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In den Industriestaaten gesteht die Bourgeoisie den Ausgebeuteten im allgemeinen im Sommer Ferien zu, damit sie ihre Arbeitskraft wiederherstellen und in der restlichen Jahreszeit produktiver arbeiten. Seit langem haben die Ausgebeuteten aber auch erfahren, dass ihre Zerstreuung, ihre Abwesenheit vom Arbeitsplatz während der Ferien und ihre geringere Wachsamkeit von der herrschenden Klasse ausgenutzt werden, um die Angriffe gegen ihre Lebensbedingungen zu verschärfen. Während die Arbeiter sich also ausruhen, bleiben die Bourgeoisie und ihre Regierungen nicht passiv. Jedoch haben sich auch seit einigen Jahren in der Sommerzeit die imperialistischen Konflikte zugespitzt.
Zum Beispiel fing im August 1987 mit der Besetzung Kuwaits durch den Irak der Konflikt an, der zur Golfkrise und zum Golfkrieg werden sollte. Im Sommer 1991 fing das ehemalige Jugoslawien an auseinanderzubrechen, was wiederum zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert den Krieg in das Zentrum Europas brachte. Und im Sommer 1995 kam es zu den Nato-Bombardierungen und zur (von den USA unterstützten) kroatischen Offensive gegen Serbien. Und man könnte die Reihe von Beispielen weiter fortsetzen.
Dagegen war der Sommer 1997 auf imperialistischer Ebene besonders ruhig gewesen. Und dennoch hatte sich die internationale Lage weiter entwickelt. Im Sommer 1997 brach unabhängig vom Willen der Kapitalisten und ihrer Regierungen die Finanzkrise in Südostasien aus, welche Erschütterungen der Weltwirtschaft ausgelöst haben, die diese nicht überwinden kann.
Der Sommer 1998 wiederum setzte mit dem Krieg im Kongo und den Attentaten gegen zwei US-Botschaften in Afrika, denen die US-Bombardierungen in Afghanistan und im Sudan folgten, die ‘Tradition’ der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen fort. Gleichzeitig war der Sommer geprägt durch eine beträchtliche Zuspitzung der Erschütterungen der Weltwirtschaft, insbesondere mit dem Chaos in Russland und dem erneuten Absinken der ‘Schwellenländer’ sowie mit dem historischen Verfall der Aktienkurse in den Industriestaaten.
Die jüngste Auslösung der Erschütterungen aller Art der kapitalistischen Welt ist kein Zufall. Sie spiegelt ein neues Fortschreiten der unlösbaren Widersprüche der Industriegesellschaft wider. Es gibt keine direkte, mechanische Verbindung zwischen den Erschütterungen im Bereich der Wirtschaft und der Zuspitzung der imperialistischen Konflikte. Aber sie haben alle den gleichen Ursprung: das Versinken der Weltwirtschaft in einer ausweglosen Krise, was die historische Sackgasse zum Ausdruck bringt, in der die kapitalistische Produktionsform steckt, seitdem sie in ihre Dekadenzphase seit dem 1. Weltkrieg eingetreten ist.
Das ausgehende 20. Jahrhundert ist als das Jahrhundert bekannt, das der Menschheitsgeschichte die größten Tragödien gebracht hat. Und nur die Arbeiterklasse kann durch die Verwirklichung der kommunistischen Revolution verhindern, daß das 21. Jahrhundert noch schlimmer wird. Das ist die Hauptlehre, die die Arbeiterklasse aus dem Versinken des Kapitalismus in der Krise und wachsenden Barbarei ziehen muss.
Nach Asien, Russland und Lateinamerika
Die Wirtschaftskatastrophe erreicht das Herz des Kapitalismus
Die Finanzkrise, die vor etwas mehr als einem Jahr in Südostasien ausbrach, ist dabei, heute ihr wirkliches Ausmaß zu zeigen. Im Sommer gab es eine erneute Zuspitzung mit dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und den Erschütterungen in einem bislang nicht gekannten Ausmaß in den ‘Schwellenländern’ Lateinamerikas. Aber nunmehr sind die Hauptmetropolen des Kapitalismus, die höchst entwickelten Staaten Europas und Nordamerika am heftigsten betroffen. Dort purzeln die Aktienkurse, die Wachstumsprognosen werden ständig nach unten korrigiert. Die Euphorie, von der die Bourgeoisie vor einigen Monaten noch erfaßt schien, ist längst verfolgen. Diese Euphorie kam durch das schwindelerregende Ansteigen der Aktienkurse im Westen in der ersten Jahreshälfte 1998 zum Ausdruck. Heute sprechen die gleichen ‘Spezialisten’, die die ‘gute Gesundheit’ der angelsächsischen Staaten lobten und die einen Wiederaufschwung in allen europäischen Staaten vorhersahen, mit als erste von Rezession, gar von ‘Depression’. Und sie haben Grund dazu pessimistisch zu sein. Die Wolken über dem Himmel der stärksten Wirtschaften kündigen keine einfache Schauer an, sondern einen wahren Sturm, die die Sackgasse veranschaulicht, in welche die kapitalistische Wirtschaft reingeraten ist.
Als Moment einer neuen und brutalen Zuspitzung hat der Sommer 1998 auch der Glaubwürdigkeit des kapitalistischen Systems einen Schlag versetzt: Zuspitzung der Krise in Asien, wo die Rezession sich dauerhaft niedergelassen und jetzt die beiden ‘Großen’ Japan und China erfaßt hat, eine bedrohliche Lage in Lateinamerika, spektakulärer Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und Kurseinbrüche, die die historischen Börsenhaussen an den Hauptbörsen der Welt zum Einsturz brachten. Innerhalb von drei Wochen hat der russische Rubel 70% seines Wertes verloren (seit Juni 1991 ist das Bruttoinlandsprodukt um 50%, wenn nicht gar um 80% gesunken). Am 31. August, dem berühmten ‘blauen Montag’, denn die Journalisten mochten nicht vom ‘schwarzen Montag’ sprechen, rutschte Wall Street um 6.4% ab, und der Nasdaq, der Index der Technologiewerte, um 8.5%. Am Folgetag wurden die europäischen Börsen erfasst. In Frankfurt fielen die Kurse morgens um 2%, in Paris 3.5%. Im Verlaufe des Tages verlor Madrid 4.23%, Amsterdam 3.56% und Zürich 2.15%. In Asien fiel am 31. August die Börse von Hongkong um 7%, und die von Tokio erreichte ein 12 Jahres Höchsttief. Seitdem hat sich der Kursverfall der Aktienwerte noch beschleunigt, so daß am Montag, den 21. September (und bis zum Erscheinen dieser Ausgabe der Internationale Revue wird sich die Lage noch verschärft haben) die meisten Börsen das Niveau des Jahresanfangs von 1998 erreicht hatten: + 0.32% in New York, + 5.09 % in Frankfurt, aber Negativwerte in London, Zürich, Amsterdam, Stockholm...
Die Akkumulierung all dieser Ereignisse ist keineswegs ein Zufall. Im Gegensatz zu allen Beteuerungen ist sie auch kein Zeichen einer ‘vorübergehenden Vertrauenskrise’ gegenüber den ‘Schwellenländern’, oder eine ‘begrüßenswerte mechanische Korrektur eines überbewerteten Marktes’, sondern es handelt sich sehr wohl um eine neue Episode des Versinkens in das Inferno des Kapitalismus als ein ganzes, ein Abstieg in die Hölle, von dem uns der Zusammenbruch der Wirtschaft in Russland einen karikaturalen Vorgeschmack liefert.
Die Krise in Russland
Monatelang trösteten sich die Weltbourgeoisie und ihre ‘Experten’, die durch die Finanzkrise in Südostasien vor einem Jahr erschrocken worden waren, damit, dass die die anderen ‘Schwellenländer’ nicht mit in den Sog gezogen worden waren. Die Medien hoben jeweils den ‘besonderen Charakter’ der Schwierigkeiten in Thailand, Korea, Indonesien usw. hervor. Und dann hörte man erneut Alarmzeichen mit der Zuspitzung des Chaos der russischen Wirtschaft zu Anfang des Sommers (1). Nach einer anfänglich nur sehr schleppenden Reaktion, hat die ‘internationale Gemeinschaft’, die in Südostasien schon kräftig zur Kasse gebeten wurde, 22.6 Milliarden Dollar für einen Zeitraum von 18 Monaten zugestanden, was wiederum mit den üblichen drakonischen Bedingungen verbunden ist: drastische Reduzierung der Staatsausgaben, Steuererhöhungen (insbesondere der Lohnsteuer, womit die chronische Schwäche des russischen Staates, Steuern bei den Unternehmern einzutreiben, ausgeglichen werden soll), Preiserhöhungen, Beitragserhöhungen für die Rentner. All das auf einem Hintergrund, wo die Lebensbedingungen der russischen Arbeiter ohnehin schon miserabel waren und die meisten Staatsbeschäftigten und ein Großteil der privat Beschäftigten seit Monaten keine Löhne mehr ausgezahlt bekommen haben. Diese Misere hat dramatische Ausmaße angenommen: Seit Juni 1991 ist bekannt, daß die Lebenserwartung für Männer von 69 auf 58 Jahre gefallen, die Geburtenrate von 14.7 auf 9.5%o gesunken ist.
Einen Monat später musste man feststellen: die aufgewandten ‘Hilfsgelder’ war ein reines Verlustgeschäft. Nach einer schwarzen Woche an der Moskauer Börse und nachdem Hunderte von Banken mit dem Bankrott kämpfen, waren Jelzin und seine Regierung am 17. August dazu gezwungen, den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit aufzugeben: den Rubel und seinen Wechselkurs gegenüber dem Dollar. Von der ersten Zahlung von 4.8 Mrd. $, die im Juli im Rahmen eines IWF-Programms geleistet wurde, wurden 3.8 Mrd. $ für die wirkungslose Verteidigung des Rubels aufgebracht. Was die verbleibende Milliarde Dollar angeht, diente sie keineswegs den Sanierungsmaßnahmen der Staatsfinanzen und noch weniger dazu, die noch ausstehenden Löhne der Beschäftigten zu zahlen. Sie war ganz einfach bei der Schuldenzahlung draufgegangen (die mehr als 35% der Staatseinnahmen beansprucht), mit anderen Worten: sie war verwendet worden für die anstehenden Zinsratenzahlungen, die damals anstanden. Ohne von den Beträgen zu sprechen, die entwendet wurden und direkt in die Tasche der einen oder anderen Fraktion einer wie Gangster handelnden Bourgeoisie wanderten. Das Scheitern dieser Politik heisst für Russland, dass zusätzlich zu den reihenweisen Bankenpleiten (mehr als 1.500 Banken sind betroffen), zu dem Absturz in die Rezession und der Explosion seiner in Dollar berechneten Auslandsschulden, die galoppierende Inflation ihren Einzug hält. Man geht jetzt schon davon aus, dass sie zwischen 200 und 300% in diesem Jahr erreichen könnte. Und das Schlimmste ist noch nicht da.
Dieser Absturz hat sofort ein Auseinanderbrechen an der Spitze des russischen Staates bewirkt und eine politische Krise hervorgerufen, die Ende September (zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels) noch nicht abgeschlossen war. Dieses Auseinanderbrechen in den Reihen der russischen Führungsschicht, die immer mehr den Eindruck entstehen lässt, als ob es sich um eine einfache Bananenrepublik handele, hat die westlichen Bourgeoisie in Angst und Aufregung versetzt. Aber die Bourgeoisie mag sich um das Wohl Jelzins und seiner Konsorten Sorgen machen, vor allem ist die russische Bevölkerung und die Arbeiterklasse dazu gezwungen, für die Folgen dieser Lage aufzukommen. So hat der Kursverfall des Rubels die importierten Lebensmittel schon um über 50% verteuert, wobei Russland ungefähr die Hälfte der benötigten Nahrungsmittel importiert. Die Produktion ist auf ungefähr 40% unter das Produktionsniveau zur Zeit der Berliner Mauer zurückgefallen...
So wird heute das bestätigt, was wir vor 9 Jahren in unseren ‘Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern’ im September 1989 schrieben:
„Gegenüber dem totalen Scheitern der Wirtschaft dieser Länder besteht der einzige Ausweg darin, nicht eine wirkliche Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln, sondern zu versuchen, den Kopf über Wasser zu halten. Damit müssen Mechanismen eingeführt werden, die eine wirkliche Verantwortung ihrer Führer bedingen. Diese Mechanismen setzen eine „Liberalisierung’ der Wirtschaft sowie die Schaffung eines wirklichen Binnenmarktes voraus, eine größere Selbständigkeit der Unternehmen und die Entwicklung eines starken ‘privaten’ Sektors (...) Obgleich solch ein Programm immer unabdingbarer wird, beinhaltet seine Umsetzung praktisch unüberwindbare Hindernisse“. (Internationale Revue Nr. 12, These 13).
Zwei Monate später fügten wir hinzu:
„bestimmte Bereiche der Bourgeoisie antworten, daß man einen neuen ‘Marshall-Plan’ durchziehen müsste, der die Wirtschaftskraft dieser Länder neu herstellen würde (...) Deshalb stehen heute große Kapitalinvestitionen zur Entwicklung des Wirtschaftspotentials, insbesondere der Industriebereiche, nicht auf der Tagesordnung. Selbst wenn solch ein Industriepotential auf die Beine gestellt werden könnte, würden die von ihm erzeugten Produkte den Weltmarkt nur noch mehr erschüttern, der ohnehin schon total übersättigt ist. Bei den Ländern, die aus dem Stalinismus hervorgehen, verhält es sich so wie mit den Ländern der 3. Welt: all die massiven Finanzspritzen während der 70er und 80er Jahre haben nur zu der heute allseits bekannten katastrophalen Lage geführt (Schulden von 1.400 Mrd. Dollar und noch mehr zerstörte Wirtschaften). Den osteuropäischen Ländern (deren Wirtschaft in vieler Hinsicht übrigens der der peripheren Länder ähnelt) wird es nicht viel anders gehen. (...) Das einzige, was man erwarten kann, sind Kreditvergaben oder dringliche Hilfen für Länder, um einen totalen, offenen finanziellen Bankrott und Hungersnöte zu vermeiden, die die Erschütterungen dieser Länder nur noch verstärken würden“ (Internationale Revue Nr. 12, Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos’ 10.2.1990).
Und zwei Jahre später schrieben wir 1991: „Um die finanzielle Erwürgung der ehemaligen UdSSR etwas zu lockern, haben die G7-Staaten einen Aufschub von einem Jahr für die Rückzahlung der Zinsen für die sowjetische Verschuldung gewährt, die heute ca. 80 Mrd. Dollar umfaßt. Aber dies wird nur ein Pflaster auf einem Holzbein sein, denn die bewilligten Gelder selber verschwinden wiederum wie in einem Fass ohne Boden. Vor zwei Jahren waren alle möglichen Illusionen über ‘neue Märkte’ verbreitet worden, die der Zusammenbruch der stalinistischen Regime ermöglichen würde. Während heute die Weltwirtschaftskrise unter anderem immer deutlicher durch eine Liquiditätskrise in Erscheinung tritt, zögern die Banken immer mehr, ihr Kapital in diesem Teil der Welt anzulegen.“ (Internationale Revue Nr. 68).
So haben die Tatsachen entgegen allen Illusionen der Bourgeoisie und der Beweihräucherer ihres Systems das bewiesen, was die marxistische Theorie den Revolutionären ermöglichte vorauszusagen. Heute sehen wir ein vollständiges Auseinanderbrechen, die Ausdehnung eines schrecklichen Elends an den Türen dessen, was man als ‘Festung Europa’ bezeichnet.
Die Bemühungen der Medien, die Botschaft zu vermitteln, sobald die gegenwärtige Börsenpanik vorüber sei, würden die Konsequenzen für die wirkliche Wirtschaft auf internationaler Ebene nur gering sein, hat keinen großen Erfolg gebracht. Dies ist normal, denn der Wille der Kapitalisten, sich selbst zu beruhigen, und vor allem der Arbeiterklasse das wirkliche Ausmaß der Krise zu verheimlichen, prallt mit den harten Tatsachen zusammen. Zunächst werden alle Gläubiger Russlands erneut stark zur Kasse gebeten. Russland hatte von den westlichen Banken mehr als 75 Milliarden Dollar Kredite erhalten, die in ihrem Besitz befindlichen Schatzbriefe haben schon 80% ihres Wertes verloren, und Russland hat jegliche Rückzahlungen in Dollar eingestellt. Darüber hinaus befürchtet die westliche Bourgeoisie, dass den osteuropäischen Staaten das gleiche Schicksal erfährt. Zu dieser Befürchtung gibt es allen Anlass: Polen, Ungarn und die Tschechische Republik zogen ungefähr 18mal soviel westliche Investitionen an wie Russland. Nun konnte man Ende August die ersten Risse in den Börsen von Warschau (–9.5%) und Budapest (–5.5%) vernehmen, die zeigen, dass die Kapitalströme aus diesen neuen Finanzplätzen abziehen. Darüberhinaus zieht Russland in wachsendem Maße die anderen GUS-Staaten in den Sog seines Zusammenbruchs mit hinein, denn deren Wirtschaften sind eng mit der Russlands verbunden. Auch wenn Russland letztendlich nur ein ‘kleiner Schuldner’ im Vergleich zu anderen Regionen ist, verleiht seine geographische Lage – die Tatsache, daß es inmitten Europas ein mit Nuklearwaffen bestücktes Minenfeld darstellt –, und die Gefahren, die von dem Chaos ausgehen, das die Wirtschafts- und politische Krise ausgelöst hat, eine besondere Dimension.
Dabei ist die Tatsache, dass der russische Schuldenberg im Vergleich zu den Schulden Asiens oder anderer Gebiete der Welt relativ begrenzt ist, ein ziemlich schwacher Trost. Tatsächlich sollte diese Erkenntnis im Gegenteil die Aufmerksamkeit auf andere auftauchende Gefahren lenken, wie die Zuspitzung der Finanzkrise in Lateinamerika, wo in den letzten Jahren umfangreiche Direktinvestitionen getätigt wurden (45% der Gesamtinvestitionen in den ‘Entwicklungsländern’ wurden 1997 dort angelegt, 1980 waren es nur 20% und 1990 38%). Die Risiken einer Abwertung in Venezuela, das Absacken der Rohstoffpreise seit der Asienkrise, von der die südamerikanischen Staaten noch heftiger erfasst wurden als Russland, eine gewaltige Auslandsverschuldung, eine astronomische öffentliche Verschuldung (das öffentliche Defizit Brasiliens, das zahlenmäßig der siebtgrößte Staat gemessen am Bruttoinlandsprodukt darstellt, übersteigt bei weitem das Russlands), führen dazu, dass in Lateinamerika eine Zeitbombe tickt, die zusätzlich zu den katastrophalen Folgen Russlands und Asiens ihre zerstörerischen Auswirkungen haben wird. Und diese Zeitbombe tickt vor den Türen der ersten Industriemacht der Erde, den USA.
Aber die Hauptbedrohung kommt nicht aus den unterentwickelten oder schwach entwickelten Staaten sondern aus einem höchstentwickelten Land, das die zweite Wirtschaftsgroßmacht der Erde ist – Japan.
Die Krise in Japan
Noch bevor der Absturz der russischen Wirtschaft den Optimismus der Bourgeoisie aller Länder abgekühlt hatte, war im Juni 1998 ein Beben mit dem Zentrum Tokio ausgelöst worden, das die Gefahr einer Destabilisierung des Weltwirtschaftssystems mit sich bringt. Trotz 7 ‘Ankurbelungsplänen’, in denen ca. 2–3% des BSP pro Jahr in die Wirtschaft gepumpt wurden, trotz einer Abwertung des Yens um die Hälfte seit drei Jahren mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit japanischer Waren auf dem Weltmarkt zu stützen, sinkt die japanische Wirtschaft seit 1992 weiter in die Rezession. Aus Angst, mit den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen in einem sehr zerbrechlichen Umfeld konfrontiert zu werden, hat der japanische Staat immer wieder die ‘Sanierungsmaßnahmen’ seines Bankensektors aufgeschoben. Die Summe nicht zurückzahlbarer Schulden beläuft sich mittlerweile auf ca. 15% des Bruttoinlandsproduktes.... Das reichte, um die japanische und Weltwirtschaft zum Absturz zu bringen. Mittlerweile hat die Rezession ein Ausmaß angenommen wie seit der großen Wirtschaftskrise 1929 nicht mehr. Gegenüber diesem beschleunigten Absinken Japans in die Rezession und den Ausflüchten des Staates, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, war der Yen Zielscheibe umfangreicher Spekulationen, die den ganzen Fernen Osten mit einer Abwertung in Kettenreaktion bedrohten, womit das Signal für das schlimmste deflationäre Szenario gegeben wurde. Am 17. Juni 1998 gerieten die Finanzmärkte in helle Aufregung: die Amerikanische Federal Reserves mußte den Yen massiv unterstützen, da dieser dabei war, in den Keller zu fallen. Aber es war nur ein Zeitaufschub – mit Hilfe der ‘internationalen Gemeinschaft’ konnte Japan einen Fristaufschub erwirken.. und das zum Preis einer immer schwindelerregenderen Verschuldung. Allein die öffentliche Verschuldung entspricht schon der Summe der Produktion eines einzigen Jahres (100% des BSP).
Es ist hier interessant festzustellen, dass die gleichen ‘liberalen’ Ökonomen, die das Eingreifen des Staates in der Wirtschaft verpönen und in den großen internationalen Finanzinstitutionen und in den westlichen Regierungen eine herausragende Rolle spielen, heute lauthals eine neue massive Finanzspritze öffentlicher Gelder für den Bankenbereich fordern, um ihn vor dem Bankrott zu retten. Das zeigt, dass über die ideologischen Sprüche hinaus, wo ‘weniger Staat’ gefordert wird, die bürgerlichen ‘Experten’ sehr wohl wissen, dass der Staat den letzten Rettungsanker gegenüber einer auseinanderbrechenden Wirtschaft darstellt. Wenn sie von ‘weniger Staat’ sprechen, zielen sie auf den ‘Wohlfahrtsstaat, d.h. die Maßnahmen zum Sozialschutz der Beschäftigten (Arbeitslosen- und Krankengelder, Mindestlöhne usw.), und ihre Reden streben danach, die Lebensbedingungen der Arbeiter noch mehr herabzudrücken.
Schließlich unterzeichneten die Regierung und die Opposition am 18. September einen Kompromiss zur Rettung des japanischen Finanzsystems, das aber anstatt die Börsen weiter anzukurbeln, nur zu einem erneuten Kurssturz geführt hat, womit das tiefgreifende Misstrauen der Finanzexperten gegenüber der Wirtschaft der zweiten Wirtschaftsmacht der Erde zum Ausdruck gebracht wird, die jahrelang als das ‘Modell’ präsentiert wurde. Der Chefökonom der Deutsche Bank in Tokio, Kenneth Courtis, der als ein ernsthafter Ökonom eingestuft wird, gab unumwunden zu: „Wir müssen die Dynamik hin zum Absinken, die schlimmer ist als zur Zeit der Ölkrisen Anfang der 70er Jahre (damals fielen der Verbrauch und die Investitionen im freien Fall) umkehren, denn wir sind jetzt in eine Stufe eingetreten, wo wir dabei sind, neue zweifelhafte Kredite zu schaffen. Wir sprechen viel von denen der Banken, aber kaum von denen der Haushalte. Mit dem Abrutschen der Immobilienpreise und ansteigender Arbeitslosigkeit wir es immer mehr zu Zahlungsunfähigkeiten bei der Rückzahlung abgesicherter Kredite im privaten Wohnungsbau kommen. Diese Hypotheken haben die astronomische Höhe von 7.500 Milliarden Dollar erreicht, deren Wert um 60% gefallen ist. Das politische und soziale Problem bleibt gewissermaßen verborgen. (...) Wir dürfen uns aber nichts vormachen: eine ‘Reinigung’ großen Ausmaßes der Wirtschaft hat eingesetzt... und die Unternehmen, die dabei überleben werden, werden unglaublich stark sein. In Japan sind die Risiken, die für die Weltwirtschaft ausgehen, seit den 30er Jahren am größten“ (Le Monde, 23. September).
Die Aussage ist klar: für die Wirtschaft Japans und für die Arbeiterklasse steht das Schlimmste noch bevor, die japanischen Arbeiter, die während der letzten 10 Jahre von der Stagnation schon hart getroffen wurden, müssen noch mehr Sparprogramme, noch mehr Massenentlassungen und eine Verschärfung ihrer Ausbeutung über sich ergehen lassen, während jetzt schon aufgrund der Finanzkrise auch große Firmen schließen müssen. Aber auch das bereitet den Kapitalisten in dieser Phase, wo die Weltarbeiterklasse noch nicht die ideologische Niederlage überwunden hat, die sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erlitten hat, noch nicht die größte Sorge. Was sie immer mehr bedrückt, ist die Zerstörung der Illusionen und das zunehmende Entblößen der katastrophalen Perspektiven ihrer Wirtschaft.
Hin zu einer neuen weltweiten Rezession
Während jeweils bei einem früheren Alarm die ‘Spezialisten’ mit tröstenden Aussagen aufwarteten, wie ‘der Handel mit Südostasien ist nur von geringem Umfang’, ‘Russland hat in der Weltwirtschaft kein großes Gewicht’, ‘die Wirtschaft Europas ist durch die Perspektive des Euros wie gedopt’, ‘die Wirtschaftslage in den USA ist gesund’ usw., ändert sich heute der Ton. Der Minikrach Ende August an allen Finanzplätzen der Welt hat wieder in Erinnerung gerufen, wenn im Sturm zunächst die schwächsten Äste am Baum brechen, dann vor allem, weil der Stamm nicht mehr genügend ‘Energie’ aus den Wurzeln ziehen kann, um die periphäresten Teile zu versorgen. Der Kern des Problems befindet sich in den Industriezentren selber; die Börsenprofis haben sich keineswegs getäuscht. Während die Beruhigungssprüche immer mehr von der Wirklichkeit widerlegt werden, kann man die Wirklichkeit selber nicht mehr verheimlichen. Für die Bourgeoisie kommt es jetzt grundsätzlich darauf auf, dass man sich auf die schmerzhaften sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer internationalen Rezession einstellt, deren Eintreten immer gewisser wird: „eine weltweite Rezession ist nicht abgewendet. Die amerikanischen Behörden haben es für nützlich befunden mitzuteilen, dass sie die Ereignisse sehr genau verfolgen (...), die Wahrscheinlichkeit einer weltweiten wirtschaftlichen Verlangsamung darf nicht vernachlässigt werden. Ein Großteil Asiens steckt schon in der Rezession. In den USA könnten gesunkene Aktienwerte die Haushalte dazu bewegen, höhere Beträge zu sparen, womit die Ausgaben für Konsum sinken würden, was wiederum zu einer wirtschaftlichen Verlangsamung führt“ (Le Soir, 2. September).
Die Krise in Ostasien hat schon zu einer massiven Kapitalentwertung geführt, indem Hunderte von Produktionsstandorte stillgelegt wurden, indem Guthaben an Wert verloren, Tausende Firmen dicht gemacht haben und Millionen von Menschen noch tiefer in Armut versunken sind. ‘Der dramatischste Zusammenbruch eines Landes während der letzten 50 Jahre’ – so beschreibt die Weltbank die Lage in Indonesien. Übrigens war auslösendes Moment des Rückgangs der Aktienkurse die offizielle Ankündigung des Beginns der Rezession im zweiten Halbjahr 1998 in Südkorea und Malaysien. Nach Japan, Hongkong, Indonesien und Thailand ist nahezu das ganze so hochgelobte Südostasien abgestürzt, denn man erwartet, dass selbst Singapur Ende des Jahres in die Rezession gerät. Nur Kontinental-China und Taiwan bilden bislang noch eine Ausnahme, aber wie lange noch? Im Falle Asiens spricht man übrigens nicht mehr von Rezession, sondern von Depression: „Eine Depression liegt hingegen dann vor, wenn das Schrumpfen von Produktion und Handel sich gegenseitig derart potenzieren, daß die sozialen Grundlagen der wirtschaftlichen Aktivität Schaden leiden. In diesem Stadium wird es unmöglich, auf einen Umschwung der Entwicklungstendenzen zu bauen, und die Einleitung klassischer Wiederankurbelungsmaßnahmen ist entweder schwer zu realisieren oder sinnlos. Exakt in dieser Lage befinden sich derzeit viele Länder Asiens, was für die gesamte Region bedrohlich ist) (Le Monde Diplomatique, Sept. 98).
Wenn man die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Industriezentren mit der Rezession der zweiten Wirtschaftsmacht der Welt – Japan – und des ganzen südostasiatischen Raums zusammenführt, wenn man die Rezessionsauswirkungen, die der Zusammenbruch in Russland in den anderen osteuropäischen Staaten und in Lateinamerika hervorgerufen hat (insbesondere ersichtlich durch den Rückgang der Rohstoffpreise, darunter vor allem Öl), mit berücksichtigt, gelangt man zu einer unvermeidbaren Schrumpfung des Weltmarktes, die den Auftakt dieser neuen internationalen Rezession stellen wird. Der IWF täuschte sich nicht. Er hat schon die Rezessionsauswirkungen bei seinen Prognosen berücksichtigt und meint, dass die Finanzkrise weltweit 2% weniger Wachstum im Jahr 1998 im Vergleich zu 1997 (4.3%) bedeuten wird, während das Jahr 1999 erst das Schlimmste bringen wird. Dabei sprach man vorher noch von geringfügigen Auswirkungen! Das nächste Jahrtausend, das ja den Beweis des endgültigen Sieges des Kapitalismus und der neuen Weltordnung liefern sollte, beginnt wahrscheinlich mit Nullwachstum.
Kontinuität und Grenzen der Hilfsmittel
Seit mehr als 30 Jahren haben die Flucht nach Vorne in immer mehr Verschuldung sowie ein Aufschieben der zerstörerischsten Auswirkungen der Krise auf die Peripherie es der internationalen Bourgeoisie ermöglicht, immer wieder für einen Aufschub zu sorgen. Diese heute noch immer im großen Umfang praktizierte Politik zeigt immer mehr Erschöpfungserscheinungen. Die neue finanzielle Ordnung, die schrittweise das Abkommen von Bretton Woods nach dem Krieg ersetzt hat, erweist sich heute als sehr kostspielig. „Die reichen Staaten (USA, Europäische Union, Japan) haben daraus Nutzen geschlagen, während die kleinen Staaten durch einen auch nur bescheidenen Kapitalfluss leicht zermalmt werden’ (John Llewellyn, Chefökonom bei Lehman Brothers London). Wie bei einem Bumerang sind die zerstörerischsten Auswirkungen der Krise immer weniger auf die Randbereiche der internationalen Weltwirtschaft einzugrenzen. Die Verschlechterung der Lage und die wirtschaftlichen Erschütterungen haben solche Ausmaße angenommen, dass die Auswirkungen unvermeidlich direkt im Herzen selber der mächtigsten Metropolen zu spüren sind. Nach dem Bankrott der 3. Welt, des Ostblocks und Südostasiens, hat jetzt die zweite Wirtschaftsmacht der Erde – Japan – angefangen zu schwanken. Hier dreht es sich nicht mehr um die Peripherie des Systems, sondern einer der drei Pole ist erfaßt, der zum Herzen des Systems gehört. Ein anderer untrüglicher Beleg der Erschöpfung dieser Mittel ist die immer größere Unfähigkeit der internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank – die in die Bresche springen mußten, um ein Szenario wie das von 1929 zu verhindern – , die aufgetretenen Brände zu löschen, die an immer mehr Orten der Erde aufflammen. Das spiegelt sich durch eine Unsicherheit des IWF, letzter Rettungsanker sein zu können, wider. Der IWF verfügt nicht mehr über ausreichend Mittel, Feuerwehr spielen zu können. „Die letzten Erschütterungen der Krise in Russland haben darüber hinaus gezeigt, dass der IWF nicht mehr zur Verfügung stand – nicht mehr dazu in der Lage war, sagen einige – um systematisch die Feuerwehrrolle zu spielen. Die Entscheidung des IWF und der G7, Russland keine zusätzliche Finanzhilfe zu leisten, war von grundsätzlicher Bedeutung für die Zukunft der Investitionen in den Schwellenländern (...) Übersetzt heisst dies: nichts besagt, dass der IWF finanziell eingreifen würde, um eine mögliche Krise in Lateinamerika oder anderswo zu bekämpfen. Das dient nicht der Beruhigung der Investoren“ (AFP, Le Soir, 25.8.). Wie die Entwicklung in Afrika belegt, wird die Bourgeoisie keine andere Wahl haben, als ganze Produktionsbereiche der Weltwirtschaft aufzugeben, um sich von den kränksten Bereichen abzuschotten und ein Mindestmaß an Stabilität auf einer eingeschränkteren Basis zu bewahren. Dies ist einer der Hauptgründe des beschleunigten Aufbaus von regionalen Wirtschaftseinheiten (EU, Nafta usw.). Genauso wie die Bourgeoisie der entwickelten Länder seit 1995 daran arbeitet, die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften mit dem Ziel zu erhöhen, die zukünftigen Arbeiterkämpfe zu kontrollieren, hat sie mit der Einführung des Euro versucht, sich vorzubereiten, um auf die Finanz- und Währungserschütterungen zu reagieren. So soll das in der Weltwirtschaft stabilisiert werden, was noch funktioniert. Deshalb spricht die europäische Bourgeoisie hinsichtlich des Euro von einem Schutzschild. Dabei betreibt sie ein zynisches Kalkül: für den internationalen Kapitalismus geht es darum, einen Vergleich anzustellen zwischen den Kosten für die Mittel, die aufgebracht werden müssen zur Rettung eines Landes oder einer Region, und die Folgen des Bankrottes derselben, falls nichts zur Rettung unternommen wird. Das bedeutet, in der Zukunft kann niemand mehr sicher sein, dass der IWF immer als ‘letzter Rettungsanker’ auftreten wird. Diese Unsicherheit trifft die ‘Schwellenländer’ besonders hart, denn die Gelder, die ihnen ihren ‘Wohlstand’ ermöglicht hatten, versiegen, womit ein möglicher Wiederaufschwung infragegestellt wird.
Der Bankrott des Kapitalismus
Vor nicht allzulanger Zeit rief der Begriff ‘Schwellenländer’ unter den Kapitalisten der ganzen Welt helle Aufregung hervor, die auf einem gesättigten Weltmarkt verzweifelt nach neuen Akkumulationsfeldern für ihr Kapital suchten. Sie waren die Aushängeschilder aller Ideologen des Systems, die diese Länder als Beweis der ewigen Jugend des Kapitalismus darstellten, welcher angeblich eine ‘zweite Jugend’ erlebe. Heute ruft dieser Begriff an der Börse Panik hervor, und die Angst, eine neue ‘Krise’ in den Industriezentren könnte aus den ‘entfernten Regionen überschwappen’, macht sich breit.
Aber diese Krise kommt nicht wirklich aus diesen entfernten Regionen. Sie ist keine Krise der ‘jungen Länder’, sondern eine Krise eines altersschwachen, in seinem Niedergang befindlichen System, das seit mehr als 80er Jahren dekadent ist und seitdem immer wieder auf die gleichen unüberwindbaren Widersprüche stößt: die Unmöglichkeit, immer mehr Absatzmärkte für die produzierten Waren zu finden, um die Fortsetzung der Akkumulation des Kapitals sicherzustellen. Zwei Weltkriege, Krisenphasen offener Zerstörung, wie die Krise, die nunmehr schon 30 Jahre dauert, waren der Preis dafür. Um ‘durchzuhalten’, hat das System immer wieder seine eigenen Gesetze ausgehebelt. Und der Hauptbetrug bestand in der Flucht nach vorne in eine immer größer werdende Verschuldung.
Die Absurdität der Lage in Russland, wo die Banken und der Staat sich nur über ‘Wasser gehalten’ haben dank einer immer unerträglicher werdenden Verschuldung, welche sie dazu zwang, sich noch mehr zu verschulden, allein um die Interessen dieser kumulierten Schulden zu zahlen, dieser Wahnsinn ist keineswegs ein rein ‘russischer’. Seit Jahrzehnten wurde die gesamte Weltwirtschaft aufrechterhalten durch die gleiche wahnsinnige Flucht nach vorn, da sie die einzig mögliche Reaktion auf ihre Widersprüche ist, und da sie das einzige Mittel ist, künstlich neue Märkte für das Kapital und die Waren zu schaffen. Das ganze System ist weltweit auf einem immer zerbrechlicheren Kartenhaus gebaut. Die umfangreichen Kredite an und massive Investitionen in den ‘Schwellenländern’, die selbst wiederum alle nur über Kredite finanziert wurden, waren nur ein Mittel, die Krise des Systems und seine explosiven Widersprüche vom Zentrum auf die Peripherie zu verlagern. Die aufeinanderfolgenden Börsenkrachs von 1987, 1989, 1997, 1998 – die daraus hervorgegangen sind, spiegeln den immer größeren Zusammenbruch des Kapitalismus wider. Gegenüber diesem brutalen Absturz lautet die Frage nicht, warum es jetzt solch eine Rezession gibt, sondern warum sie nicht schon früher gekommen ist. Die einzige Antwortet muss sein: weil die Bourgeoisie weltweit alles unternommen hat, um solche fälligen ‘Abrechnungen’ aufzuschieben, Zeit zu gewinnen, indem sie selbst ihre eigenen Gesetze manipuliert. Die Überproduktionskrise, die der Marxismus seit dem letzten Jahrhundert vorausgesehen hatte, kann aber durch solche Manipulationen nicht überwunden werden. Und heute zeigt erneut der Marxismus die Absurdität der Aussagen der ‘Experten des Liberalismus’ und der Anhänger einer ‘strengeren Finanzkontrolle’. Weder die einen noch die anderen können ein Wirtschaftssystem retten, dessen Widersprüche trotz dieser Manipulationen aufbrechen. Dieser Bankrott des Kapitalismus, den nur der Marxismus als unvermeidbar aufzeigen kann, lässt diese Erkenntnis zu einer Waffe für den Kampf der Ausgebeuteten werden.
Und wenn die Rechnung beglichen werden muss, wenn das zerbrechliche Finanzsystem zusammenbricht, schlagen die Grundwidersprüche zu: es folgt der Absturz in die Rezession, die Explosion der Arbeitslosigkeit, reihenweise gehen Firmen und ganze Industriebereiche bankrott. Innerhalb weniger Monate sind in Indonesien und Thailand Dutzende von Millionen Menschen in das schlimmste Elend gestürzt worden. Die Bourgeoisie selber gesteht dies ein, und wenn sie dies tun muss, zeigt das, wie schlimm die Lage ist. Aber all das ist keineswegs auf die ‘Schwellenländer’ beschränkt. Die Rezession ist auch in den Industriestaaten eingekehrt. Die am meist verschuldeten Länder der Erde sind übrigens weder Russland noch Brasilien, sondern die des Zentrums des Kapitalismus selber, angefangen bei den USA, die am höchsten verschuldet sind. Japan ist nun offiziell in die Rezession eingetreten nach zwei Halbjahren negativen Wachstums, und man erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt um mehr als 1.5% 1998 zurückgeht. Großbritannien, das vor kurzem auch noch neben den USA als Modell ‘ökonomischen Dynamismus’ dargestellt wurde, ist aufgrund inflationärer Gefahren dazu gezwungen, eine ‘Abkühlung’ seiner Wirtschaft und ein ‘schnelles Ansteigen der Arbeitslosigkeit’ (Libération 13.8.) hinzunehmen. Überall in der Industrie werden Entlassungen angekündigt (100.000 Stellenstreichungen bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 1.8 Mio. in der verarbeitenden Industrie sind allein in den nächsten 18 Monaten vorgesehen).
Asien zeigt uns die Perspektive der kapitalistischen Weltwirtschaft. Während die Rettungs- und Sanierungspläne angeblich diesen Ländern neuen Elan einflößen sollten, hat sich im Gegenteil die Rezession niedergelassen und Elend und Hunger haben erneut ihren Einzug gehalten.
Der Kapitalismus hat keine Lösung für die Krise und diese stößt innerhalb dieses Systems auf keine Grenzen. Deshalb besteht die einzige Lösung für die Barbarei und das Elend, den das System der Menschheit aufzwingt, in der Überwindung durch die Arbeiterklasse. Deshalb liegt gegenüber der gesamten Arbeiterklasse weltweit aufgrund seiner Konzentration und seiner historischen Erfahrung in den Händen des Proletariats der Industriezentren des Kapitalismus, insbesondere Europas, eine entscheidende Verantwortung. MFP
(aus Internationale Revue Nr. 95, 4. Quartal 1998)
Interimperialistische Konflikte
Ein neuer Schritt ins Chaos
Letzten Sommer gab es keine Pause bei den Erschütterungen der kapitalistischen Welt. Im Gegenteil, wie so häufig in den letzten Jahren war die Sommerzeit durch eine brutale Zuspitzung der imperialistischen Konflikte und der kriegerischen Barbarei geprägt gewesen. Attentate gegen zwei US-Botschaften in Afrika, US-Bombardierungen in Afghanistan und im Sudan nach diesen Attentaten, Rebellion im Kongo mit einer starken Beteiligung der Nachbarländer gegen das neue Kabila-Regime usw. All diese jüngsten Ereignisse sind zusätzlich aufgetreten zu der Vielzahl von bewaffneten Konflikten, die die Welt zerstören, und die erneut das blutige Chaos aufzeigen, in das die Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitalismus immer mehr versinkt.
Mehrfach haben wir in unserer Presse die Tatsache hervorgehoben, dass der Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er Jahre keine ‘neue Weltordnung’ eröffnete, wie es der US-Präsident Bush seinerzeit angekündigt hatte, sondern damit zog ein nur noch größeres Chaos in der Geschichte der Menschheit ein. Seit dem Ende des 2. imperialistischen Weltkriegs hatte die Welt unter der Schreckensherrschaft der beiden Militärblöcke gelebt, die unaufhörlich vier Jahrzehnte lang in einer Reihe von Kriegen aufeinanderprallten, die genauso viele Tote hinterlassen haben wie im 2. Weltkrieg selber. Aber die Aufteilung der Welt zwischen beiden verfeindeten imperialistischen Blöcken, die einerseits immer wieder zahlreiche lokale Konflikte hervorrief, zwang andererseits die beiden Supermächte dazu, eine gewisse Polizeirolle zu spielen, um diese Konflikte in einem ‘akzeptablen’ Rahmen einzugrenzen und zu vermeiden, dass sie zu einem generalisierten Chaos führten.
Der Zusammenbruch des Ostblocks und darauffolgend des gegnerischen Blockes hat nicht die imperialistischen Widersprüche zwischen kapitalistischen Staaten aus der Welt geschafft, im Gegenteil. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges ist gegenwärtig in größere Entfernung gerückt, da die möglichen gegnerischen Blöcke im Augenblick nicht mehr existieren, aber aufgrund des Versinkens der kapitalistischen Wirtschaft in einer unüberwindbaren Krise haben die Rivalitäten zwischen den Staaten nur an Schärfe zugenommen und spitzen sich weiter unkontrolliert zu. Von 1990 an, als die USA absichtlich die Krise und den Golfkrieg herbeigeführt haben, und wo sie ihre gewaltige militärische Überlegenheit zur Schau gestellt haben, haben die USA versucht, ihre Autorität auf der ganzen Welt und vor allem gegenüber ihren alten Verbündeten aus der Zeit des kalten Krieges zu behaupten. Aber der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien zeigte, dass diese ehemaligen Verbündeten zusammenprallten und die US-Vorherrschaft infrage stellten. Dabei unterstützten einige Kroatien (Deutschland), andere Serbien (Frankreich und Großbritannien insbesondere), während die USA nach einer Phase der Unterstützung Serbiens, schließlich Bosnien unterstützten. Das war der Anfang der Epoche des ‘jeder für sich’, wo die Allianzen immer mehr ihre Grundlage verloren, und wo insbesondere die USA Schwierigkeiten bekamen, ihre Führungsrolle auszuüben.
Die treffendste Verdeutlichung dieser Lage konnte man im letzten Winter beobachten, als die USA auf ihre kriegerischen Drohungen gegen den Irak verzichten mussten, nachdem sie eine vom Generalsekretär der UNO erzielte Verhandlungslösung akzeptieren mussten, die auch durch die Unterstützung von Ländern wie Frankreich zustande gekommen war. Diese Länder haben seit 1990 ununterbrochen die US-Vorherrschaft untergraben (siehe dazu unseren Artikel in der Internationalen Revue Nr. 93: ‘Ein Rückschlag für die USA, der die kriegerischen Spannungen weiter antreibt’). Und die Ereignisse im Sommer haben erneut diese Tendenz, ja eine Verschärfung derselben zum Vorschein gebracht, wo jeder für sich kämpft.
Der Krieg im Kongo
Das Chaos, dem heute die Beziehungen zwischen den Staaten verfallen, wird sofort ersichtlich, wenn man die Konflikte der jüngsten Zeit genau untersucht. Zum Beispiel unterstützen heute im Kongo-Krieg Länder, die vor weniger als zwei Jahren die Offensive von Laurent-Désiré Kabila gegen das Regime Mobutus mittrugen, die Rebellen gegen denselben Kabila. Noch verwunderlicher ist es, dass diese Länder, die in den USA einen herausragenden Verbündeten gegen die Interessen der französischen Bourgeoisie gefunden hatten, heute auf der Seite Frankreichs stehen, das die Rebellion gegen Kabila diskret unterstützt, denn es betrachtet ihn als einen Feind, nachdem er das mit Frankreich ‘befreundete Regime’ Mobutus gestürzt hatte. Noch überraschender ist die Unterstützung, die sich als entscheidend herausgestellt hat, seitens Angolas für das Regime Kabilas, nachdem er fast schon dabei war, verjagt zu werden. Bislang erlaubte Kabila, der anfangs von Angola unterstützt wurde, (insbesondere durch Ausbildung und Ausstattung der ehemaligen ‘Katanga-Gendarmen’) es den Truppen der UNITA, die einen Krieg gegen die gegenwärtige Regierung in Luanda führten, sich in den Kongo zurückzuziehen und dort Truppen auszubilden. Scheinbar hat Angola diese Treulosigkeit Kongos nicht nachgehalten. Um alles noch komplizierter werden zu lassen, hat sich heute Angola, das vor einem Jahr den Sieg der Clique um Denis Sassou Ngesso ermöglichte, der von Frankreich gegen die Clique Pascale Lissoubas bei dem Kampf um die Kontrolle Kongo-Brazzavilles unterstützt wurde, dem Feindeslager Frankreichs angeschlossen. Schließlich zeigen die Bemühungen der USA, ihren Einfluss in Afrika insbesondere auf Kosten von Frankreich zu vergrößern, auf, dass nach den Erfolgen bei der Einrichtung eines ‘befreundeten’ Regimes in Ruanda und vor allem nach dem Sturz Mobutus, der bis zum letzten Tag von Frankreich unterstützt wurde, die USA selber auf der Stelle treten. Das Regime, dem die USA im Mai 1997 in Kinshasa an die Macht verhalfen, hat sich nicht nur gegen die USA gewendet, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung, die zuvor noch Kabila nach 30 Jahren Mobutu-Herrschaft als den neuen Machthaber mit Blumen bejubelte, aber auch eine Reihe von Nachbarstaaten und insbesondere ‘Paten’ wie Uganda und Ruanda verwirft die USA. In der gegenwärtigen Krise ist die US-Diplomatie besonders schweigsam geblieben (sie hat ‘sofort Ruanda gebeten’, sich nicht einzumischen und die Militärhilfe eingestellt), während der französische Gegner entsprechend diskret aber dennoch eindeutig die Militärrebellion unterstützt.
Es ist unverkennbar, dass bei dem Chaos, in das Zentralafrika versinkt, die afrikanischen Staaten immer mehr der Kontrolle der Großmächte entweichen. Im kalten Krieg war Afrika ein Streitpunkt bei den Rivalitäten zwischen den beiden imperialistischen Blöcken, die die Welt aufgeteilt hatten. Die alten Kolonialmächte und insbesondere Frankreich waren vom westlichen Block damit beauftragt worden, dort zugunsten desselben als Gendarm aufzutreten. Die verschiedenen Staaten, die nach der Unabhängigkeit schrittweise versucht hatten, sich auf den russischen Block zu stützen, (wie beispielsweise Ägypten, Algerien, Angola, Mosambik) wechselten das Lager und wurden zu treuen Verbündeten des westlichen Blocks, noch bevor der sowjetische Block zusammenbrach. Aber solange dieser – wenn auch noch sehr geschwächt – sich am Leben hielt, gab es eine grundlegende Solidarität zwischen den Westmächten, um zu verhindern, dass die UdSSR in Afrika erneut Fuß fasst. Diese Solidarität ist jetzt nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks auseinandergebrochen. Aus der Sicht der USA war der fortdauernde Einfluss Frankreichs in einem Großteil Afrikas – der im krassen Missverhältnis stand zu dem ökonomischen und vor allem militärischen Gewicht Frankreichs auf der Welt – etwas Anormales, zumal Frankreich keine Gelegenheit verpasste, die US-Führung zu untergraben. Deshalb war das heausragende Merkmal all der verschiedenen Konflikte in Afrika während der letzten Jahre die wachsende Rivalität zwischen den beiden ehemaligen Verbündeten Frankreich und den USA. Die USA haben dabei jeweils versucht, den ehemaligen Verbündeten aus dessen Machtbereichen zu vertreiben. Die spektakulärste Verdeutlichung dieser amerikanischen Offensive war im Mai 1997 der Sturz des Mobutu-Regimes, das jahrzehntelang in Afrika bei den Interessen Frankreichs (wie auch während des kalten Krieges im Interesse der USA) eine Schlüsselstellung eingenommen hatte. Als Laurent-Désiré Kabila zum Regierungschef ernannt wurde, nahm er kein Blatt vor den Mund, um seine Feindschaft gegenüber Frankreich zu erklären und seine ‘Freundschaft’ mit den USA, die ihm in den Sattel geholfen hatten. Damals noch war trotz aller Rivalitäten zwischen den verschiedenen, insbesondere ethnischen Cliquen, die vor Ort zusammenprallten, der rote Faden des Konfliktes zwischen den USA und Frankreich deutlich zu erkennen, genauso wie er kurz zuvor sichtbar war bei dem Regierungssturz der Regime in Ruanda und in Burundi zugunsten der Tutsis, die von den USA unterstützt wurden.
Heute fällt es dagegen schwer, die gleichen Konfrontationslinien in der neuen blutigen Tragödie im Kongo zu erkennen. Es scheint so, dass die verschiedenen Staaten, die an diesem Konflikt beteiligt sind, ihre eigene Karte spielen, unabhängig von dem grundlegenden Zusammenprall zwischen Frankreich und den USA, der die Geschichte Afrikas in der letzten Zeit so geprägt hatte. So träumt gegenwärtig Uganda, einer der großen Drahtzieher des Sieges Kabilas, bei seinem gegenwärtigen Vorgehen gegen den gleichen Kabila davon, die Führung in einem ‘Tutsiland’ zu übernehmen, das Ruanda, Kenia, Tansania, Burundi und die östlichen Provinzen des Kongos zusammenführen würde.
Durch die Beteiligung an der Offensive gegen Kabila zielt Ruanda darauf ab, eine ‘ethnische Säuberung’ der von den Hutu-Milizen benutzten kongolesischen Gebiete vorzunehmen. Die Hutu-Milizen setzen nämlich ihre Angriffe gegen die ruandische Regierung in Kigali fort. Daneben verfolgt Ruanda das Ziel der Besetzung der Provinz Kivu (übrigens behauptete einer der Rebellenführer – Pascal Tshiapta – am 5. August, die Rebellion sei deshalb ausgelöst worden, weil Kabila sein Versprechen nicht eingehalten hatte, Kiva den Banyamulengue zu überlassen, die ihn gegen Mobutu unterstützt hatten).
Die Unterstützung Kabilas durch das Regime Angolas ist auch nicht uneigennützig. Man denkt fast an das Seil, das um den Hals des zu Hängenden gelegt wird. Indem das Regime Kabilas von dessen militärischer Hilfe abhängt, kann Angola ihm seine Bedingungen diktieren: die UNITA-Rebellen dürfen sich nicht mehr auf kongolesischem Territorium aufhalten, es darf dieses Territoriums zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit der Enklave Cabinda benutzen, die geographisch vom angolanischen Territorium abgeschnitten ist.
Die allgemeine Tendenz des ‘jeder für sich’, die die ehemaligen Verbündeten des amerikanischen Blocks immer mehr an den Tag legen, und die im ehemaligen Jugoslawien so unübersehbar wurde, hat mit dem gegenwärtigen Konflikt im Kongo eine neue Stufe erreicht: jetzt treten schon Länder aus dritt- oder viertrangigen Gebieten auf wie Angola oder Uganda, um ihre imperialistischen Ambitionen unabhängig von den Interessen ihrer ‘Schutzmächte’ umzusetzen. Und dieselbe Tendenz kam bei den Attentaten am 7. August gegen die US-Botschaften in Afrika und dem ‘Gegenschlag’ der USA zwei Wochen später zum Vorschein.
Die Attentate gegen die US-Botschaften und ihre Folgen
Die minutiöse Vorbereitung, die Koordinierung und das Ausmaß der mörderischen Gewalt der Attentate vom 7. August lassen den Schluß zu, das diese nicht das Werk einer isolierten Terroristengruppe waren, sondern dass sie von einem Staat unterstützt und organisiert wurden. Sofort nach diesen Attentaten behaupteten die USA übrigens lauthals, dass der Krieg gegen den Terrorismus nunmehr ein vorrangiges Ziel ihrer Politik darstellt (dieses Ziel vertrat Präsident Clinton mit Nachdruck am 21. September vor der UNO). Tatsächlich sind damit die Staaten gemeint, die den Terrorismus praktizieren oder ihn unterstützen – daran ließ die US-Regierung keinen Zweifel. Diese Politik ist nicht neu: seit vielen Jahren schon geisseln die USA die ‘terroristischen Staaten’ (insbesondere Libyen, Syrien und der Iran wurden als solche eingestuft). Natürlich gibt es ‘terroristische Staaten’, auf die sich die Wut der USA nicht richtet: es handelt sich um diejenigen Staaten, die die Bewegungen unterstützen, welche den Interessen der USA dienen (wie im Falle Saudi-Arabiens, das die algerischen Integristen finanziert, die einen Krieg gegen ein mit Frankreich befreundetes Regime führen). Aber wenn die erste Weltmacht, die den Führungsanspruch auf die ‘Gendarmenrolle’ in der Welt erhebt, dieser Frage solch eine Bedeutung zumisst, dann ist das nicht nur durch die augenblicklichen Umstände bedingt. Wenn heute der Terrorismus zu einem immer häufiger benutzten Mittel in den imperialistischen Konflikten geworden ist, dann verdeutlicht dies vor allem das Chaos in den Beziehungen zwischen den Staaten (2). Dieses Chaos ermöglicht es den weniger wichtigen Staaten, die Position der Großmächte zu untergraben, und insbesondere der ersten Großmacht, was natürlich eine weitere Untergrabung der Führungsrolle derselben bewirkt.
Die beiden Gegenschläge der USA gegen die Attentate gegen ihre Botschaften, die Bombardierung einer Fabrik in Karthum und des Stützpunktes von Oussama Ben Laden im Afghanistan mittels Marschflugkörper, spiegeln die Art der internationalen Beziehungen, die heute vorherrschen, wider. In beiden Fälle haben die USA zur Beanspruchung ihrer Führungsrolle erneut ihre Hauptstärke zur Schau gestellt: ihre gewaltige militärische Überlegenheit gegenüber allen anderen Staaten. Nur die US-Army kann auf solche massive Art und mit dieser teuflischen Präzision in Zehntausenden Kilometer Entfernung von den USA den Tod säen - und das ohne selbst das geringste Risiko einzugehen. Das stellt eine Warnung dar an die Länder, die geneigt sein würden, terroristische Gruppen zu unterstützen; aber sie richtet sich auch an die westlichen Staaten, die mit diesen Staaten gute Beziehungen unterhalten. So diente die Zerstörung einer Fabrik im Sudan – auch wenn die vorgebrachte Rechtfertigung (Herstellung von chemischen Waffen) brüchig ist – den USA dazu, einen Schlag gegen ein islamisches Regime auszuführen, das gute Beziehungen zu Frankreich unterhält.
Aber wie früher schon hat sich diese Zurschaustellung der Militärmacht als wenig wirksam herausgestellt, um die anderen Staaten um die USA zusammenzuscharen. Einerseits haben fast alle arabischen oder islamischen Staaten die Bombardierungen verurteilt. Andererseits haben die westlichen Staaten, auch wenn sie Lippenbekenntnisse zur Unterstützung abgelegt haben, ihre Vorbehalte gegenüber den von den USA angewandten Mitteln zum Ausdruck gebracht. Dies legt erneut Zeugnis von den enormen Schwierigkeiten ab, auf die heute die erste Großmacht der Erde stößt, um ihre Führungsrolle zu verteidigen: solange es keine andere Supermacht gibt (wie das zur Zeit der UdSSR und dem Bestehen des Ostblocks der Fall war), ermöglicht auch das Zurschaustellen und der Einsatz der militärischen Stärke kein Zusammenrücken um die USA. Genausowenig wird dadurch das Chaos überwunden, das sie angeblich bekämpfen wollen. Oft verschärft diese Politik nur die Verwerfung der USA und spitzt das Chaos und die Tendenz des ‘jeder für sich’ weiter zu.
Das unaufhaltsame Ansteigen des ‘jeder für sich’ und die Schwierigkeiten der amerikanischen Führungsrolle wurden bei den Bombardierungen der Stützpunkte Ben Ladens deutlich. Die Frage dreht sich darum, ob er Drahtzieher dieser Attentate in Dar-es-Salaam und in Nairobi war. Sie bleibt weiter unaufgeklärt. Aber die Tatsache, dass die USA beschlossen, Marschflugkörper auf die Ausbildungslager in Afghanistan zu feuern, belegt, dass die erste Weltmacht ihn als einen Feind betrachtet. Aber gerade dieser gleiche Ben Laden war zur Zeit der russischen Besetzung Afghanistans einer der besten Verbündeten der USA, den diese unterstützten und großzügig finanzierten. Überraschender noch erhielt Ben Laden Hilfe von den Taliban, die wiederum von den USA (mit der Hilfe Pakistans und Saudi-Arabiens) entscheidend Unterstützung bekamen bei deren Eroberung eines Großteils des afghanischen Territoriums. Heute stehen sich die Taliban und die USA gegenüber. Man kann mehrere Gründe zur Erklärung des Schlags der USA gegen die Taliban anführen.
Einerseits stellte die bedingungslose Unterstützung der Taliban durch Washington ein Hindernis beim Prozess der ‘Normalisierung’ der Beziehungen mit dem iranischen Regime dar. Dieser Prozess hatte in den Medien eine große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als die Fussballmannschaften der USA und Irans während der letzten Fussball-WM Freundschaftsbekundungen austauschten. Bei ihren diplomatischen Bemühungen gegenüber dem Iran hinken die USA jedoch im Verhältnis zu den anderen Ländern wie z.B. Frankreich hinterher. So hatte Frankreich just zum gleichen Zeitpunkt seinen Aussenminister nach Teheran entsandt. Für die USA kommt es darauf an, die gegenwärtige Tendenz der Öffnung nicht zu verpassen, die von der iranischen Diplomatie eingeschlagen wurde, und damit nicht gegenüber anderen Mächten ins Hintertreffen zu geraten.
Aber der Schlag gegen die Taliban ist ebenfalls eine Warnung gegen die Bestrebungen derselben, gegenüber Washington auf Distanz zu gehen, nachdem ihr nahezu vollständiger Sieg über ihre Feinde sie weniger abhängig werden läßt von den USA. Mit anderen Worten: die erste Weltmacht will vermeiden, dass sich im Falle der Taliban nicht das gleiche wiederholt wie mit Ben Laden, dass ihre ‘Freunde’ nicht zu ihren Feinden werden. Aber in diesem Fall wie in anderen steht nicht fest, dass sich dieser Schlag für die USA auszahlen wird. Das ‘jeder für sich’ und das daraus entstehende Chaos wird auch durch das Zurschaustellen des Waffenarsenals des ‘Weltpolizisten’ nicht eingedämmt. Diese Phänomene sind ein vollständiger Bestandteil der gegenwärtigen historischen Periode des Zerfalls des Kapitalismus und sind als solche unüberwindbar.
Die grundlegende Unfähigkeit der USA, diese Lage zu überwinden, spiegelt sich übrigens auch im Leben der Bourgeoisie selber wider. Bei der Krise, von der heute die US-Exekutive um ‘Monica-Gate’ (Monika Lewinsky Affäre) erfasst wird, spielen wahrscheinlich Streitigkeiten innerhalb der politischen Klasse eine Rolle. Dieser von den Medien systematisch aufgebauschte Skandal wird nutzbringend eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse abzulenken von einer wirtschaftlichen Lage, die sich immer mehr verschlechtert. Wachsende Angriffe der Unternehmer wie das Ansteigen der Kampfbereitschaft (Streiks bei General Motors und bei Northwest) belegen das. Der etwas surrealistische Aspekt dieses Prozesses gegen Clinton liefert ebenfalls einen Beweis für das Zerfäulnis der bürgerlichen Gesellschaft, die typisch ist für die Zerfallsperiode. Aber solch eine Offensive gegen den US-Präsidenten, die zu seiner Amtsenthebung führen könnte, zeigt die Malaise der US-Bourgeoisie, die unfähig ist, ihre eigene Führungsrolle in der Welt zu spielen.
Aber der Verdruss Clintons und gar der gesamten US-Bourgeoisie sind nur ein unbedeutender Aspekt in diesem Drama, das sich heute weltweit vollzieht. Für immer mehr Menschen – und das ist heute besonders deutlich sichtlich im Kongo – bedeutet dieses Chaos, das sich überall mehr entfaltet, immer mehr Massaker, Hungersnot, Epidemien, Barbarei. Diese Barbarei erreichte im Sommer eine neue Stufe, sie wird sich noch solange weiter zuspitzen, bis der Kapitalismus überwunden ist. Fabienne
(aus Internationale Revue Nr. 95, 4/98)