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"Zäsur" war das mit Abstand meist genutzte Wort in den Medien und Stellungnahmen der etablierten Parteien am Tag nach den Wahlen zum Bundestag am 24. September, um die Folgen des Ausgangs dieser Wahlen zu beschreiben. In der Tat stellt das Ergebnis dieser Wahlen einen erheblichen Einschnitt in der Geschichte des Nachkriegsparlamentarismus in Deutschland dar. Zum ersten Mal seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 und ihrer "Wiedervereinigung" 1990 ist es mit der "Alternative für Deutschland" (AfD) einer unverhohlen rechtsradikalen Partei gelungen, in den deutschen Bundestag einzuziehen. Dieser Partei, von denen viele Mitglieder nicht davor zurückschrecken, Geschichtsfälschungen und verteidigende Worte für die Machenschaften der Nazis zuerst zu verbreiten und danach wieder zu dementieren, wird auf Anhieb drittstärkste Kraft, mit knapp 13% hinter der CDU/CSU und SPD, die ihrerseits erdrutschartige Verluste hinnehmen mussten.
Nein, dieses Resultat passt der deutschen Bourgeoisie und ihren politischen Stellvertretern überhaupt nicht in den Kram. Abgesehen von der Unvereinbarkeit der "völkischen" Ideologie von wichtigen Teilen der AfD mit dem Prinzip der "offenen Gesellschaft" des exportorientierten deutschen Kapitalismus ist es vor allem der politische Flurschaden, den der Einzug der AfD in den deutschen Bundestag anrichtet und der die herrschende Klasse seither umtreibt. Schon sprechen ausländische Kommentatoren vom "Verlust der politischen Unschuld" Deutschlands. Tatsächlich war und ist die deutsche Bourgeoisie mehr als jede andere Bourgeoisie in den alten Industrieländern darum bemüht, das Phänomen des Rechtspopulismus so klein wie möglich zu halten; schließlich ging von ihrem Boden einst der Holocaust aus. "Nie wieder Faschismus" ist eine der großen Propagandakeulen der deutschen Bourgeoisie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Tatsache, dass sie sich als einsichtiger und geläuterter Sünder gab, verschaffte ihr mitsamt ihrer Erinnerungskultur, die ihre Verbrechen im "III. Reich" nicht leugnete, internationales Lob und Gewicht. So war es nicht weiter verwunderlich, dass die herrschenden Kreise der deutschen Bourgeoisie, von den Unternehmensverbänden über die Kirchen bis hin zu den Gewerkschaften, und ihre Massenmedien im Vorfeld der Wahlen einhellig Stimmung gegen die AfD und ihre Exponenten machten. Dies ging so weit, dass der Chef des Kanzleramts und enge Vertraute Merkels, Peter Altmaier, gar dazu aufrief, lieber nicht wählen zu gehen, als seine Stimme der AfD zu geben.
Die Eindämmungsstrategie der deutschen Bourgeoisie
Der Erfolg der Rechtspopulisten hat sich schon seit einiger Zeit angekündigt. Nachdem die AfD in den letzten Bundestagswahlen knapp an der Fünfprozenthürde - eine Hürde, die nach den negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik in den westdeutschen Parlamentarismus eingeführt wurde, um den Einzug von Splittergruppen ins deutsche Parlament zu verhindern - gescheitert war und scheinbar unaufhaltsam ihrem frühen Niedergang entgegenstrebte, erlebte sie infolge der massiven Flüchtlingswelle vor zwei Jahren einen zweiten Frühling. Aller öffentlichen Entrüstung über den Nazi-Jargon etlicher ihrer Protagonisten zum Trotz blieben ihre Umfrageergebnisse stabil im zweistelligen Prozentbereich. Die politische Klasse in Deutschland wusste also gut, was da auf sie zukommt, und hatte genügend Zeit, um sich vorzubereiten. Wenn es ihr schon nicht gelang, den Einzug der AfD in den Bundestag zu verhindern, so wollte sie wenigstens alles tun, um ihr Treiben einzudämmen und einzuhegen.
Ein wichtiger Baustein in dieser Strategie ist sicherlich der Rückzug der SPD aus der Großen Koalition. Es gibt einige deutliche Hinweise darauf, dass das Ausmaß dieser historischen Niederlage der deutschen Sozialdemokraten - noch nie in ihrer Geschichte hatte die SPD so wenig Stimmen in einer Bundestagswahl erhalten (20,5 Prozent) - durchaus ins Kalkül breiter Parteikreise passte: der späte Verzicht des damaligen SPD-Vorsitzenden und Wirtschaftsministers Gabriel auf den Parteivorsitz und damit auf die Kanzlerkandidatur zugunsten des damaligen EU-Ratsvorsitzenden Martin Schulz, die viel zu späte Formulierung eines Wahlprogramms, der nur halbherzig geführte Wahlkampf. Geradezu frenetisch war der Beifall der anwesenden SPD-Mitglieder, als Schulz in der Parteizentrale noch am Abend der Wahlniederlage den Gang der SPD in die Opposition ankündigte.
Mit dieser Entscheidung, die auch in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung stieß, soll zweierlei bezweckt werden. Zum einen soll mit dem Gang der SPD in die Opposition schlicht und einfach vermieden werden, dass der AfD als stärkste Oppositionspartei, die sie im Falle einer Fortsetzung der Großen Koalition wäre, das Recht eingeräumt wird, als erste der Oppositionsparteien auf die Regierungserklärungen zu antworten sowie Parlamentsausschüsse einzuberufen. Zum anderen soll, und das ist noch viel wichtiger, rechtzeitig einem freien Fall der SPD in die Marginalität vorgebeugt werden. Immerhin hat Letztere seit dem rotgrünen Wahlsieg von 1998 mehr als die Hälfte der Wählerstimmen eingebüßt; in einigen Regionen Ostdeutschlands ist sie mittlerweile nur noch viertstärkste Partei hinter der CDU, "Linke" und der AfD. Die besonders aggressive Rolle der SPD anfangs des neuen Jahrtausends, mit der Schröder-Regierung und ihrer Agenda 2010, hat bei vielen Wählern aus der Arbeiterklasse zu einer Abkehr von dieser Partei geführt. Auch die nachfolgende große Koalitionsregierung, welche die Angriffe weiterführte, damit Deutschland sich vom „kranken Mann“ Europas in den Nuller-Jahren wieder zur Exportweltmeisternation mauserte, hat die SPD viele Wählerstimmen gekostet, da sie durch diese Angriffe die Armut bei den Arbeiter_innen und Angestellten zu verantworten hat. Ihr Anspruch, wie früher als Oppositionspartei die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu schützen, verlor immer mehr an Glaubwürdigkeit. Die Wahlverluste der SPD bei Arbeiter_innen und Angestellten (was wir als Arbeiterklasse bezeichnen) sind dafür ein vielsagender Indikator.
Das Schicksal der französischen und griechischen Sozialisten vor Augen, die in die politische Versenkung verschwunden sind (in Parteikreisen wird mittlerweile offen über die Gefahr der "Verzwergung" der SPD gesprochen), hat die SPD die Reißleine gezogen, um sich in der Opposition zu "erneuern". Ihre Hauptaufgabe in den nächsten Jahren wird es sein, der AfD als Opposition den Rang abzulaufen, um jenen Teil der Wählerschaft, der die AfD nicht aus Überzeugung, sondern aus Protest gegen die sog. Altparteien gewählt hat, zurückzugewinnen und so die AfD zu stutzen. Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, ob ihr dies gelingt.
Wie der Rückzug der SPD aus der Großen Koalition, so steht auch die Wiedererweckung der FDP, jener Partei, die bis weit in die 1980er Jahre als Korrektiv der großen Parteien SPD und CDU/CSU maßgeblich an der Ausrichtung der deutschen Außenpolitik (Stichworte: Westbindung Westdeutschlands, Entspannungspolitik) beteiligt gewesen war, in einem direkten Zusammenhang mit dem Aufstieg der Populisten. Nachdem die Liberalen in den Wahlen von 2013 zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus den Bundestag gewählt worden waren, schien ihr Schicksal besiegelt. Mit der Erweiterung der deutschen Parteienlandschaft auf zunächst vier (mit dem Einzug der Grünen ins Parlament) und dann, mit der Etablierung der Partei "Die Linke", auf fünf Parteien war die bisherige Existenzgrundlage der FDP als Zünglein an der Waage entfallen.
Doch Totgesagte leben länger: Von den Medien halbwegs geschont, wenn nicht gar gefördert, präsentierte sich die FDP in einem ganz auf ihren Hauptkandidaten, Christian Lindner, zugeschnittenen Wahlkampf - ganz nach dem Vorbild des österreichischen Außerministers Kurz mit seiner "Liste Sebastian Kurz" - als die Partei der Modernisierer (Bildung, Digitalisierung) und wurde mit über zehn Prozent der Stimmen als viertstärkste Partei in den neuen Bundestag gewählt. Was die runderneuerte FDP allerdings so wertvoll macht, sind weniger ihre Wahlversprechen, ihre sog. Trendwenden, als ihre künftige Rolle als Weichensteller für eine Koalitionsregierung jenseits einer großen oder rot-rot-grünen Koalition. Ihr Wiedereinzug ins deutsche Parlament ermöglicht erst den Gang der SPD in die Opposition.
Doch neben diesen Manövern lässt die Bourgeoisie nichts unversucht, um die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der AfD selbst zu forcieren, die zweifellos in diesem Sammelsurium von Wertkonservativen, Antisemiten, Rassisten, Putinsympathisanten, Geschichtsrevisionisten, Verschwörungstheoretikern und anderen Spinnern (wie den sog. Reichsbürgern) herrschen. Seit einiger Zeit wurden Gerüchte über eine bevorstehende Abspaltung der eher gemäßigten Elemente vom Rest der AfD gestreut. Und doch war es ein Paukenschlag, als auf der ersten Pressekonferenz der AfD am Tag nach den Wahlen die AfD-Vorsitzende Frauke Petry vor den Kameras der Weltpresse den ebenfalls anwesenden designierten Fraktionsvorsitzenden der AfD ihren Rücktritt aus der AfD-Parlamentsfraktion erklärte; tags darauf erklärte sie zusammen mit ihrem Mann auch ihren Austritt aus der Partei selbst, dem vor einigen Tagen der Austritt eines weiteren Fraktionsmitglieds aus der AfD folgte. Die nächste Zeit wird zeigen, ob diesen Austritten noch weitere folgen.
Es verstößt durchaus nicht gegen das Interesse der deutschen Bourgeoisie, wenn es zur Bildung einer rechtsnationalen Partei käme, die in der Lage wäre, einen Teil derjenigen aufzufangen, die durch Merkels sog. Sozialdemokratisierung der CDU verprellt wurden und werden. Nach Merkels Abkehr von der Wehrpflicht, der Kernkraft und - zuletzt - ihrer faktischen Zustimmung zur "Ehe für alle" (d.h. auch für homosexuelle Paare) hat sich eine Menge Unmut innerhalb des konservativen Milieus angestaut, der sich jederzeit Bahn brechen und noch mehr Elemente zur AfD spülen könnte. Die Bildung einer rechtsnationalen, aber gemäßigten Partei rechts von der CSU, wie sie Petry und ihrem Mann Pretzell vorschwebt, wäre aber vor allem insofern im Sinn der Bourgeoisie, als auf diese Weise der AfD das Wasser abgegraben und die Anwesenheit von Neo-Nazis und Rassisten im deutschen Bundestag möglicherweise auf ein Intermezzo beschränkt werden könnte.
Das Dilemma der CSU
Die Weichen für eine "Jamaika"-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grüne ("Jamaika" deswegen, weil die Farben der beteiligten Parteien den Farben der jamaikanischen Nationalflagge entsprechen) sind also gestellt. Und dennoch: der Teufel steckt bekanntlich im Detail. So steht der FDP eine Zerreißprobe bevor, wenn es in den Koalitionsverhandlungen z.B. um die Frage der Europapolitik geht. Es gibt in dieser Partei, die sich dem "Liberalismus" verschrieben hat, einen starken euro-kritischen Flügel, der keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber dem "bürokratischen Monster" in Brüssel macht. Es wird sich zeigen, welchen Einfluss die "Euroskeptiker" auf die Politik der künftigen Regierung gegenüber der EU haben werden; der französische Staatspräsident jedenfalls soll sich angeblich schon vor den Wahlen mit den Worten geäußert haben: "Wenn (Merkel) sich mit den Liberalen verbündet, bin ich tot."[1]
Noch viel stärker steckt allerdings die bayrische Schwesterpartei der CDU, die CSU, in der Zwickmühle. Sie erlitt mit Abstand die schlimmsten Verluste aller drei Regierungsparteien und erzielte mit 38,5 Prozent in Bayern ihr schlechtestes Ergebnis seit ihrer Gründung 1949. Setzt sich dieser Trend in den Wahlen zum bayrischen Landtag im Herbst 2018 fort, ist die CSU ihre absolute Mehrheit in Bayern los, was erst ein Mal vorkam, als die CSU zwischen 2008 - 2013 eine Koalition mit der FDP eingehen musste.
Der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD und der drohende Verlust ihres Alleinvertretungsanspruchs in einem der wirtschaftlich stärksten Bundesländer sind in zweierlei Hinsicht fatal für die CSU. Zum einen bedroht eine dauerhafte Einschränkung ihrer absoluten Regierungsgewalt, eine Teilung oder gar Abgabe der Regierungsgewalt in Bayern ihren einmaligen Status als regionale Partei mit überregionalem Einfluss. Einen Status, den sie mit ihrer Hegemonie in Bayern begründet, die beispiellos ist unter den sechzehn Bundesländern. Ihr überproportionaler Einfluss drückt sich auch darin aus, dass sie, abgesehen von den zwanzig Jahren, in denen eine sozialliberale bzw. rotgrüne Koalition die Regierungsgeschäfte führte, in jeder Bundesregierung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 mindestens einen Minister gestellt hat.
Zum anderen bringt die Etablierung einer rechtspopulistischen Partei im Bundestag ein Anspruch, ja ein Dogma ins Wanken, das zur CSU dazugehört wie die Lederhosen zum Oktoberfest. Es war seit ihrer Gründung erklärte Absicht, keine Partei rechts von ihr zuzulassen, nicht auf Bundesebene und schon gar nicht in Bayern. Doch in jüngster Zeit gelingt der Führung der CSU der Spagat zwischen ihrer Regierungsbeteiligung in Berlin einerseits und ihren Bemühungen andererseits, eine "offene rechte Flanke" zu vermeiden, immer weniger. Dies wird besonders in der Flüchtlingspolitik der Großen Koalition deutlich: Weder ihre Proteste gegen Merkels Politik der offenen Tür im Sommer 2015, noch die Drohung ihres Parteivorsitzenden, gegen Merkels Flüchtlingspolitik vor das höchste Gericht Deutschlands, das Bundesverfassungsgericht, zu ziehen, noch die Forderung nach einer "Obergrenze" bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch, religiös oder anderweitig Verfolgten konnten verhindern, dass in Bayerrn mehr Wähler als in jedem anderen westdeutschen Bundesland die AfD wählten.
Kommt es also zur "Jamaika"-Koalition - die Verhandlungen zwischen CDU/CSU, Grüne und FDP beginnen erst Mitte Oktober -, so wird sie möglicherweise instabiler sein, als es je eine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik zuvor war. Darüber hinaus ist die geringe politische Stabilität, die sich die deutsche Bourgeoisie mit der "Jamaika"-Koalition sichert, teuer erkauft; es besteht die Gefahr, dass sich auch in Deutschland der Rechtspopulismus eher länger in den Parlamenten einnistet und die großen "Volksparteien" auf dem absteigenden Ast sind.
Perspektive und Klassenkampf
Kurz vor den Wahlen in Deutschland ist das Ergebnis einer Studie vom Rheingold-Institut in Köln bekannt geworden, das sich bereits seit Jahren den "deutschen Befindlichkeiten" auf dem Wege der sog. Tiefenanalyse annähert. In einem Interview mit dem SPIEGEL zog der Leiter dieser Studie, Stephan Grünewald, ein Fazit; er äußerte: "Der Bürger ist labil, in ihm brodelt und rumort es (...) Ich habe solches Toben und Wüten, so viel Hass unter den Probanden noch nie erlebt." (Nr. 36, September 2017) Nichts beschreibt treffender den Gemütszustand, in dem sich bedeutende Teile der Bevölkerung, darunter auch der Arbeiterklasse in Deutschland (und anderswo) heute befinden. Diese Wut, diese Raserei, die sich im Internet in Form von Hassmails entlädt, die in einigen Regionen Deutschlands, vor allem Ostdeutschlands, allem Fremden und Andersartigen entgegenschlägt, die sich gegen (zumeist) schwächere Menschengruppen, statt gegen die materiellen, gesellschaftlichen Ursachen ihres eigenen elenden Lebens richtet, ist in ihrem Kern ein Ausfluss der gefühlten Ohnmacht ihrer Protagonisten.
Wenn man eine Momentaufnahme der Situation macht, könnte man meinen, der Arbeiterklasse in den alten Industrieländern und Deutschland sei der Mut und das Selbstvertrauen zu kämpfen abhanden gekommen. Die Streiks im Jahre 2015[2] oder andere Protestaktionen von Beschäftigten in jüngster Zeit änderten an dieser Grundstimmung nichts. Dies hat auch mit dem Umstand zu tun, dass es der Arbeiterklasse weltweit in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen ist, die rein ökonomische Ebene ihrer Kämpfe hinter sich zu lassen und den politischen Kampf für sich wieder zu entdecken. Wir erleben heute die Situation, dass einerseits immer weniger Arbeiter_innen bereit sind, dem Märchen der herrschenden bürgerlichen Ideologie zu folgen, die "Wohlstand für alle", gesellschaftlichen Aufstieg, ein besseres Leben für die künftigen Generationen etc. versprechen, dass aber andererseits auch die proletarische Perspektive - einer kommunistischen Gesellschaft, die von Ausbeutung und materiellen Nöten befreit ist - nahezu keine Beachtung in unserer Klasse findet. Die gegenwärtige Perspektivlosigkeit der Arbeiterklasse ist förmlich greifbar.
Es ist exakt diese historisch einmalige, buchstäblich un-entschiedene Hängepartie zwischen den beiden historischen Klassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat, die die kapitalistische Gesellschaft bei lebendigem Leib zerfallen lässt und die den Populismus als die politische Manifestation dieses Zerfalls schlechthin zum Aufstieg verholfen hat. Die Wahlen zum Bundestag haben bewiesen, dass nun auch Deutschland von dieser Wirklichkeit eingeholt worden ist. Und noch etwas ist deutlich geworden: Derzeit wird das Handeln der herrschenden Cliquen nicht vom Gespenst einer proletarischen Revolution bestimmt, sondern vom Spuk der populistischen Reaktion. Konkret: der ostentative Rückzug der SPD aus der Regierung ist eine Antwort auf den Triumph des kleinbürgerlichen Mobs der AfD und nicht auf den Klassenkampf der Arbeiter_innen, der fast momentan zum Erliegen gekommen ist. Der Klassenwiderspruch ist aber in einer bürgerlich dominierten Gesellschaft immer vorhanden, so ist ein Rückzug der SPD auch ein mittel- und langfristiges Mittel, sich auch auf der linken Flanke nicht völlig zu entblößen. Der Klassenkampf ist zwar auf dem Rückzug, aber es ist nicht abgemacht, dass es so bleiben wird.
In Anbetracht der vielen kriegerischen Konflikte, der gigantischen Flüchtlingswelle nach Europa in den letzten beiden Jahren, der Ausbreitung des Terrors in vielen europäischen Staaten, einer nicht überwundenen Finanzkrise usw., kurzum der vielen Angst verbreitenden Faktoren, kann man davon ausgehen, dass die herrschende Klasse in Deutschland weiterhin – trotz alledem – ein relativer „Stabilitätsanker“ in Europa und weltweit bleiben wird.
Weltrevolution, 16. Oktober 2017
[1] Le Monde vom 7. September beruft sich auf einen mysteriösen Besucher des Elysées-Palasts unter der Überschrift „Macrons Albtraum“, dem gegenüber Macron diese Aussage gemacht haben soll.
[2] Vgl. Weltrevolution Nr. 180: 2015 – Streiks in Deutschland: Geschwächte Arbeiterklasse, aber mit bedeutenden Fragen für die Zukunft