Deutschland 1968 - Eine neue Generation sucht nach einer Alternative - Teil I

Printer-friendly version

Die Bildung der außerparlamentarischen Opposition und die bürgerliche Demokratie

Wie in anderen Artikeln unserer Presse aufgezeigt, entwickelte sich Ende der 1960er Jahre eine internationale Protestbewegung, gegen den Vietnam-Krieg, gegen die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Verschlechterung, die in vielen Ländern Keime einer Infragestellung der bestehenden Ordnung in sich trug. Die Bewegung in Deutschland setzte schon relativ früh ein, sie sollte auch eine größere internationale Ausstrahlung haben.

 

Opposition außerhalb des bürgerlichen Parlamentes

Nachdem es seit Mitte der 1960er Jahre immer häufiger vor allem zu Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg gekommen war, erhielten die Proteste eine neue Dimension, als am 1. Dezember 1966 die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD in Bonn gebildet wurde und Rudi Dutschke nur wenige Tage später, am 10. Dez 1966, zur Errichtung einer „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) aufrief. Wenn die wichtigste „linke“ Partei sich an der Regierung beteiligte, musste dies zu Enttäuschung und Abwendung von der SPD führen. Während die SPD emsig die Wahltrommel rührte und immer wieder für die Wahlbeteiligung warb, wurden die Proteste mehr auf die Straße getragen. Am Anfang dieser Bewegung stand eine gehörige Portion Illusionen über die bürgerliche Demokratie im Allgemeinen, und über die Sozialdemokratie insbesondere. Die Idee: Da es mit dem Eintritt der SPD in die Regierung keine größere Oppositionskraft mehr im Bundestag gäbe, müsse man diese Opposition von der Straße aus anfachen. Mit der immer offensichtlicher werdenden systemstützenden Rolle der Sozialdemokratie innerhalb der Großen Koalition aber richtete sich die „außerparlamentarische Opposition“ mehr gegen eine Vereinnahmung durch die bürgerliche Demokratie, gegen Wahlbeteiligung und sprach sich für direkte Aktionen aus. Diese Stoßrichtung war ein wichtiges Element bei dem langsamen Prozess der späteren Aufkündung des „Klassenfriedens“…

Eine neue Generation leistet Widerstand

Die herrschende Klasse hatte sich veranlasst gesehen, die SPD als Reaktion auf das Wiederauftauchen der Wirtschaftskrise nach dem 2. Weltkrieg wieder an die Regierung zu bringen. Nach dem lang andauernden Wirtschaftswunder fiel das Wachstum plötzlich ab 1965 stark ab. Auch wenn der Rückgang des Wachstums immer noch auf einem hohen Wachstumsniveau erfolgte und die damaligen Wachstumszahlen im Vergleich zu den gegenwärtigen niedrigen Wachstumszahlen noch „Traumzahlen“ waren, vollzog sich etwas Historisches. Das Nachkriegswirtschaftswunder war zu Ende. In der ersten Rezession 1967 verdreifachte sich nahezu die Zahl der Arbeitslosen von 0,16 auf 0,46 Millionen. Die Kapitalisten reagierten sofort mit Sparmaßnahmen. Erste Stellenstreichungen erfolgten; Sonderleistungen wie übertarifliche Zulagen wurden gestrichen. Auch wenn dies alles im Vergleich zu heute als geradezu ‚harmlos’ erscheint, war es für die gesamte Arbeiterklasse ein großer Schock. Das Gespenst der Krise war wieder da. Jedoch auch wenn die Krise plötzlich wieder hereingebrochen war, reagierte die Arbeiterklasse damals noch nicht mit einer größeren Streikbewegung. Dennoch beteiligten sich zwischen 1965-67 ca. 300.000 Arbeiter an diversen Arbeitskämpfen. Den Beginn einer bundesweiten Protestwelle markierte ein wilder Streik bei dem Druckmaschinenhersteller Faber und Schleicher in Offenbach im Dezember 1966, in dem es um die Entfernung eines Vorgesetzten ging, dem „Antreibermethoden“ vorgeworfen wurden. Hinzu kamen Konflikte über die Kontrolle der Arbeitszeit wie bei den ILO-Werken in Pinneberg bei Hamburg im September 1967. Nahezu alle entwickelten sich als wilde Streiks. Sie trugen nicht unwesentlich zur Stimmungsänderung vor allem bei jugendlichen Beschäftigten, insbesondere Lehrlingen bei (damals gab es keine nennenswerte Jugendarbeitslosigkeit, die meisten Jugendlichen verfügten über Erfahrung aus der Arbeitswelt). Nachdem zuvor jahrelang die Ideologie der Sozialpartnerschaft und die Botschaft vom „Vater“ Staat gepredigt worden war, entstanden nun erste Risse beim ‚sozialen Frieden’. Rückblickend betrachtet waren diese ersten kleineren Streiks nur „Vorläuferreaktionen“, welche letztendlich nur ein größeres Beben ankündigten, das in Deutschland erst 1969 eintreten sollte. Mit diesen zaghaften, wenig spektakulären Aktionen hatte die Arbeiterklasse in Deutschland dennoch ein wichtiges Signal ausgesendet, das auch der Protestbewegung der Studenten weiter Auftrieb verlieh. Auch wenn sich die Arbeiter in Deutschland damals nicht an die Spitze der internationalen Bewegung stellten, waren sie schon früh mit Abwehrreaktionen gegen die Krise dabei. Es war aber nicht so sehr die unmittelbare Heftigkeit der ersten Sparmaßnahmen, die etwas in Bewegung gesetzt hatte. Viel mehr waren auch die Regungen einer neuen Generation zu spüren. Nach den Entbehrungen der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren und der Hungerjahre während des Krieges hatte der brutale Verschleiß von Arbeitskräften während des Nachkriegswiederaufbaus mit langen Arbeitsstunden und Niedrigstlöhnen einen höheren Konsum mit sich gebracht, aber gleichzeitig stellte dieses neue „Arbeitshaus“ etwas Abschreckendes insbesondere für die Jugend dar. Ein sehr diffuses Gefühl „das kann es doch nicht gewesen sein, wir brauchen etwas Anderes als nur Konsumgüter“. „Wir wollen nicht so erschöpft, abgestumpft, verschlissen, ausgemergelt sein wie unsere Eltern“, kam auf. Langsam trat eine neue, ungeschlagene Generation in Erscheinung, die den Krieg nicht mitgemacht hatte und jetzt nicht bereit war, die Schufterei der kapitalistischen Tretmühle widerstandslos hinzunehmen. Die Suche nach etwas Anderem, noch Undefinierten, begann

 

Hinter der Protestbewegung – die Suche nach einer anderen Gesellschaft

Die Bildung der „Außerparlamentarischen Opposition“ Ende 1966 selbst war wiederum nur ein Schritt einer größeren Regung unter den Jugendlichen, insbesondere den Studenten. Denn von 1965 an, noch bevor die Wirtschaftskrise wieder auftauchte, wurde in den Universitäten immer häufiger zu Vollversammlungen aufgerufen, in denen man in hitzigen Debatten über Mittel und Wege des Protestes stritt. An vielen Universitäten bildeten sich – dem US-Vorbild folgend – Diskussionsgruppen, als Gegenpol zur „etablierten“, bürgerlichen wurde die „kritische Universität“ gegründet. Aber auch in diesen Foren waren nicht nur Mitglieder des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) aktiv, die irgendwelche spektakulären, antiautoritären Protestformen beschlossen, sondern es wurde in dieser ersten Phase der Bewegung eine alte Tradition der Debatte, der Diskussionen in öffentlichen Vollversammlungen zum Teil wiederbelebt. Auch wenn sich viele durch den Drang zum spektakulären Handeln angezogen fühlten, blühte wieder das Interesse an Theorie, an der Geschichte revolutionärer Bewegungen auf und der Mut an den Gedanken der Überwindung des Kapitalismus auf. Bei vielen keimte Hoffnung auf andere Gesellschaft auf. Rudi Dutschke fasste diese im Juni 1967 folgendermaßen zusammen: „Die Entwicklungen der Produktivkräfte haben einen Prozesspunkt erreicht, wo die Abschaffung von Hunger, Krieg und Herrschaft materiell möglich geworden ist. Alles hängt vom bewussten Willen der Menschen ab,,ihre schon immer von ihnen gemachte Geschichte endlich bewusst zu machen, sie zu kontrollieren, sie sich zu unterwerfen…“ Eine Vielzahl von politischen Schriften der Arbeiterbewegung, insbesondere des Rätekommunismus, wurde wieder neu aufgelegt. Das Interesse an Arbeiterräten wuchs enorm. Die Protestbewegung in Deutschland galt international als die mit am „theoretischsten, diskussionsfreudigsten, politischsten“. Dabei kritisierte zunächst ein Großteil der Protestierenden wie z.B. Rudi Dutschke theoretisch oder zumindest gefühlsmäßig den Stalinismus. Dutschke sah diesen als doktrinäre Entartung des genuinen Marxismus zu einer neuen „bürokratischen“ Herrschaftsideologie. Er forderte auch im Ostblock eine durchgreifende Revolution zu einem selbstbestimmten Sozialismus.

Staatliche Repression sorgt für Empörung

Aus Protest gegen den Besuch des Schahs von Persien versammelten sich in West-Berlin am 2. Juni 1967 Tausende von Demonstranten. Die bürgerlich demokratische deutsche Regierung, die das blutige, diktatorische Regime des Schahs kritiklos unterstützte, war fest entschlossen, mit Polizeigewalt (Greiftrupps und Gummiknüppel) die Protestierenden in Schach zu halten. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen wurde dabei von einem Zivilpolizisten der Student Benno Ohnesorg hinterrücks erschossen (und nachher freigesprochen). Dieser Mord an dem Studenten rief eine enorme Empörung unter den sich politisierenden Jugendlichen hervor und sorgte für weiteren Auftrieb der Protestbewegung. In einem wenige Tage später am 9. Juni 1967 einberufenen Kongress "Hochschule und Demokratie" ließen nach der staatlichen Repression viele Diskussionen den Graben zwischen Staat und Gesellschaft deutlich werden. Gleichzeitig rückte eine weitere Komponente des Protestes immer mehr in den Vordergrund.

Die Bewegung gegen den Krieg

Wie in den USA war es 1965 und 1966 zu mehreren Kundgebungen und Kongressen gegen den Vietnamkrieg gekommen. Am 17./18. Februar 1968 wurde in West-Berlin ein Internationaler Vietnam-Kongress mit anschließender Demonstration von 12000 Teilnehmern abgehalten. Die kriegerische Eskalation im Nahen Osten mit dem Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und Ägypten im Juni 1967 sowie vor allem der Vietnamkrieg hatten die Bilder des Krieges in die Wohnungen gebracht. Gerade 20 Jahre seit dem Ende des 2. Weltkriegs waren vergangen, da wurde die neue Generation, die den 2. Weltkrieg selbst oft nicht, oder damals erst als kleine Kinder erlebt hatte, mit einem Krieg konfrontiert, der die ganze Barbarei dieses Systems vor Augen führte (permanente Bombardierung vor allem der Zivilbevölkerung, Einsatz von chemischen Waffen wie Agent Orange, Massaker von My Lai, auf Vietnam wurden mehr Bomben geworfen als im gesamten zweiten Weltkrieg.) Die jüngere Generation war nicht mehr bereit, sich in einem neuen Weltkrieg abschlachten zu lassen. Deshalb protestierten weltweit, vor allem in den USA und in Deutschland immer mehr gegen den Vietnamkrieg. Wie widersprüchlich und konfus die Bewegung jedoch damals war, zeigte sich anhand einer damals weit verbreiteten Grundidee, welche von R. Dutschke mit am klarsten vertreten wurde. Diese glaubte wie viele andere im SDS, der Vietnamkrieg der USA, die Notstandsgesetze in der Bundesrepublik und die stalinistischen Bürokratien im Ostblock hätten bei aller Verschiedenheit einen gemeinsamen Aspekt – sie seien Glieder der weltweiten Kette der autoritären Herrschaft über die entmündigten Völker. Die Bedingungen für die Überwindung des weltweiten Kapitalismus in den reichen Industriestaaten und der „Dritten Welt“ seien jedoch unterschiedlich. Die Revolution werde nicht von der Arbeiterklasse in Europa und den USA, sondern von den verarmten und unterdrückten Völkern der „Peripherie“ des Weltmarkts ausgehen. Deshalb fühlten sich viele Politisierte damals von den „anti-imperialistichen“ Theorien angezogen, welche die „nationalen Befreiungskämpfe als neue revolutionäre Kraft priesen“, obwohl es sich dabei in Wirklichkeit um imperialistische Konflikte – oft in Form von Stellvertreterkriegen handelte, bei denen die Bauern auf dem Altar des Imperialismus verheizt wurden. Auch wenn viele Jugendliche sich für die sogenannten nationalen Befreiungskämpfe in der 3. Welt begeisterten und auf den Antikriegsdemonstrationen für den Vietcong, Russland oder China eintraten, somit keine grundsätzlich internationalistische Position vertraten, wurde zunehmend spürbar, dass das grundsätzliche Unbehagen gegenüber dem Krieg zunahm, und dass sich vor allem viele Jugendliche nicht mehr für einen Krieg zwischen den beiden Blöcken einspannen lassen würden. Dass die herrschende Klasse in dem Frontstaat Deutschland immer mehr Probleme hatte, die Jugendlichen für ein globales imperialistisches Abschlachten einzuspannen, sollte von großer Bedeutung sein.

Die Spirale der Gewalt setzt ein

Schon von 1965 an hatte sich in zahlreichen Städten Widerstand gegen die „Notstandsgesetze“ formiert, welche den Staat mit umfassenden Rechten der Militarisierung im Inneren und verschärfter Repression ausstatten sollten. Die in die Große Koalition eingetretene SPD bestand auf diesem Vorhaben in alter Tradition (1) Nach dem Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 wurde im Frühjahr 1968 die Stimmung gegen die Protestierenden weiter aufgeheizt. Die Bild-Zeitung forderte: „Stoppt den Terror der Jungroten jetzt!“ Bei einer vom Berliner Senat organisierten „Pro-Amerika-Demonstration“ am 21. Februar 1968 trugen Teilnehmer Plakate mit der Aufschrift „Volksfeind Nr. 1: Rudi Dutschke“. Bei dieser Kundgebung wurde ein Passant mit Dutschke verwechselt, Demonstrationsteilnehmer drohten diesen totzuschlagen. Eine Woche nach der Ermordung Martin L. King in USA erreichte schließlich in Deutschland am „Gründonnerstag“ 11. April die Hetzkampagne ihren Höhepunkt durch das Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin. In den darauf folgenden Osterrunruhen vom 11.-18. April, die sich hauptsächlich gegen die Springer-Presse richteten („Bild-Zeitung hat mitgeschossen“) starben zwei Menschen, Hunderte wurden schwer verletzt. Eine Spirale der Gewalt setzte ein. In Berlin flogen die ersten Molotowcoktails, die von einem Agenten des Verfassungsschutzes an Gewaltbereite verteilt wurden. In Frankfurt wurde das erste Kaufhaus in Brand gesteckt. Trotz eines Sternmarsches am 11.Mai 1968 auf Bonn mit 60.000 Teilnehmern boxte die Große Koalition in aller Eile die Notstandsgesetze durch. Während in Frankreich im Mai 68 (siehe dazu unsere Artikel) die studentischen Proteste durch die Arbeiterstreiks verdrängt wurden und die Arbeiterklasse wieder auf die Bühne der Geschichte zurückkehrte, waren in Deutschland die Proteste bereits im Mai 68 an einem Scheideweg angelangt. Eine Welle von Arbeiterstreiks sollte erst mehr als ein Jahr später im September 1969 ausbrechen. Nicht zuletzt deshalb fehlte es vor allem den meisten proletarisierten Protestierenden rasch an einem Bezugspunkt. Während sich ein Teil der Protestierenden gewaltsamen Aktionen zuwandte, und während sich viele, vor allem studentische Politisierte in den Aufbau von linken Organisationen (K-Gruppen) stürzten, um so besser an die „Arbeiter in den Fabriken heranzukommen“, sollten sich viele proletarisierte Protestierende von diesen Reaktionen abwenden und sich gewissermaßen zurückziehen. Auf die weitere Entwicklung nach Mai 68 in Deutschland werden wir im nächsten Teil eingehen. 2.5.08 TW (1) Die deutsche Bourgeoisie, setzte bereits 1918-19 Hetzkampagnen der Medien und Provokationen ein, um die Radikalen als gewaltsame Terroristen hinzustellen und zu isolieren. Siehe das Buch von Uwe Soukup, „Wie starb Benno Ohnesorg?“.

Geographisch: 

Aktuelles und Laufendes: 

Leute: 

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

Historische Ereignisse: 

Theoretische Fragen: