„Demokratisierung des Kapitalismus? Wir müssen ihn überwinden!“

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In den letzten Monaten ist in vielen Ländern durch die Bewegung der „Empörten“ und Occupyer der Wunsch vieler Menschen, insbesondere der Jugend, nach einem Systemwechsel erkennbar geworden. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und deren Perspektiven rufen überall die gleiche Zukunftsangst hervor.  Neben der Frage, wohin treibt diese Gesellschaft steht bei den Diskussionen immer wieder im Mittelpunkt: Was tun? Wie kämpfen? Gegen wen? Die Finanzwelt, die Rechten, die Führer? Und vor allem – ist eine andere Welt möglich?

 

Eine Ausrichtung, die in den Bewegungen immer wieder zu hören war, lautete: „Wir müssen den Kapitalismus demokratisieren“. Natürlich wird diese Ausrichtung von den Medien, den linken Parteien, den Gewerkschaften, kurz allen systemtragenden Kräften gefördert.  Warum hat dieser Slogan „Für einen demokratischeren Kapitalismus“ soviel Erfolg?  Dass in den arabischen Ländern mit ihren  Machthabern, die oft seit Jahrzehnten die Zügel der Macht in der Hand hielten, diese Forderung soviel Anhänger fand, ist leichter verständlich. Und  selbst in Europa, der Wiege der Demokratie, richtete sich die Wut vieler gegen die Führungselite“ einiger „reicher, korrupter, unehrlicher“ Politiker (Sarkozy, Berlusconi)). In Spanien, wo im Mai 2011 die Bewegung der Empörten losbrach, als die Herrschenden unsere Aufmerksamkeit auf die anstehenden Wahlen lenken wollten, konnte man sehr oft hören: „Rechte und linke Parteien, der gleiche Mist“.

Was bedeutet dies? Die Idee breitet sich immer mehr aus, dass überall auf der Welt, unter allen Regierungen an allen Orten die « gleiche Scheiße » praktiziert wird. Was haben die jüngsten „demokratischen Wahlen“ in Ägypten und Spanien geändert? Nichts! Was hat der Rücktritt Berlusconis in Italien oder Papandreous und in Griechenland bewirkt? Die Sparmaßnahmen wurden noch mehr verschärft und sind heute unerträglich geworden. Ob Wahlen oder nicht, die Gesellschaft findet sich fest in der Hand einer herrschenden Minderheit, die ihre Privilegien aufrechterhält – auf Kosten der Mehrheit. Dies ist die tieferliegende Bedeutung des Slogans „Wir sind die 99% und ihr die 1%“, der von der Occupy-Bewegung in den USA in Umlauf gebracht wurde. Eine wachsende Zahl von Leuten ist nicht mehr bereit, sich auf der Nase rumtanzen zu lassen und die Sachen in die eigene Hand zu nehmen. Die Idee gewinnt an Auftrieb, dass die Massen die Gesellschaft organisieren müssen. Der Slogan „Alle Macht den Vollversammlungen“  bringt dieses Begehren zum Ausdruck, dass eine Gesellschaft aufgebaut werden soll, in der nicht mehr eine Minderheit über unser Leben entscheidet.

Aber die Frage ist: können wir diese neue Gesellschaft mittels eines Kampfes um die „Demokratisierung des Kapitalismus“ erreichen?

Ob diktatorisch oder demokratisch - der Kapitalismus bleibt ein Ausbeutungssystem

Es stimmt, von einer Minderheit von Privilegierten beherrscht zu werden, ist unerträglich. Es stimmt, wir müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen. Aber wer ist „wir“? In der Antwort der meisten Beteiligten der gegenwärtigen Bewegung heißt „wir“ „jeder und jedermann“.  „Jeder“ sollte die gegenwärtige Gesellschaft, d.h. den Kapitalismus, mittels einer wirklichen Demokratie führen. Aber an dieser Stelle tauchen die Probleme auf: gehört der Kapitalismus nicht den Kapitalisten? Stellt dieses Ausbeutungssystem nicht das Wesen des Kapitalismus selbst dar? Wenn die Demokratie in ihrer heutigen Form die Beherrschung der Welt durch eine Elite bedeutet,  geschieht das dann nicht, weil diese Welt und diese Demokratie sich in den Händen dieser Elite befinden? Wenn wir die Argumentation bis zu ihrem Ende führen und uns einen Augenblick eine kapitalistische Gesellschaft vorstellen, die von einer perfekten und idealen Demokratie regiert wird, in der „jeder“ über alles kollektiv entscheiden würde, was würde sich dann ändern? Gibt es nicht in einigen Ländern wie der Schweiz und anderswo so etwas wie „Volksabstimmungen“! Eine Ausbeutungsgesellschaft zu lenken, heißt aber nicht die Ausbeutung abzuschaffen. In den 1970er Jahren forderten Arbeiter oft Arbeiterselbstverwaltung. „Ein Leben ohne Arbeitgeber, wir nehmen die Produktion in die Hand und zahlen uns die Löhne selbst aus!“  In den betroffenen Betrieben – wie zum Beispiel Lip in Frankreich – haben die Beschäftigten es am eigenen Leib erfahren: sie haben die Leitung des Betriebs in die eigene Hand genommen. Aber aufgrund der erbarmungslosen, unausweichlichen Mechanismen des Kapitalismus waren sie – den Gesetzen der Marktwirtschaft folgend – dazu gezwungen, sich selbst auszubeuten,  schlussendlich sich selbst zu entlassen, und all das auf eine sehr „demokratische“ Weise. Eine auch noch so „demokratische“ Regierungsform im Kapitalismus würde nichts zum Aufbau einer neuen, ausbeutungsfreien Gesellschaft beitragen. Die Demokratie ist im Kapitalismus kein Organ zur Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse oder der Überwindung des Kapitalismus. Die Demokratie ist ein Herrschaftsmittel zur Verwaltung des Kapitalismus. Um die Ausbeutung zu überwinden, gibt es nur eine Lösung – die Revolution.

Wer kann die Welt verändern? Wer kann die Revolution durchführen?

Immer mehr Leute träumen von einer Gesellschaft, in der die Menschheit ihr Schicksal in die Hand genommen hat, eigenständig Entscheidungen treffen kann und nicht mehr zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten gespalten ist. Aber die Frage ist, wer diese Gesellschaft aufbauen kann? Wer kann es möglich machen, dass in der Zukunft die Menschheit ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt? Jeder? Natürlich nicht! Denn nicht « jeder «  hat ein Interesse daran, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen. Die führenden Kreise der herrschenden Klasse werden alles daransetzen, um ihr System und ihre herrschende Stellung aufrechtzuerhalten; dazu ist sie bereit, ein endloses Blutvergießen hinzunehmen, auch in den „großen Demokratien“.  Ebenso wenig haben die Gewerbetreibenden, die Führungskreise der Oberschicht, die Grundbesitzer, Kleinbürgerliche ein Interesse daran, denn diese wollen entweder nur ihren Lebensstandard, den ihr diese Gesellschaft bietet, aufrechterhalten oder – wenn sie von einer Herabstufung bedroht sind – sie schwelgen idealisieren nostalgisch die Vergangenheit. Die Überwindung des Privateigentums haben sie sich sicherlich nicht auf die Fahnen geschrieben.

Um die Kontrolle über ihr eigenes Leben auszuüben, muss die Menschheit den Kapitalismus überwinden. Aber nur die Arbeiterklasse kann dieses System aus der Welt schaffen. Die Arbeiterklasse umfasst die Beschäftigten aus den Fabriken und Büros, ob privat oder staatlich beschäftigt, die Rentner und jüngeren Beschäftigten, Arbeitslose und prekär Beschäftigte. Diese Arbeiterklasse stellt die erste Klasse in der Geschichte dar, die gleichzeitig ausgebeutet und revolutionär ist. In früheren Gesellschaften hatte der Adel einen revolutionären Kampf gegen die Sklavenwirtschaft geführt, schließlich die Bürgerlichen gegen den Feudalismus. Jedesmal wurde ein Ausbeutungssystem aus der Welt geschafft, dieses aber immer wieder durch ein neues Ausbeutungssystem ersetzt. Heute können die Ausbeuteten in Form der Arbeiterklasse dieses System überwinden und eine Welt errichten, in der es keine Klassen und Landesgrenzen geben wird. Keine Landesgrenzen, weil unsere Klasse eine internationale Klasse ist. Sie leidet überall unter der gleichen Last des Kapitalismus; sie hat überall die gleichen Interessen. Von 1848 an hat unsere Klasse diesen Schlachtruf übernommen: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Arbeiter aller Länder vereinigt Euch“. All diese Bewegungen der letzten Monate – von den arabischen Ländern über die Empörten bis zu den Occupyern, - berufen sich in der einen oder anderen Form auf den Kampf der anderen in all diesen Ländern und beweisen, dass es keine Grenze für den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten gibt. Aber diese Protestbewegungen werden von einer großen Schwäche geprägt: die treibende Kraft der Ausgebeuteten, die Arbeiterklasse, hat noch nicht ihr Selbstbewusstsein erlangt. Sie ist sich ihrer Existenz, ihrer Stärke, ihrer Fähigkeit, sich als Klasse zu organisieren, noch nicht bewusst. Deshalb geht sie in diesem Meer von Leuten unter, und sie wird selbst Opfer der ideologischen Fallen, die unter der Forderung „für einen demokratischeren Kapitalismus“ in Erscheinung tritt.  

Damit die internationale Revolution siegreich verlaufen und eine neue Gesellschaft aufgebaut werden kann, muss sich unsere Klasse in Bewegung setzen. Ihr Kampf, ihre Einheit, ihre Solidarität… und vor allem ihr Klassenbewusstsein sind von Nöten. Dazu muss sie in ihren Reihen die breitest möglichen Debatten und lebendigsten Diskussionen anstoßen, um ihr Begreifen der Welt, dieses Systems, des Wesens ihres Kampfes vorantreiben.  Die Debatten müssen allen offenstehen, die auf die vielen Fragen antworten liefern wollen, vor denen die Ausgebeuteten stehen: Wie den Kampf entfalten? Wie können wir uns selbst organisieren? Wie können wir der Repression entgegentreten?  Und wir müssen entschlossen gegenüber denjenigen auftreten, die Werbung für die herrschende Ordnung machen. Es darf wirklich nicht darum gehen, diese dahinsiechende, barbarische  Gesellschaft zu retten oder zu reformieren. In einer gewissen Hinsicht spiegelt dies die Demokratie Athens in einem umgekehrten Sinne wider. Im antiken Griechenland war in Athen die Demokratie das Privileg der Sklavenbesitzer, der männlichen Bürger, die anderen Schichten der Gesellschaft waren davon ausgeschlossen. In dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse wird die größte Freiheit herrschen, aber davon werden nicht diejenigen profitieren, die daran interessiert sind, die kapitalistische Ausbeutung aufrechtzuerhalten.

Die Bewegungen der Empörten und der Occupyer wollen wirklich debattieren. Sie spiegeln diese unglaubliche Wallung, die Kreativität der handelnden Massen wider, die unsere Klasse auszeichnen, wenn diese kämpft, wie wir es z.B. im Mai 1968 gesehen haben, als man an allen Straßenecken diskutierte. Aber heute wird diese schöpferische Kraft verwässert, gar gelähmt aufgrund ihrer Unfähigkeit, von ihrem Kampf und ihren Debatten all diejenigen auszuschließen, die in Wirklichkeit mit Herz und Seele für die Aufrechterhaltung des Systems einsetzen. Wenn wir eines Tages die Produktion für Profit und Ausbeutung und die  Repression erfolgreich aus der Welt schaffen und Herr über unser eigenes Leben werden wollen, werden wir nicht umhin können, diese illusorischen Aufrufe der „Demokratisierung des Kapitalismus“ und der Schaffung eines „humaneren Kapitalismus“ zu verwerfen         IKS, Januar 2012  

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