Geschichte der Arbeiterbewegung: Syndikalismus in Deutschland, Teil 2

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Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

Im vorhergehenden Artikel haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick umfasste die 1870er Jahre bis ins Jahr 1903.  Die 1897 gegründete FVDG verstand sich noch bis ins Jahr 1903 explizit als ein kämpferischer Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung und hatte kaum Verbindungen zum Syndikalismus, der in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien stark präsent war. Die FVDG hatte auf der theoretischen Ebene konsequent den Anspruch der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verteidigt, sich nebst ökonomischen auch um politische Fragen zu kümmern.

Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte der Zerstreuung unter dem Sozialistengesetz und der Auseinandersetzungen mit dem großen gewerkschaftlichen Zentralverband, hatte es die FVDG aber nicht geschafft in ihren eigenen Reihen eine ausreichende Koordination für den gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Die bereits bestehende, schon klar syndikalistische Organisation der IWW in den USA war der FVDG in der Frage der Zentralisierung ihrer Aktivitäten meilenweit voraus. Der alltägliche Hang zu föderalistischer Zerstreutheit, auch wenn dies in der FVDG noch nicht theoretisiert wurde, sollte immer eine Schwäche der FVDG bleiben. Angesichts der aufkommenden Massenstreiks sollte die Abneigung gegen die Zentralisierung des Kampfes der Arbeiterklasse immer deutlicher ein Hindernis für die FVDG werden.  

Die Debatte um die neuen Kampfformen im Massenstreik der Arbeiterklasse im anbrechenden 20. Jahrhundert wurde für die FVDG eine große Herausforderung und führte zu einem deutlichen Schritt in Richtung Syndikalismus. Eine Entwicklung die sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verstärken sollte und die wir in diesem Artikel beleuchten.

Der Massenstreik stellt den verstaubten Gewerkschaftsgeist in den Schatten

Auf internationaler Ebene tauchen um die Wende ins 20. Jahrhundert immer mehr Vorboten des Massenstreiks als neue Kampfform der Arbeiterklasse auf. Der Massenstreik unterschied sich in seiner spontan ausbreitenden Dynamik, dem Branchen übergreifenden Charakter und vor allem der Aufnahme von politischen Forderungen vom althergebrachten Schema des wohl organisierten, beruflich beschränkten und lediglich auf ökonomische Forderungen begrenzten gewerkschaftlichen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts. In den international  aufkeimenden Massenstreiks manifestierte sich nun eine Lebendigkeit der Arbeiterklasse, welche die planmäßig vorbereitet und fest am jeweiligen Stand der gewerkschaftlichen Streikkassen klebenden Streiks weit in den Schatten stellte.        

Schon 1891 war ein Streik von 125`000 und 1893 von 250`000 Arbeitern in Belgien ausgebrochen, 1896 und 1897 entfaltete sich ein Streik der Textilarbeiter von St. Petersburg, 1900 unter den Bergarbeitern im US-Staat Pennsylvania, 1902 und 1903 im Bergbau in Österreich und Frankreich, 1902 erneut ein Massenstreik in Belgien um das allgemeinen Wahlrecht, 1903 unter den Eisenbahnern in Holland und im September 1904 eine landesweite Streikbewegung in Italien.

Deutschland mit seinen mächtigen und traditionsreichen Gewerkschaften und seiner dicht organisierten Arbeiterklasse war zu der Zeit nicht das Epizentrum dieses neuen Phänomens von gewaltigen, sich ausdehnenden Flutwellen des Klassenkampfes mit politischen Anliegen. Um so heftiger aber wurde die Frage des Massenstreiks in den Reihen der Arbeiterklasse in Deutschland diskutiert. Das Unbehagen gegenüber dem alten gewerkschaftlichen Schema des kontrollierten Klassenkampfs, der die heilige „Ruhe der Nation" nicht erschüttern sollte beschrieb Arnold Roller, ein Mitbegründer der FVDG, treffend am Beispiel des Bergarbeiterstreiks von 1905 im Ruhrgebiet, an dem sich 200`000 Arbeiter beteiligten: „Man (die Gewerkschaft) beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens" Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geist organisierten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsen, Bayern, usw. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks in Überstunden viele tausend Waggons mehr Kohle förderten - die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals zu verwenden. (...) Während die Arbeiter im Ruhrgebiet hungerten, verhandelten deren Vertreter im Parlament und erhielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen - aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die gesamte Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das Unternehmertum auszuüben.[1]            

Wichtigster Auslöser der berühmten „Massenstreikdebatte" von 1905/06 in der SPD und in den deutschen Gewerkschaften war aber zweifellos der gewaltige Massenstreik von 1905 in Russland, der in seiner Dimension und politischen Dynamik alles vorher Gesehene überstieg.[2]

Für die Gewerkschaften bedeuteten die Massenstreiks eine direkte Infragestellung ihrer Existenz und ihrer historischen Rolle. War ihre Rolle als geduldige ökonomische Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse nun überholt? Der Massenstreik von 1905 in Russland, eine direkte Reaktion auf die durch den Russisch-Japanischen Krieg enorm verschärften Leiden der Arbeiterklasse und Bauernschaft, hatte deutlich gezeigt, dass nun politische Fragen wie Krieg und Revolution ins Zentrum der Arbeiterkämpfe rückten. Fragen welche die Kragenweite des traditionellen gewerkschaftlichen Denkens bei weitem überstiegen. „Das Gewerkschaftswesen ist eine Aktion der Arbeiter, die nicht über die Schranken des Kapitalismus hinausgeht. Seine Absicht ist nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Sein Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.", wie es Anton Pannekoek präzise ausdrückte.[3]

Den Führern der in Deutschland zu mächtigen Organen angewachsenen Gewerkschaften also den Vorwurf fehlender Flexibilität zu machen, weil sie sich nicht mit der Kampfform des politischen Massenstreiks anfreunden konnten, trifft nicht des Pudels Kern. Ihre abwehrende Haltung gegen die Massenstreiks resultierte schlicht aus dem Wesen und Denken ihrer gewerkschaftlichen Organisationen selbst, die sie repräsentierten und die für die neuen Erfordernisse des Klassenkampfes von nun an nicht mehr genügten.

Dass die politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse nun das Wesen der Massenstreiks zu verstehen hatten lag auf der Hand. Jedoch „für die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Führer galt als Axiom: Generalstreik ist Generalunsinn!".[4] Ohne die Realität wahrhaben zu wollen, glaubten sie in den Massenstreiks lediglich und sehr schematisch den vom Anarchisten und ehemaligen Mitgründer der holländischen Sozialdemokratie Domela Nieuwenhuis propagierten „Generalstreik" zu erkennen. Jahrzehnte zuvor hatte Engels 1873 berechtigterweise in seiner Schrift Die Bakunisten an der Arbeit die eigenartige Vision eines Generalstreiks als ein hinter den Kulissen wohl vorbereitetes Aufstandsszenario als Generalunsinn kritisiert. Diese alte Vision eines „Generalstreiks" zeichnete sich durch eine überall und gleichzeitig erfolgenden Arbeitsniederlegung der Arbeiterklasse aus, generalstabsmässig geleitet von den Gewerkschaften. Damit sollte die Macht der herrschenden Klasse ausgehungert und innert Stunden aus den Angeln gehoben werden. Das spontane Element des Klassenkampfes wurden dabei komplett unterschätzt. Die Führung der SPD und der Gewerkschaften fühlten sich berechtigt, Engels Ausspruch zum geflügelten Wort zu machen, um damit jeglichen Ansatz zur Debatte über die handfesten Massenstreiks die vor allem von der Parteilinken in der SPD um Rosa Luxemburg gefordert wurde ignorant zu unterdrücken.

Tief im Kern standen sich das alte anarchistische Muster vom grandios geplanten ökonomischen Generalstreik und die Auffassung der grossen Gewerkschaftszentralen aber sehr nahe. Was für sie zählte war lediglich die Quantität der Kämpfe. Doch das Potenzial der Arbeiterkämpfe politische Fragen in die Hand zu nehmen, also ihre Qualität, wiesen sie beide glattweg von sich. War die FVDG, die bisher zumindest theoretisch immer die politische Aktivität der Arbeiter verteidigt hatte, fähig darauf eine Antwort zu geben?

Die Position der FVDG zum Massenstreik

Innerhalb der FVDG entbrannte die Debatte um den Massenstreik im Jahre 1904. Dies im Hinblick auf den kommenden Internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam, an dem diese Frage auf der Tagesordnung stand. In den Reihen der FVDG ging es nun darum, das Phänomen des Massenstreiks erst einmal zu verstehen, zumal auch ihre eigene ruhige Welt der geordneten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte von den Massenstreiks richtiggehend überrumpelt worden war. In ihrer allgemeinen Auffassung einer wohl geregelten Gewerkschaftsarbeit unterschied sich die kleine FVDG nicht wesentlich vom grossen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband. Da die FVDG durch ihren schwachen Einfluss aber keinerlei Möglichkeiten hatte die Klassenkämpfe zu kontrollieren, standen sie der Frage des Massenstreiks weit offener gegenüber als die grossen gewerkschaftlichen Zentralverbände. Irritiert stellte sich die FVDG nun die Frage ob die ausgebrochenen Massenstreiks die historische Bestätigung der alten, fast theatralisch anmutenden Generalstreiksvisionen sei.

Gustav Kessler, Mitgründer der „Lokalisten" und politische Autorität innerhalb der FVDG starb im Juni 1904. Kessler hatte innerhalb der Führung der FVDG am stärksten den Weg der Orientierung an der Sozialdemokratie verkörpert. Der sehr heterogene Charakter der FVDG als lose Vereinigung von Berufsverbänden hatte immer auch minoritären anarchistischen Tendenzen wie derjenigen um Andreas Kleinlein Platz gelassen. Kesslers Tod und die Wahl Fritz Katers zum Vorsitzenden der Geschäftskommission der FVDG im Sommer 1904 eröffnete nun deutlich eine Periode zunehmender Offenheit gegenüber syndikalistischen Ideen.

Es war aber vor allem der französische Syndikalismus der GCT, welcher einem Teil der FVDG mit dem Konzept des „Generalstreiks" eine Antwort anzubieten schien, ohne sich jedoch offiziell darauf zu beziehen. Unter Kesslers Einfluss hatte die FVDG bis zu Beginn des Jahres 1904 offiziell die Propaganda für die Generalstreiksidee noch abgelehnt.

Die FVDG nahm zur Frage des Massenstreiks am umfassendsten in Form der von Raphael Friedeberg 1904 verfassten Schrift Parlamentarismus und Generalstreik und einer im August des selben Jahres verabschiedeten Resolution der FVDG Stellung. Friedebergs Standpunkt (er blieb bis 1907 noch Mitglied der SPD) war in den Jahren von 1904-07 sehr prägend für die FVDG und verdient daher näherer Betrachtung.[5]

Friedebergs Broschüre widmet sich größtenteils mit einer berechtigten und feinfühlig formulierten Kritik dem zerstörerischen und einschläfernden Einfluss des Parlamentarismus, wie er damals von der sozialdemokratischen Führung als das Non plus Ultra des Klassenkampfes verstanden wurde: „Die parlamentarische Taktik, die Überschätzung des Parlamentarismus, ist schon zu sehr eingewurzelt in den Massen des deutschen Proletariates. Sie ist ja auch gar zu bequem; alles soll die Gesetzgebung, alles die Änderung der Verhältnisse bringen, die eigenen Persönlichkeit braucht nichts anderes herzugeben als alle paar Jahre in diesen oder jenen Stimmkasten einen sozialistischen Zettel zu stecken. (...) Es ist ein schlechtes Erziehungsmittel des Proletariats. (...)  Ich will zugeben dass der Parlamentarismus eine historische Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte des Proletariats gehabt hat, wohl auch noch haben wird."  Wie wir sehen trägt dieser Anti-Parlamentarismus nicht den Charakter einer prinzipiellen Ablehnung, sondern geht von einem nun historisch erreichten Zeitpunkt aus, an dem sich dieses Propagandamittel für das Proletariat lediglich zu seinen Ungunsten entwickelt hatte.

In ähnlicher Weise wie Rosa Luxemburg unterstrich er dagegen den emanzipatorischen Charakter der großen Massenstreikbewegungen der vorangegangenen Jahre für das Proletariat: „Durch die Streiks schulen sich die Arbeiter, sie geben ihnen sittliche Kraft, sie bringen ihnen Solidaritätsgefühl, proletarisches Denken und Empfinden bei. Die Generalstreiksidee gibt den Gewerkschaften einen weiten Horizont wie ihn bisher der Gedanke der politischen Macht der Bewegung gegeben hat.". Die „politische Macht"  war für Friedeberg Synonym für den Parlamentarismus. Dabei beschreibt er auch den ethischen Aspekt des Kampfes der Arbeiterklasse: „Wenn die Arbeiter aber den Klassenstaat stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen was niedrig und gemein an ihnen ist, alles was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalsstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist."

Bezeichnend für die Texte von Friedeberg ist die stetige Verwendung des Begriffs „Generalstreik",  auch wenn von den konkreten politischen Massenstreiks der vergangenen Jahre die Rede ist und diese Anlass zu seinen Schriften waren.  

Obwohl die Triebfeder von Friedebergs Broschüre eine ehrliche Empörung gegenüber dem konservativen Geist in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden war, die er mit Luxemburg teilte, kam er zu ganz anderen Schlussfolgerungen:

- Er verwarf klar den bisher in der FVDG existierenden Drang sich auch um politische Fragen zu kümmern: „Wir führen keinen politischen Kampf und brauchen deshalb auch keine politischen Kampfformen. Unser Kampf ist ein ökonomischer und ein psychologischer." Dies war ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Haltung der FVDG. In oberflächlicher Gleichsetzung von „Politik gleich Parlamentarismus" verwarf er die politische Dynamik welche ja gerade die Massenstreiks ausgezeichnet hatten.     

- Zudem zeichnete Friedeberg eine (auch innerhalb der FVDG sehr minderheitliche) unmaterialistische Auffassung  des Klassenkampfes, basierend auf psychologischen Überlegungen und der Strategie der „Verweigerung der Persönlichkeit" - er nannte es „historischer Psychismus". Hier zeigte sich deutlich seine Anlehnung an gewisse anarchistisch-kleinbürgerliche Auffassungen, nach denen ein individueller Rebellengeist und nicht die kollektive Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse das tragende Element des Klassenkampfes sei.    

- Obwohl Friedeberg richtig die reformistische sozialdemokratische Idee der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht anprangerte, verfiel er in eine gradualistische Auffassung desselben Zuschnittes, aber mit gewerkschaftlicher Prägung: „In den letzten Jahren allein sind die Gewerkschaften um 21 Prozent gewachsen, sie sind auf über eine Million Mitglieder gekommen, sodass wir mit Sicherheit, da für solche Dinge gewissermaßen gesetzmäßige Faktoren gelten, rechnen können, das in ca. 3-4 Jahren wir 2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder haben werden, in 10 Jahren 3-4 Millionen. Und wenn die Generalstreiksidee immer weiter in das Proletariat eindringt (...) mehr als 4-5 Millionen Menschen zur Niederlegung der Arbeit zu bringen und dadurch den Klassenstaat zu beseitigen". In Wirklichkeit bedeutete die immer stärkere Einbindung der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften schon zur damaligen Zeit nicht bessere Bedingungen für die proletarische Revolution, sondern eine Fessel für die Arbeiterklasse.

- Unter dem Drang ein „ethisches Kampfmittels ohne rohe Gewalt" zu propagieren erkennt man bei Friedeberg aber auch eine große Unterschätzung der herrschenden Klasse und ihrer brutalen Repression in einer revolutionären Situation: „Das ist das Hauptzeichen der Generalstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. (...) Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind - das werden wir heute nicht bestimmen.".

Doch im Wesentlichen sah Friedeberg in den aufkommenden Massenstreiks die Bestätigung der alten anarchistischen Generalstreiksidee. Seine grösste Schwäche bestand wohl darin, nicht erkannt zu haben, dass sich die Massenstreiks hin zu einem politischen Akt der Arbeiterklasse entwickelten. Stattdessen  beschränkte er die Perspektive der Massenstreiks auf eine rein ökonomische Ebene. Diese Auffassung brach deutlich mit der Tradition der FVDG, welche bis anhin immer vor einem rein ökonomischen Kampf  gewarnt hatte.

Die Basis der FVDG stand nicht geschlossen hinter den Auffassungen von Friedeberg, der Repräsentant eines minoritären sich zum Anarchismus hin bewegenden Flügels war. Dennoch waren Friedebergs Positionen für eine kurze Epoche bekanntes Aushängeschild der FVDG. Friedeberg selbst zog sich 1907 aus der FVDG in eine anarchistische Kolonie in Ascona zurück.

Ein Verständnis der Massenstreiks konnte die FVDG mit den Theorien Friedebergs nicht anbieten. Anstelle der Erkenntnis, dass die historisch anwachsende revolutionäre Stimmung diese neue Form von Arbeiterkämpfen hervorbrachte, welche eine Verschmelzung von ökonomischen und politischen Fragen darstellten, war die Generalstreiksidee mit der die FVDG nun auf die Bühne trat ein Schritt zurück - eine Flucht vor politischen Fragen.

Was war nun die Bedeutung und Rolle der FVDG bezüglich des Massenstreiks? Trotz all der Konfusionen, welche in den Schriften Friedebergs zu Tage traten, hatte die Debatte in der FVDG und ihre Schriften eine aufwühlende Funktion innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Es steht ihr das Verdienst zu, schon vor der Niederschrift der bekannten und viel klareren Broschüren von Luxemburg und Trotzki über den Massenstreik von 1905, auch innerhalb der SPD diese gewichtigen Fragen aufgeworfen zu haben.

Dass die FVDG zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorstellung der Revolution noch strikte von Gewerkschaften als Organe der Revolution ausging soll uns nicht erstaunen. Einerseits war sie ja selbst eine Vereinigung von Gewerkschaften - ein Schritt darüber hinaus zu gehen hätte ihre eigene Organisationsform direkt in Frage gestellt. Andererseits baute auch Rosa Luxemburg noch stark auf die Gewerkschaften, welche sie in mehreren Ländern als das direkte und vorwärts weisende Produkt des Massenstreiks (z.B. in Russland) beschrieb. Es dauerte noch fast 5 Jahre bis zur Veröffentlichung von Trotzkis Buch 1905, welches die Arbeiterräte als neue Organe der Revolution anstelle der Gewerkschaften beschrieb[6]. Was der FVDG und ihren Nachfolgeorganisationen immer blieb, war ihre Blindheit gegenüber den Arbeiterräten und ihr Festklammern an den Gewerkschaften als angebliche Organe der Revolution. Eine Schwäche die sich in den revolutionären Erhebungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fatal auswirken sollte.       

Geheimverhandlungen zur Verhinderung des Massenstreiks und die Debatte in Mannheim 1906

Innerhalb der SPD entbrannte ab 1905 nun ein regelrechter Kampf ob die Frage des Massenstreiks auf dem kommenden Parteitag von 1906 diskutiert werden durfte. Krampfhaft versuchte der Parteivorstand die damals wohl gewichtigste Erscheinung im Klassenkampf als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Der Parteitag der SPD von 1905 in Jena hatte sich nur pro forma in einer Resolution für den Massenstreik als eine „eventuell zu propagierende Maßnahme" ausgesprochen. Der Massenstreik wurde darin lediglich zu einem letzten Verteidigungsmittel gegen einen allfälligen Entzug des allgemeinen Wahlrechts degradiert. Die von Rosa Luxemburg eingebrachten Lehren aus dem Massenstreik in Russland wurden vom überwiegenden Teil der Führung der SPD als „Revolutionsromantik" und auf die deutschen Verhältnisse keinesfalls übertragbar bezeichnet. 

Es erstaunt daher nicht, dass sich nach dem Kongress in Jena 1905 der Parteivorstand im Februar 1906 in Geheimverhandlungen mit der Generalkommission der Zentralgewerkschaften auf eine gemeinsame Verhinderung von Massenstreiks einigte. Diese Abmachung kam aber ans Tageslicht. Die FVDG veröffentlichte in ihrem Organ Einigkeit Teile des Protokolls dieses geheimen Treffens, welches ihnen in die Hände gekommen war. Darin stand unter anderem: „Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen". Diese Veröffentlichung löste in der SPD-Führung eine große „Empörung der Ertappten" aus und zwang sie die Debatte um den Massenstreik auf dem Mannheimer Parteitag vom 22.-23. September 1906 erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch wenn es keine Zusammenarbeit zwischen der FVDG und der Parteilinken gab (im Gegenteil kritisierte Karl Liebknecht die Schwächen der FVDG - die er wie Luxemburg als „Anarchosozialisten" bezeichnete - in übertrieben harter Manier), arbeitete die Veröffentlichung der Geheimprotokolle durch die Einigkeit Letzteren in die Hand. Als eine Strömung welche auf proletarischem Boden stand, war ihre Stossrichtung im Kampf gegen den Reformismus nicht grundsätzlich verschieden zu derjenigen der Revolutionäre.  

Bebels erste Worte in seinem Einleitungsreferat auf dem Mannheimer Parteitag widerspiegelten den ignoranten Unmut der Parteileitung, die sich bemüht sah sich wieder mit einer Frage auseinandersetzen zu müssen, welche sie ad acta zu legen gehofft hatte: "Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinander gingen, hat wohl niemand geahnt, dass wir in diesem Jahre schon wieder über den Massenstreik sprechen müssen. (...) Durch die Indiskretion der so genannten „Einigkeit" in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen. (...)  "[7]                

Um sich aus der Peinlichkeit der durch die Einigkeit ans Licht geratenen Geheimabmachungen zu winden machte sich Bebel lustig über die FVDG und Friedebergs Beitrag: „Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und der Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer grossen Mehrheit der Meinung, dass diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen."[8]  Wer sollte nur 8 Jahre später (1914) angesichts des Krieges mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten „vollständig ohnmächtig (sein) die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen"? Exakt der Parteivorstand der SPD, der lauthals den Kriegskrediten zustimmte! Die FVDG hingegen sollte trotz all ihrer Schwächen 1914 angesichts der Kriegsfrage noch fähig sein eine proletarische internationalistische Position gegen den Krieg einzunehmen. 

In der darauf folgenden dürftigen Parteitagsdebatte um den Massenstreik standen anstelle von politischen Argumenten bürokratische Streitereien und Rechtfertigungen darüber, ob sich Parteimitglieder nun an den Parteibeschluss von Jena 1905 zum Massenstreik halten sollten, oder an denjenigen des Gewerkschaftskongresses vom Mai 1906, welcher den Massenstreik klar verworfen hatte. Die Debatte drehte sich im Wesentlichen um den Antrag Bebels und Legiens, Parteimitgliedern die in der FVDG organisiert waren ein Ultimatum zum Übertritt in die Zentralgewerkschaften zu stellen. Bei Nichtübertritt sollten sie sofort aus der Partei ausgeschlossen werden.

Anstelle über die politischen Lehren aus den erfolgten Massenstreiks zu sprechen oder gar auf die Ausführungen in der eine Woche vorher erschienen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Luxemburg einzugehen, wurde die Debatte auf einen kläglichen partei-juristischen Zank reduziert!

Nachdem Puttlitz, der eingeladene Vertreter der FVDG und Redakteur der Einigkeit aus Berlin, ausgelacht worden war, wandte sich Rosa Luxemburg vehement gegen den Versuch der Unterdrückung der politisch zentralen Massenstreik-Debatte mit rein formellen disziplinarischen Mitteln: „Ferner finde ich es unverantwortlich, wenn hier die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht werden soll; daß wir uns damit innerhalb der Parteireihen Zank und Zwist auf den Hals laden sollen. Es ist doch kein Zweifel, daß unter den Lokalorganisierten sehr viele brave Genossen vorhanden sind, und es wäre unverantwortlich, wenn wir, um den Gewerkschaften in dieser Frage direkt zu dienen, den Zwist in unsere Reihen hineintrügen. Wir respektieren die Ansicht, daß die Lokalisten nicht den Zwist in den gewerkschaftlichen Organisationen soweit treiben sollen, daß sie die gewerkschaftliche Organisation dadurch unterbinden; aber im Namen der soviel gepriesenen Gleichberechtigung muß man doch mindestens dasselbe für die Partei anerkennen. Wenn wir die Anarchosozialisten, wie der Parteivorstand vorschlägt, aus der Partei direkt ausschließen, so geben wir damit ein trauriges Beispiel dafür, daß wir nur Energie und Entschlossenheit finden, um unsere Partei nach links abzugrenzen, daß wir nach rechts aber die Tore nach wie vor sehr weit offen lassen.

Von Elm hat hier angeführt als ein Beispiel des anarchistischen Unsinns, daß in der „Einigkeit" oder in einer Konferenz der Lokalorganisierten ausgesprochen sei: „Der Generalstreik wäre als das einzige Mittel des wirklichen revolutionären Klassenkampfes zu betrachten." Nun ist das selbstverständlich ein Unsinn und nichts anderes. Aber, werte Anwesende, es steht genausoweit entfernt von der sozialdemokratischen Taktik und von unseren Prinzipien, wenn David erklärt, die gesetzlichen, parlamentarischen Mittel sind die einzigen Mittel der Sozialdemokratie. Man sagt uns, die Lokalisten, die Anarchosozialisten untergraben auf Schritt und Tritt durch ihre Agitation die sozialdemokratischen Grundsätze. Aber es ist genau ebenfalls eine Untergrabung sozialdemokratischer Grundsätze, wenn einer von den Zentralverbänden, wie Bringmann auf Eurer Konferenz im Februar sich gegen das Prinzip des Klassenkampfes erklärte."[9]

Wie schon auf dem Parteitag im Jahre 1900 bei der Debatte um den Hamburger Gewerkschaftsstreit, widersetzte sich Luxemburg dem Versuch, die Schwäche der FVDG als Vorwand zu gebrauchen um die Diskussion zentraler Fragen zu umgehen. Sie erkannte, dass die grosse Gefahr nicht von einer gewerkschaftlichen Minderheit wie der FVDG kam, deren Mitglieder in der SPD oft auf der Seite des linken Flügels standen, sondern vom Zentrum und der Parteirechten.

Spaltung der FVDG und der endgültige Bruch mit der SPD 1908

Auch wenn die FVDG für die reformistische Führung SPD und den zentralen Gewerkschaftsverband keineswegs dieselbe Gefahr darstellte wie der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie um Liebknecht und Luxemburg konnten sie die FVDG nicht ignorieren, nur weil sie eine kleine Minderheit darstellte und die Lehren aus den Massenstreiks nicht wirklich erkannte. Das internationale Auftauchen von mächtigen revolutionär-syndikalistischen Bewegungen wie ab 1905 in den USA mit der IWW machte syndikalistische Tendenzen für den Reformismus zu einer potentiellen Gefahr.

Die auf dem Parteitag 1906 in Mannheim eröffnete Strategie, Druck auf die Mitglieder der FVDG zum Übertritt in die zentralen Gewerkschaften auszuüben wurde über Monate fortgesetzt. Einerseits wurde bekannten und kämpferischen Mitgliedern der lokalen Gewerkschaften lohnenswerte Posten in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratien angeboten. Andererseits für den Parteitag der SPD in Nürnberg, der 1908 stattfinden sollte, erneut ein Antrag über die Unvereinbarkeit einer Doppelmitgliedschaft in SPD und FVDG  angekündigt.

Doch die FVDG zerbrach vor allem an ihren eigenen Unklarheiten und den unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Berufsverbände. In einer Zeit in der es den politischen Massenstreik und das Auftauchen der Arbeiterräte zu verstehen galt, zerrieb sie sich in einer internen Auseinandersetzung um die Frage: Anschluss an die zentralen Gewerkschaftsverbände oder, hin zu einem syndikalistischen Weg der die politischen Fragen den ökonomischen unterordnete - eine Gegenüberstellung die gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war. Auf ihrem außerordentlichen Kongress im Januar 1908  entschied die FVDG über einen Antrag der Maurer-Gewerkschaften die FVDG zugunsten eines Übertritts in die Zentralgewerkschaften aufzulösen. Obwohl dieser Antrag abgelehnt wurde bedeute er die Spaltung der FVDG und damit das Ende der langjährigen Geschichte einer unübersehbaren gewerkschaftlichen Opposition welche sich noch an die alte proletarische Tradition der Sozialdemokratie angelehnt hatte. Mehr als ein Drittel der FVDG trat sofort in die großen sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften über. Die Mitgliederzahl sank bis 1910 von ehemals 20`000 auf knapp 7000.

Der Führung der Sozialdemokratie fiel es danach nicht mehr schwer, den Bruch mit den Überresten der FVDG auf dem Parteitag im September 1908 mit einem endgültigen Verbot der Doppelmitgliedschaft FVDG-SPD zu besiegeln. Die Überreste der FVDG stellten für Legien und Konsorten nun keine ernstzunehmende Gefahr an der Basis mehr dar.

Wenn wir nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Syndikalismus in Deutschland suchen, so markiert das Jahr 1908 den Beginn einer neuen Etappe, die der erklärten Hinwendung von nur etwas weniger als der Hälfte der Mitglieder der FVDG zum revolutionären Syndikalismus. 

Hin zum revolutionären Syndikalismus

Da die FVDG als eine gewerkschaftliche Oppositionsbewegung entstanden war, die in ihren Anfangsjahren noch fest mit der Sozialdemokratie, also einer politischen Organisation der Arbeiterbewegung, verbunden war, hatte sie sich bis ins Jahr 1908 nie als syndikalistisch bezeichnet. Denn Syndikalismus bedeutet nicht lediglich Feuer und Flamme für gewerkschaftliche Aktivitäten zu sein, sondern eine Schritt weiter zu gehen und in den Gewerkschaften die einzige und alleinige Organisationsform zur Überwindung des Kapitalismus zu sehen - eine Rolle die diese von ihrem nach Reformen ringenden Wesen her gar nie spielen konnten und können.

Das wegweisende neue Programm der FVDG des Jahres 1911 „Was wollen die Lokalisten? Programm, Ziele und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften" drückte diesen Standpunkt nun folgendermaßen aus: „Der Befreiungskampf der Arbeiter ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Kampf, den ganz naturgemäß die Gewerkschaft, als die Organisation der Produzenten, auf allen Gebieten zu führen hat. (...) Die Gewerkschaft (und nicht die politische Partei) ist allein in der Lage, die wirtschaftliche Macht der Arbeiter gehörig zur Entfaltung zu bringen..."

Und während doch gerade die grossen Massenstreiks und der vergangenen Jahre die spontane Dynamik des Klassenkampfes bewiesen hatten, und parallel dazu der Bruch der Bolschewiki mit dem alten Konzept der „Massenpartei" 1903 die Notwendigkeit von Organisationen revolutionärer politischer Minderheiten klarmachte, focht das neue Programm der FVDG zwar mit gutem Willen gegen einen alten „Dualismus", aber.. mit komplett falschen Schlussfolgerungen: „Daher verwerfen wir den schädlichen Dualismus (Zweiteilung), wie ihn Sozialdemokratie und die ihr zugehörigen Zentralgewerkschaften praktizieren. Wir meinen die widersinnige Teilung der Arbeiterorganisationen in einen politischen und einen gewerkschaftlichen Flügel." (...)  Da wir den parlamentarischen Kampf ablehnen und an seine Stelle den direkten politischen Kampf mit gewerkschaftlichen Mitteln und nicht um die politische Macht, sondern um die soziale Befreiung setzten, so verliert eine politische Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie ohnehin jede Existenzberechtigung."

Dieses neue Programm drückte eine absolute Blindheit gegenüber dem historischen Auftauchen und revolutionären Charakter von Arbeiterräten aus und flüchtete in die erwartungsvolle Theoretisierung eines neuen Gewerkschaftstypus als Allerweltsmittel:

- als Antwort auf die (tatsächlich) überlebte Massenpartei,

- als Ersatz für die verbürokratisierten grossen Gewerkschaften,

- als Organ der Revolution,

- und schlussendlich als Architekt der neuen Gesellschaft.

Welch allumfassende Aufgabe!

Doch vertrat die FVDG, wie es bezeichnend war für den revolutionären Syndikalismus zur damaligen Zeit, eine klare Verwerfung des bürgerlichen Staates und es Parlamentarismus. Sie verteidigte den Kampf der Arbeiterklasse gegen Krieg und Militarismus.

Das Verhältnis der FVDG gegenüber dem Anarchismus blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablehnen. Lediglich die Tatsache dass Friedebergs Theorien (auf seinem Weg vom Sozialdemokraten zum Anarchisten) in den Jahren 1904-07 Aushängeschild für die FVDG gewesen waren bedeute keinesfalls eine Hinwendung der gesamten Organisation zum Anarchismus. Im Gegenteil befürchteten die stark zum Syndikalismus tendierenden Kräfte um Fritz Kater, dass gerade auch von den Anarchisten ein „Bevormundung" drohe, so wie sie von der SPD immer gegenüber den Gewerkschaften ausgeübt worden sei. Kater bezeichnete noch in der Einigkeit vom August 1912 den Anarchismus als „ebenso überflüssig wie jede andere politische Partei"[10]. Es ist falsch zu meinen, dass es die Präsenz offizieller Anarchisten gewesen wäre, welche die FVDG in den Syndikalismus führte. Die Parteifeindlichkeit, welche in der harten Auseinandersetzung mit der SPD entstanden war, wandte sich in den Jahren vor dem Krieg auch gegen die anarchistischen Organisationen. Es war auch keinesfalls der Einfluss des charismatischen Anarchisten Rudolf Rocker ab 1919, welcher die Parteifeindlichkeit  in die Nachfolgeorganisation der FVDG, die FAUD hinein trug. Diese Entwicklung hatte deutlich vorher stattgefunden. Rocker theoretisierte sie in den 20er Jahren für den deutschen Syndikalismus nur viel deutlicher als dies vor dem Krieg geschah.

Die weiteren Jahre bis hin zum Kriegsausbruch 1914 waren bei der FVDG gekennzeichnet von einem Rückzug auf sich selbst. Die grosse Auseinandersetzungen mit den Mutterorganisationen waren ausgefochten. Die Trennung vom gewerkschaftlichen Zentralverband hatte 1897 stattgefunden. Der Bruch mit der SPD gute 10 Jahre später, 1908.

Es entstand eine kuriose Situation, welche ein immer wieder auftauchendes Dilemma des Syndikalismus aufzeigt: Sich als Gewerkschaft deklarierend, welche bei möglichst vielen Arbeitern verankert sein wollte, war die FVDG aber auf ein Minimum von Mitgliedern zusammengeschrumpft. Von den ca. 7000 Eingeschriebenen war nur ein geringer Teil auch wirklich aktiv. Eine Gewerkschaft war sie nicht mehr! Vielmehr waren die Überreste der FVDG nun auf Propagandavereine für syndikalistische Ideen zusammengeschrumpft, hatten also vielmehr den Charakter von politischen Gruppen. Doch politische Organisationen wollten sie partout nicht sein!

Die Überreste der FVDG blieben - und das ist für die Arbeiterklasse eine absolut zentrale Frage - auf internationalistischem Boden und wandten sich trotz all ihrer Schwächen gegen die Bestrebungen der Bourgeoisie hin zu Militarismus und Krieg. Die FVDG und ihre Presse wurde sofort bei Kriegsausbruch im August 1914 verboten und viele ihrer noch aktiven Mitglieder in Schutzhaft genommen.

In einem folgenden Artikel werden wir die Rolle der Syndikalisten in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und den Jahren der Deutschen Revolution 1918/19 und der weltrevolutionären Welle bis 1923 betrachten.

Mario 6.11.2009  

[1]              Arnold Roller (Siegfried Nacht): „Die direkte Aktion" 1912. Roller verkörperte innerhalb der FVDG den bis dahin sehr minoritären anarchistischen Flügel.

 

[2]              Siehe im Besonderen dazu auch: Internationale Revue Nr. 90, 122, 123, 125 (engl., franz., span.) 

[3]              Anton Pannekoek, „Das Gewerkschaftswesen", 1936

[4]              Paul Frölich, „Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat", Kapitel: „Der politische Massenstreik" 

[5]             Friedeberg selber kam nicht etwa aus dem Anarchismus in die FVDG, sondern war SPD Stadtverordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Berliner Parteileitung.

[6]              Trotzki schrieb 1907 zuerst das Buch Unsere Revolution. Einige Kapitel daraus dienten als Grundlage für das Buch 1905, welches 1908/09 geschrieben wurde.

[7]              Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, S 227.

[8]              Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, Seite 295.

[9]              ebenda, Seite 315 (oder in R. Luxemburg, Ges. Werke. Bd. 2, Seite 174)

[10]            siehe auch: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, S. 191-198

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