Notizen zu einer Geschichte der Kunst im aufsteigenden und dekadenten Kapitalismus

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Die IKS hat im Sommer in London ein Diskussionstreffen veranstaltet, in dem u.a. über Kunst diskutiert wurde. Wir veröffentlichen hier das Einleitungsreferat, das von einem Kontakt der Organisation gehalten wurde. Für mehr Details siehe unsere Webseite.

 

„Die marxistische Methode gibt die Möglichkeit, die Entwicklungsbedingungen der neuen Kunst zu beurteilen, alle ihre Veränderungen zu verfolgen und durch kritische Verfolgung der Wege die fortschrittlichsten zu fördern – aber auch nicht mehr. Ihre Wege muß die Kunst auf eigenen Füßen zurücklegen.“  (Trotzki, Parteipolitik in der Kunst, 1923; in „Literatur und Revolution“, 1924).

1.  Kunst im Kapitalismus

Der Aufstieg des Kapitalismus entfesselt eine beispiellose, bis dato unvorstellbare Produktivkraft, die neue Gefühle und Ideen ins Leben ruft, zusammen mit neuen künstlerischen Mitteln, um ihnen Ausdruck zu verleihen. Die Ausweitung dieser neuen Produktionsweise über den gesamten Globus und ihre Durchdringung aller Bereiche menschlicher Erfahrungen löst die Barrieren zwischen den Nationalkulturen und lokal fixierten Stilarten auf, indem sie erstmals eine einzige Weltkultur schafft.

Durch die ständige Revolutionierung der Produktion und den Anstieg in der Produktivität zerstört der Kapitalismus auch die alten, engstirnigen Gesellschaftsverhältnisse und wandelt alles, einschließlich der Kunst, in eine Ware um. War der Künstler bis dahin eine geachtete und geehrte Person, die direkt für den Kunden produzierte, so ist er nun mehr oder weniger auf eine bezahlte Lohnarbeitskraft reduziert, deren Produkte auf einen anonymen Markt geworfen und den Gesetzen der Konkurrenz unterworfen werden.

Einmal abgesehen davon, dass die Kunst vom einzelnen Kapitalisten gern als Investition oder zur Ausschmückung seines Privatlebens verwendet wird, steht der Kapitalismus im Grunde der Kunst als Ablenkung von seiner einzigen Triebkraft, der Kapitalakkumulation um ihrer selbst willen, feindlich gegenüber. Mehr noch, als ein ausbeuterisches System, verhält sich der Kapitalismus grundsätzlich unversöhnlich gegenüber den Interessen der Humanität und daher zu den humanistischen Idealen der besten Art. Je bewusster sich die Kunst darüber ist, desto mehr führt sie zum Protest gegen die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft. Auf diese Weise sind die größten Künstler in der Lage, über die Grenzen ihrer Epoche und Klassenherkunft hinauszugehen, um wortgewaltige Anklagen gegen die Verbrechen und menschlichen Tragödien des Kapitalismus zu erheben (Goethe, Balzac, Goya).

Diese Antagonismen zwischen Kapitalismus und Humanität kommen in den frühesten Stufen der neuen Produktionsweise noch nicht völlig zum Vorschein, da die Bourgeoisie noch in einem revolutionären Kampf gegen den feudalen Absolutismus steckt. Die schöne Kunst ist imstande, die fortschrittliche Moral und die geistigen Werte dieser neuen ausbeutenden Klasse zu reflektieren, deren Energie und Selbstvertrauen – sowie generöse Patronage – die künstlerischen Errungenschaften der Renaissance ermöglichten, lange bevor  ihre eigene Herrschaft etabliert ist.

2. Kunst in der Ära der bürgerlichen Revolutionen

In der Ära der bürgerlich-demokratischen Revolutionen (ca. 1776-1848) ist die Kunst noch in der Lage, die revolutionären Ziele der Bourgeoisie auszudrücken, doch die schmutzige Realität des Kapitalismus wird bereits deutlich. Die Romantik  (Blake, Goethe, Goya, Puschkin, Shelley, Turner) spiegelt die widersprüchliche Natur dieser Periode wider, indem sie feudale und aristokratische Werte in der Kunst ablehnt, aber auch leidenschaftlich gegen die brutalen Auswirkungen der kapitalistischen Industrialisierung auf  die Kunst und das Individuum protestiert.

Entgegen der „Rationalität“ der neuen ausbeutenden Klasse streitet die Romantik für die Macht der subjektiven Erfahrung, Vorstellungskraft und die Erhabenheit der Natur, indem sie ihre Inspirationen aus dem Mittelalter, der Mythologie und der volkstümlichen Kunst bezieht. Politisch nimmt sie häufig eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Form an, führt aber auch zu eindeutig revolutionären Tendenzen, die eine internationalistische, kommunistische Vision zum Ausdruck bringen (Heine, Blake, Byron, Shelley).( 1) Die profundesten unter den dichterischen Einblicken dieser Tendenz nehmen nicht nur die späteren künstlerischen Ideen des Expressionismus und Surrealismus, sondern auch die theoretischen Entwicklungen des Marxismus und der Psychoanalyse vorweg.

Sobald sie an die Macht gekommen und das Proletariat auf der historischen Bühne erschienen ist, kehrt die Bourgeoisie ihren fortschrittlichen Werten den Rücken zu und begräbt die ganze Idee der Revolution, stellt diese doch eine tödliche Gefahr für ihre Klassenherrschaft dar. Von da an treten die Versuche der Kunst, die Wirklichkeit zu verstehen und die Interessen der Humanität auszudrücken, unvermeidlich mit der kapitalistischen Ideologie in Konflikt.

3.   Die Geburt der modernen bürgerlichen Kunst

Das bestimmende Kennzeichen der modernen bürgerlichen Kunst besteht darin, dass sie just zu dem Zeitpunkt erscheint, als die Bedingungen für die Weiterentwicklung des Kapitalismus ihren Zenit erreicht haben.

Der entscheidende Triumph des Industriekapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts in den am meisten fortgeschrittenen Ländern Europas und Amerikas spiegelt sich im Wachstum rationalistischer, positivistischer und materialistischer Ideologien in den Wissenschaften und in der Philosophie sowie in den realistischen oder naturalistischen Annäherungen der Künste wider. Marx und Engels betrachten den Realismus in der Literatur (Flaubert, Balzac, Elliot) als die höchste Errungenschaft in der Weltkunst. Der Realismus in den visuellen Künsten (Courbet, Millet, Degas) ist die Reaktion sowohl auf die klassische Kunst als auch auf den Emotionalismus und Subjektivismus der Romantik und bekräftigt an Stelle dessen die Ziele der Wahrhaftigkeit und Präzision sowie der Schilderungen des Alltags, einschließlich der bis dahin ignorierten rauen Realität des ArbeiterInnenlebens. Für die Bourgeoisie ist jede Kunst, die die hässliche Wirklichkeit des Lebens im Kapitalismus akkurat schildert, per se revolutionär und somit abzulehnen.

Diese Periode erblickt auch den Aufschwung der Arbeiterbewegung, und es ist daher nicht überraschend, dass der Realismus einer revolutionären Tendenz zum Leben verhilft, die sich ausdrücklich mit der Arbeiterklasse und dem Kampf für den Sozialismus identifiziert. Courbet, Anführer der realistischen Bewegung in Frankreich, bekräftigte: „Ich bin nicht nur ein Sozialist, sondern auch ein Demokrat und Republikaner, mit einem Wort: ein Anhänger der Revolution und vor allem ein Realist, das heißt, ein aufrichtiger Freund der wirklichen Wahrheit.“ (2)

Der Impressionismus (Picasso, Manet, Degas, Cézanne, Monet) ist die künstlerische Antwort auf das Wachstum der industriellen und urbanen Gesellschaft, auf neue technologische Entwicklungen und wissenschaftliche Entdeckungen (Photographie und Optiken), auf die Globalisierung des Handels (ersichtlich beispielsweise im Einfluss japanischer Drucke) und auf das Wachstum der Mittelschichten als eine Klientel für die neuen Künste. Er stützt sich auf die Hingabe zur Wahrheit und Akkuratesse, aber konzentriert sich auf die subjektive Wahrnehmung von Bewegung und Licht: „Während der alte akademische Stil sagte: ‚Hier sind die Regeln (oder Bilder),  denen zufolge die Natur beschrieben werden muss‘, und der Naturalismus sagte: ‚Hier ist die Natur‘, sagte der Impressionismus: ‚So sehe ich die Natur‘.“ (3). Impressionistische Ideen und Einflüsse befinden sich auch in der Musik (Debussy, Ravel) und in der Literatur (Lawrence, Conrad).

Als echte moderne bürgerliche Kunstbewegung ist der Impressionismus eine widersprüchliche Bewegung. Während die klassische Kunst der Renaissance einen grundlegenden Sinn für die Einheit ausdrückt, der aus der Vision und dem Selbstvertrauen der revolutionären Bourgeoisie herrührt, reflektiert der Impressionismus den Triumph des Kapitalismus und die Atomisierung des Einzelnen in der Industriegesellschaft. Indem er sich auf subjektive und Sinneswahrnehmungen stützt, repräsentiert er die Realität entsprechend als ein Flickwerk:

„Und so war der Impressionismus in einem gewissen Sinne ein Symptom des Niedergangs, der Fragmentierung und Entmenschlichung der Welt. Doch gleichzeitig war er in der langen ‚Schonzeit‘ des bürgerlichen Kapitalismus (…) ein glorreicher Gipfel der bürgerlichen Kunst, ein goldener Herbst, eine späte Ernte, eine enorme Bereicherung der dem Künstler zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel.“ (4)

4. Die Kunst am Ende des kapitalistischen Aufstiegs

Der Zeitraum zwischen ca. 1890 und 1914 – die so genannte Belle Epoque bzw. das Goldene Zeitalter – erlebt den Kapitalismus am optimistischsten und technologisch am weitesten fortgeschritten, besonders mit einem mächtigen Wirtschaftswachstum, das fruchtbare Bedingungen für künstlerische und wissenschaftliche Entwicklungen schafft (Freuds Theorie des Unbewussten, die Quanten- und Relativitätstheorie). Doch unter der Oberfläche der Gesellschaft machen sich nagende Zweifel und Ungewissheiten breit, kommt es zum Anstieg des Militarismus und der imperialistischen Spannungen, zu den wachsenden staatlicher Eingriffen in die Gesellschaft und zu massiven Arbeiterkämpfen – alles Anzeichen einer wachsenden Krise im Herzen des Kapitalismus.

Die künstlerischen Bewegungen, die in dieser Periode entstehen (Kubismus, Expressionismus, Symbolismus) spiegeln diese Widersprüche notgedrungen wider, indem sie sowohl ein letztes Aufblühen fortschrittlicher bürgerlicher Kunst als auch die ersten Symptome ihres Endes zum Ausdruck bringen. Der Kubismus (Picasso, Braque), der den Einfluss der jüngsten wissenschaftlichen und philosophischen Theorien zeigt, wendet sich ab von Schilderung von Objekten aus einer Perspektive, analysiert die Objekte, zerlegt sie und setzt sie aus mannigfaltigen Perspektiven neu zusammen. Der Expressionismus lehnt den Realismus gänzlich ab, indem er subjektive Bedeutungen oder emotionale Erfahrungen statt der physischen Realität schildert. Er übt auch auf die Literatur (Kafka) und Musik (Schönberg, Webern, Berg) großen Einfluss aus, wo er die traditionelle Tonalität zugunsten einer A-Tonalität und Dissonanz aufgibt. Der Symbolismus (Baudelaire, Verlaine) ist eine poetische Reaktion gegen Realismus und Naturalismus zugunsten des Mystizismus und der Vorstellungskraft, die später als  „träumerischer Rückzug in absterbende Gebiete“ (5) beschrieben wurde.

Innerhalb der modernen bürgerlichen Kunst gibt es eine radikale Tendenz, die sich selbst als Avantgarde einer neuen fortschrittlichen Gesellschaft mit neuen künstlerischen Werten betrachtet; diese Tendenz argumentiert, dass Kunst eine große Rolle bei der Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaft spielt. Diese „modernistische“ Avantgarde erscheint ausgerechnet in dem Moment, als die Möglichkeiten einer Reformierung des Kapitalismus nahezu ausgeschöpft sind. Der Futurismus (Marinetti, Majakowski, Malewitsch), dessen Einfluss sich in der Malerei, Poesie, Architektur und Musik im frühen 20. Jahrhundert niederschlägt, besonders in Italien und Russland, glorifiziert Themen und Symbole des kapitalistischen Fortschritts wie die Jugend, die Geschwindigkeit, den Dynamismus und die Macht. Doch andere modernistische Elemente, besonders in Deutschland, verhalten sich kritischer gegenüber der kapitalistischen „Modernität“ und artikulieren die Entfremdung des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft (Munchs „Der Schrei“).

5. Der Tod der modernen bürgerlichen Kunst

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spaltet diese modernistische Avantgarde in einerseits die Glorifizierer des kapitalistischen Fortschritts, wie Marinetti und die italienischen Futuristen, die begeistert Partei ergreifen für die Barbarei (und später für den Faschismus), und andererseits in radikalere Tendenzen wie die russischen Futuristen und die deutschen Expressionisten, die gegen den Krieg sind und auf eine mehr oder weniger konfuse, bruchstückhafte Weise beginnen, sich auf die proletarische Bewegung zu beziehen.

Die erste spezifisch künstlerische Reaktion auf den Krieg ist Dada. Als internationale Antikriegs- und antikapitalistische Bewegung erblickt Dada im Gemetzel auf dem Schlachtfeld einen Beweis für den Bankrott aller bürgerlichen Kultur. Sein „Programm“ steht dem Anarchismus nahe: die Zertrümmerung der Kultur und die Abschaffung der Kunst; und seine Praxis begrüßt das Chaos und die Irrationalität (Gedichte, die sich aus wahllos zusammengewürfelten Worten aus Zeitungsausschnitten, etc. zusammensetzen).  Die Berliner Dadaisten (Heartfield, Grosz, Dix, Ernst), die den proletarischen Kämpfen gegen den Krieg näher stehen, nehmen eher ausdrücklich kommunistische Positionen ein, ja bilden ihre eigene politische Partei und unterstützen aktiv die deutsche Revolution. (6)

Die russische Revolution im Oktober 1917 war der Höhepunkt der revolutionären Welle nach dem Krieg und der Versuche der modernistischen Avantgarde, eine befreiende Kunst zu kreieren. Für eine kurze Zeit im Anschluss an die Machtergreifung durch die Sowjets gibt es eine riesige Flut von künstlerischen Experimenten und Aktivitäten, von denen sich viele ausdrücklich mit der Revolution identifizieren. Unter dem Schutz des jungen Sowjetstaates und mit kritischer Unterstützung durch die bolschewistische Partei geben Bereiche der russischen Avantgarde (Futuristen, Produktivisten, Konstruktivisten), angeregt von Majakowskis Erklärung „Straßen sind unsere Pinsel, die Plätze unsere Paletten"  die „reine“ Kunst zugunsten der Industrieproduktion auf, begrüßen Architektur, Industriedesign, Kino, Werbung, Möbel, Verpackung und Bekleidung, mit dem erklärten Ziel, Kunst zu benutzen, um den Alltag umzuwandeln. Es gibt hitzige Debatten über Kultur und die Zukunft der Kunst. Die einflussreiche Proletkult-Bewegung neigt dazu, alle frühere Kultur abzulehnen, und will eine neue revolutionäre, proletarische Ästhetik schaffen, wohingegen andere wie Trotzki das gesamte Konzept der proletarischen Kultur ablehnen, jedoch das Aufkommen einer neuen revolutionären Kunst unterstützen, die sie unmittelbar erwarten. (7)

Im Kontext der revolutionären Welle, die den Kapitalismus in den Jahren 1917 bis 1923 bis in seine Grundfeste erschütterte, erscheint dies nicht unrealistisch zu sein. Das Urteil, das Dada über die gesamte bürgerliche Kultur und Kunst fällt, scheint nun vom Weltproletariat in Deutschland, Großbritannien, Amerika, etc. ausgeführt zu werden….

Doch mit der Isolation der russischen Bastion und des Scheiterns des revolutionären Ansturms des Proletariats in Europa wird der anfängliche Rückhalt des modernistischen Experimentierens durch die Bolschewiki durch die Unterdrückung des Dissens‘ und durch eine wachsende staatliche Kontrolle ersetzt, als die stalinistische Konterrevolution ihren Griff verstärkt. Auf internationaler Ebene endet der Modernismus letztendlich damit, dass er von den reaktionären staatskapitalistischen Regimes, gleich ob stalinistisch, faschistisch (besonders in Italien) oder sozialdemokratisch, zum offiziellen Architekturstil auserwählt wird.

6. Kunst und die kapitalistische Konterrevolution

In der sich ausbreitenden bürgerlichen Konterrevolution sieht sich die russische Kunstavantgarde im Wesentlichen mit derselben Wahl konfrontiert wie die überlebende kommunistische Minderheit: entweder Unterordnung unter dem stalinistischen Totalitarismus mit seiner Durchsetzung des „sozialistischen Realismus“, Schweigen oder Exil. Mit dem Aufstieg des Faschismus ist auch die europäische künstlerische Avantgarde immer mehr dazu gezwungen, auszuwandern und/oder einen ausdrücklich oppositionellen politischen Standpunkt zu vertreten.

Der Surrealismus (Breton, Aragon, Ernst, Péret, Dali, Miró, Duchamp) entstand aus Dada und wurde erst zu einer eigenen Bewegung, als die praktische Möglichkeit für eine Revolution bereits am Zurückweichen war. Er ist eine ausdrücklich revolutionäre Kunstrichtung, die sich eng mit der politischen Opposition gegen den Stalinismus verband. (8) Der Surrealismus bezieht seine Ideen aus der Freudschen Psychoanalyse wie aus dem Marxismus und betont den Nutzen der freien Assoziation, der Traumanalyse, der Gegenüberstellung und des Automatismus, um das Unbewusste zu befreien. Seine Versuche, eine permanente revolutionäre künstlerische Praxis innerhalb des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, und dies in einer Zeit tiefer Niederlagen, macht ihn anfällig gegenüber Zerfall und schließlicher Vereinnahmung, doch üben surrealistische Ideen einen großen Einfluss auf die visuellen Künste, die Literatur, den Film und die Musik wie auch auf die philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Theorien aus.

Mit dem Triumph der bürgerlichen Konterrevolution in den 1930er Jahren – die „Mitternacht des Jahrhunderts“ (Victor Serge) – erleben wir ein volles Aufblühen all der klassischen Symptome der Dekadenz in der kapitalistischen Kultur:

„Die Ideologie zerfällt, die alten moralischen Werte brechen auseinander, die künstlerische Schöpferkraft stagniert oder sie nimmt stagnierende Formen an, Obskurantismus und philosophischer Pessimismus blühen auf (…) Was den Bereich der Kunst angeht, so hat sich die Dekadenz hier schon lange gewalttätig ausgedrückt (…) Wie in anderen dekadenten Perioden wiederholt die Kunst, wenn sie nicht stagniert, ständig alte Formen, und sie erhebt den Anspruch, eine Haltung gegen das System einzunehmen, oder stellt sehr oft einen Ausdruck des Erschreckens dar.“ (9)

Unter diesen Umständen sieht sich Kunst, die „den Anspruch erhebt, Stellung gegen die herrschende Ordnung zu beziehen“, in wachsendem Maße isoliert oder wird von der einen oder anderen reaktionären politischen Fraktion zu propagandistischen Zwecken  vereinnahmt (Picassos „Guernica“). Auch die Kunst, die den Schrei des Entsetzens über die kapitalistische Barbarei zum Ausdruck bringt, ist immer ohnmächtiger durch das schiere Ausmaß der Gräuel dieser Barbarei geworden: der Zweite Weltkrieg (über 60 Millionen Tote, zumeist Zivilisten, im Vergleich zu den 20 Millionen im Ersten Weltkrieg), die Todeslager der Nazis, Hiroshima und Nagasaki, Hamburg, Dresden, die Massenverbrechen des Stalinismus… Um Adorno frei zu übersetzen, ist es nach Auschwitz unmöglich, Poesie zu verfassen, ohne einen weiteren Beitrag zu einer bereits barbarischen Kultur zu leisten.

Doch die kapitalistische Dekadenz bedeutet nicht, dass die Produktivkräfte zu einem Halt gekommen sind. Um zu überleben, muss das System weiterhin versuchen, die Produktion zu revolutionieren und die Produktivität zu steigern. Stattdessen sehen wir, was Marx die „Entwicklung als Zerfall“ nannte. Auch in der Kunstsphäre sehen wir weiterhin eine Entwicklung von Kunstrichtungen, zum Teil als Antwort auf neue technologische Entwicklungen und den gesellschaftlichen Wandel. Doch dies zeichnet sich immer mehr durch ein rasendes Recyceln früherer Stilrichtungen, durch abrupte Stimmungswechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung, durch eine Fragmentierung, Zersplitterung und Auflösung jeder Richtung aus, noch bevor sie ihre volle Reife erreicht hat. Die menschliche Kreativität hört niemals auf zu existieren, doch sieht sie sich zunehmend erdrosselt, kanalisiert, blockiert und korrumpiert. Wir erleben noch immer künstlerische Weiterentwicklungen (Jazz) und die Einführung neuer Techniken und Stilarten, doch spiegeln diese Entwicklungen in wachsendem Maße den Zerfall einer Gesellschaft wider, die den Gang zur Exekution vermieden hat und nun nur noch überlebt, indem sie sich selbst kannibalisiert.

Dies wird durch den abstrakten Expressionismus veranschaulicht, der einflussreichsten Kunstrichtung (zumindest in der Malerei und Bildhauerei), die im „Nachkriegsboom“ auftritt. Der abstrakte Expressionismus ist zum Teil eine Reaktion auf den ausdrücklich politischen Inhalt des gesellschaftlichen Realismus der 1930er Jahre (Rivera). Beeinflusst durch den Surrealismus und der europäischen Avantgarde betont er den Ausdruck unbewusster Ideen und Emotionen durch spontane, improvisierte oder automatische Techniken, um Bilder von mannigfaltigen Abstraktionsausmaßen zu kreieren (Pollock, Rothko, Newman, Still). Beeinflusst durch das Trauma des II. Weltkriegs und der repressiven Nachkriegsatmosphäre in den USA, vermeidet er offen politische Inhalte, indem er sich der primitiven Kunst, der Mythologie und dem Mystizismus als Inspirationsquelle zuwendet. Dies und sein Streben nach reiner Abstraktion erleichtert die Promotion des abstrakten Expressionismus durch den US-Staat im Kalten Krieg als eine kulturelle Waffe gegen den „sozialistischen Realismus“ seines imperialistischen Rivalen aus Russland.

Kunst und die „Kulturindustrie“

Auch wenn die Kunst ab Mitte des 20. Jahrhunderts die klassischen Symptome der Dekadenz in allen Klassengesellschaften abbildet, so gibt es dennoch auch besondere Entwicklungen, insbesondere während des „Wirtschaftswunders“ nach dem II. Weltkrieg, die nicht allein die Art und Weise umwandeln, in der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft produziert und verteilt wird, sondern auch, wie dies von den Massen der Arbeiterklasse „erlebt“ wird. Der sich aus diesen Entwicklungen ergebende Effekt: die Bedingungen für das Aufkommen revolutionärer Kunst werden untergraben und das Verschwinden der überlebenden künstlerischen Avantgarde beschleunigt. Viele dieser Entwicklungen sind dieselben Symptome der Dekadenz oder Versuche des Kapitalismus, die Widersprüche seiner historischen Krise zu überwinden. Sie umschließen:  

  • die Entwicklung der „Kulturindustrie“ und die Anwendung der Massenproduktionstechniken und Fließbandprinzipien auf die von ihr produzierten Waren (Musik, Filme, Fernsehprogramme, etc.)
  • die Entwicklung des Staatskapitalismus und insbesondere eines raffinierten ideologischen Apparates, um die Arbeiterklasse besser zu kontrollieren und jegliches Anzeichen von Revolte zu vereinnahmen
  • der Aufstieg der „Konsumgesellschaft“ in der Nachkriegsperiode, die sich auf eine relative Steigerung der Löhne für die Arbeiterklasse und auf die gestiegene Warenproduktion für den Massenkonsum (zum Teil finanziert durch eine Ausweitung der Kredite) stützt
  • das Wachstum der unproduktiven Ausgaben und Aktivitäten, z.B. im Marketing und in der Werbung.

 

Infolgedessen ist der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, künstlerische Waren (Musik, Filme, etc.) billig für den Konsum durch die Masse der Arbeiterklasse zu produzieren, wobei er seine ihm innewohnende Feindseligkeit gegenüber der Kunst als eine unnötige Ablenkung von seinem Streben zur Akkumulation überwindet. Dies erleichtert größtenteils die Verwendung der künstlerischer Waren für ideologische Zwecke, nicht nur um die Reproduktion der Arbeit durch die Schaffung von Mitteln für das „Freizeitvergnügen“ der ArbeiterInnen sicherzustellen, sondern auch um jeglichen künstlerischen Ausdruck des Dissenses zu vereinnahmen.

Als das Proletariat in den Kämpfen vom Mai 68 auf die Bühne der Geschichte zurückkehrt, erleben wir durchaus das Auftreten radikaler Kunstrichtungen (Arte Povera), jedoch nicht in einem Umfang, den man erwarten konnte. Stattdessen werden die radikalsten Nachfahren der europäischen Avantgarde, die Situationisten,  festgemacht an ihrer Kritik der „Gesellschaft des Spektakels“, d.h. der bürokratischen, kapitalistischen Umwandlung der Kultur in Waren und der Verwendung der Massenmedien durch den Kapitalismus, um subversive Ideen zu vereinnahmen , und an ihren Vorschlägen zur praktischen Aktion für „eine revolutionäre Neuordnung des Lebens, der Politik und der Kunst“. Die Situationisten übertreiben die Macht dieses „Spektakels“ genau zu dem Zeitpunkt, als die historische Krise des Kapitalismus zurückkehrt, doch sind sie näher an der Realität, wenn sie die Unfähigkeit selbst der radikalsten künstlerischen Aktivitäten deutlich machen, ihre Vereinnahmung zu verhindern, es sei denn, sie sind ausschließlich politisch, das heißt in dieser Periode: revolutionär.

7. Kunst und Zerfall

Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine finale Phase, jene des Zerfalls, besteht die ganz reelle Möglichkeit der Zerstörung sämtlicher menschlicher Kultur, zusammen mit der Kunst, die in Trotzkis Worten unvermeidlich dahin rotten werde „wie griechische Kunst unter den Ruinen einer auf der Sklaverei gegründeten Kultur dahin rottete“. (10) Ab den 1970er Jahren ist die moderne Kunst Teil der offiziellen staatskapitalistischen Kultur in Amerika und Europa, unterstützt und subventioniert von Korporationen und Regierungsagenturen sowie sicher aufgebahrt in den Museen. Trotz fortwährender Wellen von ArbeiterInnenkämpfen bis hin zum Kollaps des russischen Blocks 1989-91 erleben wir einen weiteren Verfall der Kunst, beschleunigt durch den falschen Wirtschaftsboom in den 1980er Jahren und genährt von einer Explosion der Verschuldung, die zu einem Goldrausch von spekulativen Investitionen in die Kunst als ungemünztes Gold führt. Die Exzesse auf dem Markt beenden, was die Konterrevolution, der Nachkriegsboom und der Aufstieg der „Kulturindustrie“ begonnen hatten.

 Das Erscheinen des „Post-Modernismus“ besonders ab den 1980er Jahren ist in gewissem Sinn lediglich die letzte unvermeidliche Anerkennung dieses sich lange hinziehenden Todes des Modernismus. Der „Post-Modernismus“ hat seine Ursprünge in den ausgedörrten Regionen der linksbürgerlichen Intelligentsia (Derrida et all) als ein „demokratisierendes Projekt“. Er theoretisiert die Aufgabe nicht nur jeglicher weiteren Avantgarderolle der Kunst, sondern auch jeglichen Konzepts für eine nach vorn gerichtete Bewegung in der Geschichte. Er passt somit perfekt zu all den bürgerlichen ideologischen Kampagnen in den 1990er Jahren über das „Ende des Kommunismus“ und das „Ende der Geschichte“ und fügt dem Ganzen lediglich die allgemeine Demoralisierung und Verzweiflung hinzu.

Noch vor dem Eintritt des dekadenten Kapitalismus in seine letzte Phase, jene des Zerfalls, können wir daher auf den fortgeschrittenen Zerfall der Kunst hinweisen, d.h. „die Leere und Käuflichkeit sämtlicher künstlerischer Produktion: Literatur, Musik, Malerei, Architektur sind außerstande, anderes auszudrücken als Angst, Verzweiflung, den Zusammenbruch allen kohärenten Denkens, die Leere“ (11). Tatsächlich geht diese Schilderung nicht weit genug. Wir können dem noch hinzufügen, dass ein Trend in der Kunst darin besteht, sich selbst zu zerstören, um – in den Worten des deutschen Künstlers Anselm Kiefer – zur „Anti-Kunst“ zu werden. Im zerfallenden Kapitalismus ist selbst Anti-Kunst… Kunst: „Die Kunst hat etwas, was ihre eigenen Zelle zerstört. Damien Hirst ist ein großartiger Anti-Künstler. Um zu Sotheby’s zu gehen und sein eigenes Werk direkt zu verkaufen heißt, Kunst zu zerstören. Doch indem er dies auf solch übertriebene Weise tut, wird es zur Kunst (…) die Tatsache, dass dies zwei Tage vor dem Crash (von 2008) geschah, macht die Sache noch besser“ (12).

Neben den zynischen Manipulationen von „Künstler/Unternehmer“ wie Hirst, dessen  Schriften mittlerweile als ein weiteres Symptom der Spekulationsblase des Kapitalismus vor 2007 erscheinen, gibt es eine grundsätzlichere Wahrheit. Der expressionistische Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) vergleicht den Künstler mit einem ein Tänzer, dessen Bewegung sich bricht an dem Zwang seiner Zelle. Was in seinen Schritten und dem beschrankten Schwung seiner Arme nicht Raum hat, kommt in der Ermattung von seinen Lippen, oder er muss die noch ungelebten Linien seines Leibes mit wunden Fingern in die Wände ritzen.“ (13). Wenn der Künstler in der Tat ein Gefangener in der Zelle ist, dann sind im zerfallenden Kapitalismus die besten Künstler mehr und mehr dazu gezwungen, wieder auf das Äquivalent eines „schmutzigen Protests“ unter den unerträglichen Bedingungen des kapitalistischen Lebens und auf die Unmöglichkeit eines authentischen künstlerischen Ausdrucks zurückzufallen. Jedoch ist selbst das Beschmieren der Zellenwände mit dem eigenen Kot, so scheint’s, nicht mehr genug, um die Verdinglichung und Verwertung zu verhindern. 1961 produzierte der italienische Künstler ein Werk, das aus 90 Dosen eigener Scheiße bestand. 2007 verkaufte Sotheby’s eine davon für 124.000 Euros.  MH  6.12.2011

 

(1) Siehe Heinrich Heine: Die Revolution und das Fest der Nachtigallen, IKSonline. (https://en. Internationalism.org/icconline/2007/march/heine) (1)

(2)  Courbet, ein Unterstützer Proudhons, wurde wegen seiner aktiven Rolle in der Pariser Kommune eingekerkert.

(3) Culture and Revolution in the Thought of Leon Trotsky, Revolutionary History, Bd. 7, Nr. 2, Porcupine Press. London 1999, S. 102, eigene Übersetzung (2)

(4)  Ernst Fischer, Von der Notwendigkeit der Kunst (eigene Übersetzung). Der Impressionist Cézanne war sich dieses Rückschritts sehr wohl bewusst: Im Werk der alten Meister sei es, sagt er, als „könne man die ganze Melodie im Kopf hören, einerlei, welches Detail man vergönnt ist zu studieren. Man kann alles aus dem Ganzen reißen (…) Sie malten kein Flickwerk, wie wir es taten…“ (E. Fischer).

(5) Edmund Wilson, Axels’Castle (3), 1931. Die Symbolisten waren damals auch als die „Dekadenten“ bekannt.

(6)  Anfang 1919 gebildet, rief der „Zentralrat von Dada (4) für die Weltrevolution“ zu Folgendem auf: „die internationale revolutionäre Gewerkschaft aller kreativen und intellektuellen Männer und Frauen auf der Grundlage des radikalen Kommunismus (…) Die sofortige Enteignung des Eigentums (…) und die kommunale Ernährung Aller (…) Einführung des simultanen Gedichts als kommunistisches Staatsgebet“ (Wikipedia).

(7)  Trotzki, Parteipolitik in der Kunst. 1923. Mehr über die Proletkult-Bewegung und die Debatten innerhalb der bolschewistischen Partei über die Kultur siehe die Reihe „Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee“ in der Internationalen Revue.

(8)   Obgleich einige Surrealisten wie Aragon zu Apologeten des Stalinismus wurden, während Dali den Faschismus unterstützte. Führende Surrealisten nahmen Kontakt zu Trotzki auf, und die Bewegung verband sich eng mit der Linksopposition, doch der führende surrealistische Dichter Benjamin Péret brach 1948 mit der trotzkistischen IV. Internationalen wegen deren reaktionären politischen Positionen und arbeitete eng mit der Munis-Gruppe zusammen.

(9)  Die Dekadenz des Kapitalismus, IKS-Broschüre.

(10)  Trotzki, Kunst und Politik in unserer Zeit, 1938, in Kunst und Revolution, in: Lev Trockij: Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S.149. Der Text über Rivera befindet sich in Fußnote 10 auf Seite 182f.

(11) „Thesen über den Zerfall, der letzten Phase in der Dekadenz des Kapitalismus“, Internationale Revue, Nr. 107, 2001 (engl., franz. Und span. Ausgabe). Man könnte dem die ganze Krise des Bildungssystems und ihre Auswirkungen auf traditionelle Kunstfertigkeiten, -kenntnisse, –techniken, etc. hinzufügen.

(12)  The Guardian, 9.12.2011.

(13)  Zitiert aus: Norman O. Brown, Life against death. The psychoanalytical meaning of history, S. 66, 1959, Rilke “Über Kunst”, https://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?f=14&t=4007&sid=36bfec8dfa5043...

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