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In diesem Frühjahr und Sommer 2015 hat es in Deutschland eine Reihe von Streiks gegeben – so gehäuft, dass sogar von einer „Streikwelle“[1] die Rede war. Lokführer, Kita-, Krankenhaus-, Telecom und Postangestellte, Lehrer_innen, Arbeiter_innen bei Amazon und der Geldtransportfirma Prosecur traten in den Ausstand. Wir möchten in diesem Artikel die aktuelle Lage des Klassenkampfes einschätzen. – Welches Kräfteverhältnis zeichnet sich ab zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft – zwischen Bourgeoisie und Proletariat? – Und welche untergründigen Fragen sind gestellt?
Kämpfe, Forderungen und Resultate
Monatelang folgte ein Streik dem anderen. Es ging dabei nicht bloß um ein paar Prozent mehr Lohn, sondern ausdrücklich um mehr Gerechtigkeit. Widerstand formiert sich gegen die wachsende Ungleichheit der Löhne. Die grundlegende Frage ist gestellt: Wird die Arbeit in Deutschland gerecht entlohnt?
Die Streiks waren für die Bevölkerung in Deutschland ein Thema. Einerseits weil zu einem großen Teil Arbeitsbereiche stillstanden, die in der Gesellschaft unmittelbar mit uns in Kontakt stehen, wie Kindertagesstätten, Bahn, Post und Spital. Andererseits aber auch durch die öffentliche Berichterstattung; die bürgerlichen Medien gaben sich keine Mühe, die Kämpfe totzuschweigen, sondern berichteten im eigenen Interesse und mit ihren besonderen Botschaften über sie.
Doch schauen wir uns zunächst die konkreten Ereignisse an. In letzter Zeit standen insbesondere die folgenden Arbeitskämpfe im Rampenlicht:
– Lokführer: Die Spartengewerkschaft GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) beginnt am 1. September 2014 den ersten Warnstreik, weitere 8 teilweise mehrtägige Streiks folgen im Herbst 2014 und in den Monaten April-Mai 2015. Einerseits geht es um Forderungen für höheren Lohn und weniger Stress bei der Arbeit, andererseits um die Anerkennung der GDL als Verhandlungspartnerin für Tarifverträge. Dank einem hohen Organisationsgrad der Lokführer (75%) ist die Beteiligung stark. Der Streik wird von den GDL-Mitgliedern entschlossen bis verbissen geführt, weitet sich aber nicht auf andere Bahnarbeiter_innen aus, die z.B. in der EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) organisiert sind. Es kommt zwar zu zahlreichen Zugsausfällen insbesondere im Mai 2015, aber die Ersatzfahrpläne funktionieren zuverlässig. Am 21. Mai 2015 verkündet die GDL-Spitze, dass mit der DB ein Schlichtungsverfahren vereinbart worden sei und bricht den Streik ab. Der Anfang Juli 2015 akzeptierte Schlichterspruch sieht unter anderem die Anerkennung der Autonomie der GDL gegenüber anderen Gewerkschaften und eine Lohnerhöhung von insgesamt 5.1% in zwei Etappen bis Mai 2016 vor. Überstunden sollen abgebaut und zusätzliches Personal angestellt werden. Gleichzeitig einigen sich GDL und DB auf künftige Schlichtungsverfahren im Konfliktfall, die faktisch bis 2020 legale Streiks ausschließen.
– Kita: Am 8. Mai 2015 beginnt Verdi einen landesweiten Streik bei den Kindertagesstätten, der 4 Wochen dauerte, bis ein Schlichtungsverfahren eingeleitet wird. Verdi will höhere Löhne und eine Aufwertung der Berufe in der Erziehungsbranche. Die Schlichtung sieht eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 3.3% vor, dabei gibt es aber je nach Beruf große Unterschiede. Berufserfahrene Erzieher_innen und Leiter_innen kleiner Einrichtungen erhalten nach dem Vorschlag am meisten. Schulsozialarbeiter_innen gar nichts. Für 80% der Streikenden sei nichts herausgekommen, zitiert die TAZ eine Betroffene. Da die Unzufriedenheit mit dem Resultat so weit verbreitet ist, führt Verdi eine Mitgliederbefragung durch, die im August 2015 mit einer Ablehnung des Schlichterspruchs endet. Fortsetzung folgt.
– Post: Anfang Juni 2015 kündigt Verdi einen unbefristeten Streik bei der Post an. Die Gewerkschaft fordert Lohnerhöhungen, und dass die Anfang 2015 gebildeten 49 regionalen Gesellschaften für die Paketzustellung wieder aufgelöst werden. Mit den ausgelagerten, regionalen Paketzustellungs-Gesellschaften werden die betroffenen 6000 Angestellten nach lokalen Tarifverträgen der Logistikbranche, d.h. etwa 20% schlechter bezahlt. Nach vierwöchigem Streik gibt es einen Einigung zwischen der Deutschen Post und Verdi: eine Einmalzahlung von € 400 und Lohnerhöhungen von 2% im 2016 und von 1.7% im 2017; die ausgelagerte Paketzustellung bleibt.
– Charité: in der zweiten Juni-Hälfte 2015 treten Teile der Belegschaft des berühmten Berliner Krankenhauses, v.a. Pfleger_innen, in den Streik, der 11 Tage dauert. Sie fordern, dass mehr Personal angestellt wird, damit die Angestellten mehr Zeit für die einzelnen Patient_innen haben. Patient_innen solidarisieren sich mit den Anliegen des kämpfenden Personals. Der Streik endet mit einer Vereinbarung zwischen der Charité-Leitung und der Gewerkschaft Verdi über die Verringerung der Arbeitsbelastung und die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte.
– Amazon: Zwei Tage lang streiken ca. 400-450 Angestellte von Amazon im hessischen Bad Hersfeld. Verdi organisiert den Streik. Die Beschäftigten der riesigen Versandlager des Internet-Händlers werden nach dem Tarifvertrag der Logistikbranche entlohnt; Verdi fordert die Unterstellung unter den Tarifvertrag des Einzel- und Versandhandels, welcher höhere Löhne vorsieht. Amazon beschäftigt in Deutschland etwa 10‘000 Angestellte. Verdi versucht seit Jahren in mehreren deregulierten Bereichen mit solchen Auseinandersetzungen den Organisierungsgrad zu erhöhen. Amazon will aber mit Verdi nicht in Verhandlungen treten. Die Gewerkschaft verspricht weitere Aktionen an anderen Standorten, z.B. Pforzheim.
– Prosegur: Der mehrere Wochen dauernde Streik der Geldtransporteure der Potsdamer Niederlassung von Prosegur führt im Mai 2015 in Berlin und Brandenburg zu leeren Geldautomaten. Verdi fordert eine Lohnerhöhung von einem Euro pro Stunde und mehr Sicherheit für die Angestellten bei Raubüberfällen. Die Firma sperrt vorübergehend 150 Streikende aus. Anfang Juni setzt Verdi den Streik aus. Es kommt zu neuen Tarifverhandlungen, dabei schaut eine Lohnerhöhung in der Form einer Erfolgsbeteiligung heraus.
Eine Zwischenbilanz
Wie sind diese Streiks einzuschätzen? – Es gibt einige Gemeinsamkeiten, die teils auffällig sind oder aber schlicht wegen ihrer zentralen Bedeutung erwähnt werden müssen:
a) Die meisten der Streikenden waren diesmal nicht klassische Industriearbeiter_innen, sondern vorwiegend Proletarier_innen, die Dienstleistungen erbringen. Diese Teile der Arbeiterklasse sind im Allgemeinen weniger kampferfahren (wenn auch mit Ausnahmen: Post).
b) Die Kämpfe entwickelten sich im strengen Korsett der gewerkschaftlichen Kontrolle. Die Fragen eines spontanen Streiks, der Selbstorganisation, der Ausweitung der Kämpfe haben sich anscheinend nirgends gestellt.
c) Im Gegensatz zu zahlreichen Streiks der letzten 15 Jahre gegen Betriebsschließungen, die meist mit trostlosen Niederlagen endeten, gab es diesmal meist Zugeständnisse: kleine Lohnerhöhungen, das Versprechen, dass mehr Personal angestellt werde, und andere, vor allem gewerkschaftliche Anliegen.
d) Die bürgerlichen Medien insbesondere in Deutschland haben den Streiks Beachtung geschenkt und mehrheitlich Verständnis für die Anliegen der Streikenden zur Schau getragen.
Die Botschaft, die vermittelt wird, ist die, welche Wolfgang Schäuble schon 2012 im Zusammenhang mit Lohnkämpfen in den alten Industrien (Metall-, Elektro- und Chemiebranchen) zur Freude der Gewerkschaften IGM und IG BCE verkündete: „Es ist in Ordnung, wenn bei uns die Löhne aktuell stärker steigen als in allen anderen EU-Ländern.“ Deutschland habe seine Hausaufgaben gemacht und könne sich höhere Tarifabschlüsse besser leisten als andere Staaten. „Wir haben viele Jahre der Reformen hinter uns“, sagte Schäuble in einem Interview der Zeitschrift Focus.
Mit anderen Worten lautet die Message: „Den Gürtel enger zu schnallen, lohnt sich – nach ein paar mageren Jahren gibt es eine Belohnung. Die anderen EU-Staaten sollen auch diesen Weg gehen, den Deutschland schon gegangen ist.“
In der Tat war es ja die rot-grüne Sparpolitik in den Nullerjahren, welche den Standort Deutschland nach den Wünschen des Kapitals trimmte. Nur eine linke Regierung war in der Lage, eine Agenda 2010 und Hartz IV ohne starken Widerstand der Arbeiterklasse umzusetzen. Die mit diesen Maßnahmen eingeleitete Umstrukturierung führte dazu, dass in Deutschland im Durchschnitt die Lohnkosten sanken, die Lohnarbeit prekärer und flexibler, die Produktion in Deutschland wieder richtig profitabel wurde. Deutschlands Wirtschaft, namentlich die Industrie, eroberte sich auf dem Weltmarkt einen Spitzenplatz – ja wurde Exportweltmeister trotz ernsthafter Gegner wie China oder USA. Im EU-Binnenmarkt ohne Zollschranken, v.a. im Euroraum, war das deutsche Kapital kaum aufzuhalten, es machte sich breit, eroberte für sich neue Märkte und beschäftigte im Inland mehr Arbeitskräfte, wenn auch zu schlechteren Bedingungen. Die Arbeitslosigkeit ging zurück. Die Ungleichheit der Arbeitsverhältnisse und der Löhne ist gewachsen.[2] Viele Großbetriebe lagern ihre Produktion aus, verschwinden oder verkleinern sich. Kurz: In den letzten 10-15 Jahren hat sich die deutsche Wirtschaft, das Kapital, neue effizientere Strukturen gegeben; die Arbeiter_innen werden im Durchschnitt mehr ausgebeutet, leben aber in sehr verschiedenen Umständen und fühlen sich oft gar nicht als Teil einer Klasse.
Eine erste Zwischenbilanz muss deshalb trotz kleiner Streikerfolge nüchtern ausfallen: Es hat zwar eine Häufung von Streiks in Deutschland gegeben, aber anscheinend haben sie sich in den Bahnen bewegt, welche die herrschende Klasse in diesem Land – von Bsirske (Verdi-Chef) bis zu Schäuble – vorgesehen haben. Dabei hat die Bourgeoisie natürlich keine Hemmungen, die nationale Karte zu spielen und so zu tun, als ob Arbeiter und Kapital im gleichen Boot säßen. Sie klopft dem deutschen Arbeiter auf die Schulter und billigt ihm eine Lohnaufbesserung zu, während die angeblich faulen Südländer in der EU zuerst ihre Hausaufgaben erledigen sollen. Die deutschen Arbeiter werden so zu Komplizen gemacht und in einen Gegensatz gestellt zu beispielsweise den griechischen Arbeitern – denen ja umgekehrt dasselbe nationalistische Gift in die tägliche Suppe gemischt wird: die deutschen Arbeiter würden von der griechischen Misere profitieren.
Tiefer liegende Fragen
Wir meinen aber, unter dieser scheinbar desolaten Oberfläche einige Keime von Fragestellungen zu entdecken, die in der Zukunft für die Entwicklung neuer Kämpfe und Perspektiven wichtig werden können.
Auch wenn die Schwierigkeiten der Klasse, sich gegen die Angriffe der letzten Jahre zur Wehr zu setzen, handgreiflich sind, so sind die Kämpfe als Zeichen einer immer noch vorhandenen Kampfbereitschaft zu werten. Die Streiks waren zwar weder grandios noch außerhalb gewerkschaftlicher Kontrolle, aber sie haben einen nicht erloschenen Kampfgeist gezeigt, und zwar gerade in Bereichen der Lohnarbeit, wo bis jetzt eher selten gestreikt worden ist.
Auf diesem Hintergrund möchten wir auf einige Anliegen eingehen, die in den Kämpfen zur Sprache gekommen sind und die wichtig werden können für die Perspektive. Sie sind Boten, die eine unterirdische Bewusstseinsentwicklung ankündigen.
Solidarität
Der Krankhausstreik in der Charité richtete sich gegen den Stress der Pfleger_innen, unter dem nicht nur die Angestellten, sondern auch die Kranken, die gepflegt werden müssen, leiden. Nicht erstaunlich ist es deshalb, dass sich Patient_innen und Angehörige mit dem Streik und seinen Zielen solidarisiert haben. Die Solidarität mit anderen Teilen der Klasse ist elementar, wenn sich Kämpfe in Zukunft entwickeln und ausbreiten sollen. Mit der Solidarisierung werden weitere Teile des Proletariats in einen Kampf einbezogen, der Druck steigt. Ob der Streik bei der Charité aus diesem Grund so rasch zu Zugeständnissen geführt hat, möchten wir offen lassen. Es geht uns hier nicht in erster Linie um die taktische Frage, wie effizient ein Anliegen durchgesetzt werden kann, als vielmehr um die langfristige Notwendigkeit, dass breite Teile der Klasse zu Kämpfen und Diskussionen zusammenkommen. Wenn unsere Klasse die Geschichte in die eigenen Hände nehmen will, wird sie nicht anders können, als sich auf gemeinsame Ziele zu einigen, über die Vereinzelung hinaus zusammen die Umwälzungen anzupacken. Die Solidarität zwischen den heute scheinbar isolierten Teilen der Klasse wird auf diesem Weg wachsen; so wie umgekehrt dieses wachsende Zusammengehörigkeitsgefühl die Kämpfe beschleunigen kann. Die Solidarität ist zwar in den Kämpfen dieses Jahres nur selten ausdrücklich thematisiert worden – sie ist aber grundlegend für die Einheit der Klasse in Zukunft. In den letzten Monaten haben wir zudem den Eindruck gewonnen, dass die Bevölkerung, insbesondere die Arbeiter_innen, den Streiks mit Verständnis und einer stillschweigenden Solidarität begegnet sind. Die Zugausfälle und die verspätete Postzustellung waren zwar zu spüren, aber reklamiert wurde nur wenig – im Gegenteil haben wir immer wieder Sympathiebekundungen gehört.
In einem anderen Kontext, aber gleichzeitig ist die Solidarität ja auch spürbar: beim Empfang der Flüchtlinge durch breite Teile der Bevölkerung in Deutschland und anderen Ländern. Wir können an dieser Stelle nicht tiefer auf die aktuelle Ankunft von Zehntausenden Proletarier_innen eingehen, die dem Elend und der Gewalt im Nahen Osten und in Afrika entfliehen. Wenn wir aber von einer Solidarität sprechen, die in einzelnen Kämpfen von verschiedenen direkt oder indirekt Betroffenen gepflegt worden ist, so sollten wir diese Grundstimmung auch im Zusammenhang mit den Flüchtlingen begrüßen und in den gleichen Zusammenhang stellen. Das Proletariat hat kein Vaterland. Und: Vereinigt euch!
Gerechtigkeit
Auch die oft gehörte Forderung nach Gerechtigkeit, die wir schon eingangs erwähnt haben, hat mit der Einheit der Klasse zu tun. Der Unmut über die ständig zunehmende Diskrepanz bei den Arbeitsbedingungen, über die schreiende Ungleichheit = Ungerechtigkeit im Arbeitsalltag nimmt zu. Die Kampfbereitschaft der Streikenden gründete auf dieser Wut. Es ist in der Tat empörend zu sehen, wie ein großer Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zu immer miserableren Bedingungen geleistet werden muss. Mit der Agenda 2010 hat das deutsche Kapital ja auch nicht die gesamte Klasse frontal angegriffen, sondern richtig dosiert jeweils Teile davon, nämlich in erster Linie die nicht Festangestellten, und zwar so, dass die Klasse aufgrund ihrer neuen Arbeitsbedingungen möglichst aufgespalten ist in Beschäftigte und Erwerbslose, Festangestellte und befristet Angestellte, Männer und Frauen, Alte und Junge, etc., wobei sogar im gleichen Betrieb krasse Unterschiede geschaffen wurden.
Auf diesem Hintergrund heißt Gerechtigkeit Widerstand gegen die neu geschaffenen Ungleichheiten, gegen die Zerstückelung der Belegschaft in einem Betrieb, wo für die gleiche Arbeit ganz verschiedene Arbeitsverträge existieren mit den unterschiedlichsten Löhnen und Kündigungsfristen. Auch hier ist also das Kernanliegen die Einheit der Klasse, die nicht länger in möglichst weit voneinander entfernte Atome gespalten werden soll.
Und der Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit in dieser kapitalistischen Welt ist eine wichtige Triebfeder für moralische Empörung und damit für die Entwicklung einer kämpferischen Haltung. Wir kämpfen nicht für abstrakte Gleichheit, nicht für Gleichmacherei, denn die Menschen sind verschieden, vielfältig. Gerade die Vielfalt und die Kooperation der verschiedenen Talente machen uns zu Menschen, im Unterschied zu Robotern. Der alte kommunistische Grundsatz, ursprünglich von Saint-Simon formuliert, heißt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. In diesem Sinn greifen wir sicher den Kampf gegen die Ungerechtigkeit auf, aber wir hüten uns davor, uns für die bürgerliche, abstrakte Gerechtigkeit, für die Gleichmacherei einspannen zu lassen.[3]
Allerdings offenbaren auch hier die Gewerkschaften ihren unwiderruflich bürgerlichen Charakter, da sie den Aufschrei gegen die zunehmende Ungerechtigkeit in ihre sterilen Tarifverträge kanalisieren. Bei der Post, den Kitas und bei Amazon haben die Gewerkschaften die Parole der „Gerechtigkeit“ eingesetzt: Es sei ungerecht, wenn die gleiche Arbeit unter verschiedenen Tarifverträgen stehe und ungleich bezahlt werde. Dabei landen wir aber wieder bei der abstrakten Gleichheit bestimmter Berufe in einer bestimmten Branche – und der konkreten, tarifvertraglich verbrieften Ungleichheit, die der Kapitalismus ständig verstärkt.
Gegen Stress
Ein drittes wiederkehrendes Thema in den verschiedenen Streiks war der Kampf gegen den Stress bei der Arbeit. Die Streiks der Charité-Angestellten und der Lokführern richteten sich insbesondere gegen die zunehmende Belastung. Auch dabei stellen sich grundsätzliche Fragen des kapitalistischen Systems von Produktion und Verteilung. Obwohl die Produktivkräfte immer noch weiter entwickelt und ständig mehr in immer kürzerer Zeit produziert werden kann, arbeiten wir nicht weniger und nicht ruhiger. Das Gegenteil ist der Fall: Die Intensität der Arbeitsabläufe wächst. Diejenigen, die noch eine Erwerbsarbeit haben, müssen sich dem immer intensiver werdenden Rhythmus unterwerfen. Und wer keine Arbeit hat, muss wieder welche suchen, und zwar sofort und effizient. Nicht nur die Maschinen mit ihrer Kadenz stressen, sondern auch die Bürokratie, der wir in jeder Lebenssituation ausgeliefert sind, der Verkehr im Beruf und in der Freizeit. Apropos: Auch die Freizeit MUSS effizient organisiert sein. Sei’s im Fitnessstudio oder beim Komasaufen. – Krank werden wir so oder anders. Burn-outs und Depressionen nehmen schon lange und nach wie vor zu.
Der Kampf gegen den Stress am Arbeitsplatz und im sonstigen Alltag konfrontiert uns deshalb mit den Fragen: In was für einem System leben wir? – Welche Bedingungen müsste ein menschliches System erfüllen? – Auch hier gibt es eine unterirdische Reifung im Bewusstsein über grundsätzliche Fragen.
Ausblick
Angesichts der aktuellen Lage können wir uns keine Illusionen über die Schwächen der Arbeiterklasse machen. Dabei sollten wir aber die Anzeichen, die zu Hoffnung Anlass geben, nicht übersehen. Die Klasse ist nicht geschlagen, nicht völlig unterworfen unter die Gesetze der blind wütenden Kapitalakkumulation und Verarmung. Die Kampffähigkeit drückt sich in 'untypischen' Formen und Fragen aus, in zaghaften Versuchen von neueren Teilen der Klasse, die sich nicht als Teil der Klasse verstehen, Gegenwehr zu leisten. Wir haben ähnliche Erscheinungen der Bewusstseinsreifung auch schon in den Bewegungen 2011/2012 gesehen: das Bedürfnis zusammen zu kommen, die Einheit auf Plätzen und Straßen zum Ausdruck zu bringen, sich über die Grenzen der Nationalstaaten solidarisch aufeinander zu beziehen.
Die Hauptschwierigkeiten können wir so zusammenfassen:
a. Fehlende Klassenidentität: vordergründig das fehlende Bewusstsein, zu einer und derselben Klasse von Ausgebeuteten und Besitzlosen zu gehören; grundsätzlicher die noch nicht vorhandene Perspektive einer großen kulturellen Umwälzung zur Menschwerdung unserer Gattung, bei der wir – die Arbeiterklasse – das kreative Subjekt sind.
b. Die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse: Die Arbeitsbedingungen im Kapitalismus gleichen sich nicht an, sondern werden je länger je differenzierter. Dies entspricht der immer komplizierteren Arbeitsteilung einerseits; aber auch den Herrschaftsbedürfnissen des Kapitals andererseits. Nur wenn wir gespalten, statt vereint agieren, sind wir machtlos.
c. Auf der ideologischen Ebene ist die Arbeiterklasse heute potentiell Geisel der nationalen Bourgeoisie. Für den in Deutschland arbeitenden Teil des Weltproletariats hat sich dies beispielsweise in diesem Sommer während den Verhandlungen um die griechischen Schulden gezeigt; auf diesem Terrain hat die Arbeiterklasse keine Stimme. Unter etwas anderen Vorzeichen stellt sich die Frage heute erneut angesichts der in Wien, München, Dortmund und Hamburg eintreffenden Flüchtlinge.
Josef, Sept. 2015
[1] So auch Wildcat Nr. 98, Sommer 2015, S. 33
[2] Diese Tendenz wird in aktuelle Studien bestätigt, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2015: „Trotz eines neuen Beschäftigungsrekords ist die deutsche Mittelschicht in den vergangenen 20 Jahren deutlich geschrumpft. Nach einer Studie der Universität Duisburg-Essen ging der Anteil von Haushalten mit mittleren Einkommen zwischen 1993 und 2013 von 56 auf 48 Prozent zurück. Gleichzeitig stieg die Quote der schlechter Verdienenden.“
[3] Dass im Kapitalismus der Ruf nach gleichem Lohn ein „unerfüllbarer törichter Wunsch“ ist, hat Marx in Lohn, Preis und Profit (1865) aufgezeigt und so kommentiert: „Nach gleicher oder gar gerechter Entlohnung auf Basis des Lohnsystems rufen, ist dasselbe, wie auf Basis des Systems der Sklaverei nach Freiheit zu rufen.“