufge­blähten Megastädte und sich immer mehr verschärfender Umweltver­schmutzung eine Frage von größter Wichtigkeit. (Wir wer­den in einem späteren Artikel auf diese Frage de­taillierter zurück­kommen, wenn wir darauf zu sprechen kom­men, wie sich die kommu­nistische Revolution gegenüber der "ökologischen Krise" verhalten wird).
Diese allgemeinen Beschreibungen der zu­künftigen kommunistischen Gesellschaft ste­hen in Kontinuität mit denen, die in Marx' frühen Schriften enthalten sind, und sie bedür­fen heute nur wenig oder keiner­lei Modifizie­rung. Im Gegenteil dazu wa­ren - wie Marx und Engels selbst zu ihren Leb­zeiten erkann­ten - die spezifischen so­zialen und ökonomi­schen Maßnahmen, die im Ma­nifest als Maß­nahmen zur Erlan­gung dieser Ziele befürwor­tet werden,  aus zwei funda­mentalen und mit­einander ver­knüpften Gründen sehr viel zeit­gebundener:
-  die Tatsache, daß der Kapitalismus zu je­ner Zeit, als das Manifest geschrieben wurde, noch im Aufstieg begriffen war und noch nicht alle objektiven Bedingun­gen für die kommuni­stische Revolution ge­schaffen hatte;
-  die Tatsache, daß die Arbeiterklasse noch keine konkreten Erfahrungen mit ei­ner revo­lutionären Situation und somit we­der mit den Mitteln, mit denen sie die po­litische Macht er­ringen konnte, noch mit den ersten sozia­len und ökonomischen Maßnahmen gemacht hatte, die sie, einmal an der Macht, ergreifen muß.
Dies sind die Maßnahmen, die das Mani­fest als "ziemlich allgemein in Anwendung kom­men(d)" erachtete, wenn das Proleta­riat die Macht übernommen hat:
"1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staats­ausgaben.
2.  Starke Progressivsteuer.
3.  Abschaffung des Erbrechts.
4.  Konfiskation des Eigentums aller Emi­granten und Rebellen.
5.  Zentralisation des Kredits in den Hän­den des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Mono­pol.
6.  Zentralisation des Transportwe­sens in den Händen des Staats.
7.  Vermehrung der Nationalfabriken, Pro­duktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem ge­meinschaftlichen Plan.
8.  Gleicher Arbeitszwang für alle, Errich­tung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.
9.  Vereinigung des Betriebs von Ac­kerbau und Industrie, Hinwirken auf die all­mähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.
10.  Öffentliche und unentgeltliche Er­ziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrik­arbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Ver­einigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw." (MEW 4 S.481f)
Es ist offensichtlich , daß die Mehrheit die­ser Maßnahmen sich in der dekadenten Peri­ode  als mit dem überlebten Kapitalis­mus ver­einbar erwiesen haben - ja daß viele von ihnen vom Kapital angewendet worden sind, genau um in dieser Epoche zu überleben. Die deka­dente Periode ist die Periode des allgegenwär­tigen Staatska­pitalismus: die Zentralisierung der verfüg­baren Gelder, der Budgets in den Händen des Staates, die Bil­dung von hochtechni­sierten Armeen, die Nationalisierung von Transport und Kom­munikation, unentgelt­liche Erziehung an staatlichen Schulen .... in einem größeren oder kleineren Umfang haben alle Staaten, je­der zu seiner Zeit, diese Maßnahmen seit 1914 ergriffen, und die stalinistischen Regi­mes, die für sich die Ausführung des Pro­gramms des Kommu­nistischen Manifestes beanspruchten, ha­ben praktisch alle angewen­det.
Die Stalinisten begründeten ihre "marxistischen" Referenzen zum Teil mit der Tatsache, daß sie viele der im Manifest be­fürworteten Maßnahmen in die Praxis umge­setzt haben. Auch die Anarchisten betonen ih­rerseits diese Kontinuität, wenn auch in ei­nem völlig negativen Sinn natür­lich, und sie greifen gern auf einige "prophetische" Schmähschrif­ten Bakunins zurück, um zu beweisen, daß Stalin der logische Erbe von Marx ist.

Tatsächlich ist diese Blickweise jedoch voll­kommen oberflächlich und dient ledig­lich dazu, besondere bourgeoise Verhaltenswei­sen zu rechtfertigen. Bevor wir nun erklären, warum die sozialen und ökonomischen Maß­nahmen, die im Mani­fest vorgestellt wurden, im allgemeinen nicht mehr anwendbar sind, sollten wir die Gültigkeit der Methode, die da­hinter steht, betonen.

Die Notwendigkeit einer Übergangsperi­ode

Solche tief in der kapitalistischen Gesell­schaft verwurzelten Elemente wie Lohnar­beit, Klas­senspaltung und Staat können nicht über Nacht abgeschafft wer­den, wie die An­archisten aus den Tagen Marx' vorgaben und wie ihre spä­teren Nachfolger (die vielen Sorten von Räte­kommunisten und Moderni­sten) immer noch vorgeben. Der Kapitalis­mus hat das Potential für den Reichtum ge­schaffen, aber das bedeu­tet nicht, daß der Reichtum wie  durch ein Wunder einen Tag nach der Revolution da ist. Im Gegen­teil, die Re­volution ist eine Antwort auf die tiefge­hende Desorganisation in der Ge­sellschaft, und sie wird zumindest anfangs da­hin ten­dieren, diese Desorganisation wei­ter zu verschärfen. Eine immense Arbeit des Wie­deraufbaus, der Erziehung und Reorga­nisation wartet auf das siegreiche Proletariat. Hun­derte, tausende von tief verwurzelten Ge­wohnheiten, der ganze ideologische Schutt der alten Welt müssen ausgemerzt werden. Die Aufgabe ist un­ermeßlich und unvorhersehbar, und die Gaukler von So­fortlösungen sind Gaukler von Illusionen. Daher hat das Mani­fest recht, wenn es über die Notwendigkeit für das siegreiche Proleta­riat spricht, "die Masse der Produktions­kräfte möglichst rasch zu ver­mehren", und dies anfangs mit den Mitteln "despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhält­nisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzurei­chend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaus­treiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind". (Manifest MEW 4 S.481) Diese allgemeine Vision von einem Proletariat, das eine Dy­namik zum Kommu­nismus in Gang setzt, statt ihn per Dekret ein­zuführen, trifft vollkommen zu, auch wenn wir heute mit dem Vorteil der nach­träglichen Einsicht feststellen können, daß diese Dyna­mik nicht aus der Übereignung der Kapitalak­kumulation in staatliche Hand herrührt, son­dern aus dem selbst-organisier­ten Pro­letariat, das die eigentlichen Prinzi­pien der Kapitalak­kumulation aufhebt (z.B. durch die Unterord­nung der Produktion un­ter die Konsumption; durch "despotische Ein­griffe" in die Waren­wirtschaft und in die Form der Lohnarbeit; durch die direkte Kontrolle des Produktions­apparates durch das Proletariat, etc.).

Das Prinzip der Zentralisierung

Im Gegen­satz zu den Anarchisten, deren Ein­treten für den "Förderalismus" den klein­bürgerlichen Loka­lismus und Individualis­mus dieser Strömung widerspiegelte, hat der Marxismus immer dar­auf bestanden, daß das kapitalisti­sche Chaos und die Kon­kurrenz nur durch die strikteste Zentrali­sierung auf globaler Ebene überwun­den werden kann - die Zen­tralisierung der Pro­duktivkräfte durch das Proletariat, die Zentralisierung der ureigen­sten politisch-ökonmischen Organe des Pro­letariats. Die Er­fahrung hat deutlich gezeigt, daß sich diese Zentralisierung sehr stark von der bürokrati­schen Zentralisierung des kapi­talistischen Staates unterscheiden muß; auch dem Zentra­lismus des nachrevolutio­nären Staates muß das Proletariat gegen­über mißtrauisch sein. Der kapitalistische Staatsapparat kann nicht ge­stürzt werden, und auch die konterrevolutio­nären Ten­denzen können nicht aufgehalten werden, solange das Proletariat  seine eige­nen Kräfte nicht zentrali­siert hat. Hier erneut bleibt die allgemeine Annäherung des Mani­festes auch heute gültig.

Die Grenzen der Geschichte

Während, wie Engels in seiner Einführung in die Ausgabe von 1872 sagte, nichtsde­stotrotz "die in diesem 'Manifest' entwic­kelten allge­meinen Grundsätze ... im gan­zen und großen auch heute noch ihre volle Richtigkeit (behalten) ...., (wird) die prak­tische Anwen­dung dieser Grundsätze, er­klärt das 'Manifest' selbst, ... überall und jederzeit von den ge­schichtlich vorliegen­den Umstän­den abhän­gen, und wird des­halb durchaus kein beson­deres Gewicht auf die am Ende von Abschnitt II vorge­schlagenen revolutio­nären Maßregeln ge­legt. Dieser Passus würde heute in vieler Beziehung anders lau­ten". (MEW 18 S.95)
Er erwähnt dabei die "immense Fortent­wicklung der großen In­dustrie" und, wie wir schon gesehen haben, die revolutio­näre Er­fahrung der Arbeiterklasse 1848 und 1871.
Der Hinweis auf die Entwicklung der moder­nen Industrie ist besonders wichtig hier, weil er darauf hindeutet, daß für Marx und En­gels ein primäres Ziel der im Manifest vorgeschla­genen, ökonomischen Maßnah­men es war, den Kapitalismus zu einer Zeit zu entwickeln, als eine Reihe von Ländern ihre bürgerliche Revolution noch nicht ver­vollständigt hatten. Durch einen Blick in die "Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland", das der Bund der Kommunisten als ein Flugblatt während der revolutionären Auf­stände in Deutschland 1848 verteilt hatte, kann man sich davon überzeugen. Wir wis­sen, daß Marx sich zu dieser Zeit sehr nach­drücklich zur Not­wendigkeit für die Bour­geoisie in Deutsch­land an die Macht zu ge­langen,  als Vorbedin­gung für die proletari­sche Revolution äußerte. Die in diesem Flugblatt vorgeschlagenen Maß­nahmen hat­ten daher das Ziel, Deutsch­land aus seiner feudalen Rückständigkeit zu stoßen und die bürgerlichen Produktionsver­hältnisse so schnell wie möglich auszuweiten:  Viele die­ser Maß­nahmen - hohe progressive Ein­kommenssteuern, eine staatliche Bank, Na­tionalisierung von Grund und Boden sowie Transport, unentgeltliche Erziehung - wur­den auch im Manifest befürwortet. Wir wer­den in einem folgenden Artikel darüber dis­kutieren, inwieweit Marx' Perspektiven für die Revolu­tion in Deutschland von den Er­eignissen be­stätigt oder widerlegt wur­den; aber Tatsache bleibt, daß wenn  Marx und Engels schon zu ihren Lebzeiten die im Ma­nifest vorgeschlage­nen Maßnahmen als überholt ansahen, umso weniger Rele­vanz besitzen sie in der Periode der Deka­denz, wo der Kapitalismus schon lange seine weltweite Herrschaft etabliert hat und länger geblieben ist, als er für den Fort­schritt überall auf der Welt willkommen gewe­sen wäre.
Das soll nicht heißen, daß in den Tagen von Marx und Engels oder in der revolu­tionären Bewegung nach ihnen Klarheit über die Art der Maßnahmen bestand, die ein siegreiches Proletariat ergreifen müßte, um eine Dyna­mik in Richtung Kommunis­mus in Gang zu setzen. Im Gegenteil, es herrschte während des 19.Jahrhunderts hindurch Verwirrung über die Möglichkeit für das Proletariat, Nationalisie­rungen, Staatsschulden und an­dere staatskapi­talistische Maßnahmen als Sprungbretter zum Kommunismus zu nutzen. Dies spielte eine sehr negative Rolle im Laufe der Re­volution in Rußland. Es be­durfte der Nie­derlage dieser Revolution, der Verwand­lung von einer pro­letarischen Ba­stion in eine fürchterliche staats­kapitalistische Ty­rannei und der darauffolgen­den Reflexion und Debatte unter den Revolu­tionären, um jede Zweideutigkeit wegzuschie­ben. Aber auch darauf wird in einem zukünf­tigen Ar­tikel näher eingegan­gen.

Probe aufs Exempel

Der letzte Teil des Manifestes beschäftigt sich mit den Taktiken, die von den Kommu­nisten in den verschiedenen Län­dern befolgt werden sollten, besonders in jenen, wo die Hauptlo­sung des Tages der Kampf gegen den Feudal­absolutismus war oder als das er­schien. Im nächsten Artikel dieser Reihe werden wir prü­fen, wie die praktische Inter­vention der Kom­munisten in den paneuropäi­schen Aufständen von 1848 die Perspektiven der proletarischen Revolution klärte, und ob sie die taktischen Betrachtungen im Manifest bestätigte oder wi­derlegte.    CDW

Fußnoten

(1)  siehe "The Alienation of Labour is the Pre­mise for its Emancipation" in Interna­tional Re­view No.70 und "Communism, the real begin­ning of human society" in International Re­view No.71;
(2)  Der Begriff  "Partei" bezieht sich hier nicht auf den Bund der Kommunisten selbst: Obwohl das Manifest die kollektive Arbeit je­ner Organisation war, erschien sein Name hauptsächlich aus Sicher­heitsgründen nicht in den ersten Ausgaben des Textes. Der Begriff  "Partei" bezog sich in diesem Zusammenhang nicht auf eine spezifische Organi­sation, son­dern auf eine allgemeine Richtung oder Bewe­gung.
(3)  In späteren Ausgaben des Textes mußte En­gels diese Stellungnahme verbes­sern, indem er feststellte, daß dies auf die "gesamte ge­schriebene Geschichte" zutraf, aber nicht auf die Gemein­schaftsformen der Gesellschaft, die der Klassen­teilung vorausgegangen war.

 


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