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Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Beitrag über das Verhältnis zwischen Marxismus und Wissenschaft, der uns von dem Anthropologen Chris Knight zugesandt wurde. Chris war zum 19. Kongress der IKS, der im Mai stattfand, eingeladen, um an der Debatte über dieses Thema teilzunehmen, mit dem sich die Organisation seit einiger Zeit beschäftigt. Diese Debatte spiegelt sich in Artikeln wider, die wir über Freud, Darwin und Chris’ eigene Theorie über die Ursprünge der menschlichen Kultur veröffentlicht haben; gleichzeitig haben wir vor, einige interne Diskussionstexte zu veröffentlichen, die wir geschrieben haben, um die Debatte voran zu bringen. Wir werden auch Näheres über die Debatte auf dem Kongress veröffentlichen.
Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Beitrag über das Verhältnis zwischen Marxismus und Wissenschaft, der uns von dem Anthropologen Chris Knight zugesandt wurde. Chris war zum 19. Kongress der IKS, der im Mai stattfand, eingeladen, um an der Debatte über dieses Thema teilzunehmen, mit dem sich die Organisation seit einiger Zeit beschäftigt. Diese Debatte spiegelt sich in Artikeln wider, die wir über Freud, Darwin und Chris’ eigene Theorie über die Ursprünge der menschlichen Kultur veröffentlicht haben; gleichzeitig haben wir vor, einige interne Diskussionstexte zu veröffentlichen, die wir geschrieben haben, um die Debatte voran zu bringen. Wir werden auch Näheres über die Debatte auf dem Kongress veröffentlichen.
Wir haben auf unserer englischen Webseite den Redebeitrag von Chris Knight als podcast zugänglich gemacht:https://en.internationalism.org/podcast/20110925/chris-knight-origins-of...
Unser Ziel in dieser Debatte, die den früheren Diskussionen über Ethik, die menschliche Natur und den primitiven Kommunismus notwendigerweise folgte, ist nicht, eine einheitliche Auffassung über die Beziehung zwischen Marxismus und Wissenschaft zu erreichen oder uns auf eine bestimmte psychologische oder anthropologische Theorie festzulegen, die einem Punkt in unserer Plattform gleich käme. Auch besteht unser Interesse, wenn wir uns in Diskussionen mit Wissenschaftlern wie Chris Knight oder den Linguisten Jean-Louis Desalles engagieren, der auf unserem vorherigen Kongress gesprochen hatte, nicht darin, eine hochgradige Übereinstimmung mit ihnen in politischen Positionen, die unsere Organisation zu verteidigen da ist, anzustreben. Eher suchen wir eine Tradition der Arbeiterbewegung fortzusetzen, die sich durch ihre Offenheit gegenüber allen realen Entwicklungen der wissenschaftlichen Untersuchung auszeichnete, besonders wenn sie sich mit den Ursprüngen und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft befasste. Das ist es im Wesentlichen, was Marx‘ und Engels’ Begeisterung für die Theorien von Charles Darwin und L. H. Morgan, Trotzkis Anerkennung der Bedeutung der Freudschen Theorien usw. begründete. Und trotz der Dekadenz des Kapitalismus und der äußerst negativen Auswirkungen, die sie auf die Fortentwicklung und den Nutzen der Wissenschaft gehabt hat, ist das wissenschaftliche Denken im letzten Jahrhundert keineswegs zu einem völligen Stillstand gekommen. Auf dem Kongress selbst wie auch in der allgemeinen Diskussion über Marxismus und Wissenschaft, an der er teilnahm, legte Chris knapp, aber pointiert die anthropologischen Theorien dar, die er in seinem Buch “Blood Relations” (Blutsverwandtschaft) und anderen Werken ausgearbeitet hat. Seine Präsentation auf dem Kongress und die anschließende Diskussion sind ein Beweis, dass fruchtbare wissenschaftliche Untersuchungen und das Nachdenken über die Ursprünge der Menschheit sowie über die Wirklichkeit des „ursprünglichen Kommunismus“ bis heute natürlich nicht aufgehört haben zu existieren.
Der folgende Text befasst sich nicht direkt mit der Anthropologie, sondern mit der allgemeineren Beziehung zwischen dem Marxismus und der Wissenschaft. Er bietet einen Weg an, dem Verhältnis zwischen den beiden näher zu kommen; ein Weg, der grundlegend revolutionär ist und der den essenziellen Internationalismus wahrer Wissenschaft bekräftigt, die dialektische Art und Weise, in der sie sich vorwärts bewegt und ihre notwendige Gegnerschaft zu allen Formen der Ideologie. Wir laden unsere LeserInnen ein, Gebrauch zu machen vom Diskussionsforum auf unserer Webseite, um uns eure Sicht zu Chris Knights Text und zu seinen anthropologischen Theorien zu schicken. Chris hat gesagt, dass er bereit sei, an jeder Diskussion teilzunehmen, die seine Beiträge auf dieser Seite anregen.
IKS, Juni 2011
Chris Knight: Marxismus und Wissenschaft
„Die Wissenschaft“ ist laut Trotzki, „ist die Erkenntnis, die uns mit Macht ausstattet“[1] Die Naturwissenschaften, fuhr Trotzki fort, streben danach, die Gewalt über die Naturkräfte und -prozesse zu gewinnen. Die Astronomie machte die ersten Kalender, Voraussagen über Sonnenfinsternis und die genaue Navigation auf dem Meer möglich. Die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft erlaubte eine wachsende Befreiung von Krankheiten und deren Bezwingung. Die Fortschritte in der modernen Physik, Chemie und den anderen Naturwissenschaften haben der Menschheit eine immense Macht gegeben, Naturkräfte aller Art für sich nutzbar zu machen, und sie haben die Welt, in der wir leben, völlig verändert.
Zumindest potenziell gehört die daraus resultierende Macht uns allen - der gesamten menschlichen Spezies. Wissenschaft ist Selbsterkenntnis und Macht der Menschheit in diesem Stadium unserer Entwicklung auf diesem Planeten – und nicht nur die politische Macht einer Gruppe von Menschen über andere. Für Trotzki, wie für Marx vor ihm, ist es der ihr innewohnende Internationalismus – die globale, die ganze Menschheit umfassende Natur der Macht, die sie darstellt -, der die Stärke der Wissenschaft ausmacht und der sie von den rein lokalen, nationalen, territorialen oder auf Gesellschaftsklassen beruhenden (d.h. religiösen, politischen und ähnlichen) Formen des Bewusstseins unterscheidet. Ideologien drücken nur die Macht bestimmter Teile der Gesellschaft aus, die Wissenschaft dagegen gehört der menschlichen Spezies als solcher.
An diesem Maßstab gemessen, sind die Gesellschaftswissenschaften immer ein Paradox gewesen: einerseits vorgeblich wissenschaftlich, andererseits von der Bourgeoisie in der Hoffnung finanziert, so ihre politische und gesellschaftliche Kontrolle zu stärken. Selbst die Entwicklung der Naturwissenschaften – obgleich immanent international und wertvoll für die Menschheit – hat innerhalb eines begrenzten und begrenzenden gesellschaftlichen Kontexts stattgefunden. Sie ist stets zwischen zwei gegensätzlichen Forderungen hin und her gezerrt worden – zwischen den menschlichen Bedürfnissen einerseits und jenen von einzelnen Körperschaften, von Geschäftsinteressen und von herrschenden Eliten andererseits.
Partikularinteressen und die Interessen der Spezies – die Wissenschaft schwankte stets zwischen diesen beiden widersprüchlichen Interessenslagen. Zwischen beiden Extremen haben die mannigfaltigen Wissensformen ein Kontinuum gebildet. An dem einen Ende hat es Wissenschaften gegeben, die wenig mit Gesellschaftsfragen befasst sind – wie Mathematik, Astronomie und Physik zum Beispiel. Am anderen Ende hat es Bereiche wie Geschichte, Politik und die relativ junge Soziologie gegeben – Gebiete, deren gesellschaftliche Auswirkungen unmittelbar und direkt sind. Je direkter die gesellschaftlichen Auswirkungen einer Wissenschaftsdisziplin, desto direkter und unausweichlicher war der politische Druck auf sie gewesen. Und wo immer ein solcher Druck vorherrschte, war das Wissen entstellt und von seinem Kurs abgedrängt worden.
Gesellschaftliche Bedingungen und wissenschaftliche Objektivität
Ist der Marxismus eine Ideologie? Oder ist er eine Wissenschaft? In einem wüsten Angriff – geschrieben auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – prangerte Karl Wittfogel, Autor von „Die orientalische Despotie“, Marx als einen Ideologen an. Er räumte ein, dass Marx eine solche Beschreibung seiner Person entrüstet zurückgewiesen hätte und empört über den Missbrauch seines Werks durch Stalin und seiner Nachfolger gewesen wäre. Die sowjetische Obrigkeit, schrieb Wittfogel 1953, zitierte stets Lenins Konzept der Parteilichkeit (partiinost), um die Wissenschaft „zurechtzubiegen“ – bis hin zur Fälschung von Tatsachen –, so dass sie sich besser für den politischen Gebrauch eignet. Diese Vorstellung von „Nützlichkeit“ oder Manipulation schien laut Wittfogel naturgemäß aus Marxens ursprünglicher Prämisse hervorzugehen, dass alles Wissen gesellschaftlich bedingt sei – produziert von den gesellschaftlichen Klassen, um sie ihren wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen anzupassen. Für die sowjetische Obrigkeit war die wissenschaftliche Wahrheit immer etwas, was es für politische Zwecke zu manipulieren galt.
Wittfogel fährt jedoch fort: „Marx hatte nicht diese Sicht. Er betonte nicht nur, dass ein Mitglied einer bestimmten Klasse für Ideen eintreten könnte, die nachteilig für seine Klasse wären – dies ist von Lenin und seine Nachfolgern bestritten worden –, sondern er forderte auch, dass ein echter Gelehrter sich nach den Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit richten und die Wahrheit in Übereinstimmung mit den immanenten Erfordernissen der Wissenschaft suchen müsse, gleich wie sich das Schicksal einer besonderen Klasse, auf die Kapitalisten, Grundeigentümer oder Arbeiter auswirkt. Marx rühmte Ricardo dafür, dass er diese Haltung hatte, welche er nicht nur wissenschaftlich für redlich erklärte, sondern auch von der Wissenschaft einfordert. Aus demselben Grund verdammte Marx eine Person als gemein, die die wissenschaftliche Objektivität äußeren Zwecken unterordnete: ‚... ein Mensch, der versucht, die Wissenschaft einem Standpunkt anzupassen, der nicht seinem eigenen Interessen entstammt, wie irrig auch immer, sondern äußeren, fremden und irrelevanten Interessen, nenne ich gemein.’ Marx war völlig konsequent, wenn er die Ablehnung, die Wissenschaft den Interessen einer bestimmten Klasse anzupassen – die Arbeiter eingeschlossen –, ‚stoisch, objektiv und wissenschaftlich‘ nannte. Und er war auch darin konsequent, wenn er ein gegensätzliches Verhalten als eine ‚Sünde wider der Wissenschaft’ brandmarkte.
Das sind starke Worte. Sie zeigen Marx entschlossen, die stolze Tradition aufrechtzuerhalten, die unabhängige Gelehrtheit zu allen Zeiten auszeichnete. Es stimmt, der Autor von ‚Das Kapital‘ hielt sich nicht immer – und besonders in seinen politischen Schriften – an seine eigenen wissenschaftlichen Normen. Seine Haltung bleibt nichtsdestoweniger äußerst bedeutsam. Die Nachfolger des Lagers einer parteilichen Wissenschaft können kaum dafür beschuldigt werden, die Prinzipien der wissenschaftlichen Objektivität zu ignorieren, wozu sie sich nicht bekennen. Aber Marx, der diese Prinzipien ohne Einschränkung akzeptiert, darf legitimerweise kritisiert werden, sie verletzt zu haben.“[2]
Karl Marx, schreibt Wittfogel, spielte zwei miteinander unvereinbare Rollen. Er war ein großer Wissenschaftler, aber er war auch ein politischer Revolutionär. Er engagierte sich – wie jeder Wissenschaftler es tun muss – für „die Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit“, aber er setzte sich auch für die Interessen der internationalen Arbeiterklasse ein. Die offensichtliche Unvereinbarkeit dieser beiden Aktivitäten (wie Wittfogel es sieht) bedeutete, dass „Marx‘ eigene Theorien (…) in entscheidenden Punkten von dem beeinträchtigt waren, was er selbst ‚irrelevante Interessen‘ nannte“.[3]
Wittfogel wird von dem Gesellschaftsanthropologen Marvin Harris zitiert, dessen Ansichten in dieser Frage ähnlich zu sein scheinen. Harris stellt Marxens „wissenschaftliche“ Seite dessen „dialektischem und revolutionärem“ Aspekt entgegen, mit der Absicht, die wissenschaftliche Seite gebrauchsfähig zu machen, indem er sie von allen Spuren des dialektischen und revolutionären Aspekts dekontaminiert. Laut Harris „gab sich Marx große Mühe, die wissenschaftliche Verantwortlichkeit über die Klasseninteressen zu stellen.“ Aber das sei lediglich in seinem wissenschaftlichen Werk der Fall. Große Teile des Werkes von Marx seien politisch, und hier sei die Wissenschaft politischen Zwecken untergeordnet – und daher missbraucht worden. Wenn die Wissenschaft aus politischen Beweggründen bemüht werde, dann müsse das zum Verrat an der wissenschaftlichen Objektivität und ihrem Zweck führen, sagt Harris: „Wenn es darum geht, die Welt zu verändern, anstatt sie nur zu interpretieren, dann wird der marxistische Soziologe nicht zögern, die Tatsachen zu fälschen, um sie nützlicher zu machen.“[4]
Wittfogels Hinweis, dass Marx versuchte, seine Wissenschaft auf „die Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit“ zu gründen, ist wichtig. Wir stimmen mit Harris auch darin überein, dass Marx „sich selbst Mühe gab, die wissenschaftliche Verantwortlichkeit über die Klasseninteressen zu stellen“ – wenn mit „Klasseninteressen“ partikularistische Sonderinteressen im Gegensatz zu den universell menschlichen gemeint sind. Aber genau hier liegt das Problem. Wie Einstein und all die großen Wissenschaftler in all den Jahrhunderten glaubte Marx, dass es in der Verantwortung eines Wissenschaftlers liegt, die allgemeinen Interessen der Menschheit über die Sonderinteressen zu stellen. Die Frage, vor die er sich gestellt sah und vor die wir auch heute gestellt sind, lautet: In welcher konkreten Form werden diese allgemeinen Interessen in der heutigen modernen Welt ausgedrückt?
Marx kam auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Studien zu dem Schluss, dass die allgemeinen Interessen der Menschheit nicht von den verschiedenen herrschenden Klassen des 19. Jahrhunderts in Europa vertreten wurden. Diese Interessen kamen nicht nur miteinander in Konflikt, sondern auch mit denen der menschlichen Spezies als solcher. Sie konnten daher nicht die gesellschaftliche Grundlage für eine wirklich objektive Gesellschaftswissenschaft bilden.
Die Schwäche sowohl der Position Wittfogels wie der Harris‘ ist, dass sie beide zu dieser Frage nichts zu sagen hatten. Sie waren in der eigentümlichen Lage, einerseits mit Marxens Grundvoraussetzungen übereinzustimmen und sich anderseits dennoch zu weigern, auch nur über die Möglichkeit zu diskutieren, dass die Schlussfolgerungen von Marx korrekt sein könnten. Sie waren völlig einverstanden damit, dass sich die Wissenschaft auf die allgemein menschlichen Interessen gründen muss. Marx zog aufgrund dieses Gedankens den Schluss, a) dass Wissenschaft selbst in dem Maße politisch revolutionär ist, als sie wahrhaft treu zu sich selbst und universell ist; b) dass es diese Art von „Politik“ ist (d.h. die Politik der Wissenschaft selbst), die die moderne revolutionäre Bewegung verlangt; und c) dass die einzig mögliche gesellschaftliche Grundlage für solch eine Wissenschafts-inspirierte Politik jene Klasse in der Gesellschaft ist, die selbst das Produkt der Wissenschaft ist, welche bereits in ihrem Kern eine internationale wie wissenschaftliche Entwicklung darstellt und deren Interessen allen existierenden Separatinteressen entgegengesetzt sind. Doch weder Wittfogel noch Harris äußerten auch nur ein Argument zu alledem. Sie nahmen es einfach als selbstverständlich an, dass die Interessen der Menschheit eine Sache sind und die Interessen der Arbeiterklasse eine andere.
Marx – und jeder Marxist, der es verdient, den Namen zu tragen - wusste, dass es nicht wert ist, sich für eine gesellschaftliche Kraft einzusetzen, es sei denn, sie stellt dank ihrer ureigenen Existenz wirklich die breiten Interessen der Menschheit dar. Und jeder Marxist, der diesen Namen verdient, weiß, dass es nur eine wirkliche Wissenschaft gibt – die realen Entdeckungen der Wissenschaftler, die unabhängig und für die eigenen autonomen Ziele der Wissenschaft arbeiten -, die von der Menschheit als Mittel zur Selbsterkenntnis und Befreiung verwendet werden kann. Von diesem Standpunkt aus wird die Absurdität des Arguments von Harris ersichtlich, dass, wenn es darum geht, die Welt zu verändern, der marxistische Soziologe „nicht zögern würde, die Daten zu verfälschen, um sie nützlicher zu machen“. Wie können gefälschte Daten für die Menschheit von Wert sein? Wie kann dies für jene opportun sein, die daran interessiert sind, die Welt zu verändern?
Harris hat Recht, darauf zu bestehen, dass, wenn ein partikulares politisches Interesse – sei es nun marxistisch oder nicht – die wissenschaftliche Arbeit im Griff hat, die Wissenschaft selbst darunter leiden werde. Eine besondere nationale und deshalb limitierte politische Partei oder eine bestimmte Gruppe, die in einem gegebenen Staat herrscht (wie z.B. die sowjetische Bürokratie und der „kommunistische“ Apparat während des Kalten Krieges) mag wohl das Gefühl haben, besondere Interessen zu besitzen, die sie über die breiteren Interessen heben, welche sie zu vertreten behauptet. In diesem Falle wird die Wissenschaft in dem Maße, wie die Wissenschaftler darin involviert sind, sicherlich entstellt werden. Aber eine Entstellung der Wissenschaft (d.h. ihre teilweise Umformung in Ideologie) kann nur eine Limitierung ihrer langfristigen Anziehungskraft und ihrer Brauchbarkeit für den Menschen beinhalten. Wo immer sich solche Dinge ereignen, schwächt die betroffene Schicht ihre Kraft, die Welt zu verändern, statt sie zu stärken.
Alle Entstellungen, Fälschungen oder Mystifikationen drücken nur die gesellschaftlichen Teilinteressen im Gegensatz zu den Allgemeininteressen aus. Marx befürwortete zu keiner Zeit, sich die Wissenschaft zurechtzuschustern, um sie diesem oder jenem gefühltem Teilinteresse anzupassen – ob Arbeiterklasse oder nicht: “Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (Marx: Die heilige Familie, MEW 2, S. 37)
Für Marx war die Frage, wer das Proletariat war, eine wissenschaftliche Frage, die auch nur wissenschaftlich beantwortet werden konnte, in völliger Unabhängigkeit von jedem unmittelbaren Druck oder Anliegen. Weit davon entfernt, für die Unterordnung der Wissenschaft unter die Politik zu streiten, bestand Marx auf die Unterordnung der Politik unter die Wissenschaft.
Autonomie und Klasseninteresse
Engels schrieb: “[…] je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter.“ (Engels: Feuerbach, MEW 21, S. 307) Wir können sicher sein, dass dies genau die Sichtweise von Marx zum Ausdruck bringt. Die Wissenschaft als einzige universelle, internationale und die Spezies vereinigende Form des Wissens hat Vorrang. Wenn sie in den Interessen der Arbeiterklasse verwurzelt werden musste, dann nur in dem Sinne, dass alle Wissenschaft in den Interessen der menschlichen Spezies insgesamt verwurzelt sein muss, wobei die internationale Arbeiterklasse diese Interessen in der modernen Epoche verkörpert, so wie die Erfordernisse der Produktion in früheren Perioden immer diese Interessen verkörpert haben.
Es ging nicht um die Unterordnung unter Partikularinteressen. Indem die Wissenschaft an die erste Stelle gesetzt wurde, war sie dazu bestimmt, sich über Partikularinteressen hinwegzusetzen und zum Ausdrucksmittel einer neuen Form politischen Bewusstseins zu werden. In diesem Sinne war die Wissenschaft sogar dazu bestimmt, die internationale Arbeiterklasse zu erschaffen. Ohne Wissenschaft gäbe es nur partikulare politische Arbeiterbewegungen; erst durch die wissenschaftliche Analyse können die allgemeinen Interessen der Klasse offengelegt werden.
Zugegeben: die Wissenschaft – selbst ein gesellschaftliches Produkt – kann (nach der Auffassung von Marx) der Arbeiterklasse nichts hinzufügen, was nicht schon in ihr vorhanden ist. Sie kann sich nicht der Arbeiterbewegung aufzwingen, als käme sie von außerhalb.[5] Erst in der und durch die Wissenschaft können sich die Arbeiter ihrer globalen, die Klasse in ihrer Gesamtheit innewohnenden Stärke bewusst werden – einer Stärke, die bereits in ihnen steckt. Und nur durch diese Bewusstwerdung ihrer eigenen Macht kann die internationale Arbeiterklasse politisch existieren.[6] Es stellt sich deshalb gar nicht die Frage, ob die Wissenschaft einer vorher existierenden politischen Kraft untergeordnet ist. Die politische Kraft ist die Wissenschaft selbst und kann ohne die Wissenschaft nicht bestehen. Die früheren vorherrschenden Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik werden umgekehrt.
Für Marx sind die Gesellschaftswissenschaften – einschließlich seiner eigenen – genauso wie alle anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins ein Produkt der Klassenverhältnisse. Seine allgemeine Formulierung ist wohl bekannt: "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (Marx/Engels: Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 46)
Aus diesem Grunde erachtet es Marx als nicht möglich, die herrschenden Ideen der Gesellschaft zu ändern – oder eine allseits anerkannte Gesellschaftswissenschaft zu schaffen –, ohne die materielle Macht jener Kräfte zu brechen, die die Wissenschaft entstellen. Weil Marx die gesellschaftlichen Widersprüche als die Quelle der mythologischen und ideologischen Widersprüchlichkeiten sah, konnte er darauf bestehen, dass nur durch die Beseitigung der gesellschaftlichen Widersprüche selbst ihre Äußerungen in Ideologie und Wissenschaft überwunden werden konnten.
Das ist es, was Marx meinte, wenn er schrieb: "Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ (Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3; S. 7) Oder nochmals: "[…] man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe fasste.“ (Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungband 1, S. 25)
Deshalb war es vom Standpunkt von Marx und Engels aus in Ordnung, den Interessen der Wissenschaft treu zu bleiben – um ihre inneren theoretischen Widersprüche zu lösen -, so dass sie sich als Wissenschaftler verpflichtet fühlten, a) sich mit einer materiellen gesellschaftlichen Kraft zu identifizieren, die die „irrelevanten Interessen“, welche die Objektivität der Wissenschaft entstellen, beseitigen konnte, und b) die Leitung dieser materiellen Kraft zu übernehmen. Ihre Auffassung war es nicht, dass die Wissenschaft unzulänglich sei und dass die Politik hinzugefügt werden müsse.[7] Ihre Vorstellung war, dass Wissenschaft – wenn sie treu zu sich selbst blieb – immanent revolutionär ist, dass sie nicht ein politisches Projekt ist, sondern sich selbst anerkennen muss.
Marx und Engels glaubten, dass die Wissenschaft diese noch nie dagewesene politische Autonomie aus einem gesellschaftlichen Grund heraus gewinnen könne: Zum ersten Mal – und zwar als direktes Ergebnis der wissenschaftlichen Entwicklung selbst – war eine „Klasse“ in die Gesellschaft getreten, die in Wirklichkeit überhaupt keine Klasse war, die keinen traditionellen Status oder erworbene Interessen mehr zu verteidigen hat, keine Macht, Protektion zu gewähren, keine Macht, den Menschen vom Menschen zu spalten, und deshalb auch keine Macht, die Wissenschaft in irgendeiner Weise zu entstellen. “Und nur bei der Arbeiterklasse besteht der deutsche theoretische Sinn unverkümmert fort. Hier ist er nicht auszurotten; hier finden keine Rücksichten statt auf Karriere, auf Profitmacherei, auf gnädige Protektion von oben; [...]“, schrieb Engels. (Engels: Feuerbach, MEW 21, S. 306)
Erst hier kann die Wissenschaft sich selbst treu sein, denn nur hier existiert eine gesellschaftliche Kraft wahrer universeller Art, die fähig ist, die Spezies Mensch zu einem Ganzen zu vereinigen.
Das ist die Bedingung für eine wahrhaft unabhängige, wahrhaft selbständige und wahrhaft universelle Wissenschaft der Menschheit – die Existenz „einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 390)
Verifizierung des Marxismus
Einiges aus dem vorhergehenden Argument mag tendenziös erscheinen. Nahezu jeder politische oder gesellschaftliche Philosoph behauptet letztlich, dass seine Theorie allgemein menschliche Interessen ausdrückt und nicht eng begrenzte Sonderinteressen.
Die „Treue zu den Interessen der Menschheit“ als Maß für den wissenschaftlichen Wert eines begrifflichen Systems zu gebrauchen ist daher nicht möglich – es sei denn, es wird ein objektives Testverfahren dafür gefunden. Aber welche Art von Test könnte das sein? Letztendlich besteht der Beweis für den Pudding darin, gegessen zu werden. Was geschieht, wenn wir eine neue Hypothese ausprobieren? Bewährt sie sich? Vermindert sie die geistige Anstrengung bei der Lösung von intellektuellen Problemen? Mit anderen Worten: fügt die Hypothese – sei sie rein intellektuell oder auch praktisch – den Fähigkeiten der Wissenschaftler auf wesentlichen Gebieten neue Erkenntnisse hinzu?
Wenn sie das tut, dann sollte sich jedermann ultimativ dazu durchringen, die Tatsachen anzuerkennen. Angenommen, intellektuelle Effizienz ist unser Kriterium (andernfalls sind wir keine Wissenschaftler), dann wird sich der Zuspruch zu dieser Theorie weiter verbreiten. Ihre innere Kohärenz (die Übereinstimmung zwischen den einzelnen Teilen der Theorie) wird in einer weitverbreiteten gesellschaftlichen Zustimmung Ausdruck finden. Solche Fähigkeit, Zustimmung zu erzeugen, ist der gesellschaftliche Lackmustest der Wissenschaft.[8]
Auf lange Sicht muss der Marxismus und jede Gesellschaftswissenschaft einem derartigen Test unterzogen werden. Wissenschaften unterscheiden sich, angefangen beim bloßen Ad hoc-Wissen über das technische Wissen bis hin zum gesunden Menschenverstand, durch das Mittel ihrer abstrakten, symbolischen, formalen Kennzeichen. Wissenschaft ist ein Symbolsystem. Ähnlich wie bei jedem anderen solchen System hängt ihre Bedeutung von der Übereinkunft ab. Die Ziffer „2“ bedeutet „zwei“, nur weil wir alle sagen, dass dies so ist. Sie könnte auch „neun“ bedeuten. Alle symbolischen Systeme – einschließlich der Mythen und Ideologien – hängen in diesem Sinn von der gesellschaftlichen Übereinkunft ab. Doch im Fall der Mythen und Ideologien reicht der Bereich der Übereinkunft nur bis hierher. Es ist ein Punkt erreicht, an dem Uneinigkeit aufkommt – eine Uneinigkeit, die in den gesellschaftlichen Widersprüchen verwurzelt ist. Und wenn das eintritt, führt die Notwendigkeit, die miteinander unverträglichen Bedeutungen miteinander zu versöhnen, zu Widersprüchen innerer Art – innerhalb des Symbolsystems selbst.
Mythologie und Ideologie sind Ausdrücke der gesellschaftlichen Spaltung. Dies ist das wesentliche Merkmal, das diese Wissensformen von der Wissenschaft unterscheidet. Die Wissenschaft drückt die Macht und die Einheit der menschlichen Art aus – eine Macht, die die Menschen in den Klassengesellschaften in wachsendem Maße gegenüber der Natur in Anspruch nahmen, jedoch nicht gegenüber ihrer eigenen gesellschaftlichen Welt. Eine Wissenschaft der Gesellschaft müsste, um sich selbst als Wissenschaft zu beweisen, zeigen, dass sie ohne innere Widersprüche und in Einklang mit den Naturwissenschaften und der Wissenschaft in ihrer Gesamtheit steht. Langfristig kann sie das nur praktisch beweisen. Sie müsste ihre innere Folgerichtigkeit zeigen, indem sie ihre Verwurzelung in einer gesellschaftlichen Übereinkunft demonstriert, die die menschliche Rasse vereint. Sie müsste mit anderen Worten in der Praxis zeigen, dass sie Teil eines Symbolsystems bildet – einer globalen „Sprache“, entstanden aus den Begriffen der Wissenschaft -, das praktisch fähig wäre, die ganze Erde zu umfassen und sie endlich politisch zu vereinigen.[9]
Doch das ist nicht die einzige Prüfung. Bei jedem wissenschaftlichen Fortschritts ist die Prüfung zuerst eine theoretische. Kopernikus wusste, dass sich die Erde bewegt. Und er wusste das, lange bevor diese Tatsache für andere ausreichend bewiesen und universell anerkannt war. Einstein wusste, dass das Licht den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen ist. Und er wusste das, lange bevor es 1919 während einer Sonnenfinsternis von den Sternwarten in Cambridge und Greenwich beobachtet wurde (als gezeigt wurde, dass von einem Stern ausgesandte Lichtstrahlen vom Gravitationsfeld der Sonne abgelenkt werden). Bei wissenschaftlichen Entdeckungen war das immer so. Eine wissenschaftliche Revolution wird auf der Ebene der reinen Theorie bestätigt, lange bevor sie ihre Abschlussprüfung in der Praxis bestanden hat.
Die endgültige Bestätigung des Marxismus als Wissenschaft würde sich in seiner Fähigkeit zeigen, eine weltweite Einigkeit zu herzustellen – in seiner Kraft, die Menschheit zu vereinigen. Aber wenn der Marxismus eine echte Wissenschaft ist, dann sollte es möglich sein, sein Potenzial schon vorher theoretisch zu erweisen. Die Frage tut sich auf: wie? Ich werde dieses Problem im zweiten Teil dieses Artikels untersuchen.
[1] “Der einzelne Wissenschaftler mag sich überhaupt nicht um praktische Anwendung seiner Forschung kümmern. Je weiter sein Blick reicht, je kühner seine Phantasie ist, je freier er in seinen theoretischen Überlegungen von der notwendigen Alltagspraxis ist, desto besser. Aber die Wissenschaft ist keine Funktion individueller Wissenschaftler; sie ist eine Funktion der Gesellschaft. Die gesellschaftliche und geschichtliche Einschätzung der Wissenschaft hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Macht des Menschen zu steigern und ihn zu befähigen, Ereignisse vorauszusehen und die Natur zu beherrschen.” L. D. Trotzki, 'Dialektischer Materialismus and Wissenschaft' in I Deutscher (ed) The Age of Permanent Revolution: a Trotsky Anthology, New York 1964, p. 344, auf deutsch in “Leo Trotzki, Denkzettel, S. 398, russischer Originaltitel: „D.I. Mendelev i marksizm, 17.9.1925)
[2] K. Wittvogel, The ruling bureaucracy of oriental despotism: a phenomenon that paralysed Marx. The Review of Politics No. 15, 1953, pp. 355-56. Wittfogel zitiert Marx’s Theorien über Mehrwert (eigene Übersetzung)
[3] Wittfogel, p. 356n (eigene Übersetzung)
[4] M Harris, The Rise of Anthropological Theory London 1969, pp. 4-5; 220-21 (eigene Übersetzung)
[5] Solange die Arbeiterklasse schwach ist, schrieb Marx, wollen die Theoretiker ihr helfen, indem sie “Systeme ausdenken und nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen.” Doch wenn die Arbeiterklasse stark ist, haben seine Theoretiker “sich nur Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. [...] Von dem Augenblick an wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.“ (Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 143)
[6] Wie Trotzki ausdrückt: “.... das Bewusstsein der Stärke ist die wichtigste Grundlage einer wirklichen Stärke” (L. D. Trotzki Whither France? New York 1968, p116, Übersetzung durch IKS). Marx hatte dieselbe Idee im Kopf, als er schrieb: “[…] man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 390)
[7] Marx hatte im Allgemeinen keine sehr hohe Meinung über das politische Denken eben wegen seiner unvermeidlich subjektiven Ausrichtung: “Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt. Je schärfer, je lebendiger, desto unfähiger ist er zur Auffassung sozialer Gebrechen. [...] Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger, d.h. also, je vollendeter der politische Verstand, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, um so blinder ist er gegen die natürlichen und geistigen Schranken des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken.“ (Marx: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform, MEW 1, S. 402) Wenn Marx an die Notwendigkeit des politischen Kampfes glaubte, dann deshalb, weil er das politische Wesen der Hindernisse für die menschliche Befreiung und für die Autonomie der Wissenschaft erkannte: „Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.“ (dito, S. 409)
[8] Siehe T.S. Kuhn, 'The Structure of Scientific Revolutions' International Encyclopaedia of Unified Science Vol 2, No. 2, Chicago 1970, p. viii. Marx hat diese Idee wenigstens wahrscheinlich teilweise von Feuerbach übernommen, obgleich sie auch ein großes Thema in Hegels Schriften ist. Feuerbach schreibt: “Wahr ist, worin der Andere mit mir übereinstimmt – Übereinstimmung das erste Kennzeichen der Wahrheit, aber nur deswegen, weil die Gattung das letzte Maß der Wahrheit ist. Was ich nur denke nach dem Maße meiner Individualität, daran ist der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das ist eine zufällige, nur subjektive Ansicht. Was ich aber denke im Maße der Gattung, das denke ich, wie es der Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der Einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folglich wahr denken will. Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht.“ (Das Wesen des Christentums, Siebzehntes Kapitel: Der Unterschied des Christentums vom Heidentum, S. 252)
[9] Zu dieser Idee, wie sie während der Russischen Revolution ausgedrückt wurde, siehe Ch. Knight Past, future and the problem of communication in the work of V V Khlebnikov (unpublished M Phil thesis, University of Sussex, 1976).