Der Februarstreik 1941 in Holland -Widerstand der Arbeiterklasse gegen staatliche Pogrome

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Welchen Widerstand kann die Arbeiterklasse gegen die Angriffe des Staates oder von rechten Gruppen gegen Ausländer und einzelne ethnische Gruppen leisten? Auf welcher Grundlage kämpft die Arbeiterklasse gegen rassistische Pogrome – auf nationalistischer oder internationalistischer? Über welche Mittel verfügt die Arbeiterklasse, um sich als Klasse gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen? Welche Intervention der Revolution gegenüber solch einer Situation? Dass die Arbeiterklasse keineswegs zur Hilflosigkeit verdammt ist und tatenlos zusehen muss, beweisen die Reaktionen der Arbeiter in Holland im Winter 1941, über die wir hier berichten wollen.

Inmitten des 2. Weltkriegs, als Holland von deutschen Truppen besetzt war, das deutsche Kapital Zwangsarbeiter für die Fabriken in Deutschland aushob und Repressionsmaßnahmen und den Abtransport von Juden in die KZs einleitete, entfalteten die Arbeiter in Holland einen Klassenwiderstand, der für uns heute viele Lehren bietet.

Wir veröffentlichen nachfolgend einen ungekürzten Auszug aus dem Buch „Die Holländische Linke", das die IKS 1990 auf Französisch veröffentlichte. Diese Arbeit war das Ergebnis einer historischen Untersuchung des Wirkens der „Holländischen Linken". In dem Artikel wird der Einfluss der holländischen Marx-Lenin-Luxemburg-Front behandelt, die nach der deutschen Besetzung Hollands als illegale Organisation von den Linkskommunisten beeinflusst mit ca. 400-600 Mitgliedern gegründet worden war. Aus Platzgründen können wir nicht näher auf die Geschichte dieser Gruppe eingehen. Wir verweisen hier auf eine ausführliche Abhandlung ihrer Geschichte in der nun erschienen englischen Ausgabe des Buches „Die Holländische Linke".

Der Februarstreik wurde sowohl von der Verfolgung der Juden durch die deutschen Behörden wie auch von der wachsenden Unzufriedenheit der holländischen Arbeiter ausgelöst, die mit einer wachsenden materiellen Not und der Zwangsarbeit in den Fabriken Deutschlands konfrontiert waren. Schon Ende 1940 hatte der Reichskommissar Seyss-Inquart anti-semitische Maßnahmen ergriffen, wobei er Unterstützung von der NSB (National-Sozialistischen Bund) Musserts erhielt, einer kleinen holländischen Nazi-Partei. Für die holländischen Beamten jüdischen Ursprungs wurde ein Beförderungsverbot verhängt, jegliche Beschäftigung im öffentlichen Dienst wurde den Juden verboten. Diese Maßnahmen lösten unter den Studenten in Delft und Leiden Streiks aus. Ungeachtet dessen setzten die deutschen Besatzungsmächte und die holländischen Nazis ihre Verfolgungen der zahlenmäßig großen jüdischen Bevölkerung Amsterdams fort. Der Besuch von Cafés und Kinos wurde ihnen untersagt, und ab Januar 1941 mussten sie sich auf besonderen Listen eintragen.

Die Protestbewegung gegen die anti-semitischen Maßnahmen – die die gesamte holländische Bevölkerung schockierten – wurde anfangs hauptsächlich von Studenten getragen. Aber die Grundlage ihres Protestes gegen den Antisemitismus war eine nationalistische, wie ihre Reaktion zeigt, als sie am 31. Januar in den Schulen und auf den Straßen den Geburtstag der ins Londoner Exil geflüchteten Prinzessin Beatrix feierten. Die im Juni 1940 erfolgte Bombardierung Rotterdams, bei der mehr als 30.000 Menschen zu Tode kamen und die zu Einschränkungen in der Lebensmittelversorgung geführt hatte, förderte die deutsch-feindliche Stimmung in der Bevölkerung.

Aus der Sicht der MLL-Front (Marx-Lenin-Luxemburg-Front) war es besonders wichtig, dass die verständliche deutsch-feindliche Stimmung in Holland nicht zu einer Verschärfung der nationalistischen und pro-englischen Haltung führte. Der Kampf gegen den Antisemitismus war aus ihrer Sicht verbunden mit dem allgemeinen Kampf gegen das gesamte kapitalistische System.

Die MLL-Front rief zum Boykott jener Einrichtungen auf, die sich judenfeindlich verhielten, obwohl sie sich der Tatsache bewusst war, dass ein allgemeiner Boykott kaum durchführbar war. Sie berücksichtigte dabei, dass der Kampf gegen den Antisemitismus allein nicht ausreichte, und rief die Juden zum Kampf für den Sozialismus auf. Sie erinnerte daran, dass die Befreiung der Juden nur unter dem Sozialismus möglich sein werde, und prangerte den Zionismus als gefährliches Streben nach einem Nationalstaat innerhalb der kapitalistischen Welt an.

Während sich eine tiefgreifende Ablehnung gegen die wachsenden judenfeindlichen Maßnahmen entwickelte, nahm gleichzeitig die Unzufriedenheit der Arbeiter zu. Sie litten insbesondere unter der Arbeitslosigkeit: Im August 1939 gab es allein in Amsterdam mehr als 40.000 Arbeitslose, im Juli war ihre Zahl auf 60.000 angewachsen und erreichte damit ein Ausmaß wie während der schlimmsten Zeiten der Weltwirtschaftskrise. In Holland waren insgesamt ca. 300.000 Arbeiter arbeitslos. Innerhalb eines Jahres waren die Lebensmittelpreise um mehr als 36% gestiegen, was die Not weiter zuspitzte.

Den Arbeitslosen wurde ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aufgezwungen. Sie sollten insbesondere gegen Zahlung eines Hungerlohns an der Landgewinnung und der Befestigung von Deichen mitarbeiten. Im Oktober 1940 pendelten allein aus Amsterdam jeden Tag 11.000 Arbeiter in die Provinz Utrecht. Von November an kam es zu Demonstrationen und Zusammenstößen. In Amsterdam wurde im Januar immer wieder gegen die ‚Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen‘ protestiert; die Proteste richteten sich gegen die Arbeitsverwaltung der Gemeinden und der Stadt Amsterdam. Jedesmal griff die holländische Polizei ein und zerstreute die Protestierenden.

Gleichzeitig wurden die ersten Arbeitskräfte mit Hilfe der holländischen Behörden – insbesondere der Amsterdamer Verwaltung - nach Deutschland verschleppt, 7000 allein im Oktober 1940. Im Januar 1941 sollten den Anweisungen der deutschen Kriegsmarine zufolge 3000 Arbeiter nach Deutschland zur Zwangsarbeit geschickt werden, andernfalls drohte ihnen das Konzentrationslager. Es handelte sich um qualifizierte Arbeiter, um Metaller und Schiffsbauer. Ab Mitte Februar spitzte sich unter den Werftarbeitern die Unruhe stark zu.

In dieser zunehmend angespannten Atmosphäre ergriffen die deutschen Behörden immer brutalere anti-semitische Maßnahmen. Seit Dezember waren die Angriffe der holländischen und deutschen Nazis gegen das Judenviertel im Zentrum Amsterdams in Pogrome ausgeartet. Dabei wurde am 11. Februar 1941 eine Gruppe von Nazis von jüdischen und nicht-jüdischen Arbeitern angegriffen, die sich, aus anderen Stadtvierteln kommend, ihnen angeschlossen hatten. Dabei kam ein holländischer Nazi ums Leben.

Am 12. Februar riegelten die deutschen Besatzungsmächte das gesamten Judenviertel ab. Jüdische Persönlichkeiten wurden zur Bildung eines Judenrates aufgefordert, der die „Ordnung aufrechterhalten" und für die Entwaffnung sorgen sollte. Aber die Bevölkerung verfügte über keine Waffen, die Suche blieb ergebnislos. In Wirklichkeit war diese Forderung nur ein Vorwand, um das Viertel in eine Ghetto umzuwandeln und Hausdurchsuchungen durchzuführen.

Am 17. Februar streikten 2000 Werftarbeiter aus Solidarität mit ihren 128 verschleppten, zu Zwangsarbeit in Deutschland gezwungenen Kollegen. Die deutschen Behörden gaben nach; die Arbeiter errangen einen moralischen Sieg, der später eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung des Streiks spielen sollte.

Nach einem Vorfall, bei dem sich die Besitzer eines jüdische Cafés den Angriffen der deutschen Polizei widersetzt hatten, nahmen die Behörden mehr als 400 jugendliche Juden am Wochenende des 22./23. Februar fest. Kurze Zeit später wurden sie nach Buchenwald verschleppt. Der Aufmarsch von mit Maschinengewehren bewaffneten SS-Truppen sorgte für große Unruhe und Wut unter den Arbeitern Amsterdams.

Am 25. Februar brach in den Betrieben der Stadt spontan ein Streik aus. Es kam zu Demonstrationen unter der Parole „Weg mit den Pogromen gegen die Juden". Am 26. Februar dehnte sich der Massenstreik auf Den Haag, Rotterdam, Groningen, Utrecht, Hilversum, Haarlem und andere Städte aus. Sogar bis nach Belgien dehnte sich die Bewegung teilweise aus.

Die deutschen Behörden griffen mit harter Hand durch: Aufmarsch ganzer SS-Bataillone in den bestreikten Städten mit der Order, auf die Demonstranten zu schießen, Todesstrafe, Massenverhaftungen, Anweisungen an die Arbeitgeber, für die zwei Streiktage keine Löhne zu zahlen. Die Streikbewegung war zerschlagen. Man begann, Streikende zu erschießen. Die Massendeportationen von Juden wurden fortgesetzt, im Juni 1942 erreichten sie einen Höhepunkt. Ende des Krieges hatten von den einst 120.000 Juden nur 20.000 überlebt, die rechtzeitig mit falschen Papieren abgetaucht und geflüchtet waren.

Es steht fest, dass die holländische KP, die am 20. Juli 1940 nach dem Beginn der Besatzung verboten worden war, eine große Rolle bei der Auslösung der Streiks gespielt hat. Aber sie war über die schnelle Ausdehnung der Streiks selbst überrascht. Die Ausdehnung außerhalb Amsterdams geschah spontan, ohne ihr Zutun. Als die KP zum landesweiten Generalstreik am 6. März aufrief, wurde dieser Aufruf von den Arbeitern nicht befolgt. Doch dieser Streik war massiv und hatte Ausmaße wie der große Streik von 1903 angenommen. Der Aspekt des spontanen Massenstreiks, der sich von einem Generalstreik unterschied, sollte auch innerhalb der MLL-Front Wirkung zeigen, die anfing, immer mehr luxemburgistische Positionen zu vertreten.

Auch wenn sie nur eine kleine Organisation mit ungefähr 300 Mitgliedern war, hat die MLL-Front bei den Streiks eine große Rolle gespielt. Sie hatte eine Jugendorganisation (MJC) gegründet, die die Monatszeitung ‚Het Kompas‘ veröffentlichte. Seit Januar 1941 veröffentlichte sie regelmäßig die Propagandazeitung ‚Spartacus‘ mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren im Februar 1941. Dies war die höchste Auflage einer illegalen Zeitung. Die Wahl des Namens bezog sich ausdrücklich auf Rosa Luxemburg. Die Tatsache, dass Sneevliet selbst die Junius-Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie" übersetzte, brachte eine Distanzierung von den leninistischen Positionen zur nationalen Frage zum Ausdruck.

Vor dem Streik verbreitete die MLL-Front viele Schriften (Flugblätter, Manifeste) mit Aufrufen zum Kampf. In ihrer Propaganda trat sie dafür ein, dass die Arbeiter Selbstverteidigungsgruppen in den Arbeitervierteln gegen die antisemitischen Maßnahmen bilden sollten. Als die Razzien gegen die Juden begannen, verfasste sie folgenden Aufruf: „Wenn Männer und Frauen der Arbeiterviertel im Judenviertel Amsterdams zusammenkommen, (...) wenn sie den Kampf gegen die Banditen der holländischen Nazis führen, werden wir eine große spontane Solidaritätskundgebung erleben, die in den Betrieben in einer höheren und wirksameren Form zu sehen sein wird.

Reagiert gegenüber jeder Gewaltanwendung der Nazis durch Agitation und Proteststreiks in den Betrieben!

Verlasst massenhaft die Betriebe, legt die Arbeit nieder und schließt Euch massiv Euren Klassengenossen an, die sich in den bedrohten Vierteln im Kampf befinden!"

Der Einfluss der MLL-Front in Amsterdam war schwer einzuschätzen, obgleich dort vor der Besatzung ca. 400 Mitglieder der NAS ( (Nationaal arbeids secretariaat) gezählt wurden. Während die KP auf dem Hintergrund einer allgemeinen sozialen Gärung, die sich unabhängig von ihr entwickelt hatte, zum Streik aufgerufen hatte, spielte die MLL-Front eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung der Streiks auf andere Städte. Aber der Streik war vor allem das Ergebnis und wurde von den Arbeitern selbst angeführt, die unabhängig von Parteiaufrufen handelten.

Am Ende des Streiks trat die MLL-Front, die sich gegen den Aufruf zum Generalstreik der KP für den 6. März ausgesprochen hatte, für die Bildung von Streikkomitees und für illegale Aktionen in den Betrieben ein.

Aber im Gegensatz zu den großen Massenstreiks der Vergangenheit brachten der Februarstreik keine Streikkomitees hervor, die den Kampf hätten anführen können. Er fand spontan statt, ohne dass typische Kampforgane gebildet wurden.

Während man in der MLL-Front dazu neigte, den revolutionären Charakter der Bewegung zu überschätzen, die nie eigenständige Arbeiterforderungen aufgestellt hatte, bewies ihre Ablehnung des Nationalismus, dass sie die Notwendigkeit eines Kamfes gegen die Ideologie des nationalen Widerstandes nicht unterschätzte. Weil sie nicht als ein Bestandteil der gegen Deutschland gerichteten nationalen Widerstandsfront aufgefasst werden wollte, betonte sie die Notwendigkeit des Internationalismus. Der oben zitierte Aufruf beweist dies eindeutig: „Wie gewinnen? Durch einen Sieg Deutschlands? Nein! Einen Sieg Englands? Nein! Die Dritte Front, das sozialistische Proletariat im Kampf gegen den Nationalsozialismus und den Nationalbolschewismus muss siegen! Der internationale Klassenkampf muss siegen!"

Der Ton dieses Manifestes hob sich von dem Streikaufruf der KP ab, in dem diese gegen die Nazis gerichtete Forderungen mit nationalistischen Parolen wie die des „entschlossenen Kampfes für die Befreiung unseres Landes" in einen Topf schmiss.

Die MLL-Front trat nie für antifaschistische Parolen ein. Im Unterschied zu den sozialdemokratischen Gruppen Hollands, die den Antifaschismus zur ersten Etappe im Kampf um den Sozialismus erklärten, hob sie hervor, dass es nur darum gehen könne, dem Kapitalismus auf der ganzen Welt den Kampf anzusagen.

In diesem Sinne betrieb die „Dritte Front" Propaganda unter den deutschen Soldaten. In Rotterdam wurden ihre Flugblätter sogar in den deutschen Kasernen verteilt. Ihre Propaganda stützte sich weder auf eine Verteidigung der Demokratie noch auf pazifistische Aufrufe. Im auf Deutsch verfassten Manifest vom Mai 1941 steht: „Die Volksmassen haben kein Interesse an einem Sieg Englands – genauso wenig wie an einem Sieg Deutschlands. Sie müssen ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen. Sie sind die Dritte Front, die siegen kann und muss!

Nieder mit dem Krieg, aber auch nieder mit dem kapitalistischen Frieden!

Der Weltfrieden ist nur durch den Sieg des internationalen Sozialismus möglich!" („An die niederländischen Arbeiter, Bauern und Intellektuellen", Beilage zu Spartacus Nr. 10).

(Auszug aus dem Buch „Die Holländische Linke", französische Ausgabe S. 246)

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