Gespeichert von Weltrevolution am
Buchbesprechung zu Cajo Brendels: ”Anton Pannekoek – Denker der Revolution” (II)
In unserer Buchbesprechung über ”Anton Pannekoek – Denker der Revolution” von Cajo Brendel in Weltrevolution 126 widersprachen wir der Darstellung Brendels, derzufolge die Übernahme bestimmter ”klassischer” Positionen des Rätekommunismus durch Pannekoek – wie die Ablehnung des proletarischen Charakters der russischen Oktoberrevolution oder die Verwerfung der aktiven und unerlässlichen Rolle der Organisation der Revolutionäre – sozusagen die Krönung der politischen und theoretischen Leistung des großen niederländischen Marxisten bilden würden. Entgegen der Auffassung Brendels von Pannekoek als ein einsames, in Abgeschiedenheit arbeitendes Individuum, das sich zu der Auffassung durchgerungen haben soll, dass die organisierte Arbeiterbewegung von Grund auf etwas Bürgerliches gewesen sei und auch sein musste, zeigten wir auf, dass Pannekoek und sein Beitrag zum Marxismus vielmehr selbst das Produkt der kollektiven Kämpfe dieser Arbeiterbewegung war. Zwar findet sich manches v.a. im Spätwerk Pannekoeks, worauf sich die ”Rätekommunisten” von heute berufen können. Doch diese – aus unserer Sicht irrigen – Auffassungen sind in der Zeit der größten Niederlage des Proletariats, nach dem Scheitern des ersten Anlaufs zur Weltrevolution am Ende des 1. Weltkriegs entstanden, als Pannekoek, wie die übrigen echten Revolutionäre, in eine zunehmende Isolation vom Rest der Klasse geriet. Darüber hinaus stehen solche Aussagen vielfach im Widerspruch nicht nur zu den früheren Positionen und Kämpfen Pannekoeks, sondern auch zu bestimmten Grundüberzeugungen, die er weiterhin - bis ans Ende seines Lebens – vertrat.Da wir aus Platzgründen damals unsere Buchbesprechung nicht vollständig abdrucken konnten, beendeten wir unsere Aufführungen in der Weltrevolution Nr. 126 mit folgendem Versprechen: ”Im zweiten, abschließenden Teil dieses Artikels werden wir nachweisen, welch tiefer Gegensatz zwischen Pannekoeks marxistischer Sicht der aktiven Rolle der Theorie und der revolutionären Begeisterung im Klassenkampf und dem platten, ökonomistischen Vulgärmaterialismus eines Cajo Brendels besteht.” Dieses Versprechen wollen wir hier nun einlösen.
Der platte Vulgärmaterialismus des ”Rätekommunismus”Diese vulgärmaterialistische
Auffassung Brendels wird bereits in der Einleitung zu seinem
Pannekoek-Buch überdeutlich. Dort schreibt Brendel: ”Zur
Parteiauffassung gehört die Ansicht, der Sozialismus sei so etwas wie
ein ”herrliches Ideal”; zwar ein Ideal, das in den gesellschaftlichen
Verhältnissen wurzelt und sein Entstehen dem kapitalistischen
Klassengegensatz verdankt, aber dennoch ein Ideal in dem Sinne, dass es
die Aufgabe der Partei sei, den Arbeitern ihre eigenen Bedürfnisse
bewusst zu machen. Die Schriften des jungen Pannekoek vom Anfang dieses
Jahrhunderts zeigen deutlich die Spuren eines solchen Denkens.” (S. 12)
Brendel kritisiert in diesem Zusammenhang Pannekoeks Broschüre von 1906
”Ethik und Sozialismus” und wirft ihm vor, dort eine ”idealistische”
Analyse angefertigt zu haben, die “... auch ihn vom ”sozialistischen
Proletariat” reden lässt und von der Umwandlung der Gesellschaft als
einem Ziel’.” Dagegen behauptet Brendel: “Die Arbeiter setzen es sich
nicht zum Ziel, die Gesellschaft zu verändern; die Gesellschaft
verändert sich – ob sie das wollen oder nicht, und ob sie sich dessen
bewusst sind oder nicht – infolge jener Handlungen, die sie aufgrund
ihrer Klassenlage in ihrem eigenen Interesse zu tun gezwungen sind. Die
Arbeiter sind auch nicht ”sozialistisch”; sie sind einfach nur
Arbeiter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn sie sich im
Gegensatz zur herrschenden kapitalistischen Ordnung befinden, so nicht,
weil sie sich die Schaffung anderer (”besserer”, sagen die
moralisierenden ”Idealisten”) sozialer Verhältnisse zum Ziel gesetzt
haben. Ihr Kampf gegen das Kapital entspringt nicht ihren Auffassungen,
sondern ihrer Lage. Dieser Kampf wird nicht in ihrem Kopf geboren,
sondern in ihrem Magen. Kein Ideal liegt ihm zugrunde, sondern die sehr
materielle Tatsache, dass ‘die Not sie treibt’. Auch wenn dies nicht
immer unmittelbar der Fall sein mag, so hat der Kampf der Arbeiter doch
nichts mit ‘erhabenen Idealen’ zu tun, sondern mit realen praktischen
Situationen – Situationen, die zum Beispiel das Rechtsgefühl der
Betroffenen verletzen.” (S. 14) So Brendel. Wir halten schon mal fest:
Für Brendel gibt es ein klares Entweder-Oder. Die materielle
Notwendigkeit des Sozialismus und die bewusste, willensstarke
Verfolgung dieses Ziels werden einander gegenübergestellt. Laut Brendel
werden die Arbeiter gezwungen die Revolution zu machen. Sie sind
sozusagen die willenlosen Werkzeuge der Umstände. Nicht die Proletarier
verändern die Welt, sondern ”die Gesellschaft verändert sich – ob sie
das wollen oder nicht, und ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht.”
Die Revolution bedarf weder des Bewusstseins noch des Kampfeswillens
der revolutionären Klasse. Brendel beruft sich hierbei auf Marx. Er
vergisst dabei, dass es Marx selbst war, der den wesentlichen
Unterschied zwischen Mensch und Tier - zwischen dem selbst
schlechtesten Architekt und der fleißigsten Biene darin sah, dass der
Mensch sich sein Haus und seine Zukunft zuerst im Kopf entwirft, bevor
er sie in der Wirklichkeit auszuführen versucht.
Der proletarische, dialektische Materialismus Pannekoeks
Schauen wir nun, ob es nur der junge, vielleicht noch nicht theoretisch ausgereifte Pannekoek war, der mit dieser platten, bürgerlichen Auffassung des Materialismus von Cajo Brendel nicht übereinstimmte. Wir schlagen den Artikel ”Marxismus und Idealismus” auf, welcher 1921 im ”Proletarier”, der Zeitschrift der KAPD veröffentlicht wurde (1). Dort erklärt Pannekoek, was der Marxismus unter Materialismus versteht. ”Materiell bedeutet bei uns alles, was wirklich ist, die ganze reale Welt, alles, was auf uns wirkt. Nicht nur Nahrung und Luft, Bäume und Erde, sondern auch Farben und Töne, Worte und Gedanken. Alles Geistige ist also darin einbegriffen; wirklich, real bestehend, sind die Gedanken in unseren Köpfen, und sie wirken auch auf andere ein.” In der Weltsicht der Bourgeoisie gibt es eine äußere Welt, und im Gegensatz dazu eine innere Welt der Ideen und Gefühle. Während der bürgerliche Idealismus diese Innenwelt als das Eigentliche und Wahre, die äußere Welt hingegen als unwesentlich oder gar als eine Täuschung betrachtet, ist es für den bürgerlichen Materialismus umgekehrt: die Außenwelt bildet das Echte und Bestimmende, während die Gedanken und Gefühle des Menschen lediglich als die passive Wiederspiegelung der materiellen Wirklichkeit gelten. Es ist dieselbe Gegenüberstellung, welche Brendel zwischen materieller Not und bewusstem Hinstreben auf ein Ziel konstruiert. Pannekoek aber wusste, dass der Marxismus diesen Gegensatz zwischen äußerer Welt und innerer Welt, zwischen Handeln hier, Denken und Fühlen dort, längst aufgelöst hatte. ”Der Marxismus sagt also nicht, dass nur die materiellen Verhältnisse, im engeren, bürgerlichen Sinne, den Geist des Menschen bestimmen; sondern er sagt, dass nur die wirkliche, aber auch die ganze wirkliche Umwelt ihn bestimmt. Neben den äußeren Lebensverhältnissen treten die geistigen Einwirkungen der Menschen aufeinander als wichtigste Kräfte auf; einerseits die Tradition überlieferter Anschauungen, die den Kindern eingeprägt und von den Herrschenden sorgsam gehegt wird, andererseits die Propaganda, die die neuen Ideen von dem einem auf die andern überbringt. Darin spricht sich aus, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist; dass der geistige Besitz der Menschen an Wissen, Glauben, Anschauungen und Idealen ein kollektiver Besitz ist.”Man sieht, wie sehr auch der reife Pannekoek der Revolutionsjahre im Gegensatz zu den Auffassungen Brendels steht. Weit davon entfernt, die aktive Rolle von Bewusstsein und Willen, von der Begeisterung für große Ideale zu verneinen, hat Pannekoek ihre Bedeutung stets betont. ”Die Geschichte, sagten wir, ist Handeln der Menschen. Was bestimmt das menschliche Handeln? Erstens die unmittelbaren Triebe, die zwingenden Bedürfnisse des Lebens: Hunger und Kälte treibt sie, wie die Tiere auch, Nahrung und Deckung zu suchen. Beim Menschen nimmt dies die Form des Gedankens, des bewussten Willens an. Aber auch andere Kräfte bestimmen sein Handeln: sittliche Triebe, geistige Einflüsse, Opfermut, Einsicht, Befreiung, Ideale verursachen oft ein Handeln gegen das unmittelbare Interesse. In revolutionären Zeiten sieht man die treibende Macht großer Ideen. Unwissende Gegner glauben, damit den Marxismus widerlegen zu können: also nicht bloß materielle Kräfte bestimmen die Geschichte. Aber es ist klar, dass dies ein Mißverstehen ist. Der Marxismus leugnet die Macht der sittlichen, geistigen, idealen Kräfte nicht, sondern fragt: woher stammen sie? Nicht vom Himmel, sondern aus der wirklichen Welt selbst; erzeugt durch die Nöte der ökonomischen Entwicklung verbreiten sie sich durch Rede und Schrift, Literatur, Kunst, Propaganda, durch alle Mittel geistigen Verkehrs, während sie stets aus dem Boden, worin sie wurzeln, Nahrung nehmen und gewinnen so eine Riesenkraft.”
Unserer Meinung nach hat die Auffassung Brendels Ähnlichkeiten mit der Neigung großer Teile der Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg, die Bedeutung der subjektiven Faktoren des Klassenkampfes so sehr zu unterschätzen, dass die bereits im Kommunistischen Manifest definierte Rolle der Revolutionäre aufgehoben wird, ”...praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder” zu sein: ”sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.” (MEW Band 4, S. 474). Allerdings hat diese Verneinung der Wichtigkeit der Verteidigung der Perspektive des kommunistischen Endziels jeweils eine andere Ursache. Bei den heutigen Rätekommunisten vom Schlage Brendels geschieht dies als Reaktion auf den Verrat der Arbeiterparteien der Vergangenheit sowie auf den Missbrauch des Begriffs der revolutionären Partei durch den Stalinismus. Die Sozialdemokratie hingegen begann, die Macht der objektiven Entwicklung zu überschätzen zu einer Zeit, als die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung war, als es noch galt, die Reifung dieser Bedingungen abzuwarten. Dabei wurde oft, wie Pannekoek schreibt, ”... die geistige Zwischenstufe als selbstverständlich übergangen. Diese Form der Darstellung gibt aber leicht zu Missdeutungen Anlass, als sei der Mensch gleichsam ein passives willenloses Werkzeug der materiellen Kräfte; in den sonst vorzüglichen historischen Werken Kautskys macht der Marxismus oft den Eindruck eines toten Mechanismus.”
Doch was Pannekoek damals, für die Intervention der Revolutionäre, gegen den fatalistischen ”orthodoxen Marxismus” eines Kautskys schlussfolgerte, gilt im vollen Umfang auch für heute und gegen das nicht Eingreifen der ”Rätekommunisten”.
”Diese Unterlassung wird aber zum prinzipiellen Fehler, wenn man den Marxismus auf die Gegenwart anwendet. Wenn für heute die wirtschaftlichen Ursachen und die Revolution als notwendiges Ergebnis unmittelbar nebeneinander gesetzt werden, wird die Theorie zum Fatalismus, dessen ‘marxistische’ Losungen und Gebote sind: die Verhältnisse ausreifen lassen, abwarten, sich nicht provozieren lassen, vor allem nicht eingreifen – an diesem Fatalismus ist der Marxismus der zweiten Internationale zugrunde gegangen.”
Diese tiefgreifende Überzeugung Pannekoeks von der lebenswichtigen Bedeutung der Theorie, der revolutionären Propaganda und der revolutionären Leidenschaft hilft uns auch, das Paradox aufzulösen, das Brendel in seinem Buch nicht befriedigend erklären kann: Dass auch in den späten Werken Pannekoeks (auf die die Rätekommunisten sich am ehesten berufen können, um ihre Ablehnung der Organisation der Revolutionäre zu untermauern) die Vorstellung von der Notwendigkeit der Klassenpartei wieder auftaucht. Sogar 1946 forderte Pannekoek in den ”Fünf Thesen über den Klassenkampf”, eine Partei neuen Stils, die nicht mehr die Macht an Stelle der Arbeiterklasse übernehmen soll. Statt dessen hat sie “... Kenntnis und Einsicht zu verbreiten, Ideen zu formulieren und den Geist der Massen aufzuklären.”
Es liegt uns fern, aus dem späten Pannekoek einen konsequenten Vertreter der Notwendigkeit der revolutionären Partei machen zu wollen. Auffallend ist vielmehr die Widersprüchlichkeit des älteren Pannekoeks in dieser Frage. Eine solche Widersprüchlichkeit findet sich bei Brendel freilich nicht. Weil er die Rolle der Theorie und der revolutionären Intervention gänzlich über Bord wirft, hat Brendel natürlich keine Probleme damit, konsequent die Klassenpartei abzulehnen. Der inkonsequente Pannekoek allerdings, ist dafür immer noch ungleich anregender als die sterile Impotenz der gradlinigen Rätekommunisten. Denn sie hält fest an der Überzeugung von der Unerlässlichkeit des Marxismus als Waffe der Befreiung des Proletariats.
(1) Dieser Artikel wurde 1974 auf deutsch wieder veröffentlicht als Band 1 der Reihe ”Neubestimmung des Marxismus” im Karin Kramer Verlag (Seiten 21 bis 26). Man wird die eher bürgerliche Auffassung des Materialismus durch Brendel nicht damit entschuldigen können, dass er vielleicht diesen Artikel Pannekoeks nicht gekannt habe. Denn die Einleitung zu diesem Band wurde von Cajo Brendel selbst beigesteuert.