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Die Festtage der „Wirtschaftsblüte“ brutal beendet
Alle Diskurse über eine angeblich neue Weltordnung nach dem Fall der Berliner Mauer sind schnell durch die Vervielfachung von Kriegen und Genoziden entkräftet worden. Dennoch muss man feststellen, dass all die ideologischen Kampagnen über die „Demokratie“ und die kapitalistische „Prosperität“ ein gewisses Echo gefunden haben und schwer auf dem Bewusstsein der Ausgebeuteten lasten.
Der Zusammenbruch des Ostblocks sollte gigantische „neue Märkte“ eröffnen und eine wirtschaftliche Entwicklung in eine neue Weltordnung des Friedens und der Demokratie einleiten. Im Lauf der 90er Jahre sind diese Vorhersagen über die angebliche Wirtschaftsentwicklung durch eine Medienschlacht über die „aufstrebenden“ Länder wie Brasilien oder diejenigen Südostasiens begleitet worden. Die New Economy trat Ende der 90er Jahre in diese Fussstapfen: Sie sollte nun eine neue Expansionsphase auf der Grundlage einer technologischen Revolution herbeiführen. Wie sieht es mit der Realität aus? Alles lügenhafte Vorhersagen! Nach den ärmsten Ländern der Dritten Welt, die seit zwei bis drei Jahrzehnten einen Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf einstecken, brach nun die „zweite Welt“ mit dem ökonomischen Desaster der Ostblockländer zusammen. Es folgte der Bankrott Russlands und Brasiliens 1998. Japan befindet sich seit Beginn der 90er-Jahre in einer Krise und acht Jahre später befand sich die gesamte Zone Südostasiens in einem ernsthaften Krankheitszustand. Die Ideologen des Kapitalismus haben die Länder Südostasiens lange als den neuen Entwicklungspol des 21. Jahrhunderts betrachtet. Sie sind bald eines Besseren belehrt worden, denn sie sind zwischenzeitlich alle eines nach dem anderen mehr oder weniger zusammengebrochen. Während sich die E-Economy (Emergent-Economy) in den entwickelten Ländern in den Jahren 2000 und 2001 in einen E-Crash verwandelte, sind die „aufstrebenden“ Länder schon abgestürzt. Die Zerbrechlichkeit dieser Ökonomien ist kaum in der Lage, einige Zehntelprozentpunkte am BIP zusätzlich an Verschuldung zu verkraften. So mussten sich nach der Verschuldungskrise Mexikos zu Beginn der 80er Jahre bald auch andere Länder auf die Liste setzen lassen: Brasilien und Mexiko noch einmal 1994, die Länder Südostasiens, Russland, die Türkei, Argentinien usw. Die Rezession, die die am weitesten entwickelten Länder erfasst hat, wirkt sich nun nicht mehr nur auf die alten technologischen Sektoren (Kohleabbau, Verhüttung usw.) oder die bereits zur Reife gelangten (Schiffbau, Automobilbranche usw.), sondern auch auf diejenigen aus, die eigentlich die Blüte, den Schmelztiegel der „neuen industriellen Revolution“ der New Economy bilden sollten: die Informatik, das Internet, die Telekommunikation, die Raumschifffahrt usw. Hier gehen die Firmenzusammenbrüche in die Hunderte; es folgen Restrukturierungen, Fusionen und Akquisitionen und Hunderttausende von Entlassungen, Lohnkürzungen mit der einhergehenden Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.
Mit dem Zusammenbruch der Aktienkurse derjenigen Unternehmen, die am Ursprung der neuen Blütephase des Kapitalismus stehen sollten, und mit der Rezession, die bereits ihre zerstörerische Wirkung entfaltet, beginnen heute die ideologischen Mystifikationen der Bourgeoisie bezüglich der Krise zu erodieren. Deshalb vervielfacht die Bourgeoisie die falschen Erklärungen über die gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Für sie handelt es sich darum, die Ernsthaftigkeit der Krankheit ihres Wirtschaftssystems zu verheimlichen, um die Bewusstseinsentwicklung des Proletariats über die Sackgasse des Kapitalismus zu verhindern.
Der Kapitalismus versinkt unerbittlich in der Krise
Entgegen den Erklärungen der herrschenden Klasse ist die wirtschaftliche Verschlechterung keineswegs das Produkt des Einsturzes der Twin Towers in den USA, selbst wenn er tatsächlich für gewisse Sektoren wie die Luftfahrt oder den Tourismus noch verschärfende Auswirkungen hatte. Die brutale Verlangsamung des amerikanischen Wachstums beginnt mit dem Platzen der Internet-Blase im März 2000, und das Niveau der wirtschaftlichen Aktivitäten war zu Beginn des Sommers 2001 (siehe Grafik unten) schon schwach. Die Experten der OECD haben dies unterstrichen: „Die wirtschaftliche Verlangsamung hat in den USA im Jahr 2000 begonnen und auch andere Länder erfasst. Sie hat sich in einen weltweiten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität verwandelt, dem sich nur wenige Länder oder Regionen entziehen konnten.“ (Le Monde, 21.1.2001). Die gegenwärtige Krise ist also nichts spezifisch Amerikanisches.
Der Kapitalismus ist in seine sechste Phase der offenen Rezession seit dem Wiederauftauchen der Krise auf der historischen Bühne Ende der 60er Jahre eingetreten: 1967, 1970–71, 1974–75, 1980–82, 1991–93, 2001–?, ohne den Zusammenbruch der Länder Südostasiens, Brasiliens usw. in den Jahren 1997–98 zu zählen. Seither liegt das Wirtschaftswachstum jedes Jahrzehnt tiefer als im Vorhergehenden(siehe Grafik oben):
1962–69: 5,2%
1970–79: 3,5%
1980–89: 2,8%
1990–99: 2,6%
2000–02: 2,2%
Im Jahr 2002 betrug das Wachstum in der Eurozone kaum 0,7%, während es in den USA immerhin noch auf 2,4% zu liegen kam. Aber auch diese Zahl steht kaum höher als in den 90er Jahren. Wenn man sich im Übrigen auf die wirtschaftlichen Grundlagen beschränkt, hätte die US-Wirtschaft seit 1997 auf der Stelle treten sollen, denn die Profitrate wuchs bereits nicht mehr weiter (siehe Grafik auf Seite 12).
Gemäss den bürgerlichen Kommentatoren charakterisiert die gegenwärtige Rezession die Geschwindigkeit und die Intensität ihrer Entwicklung. Die USA, die bedeutendste Wirtschaft der Welt, sind sehr schnell in die Rezession eingetaucht. Der Rückgang des amerikanischen BIP ist viel stärker als in der vorhergehenden Rezession und die Verschärfung der Arbeitslosigkeit erreicht ein seit der Krise von 1974 nicht mehr gesehenes Niveau. Japan, der zweitstärksten Weltwirtschaftsmacht, geht es nicht besser. Selbst mit negativen realen Zinsen (die Haushalte und Unternehmen Japans verdienen mit der Verschuldung Geld!) rühren sich der Konsum und die Investitionen nicht vom Fleck. Und auch trotz massiven Ankurbelungsmassnahmen taucht die japanische Wirtschaft gerade in die dritte Rezession. Gemäss dem IWF handelt es sich um die stärkste Krise seit 20 Jahren, und Japan könnte das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg zwei Jahre hintereinander eine Kontraktion der wirtschaftlichen Aktivitäten erleben. Mit einer Reihe von Wiederankurbelungsplänen fügt Japan der astronomischen Verschuldung der Banken die öffentliche Verschuldung hinzu, die bereits den grössten Umfang aller Industrieländer aufweist. Sie beträgt 2002 130% des BIP und wird 2003 153% erreichen.
Die Verschärfung der Widersprüche des dekadenten Kapitalismus
Im 19. Jahrhundert, in der Periode des aufsteigenden Kapitalismus, befand sich die Bilanz der öffentlichen Finanzen (Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben) von sechs grossen Staaten (USA, Japan, Kanada, Frankreich, Grossbritannien und Italien) nur ausnahmsweise im negativen Bereich und dies hauptsächlich in Kriegszeiten. Sie ist meist stabil bis 1870 und verbessert sich ständig bis 1910. Der Kontrast zur Periode der Dekadenz ist scharf, denn es gibt fast immer ein Defizit mit Ausnahme von vier Jahren am Ende der 20er Jahre und den zwanzig Jahren zwischen 1950 und 1970. Es vergrössert sich sowohl in Kriegs- als auch in Krisenzeiten (siehe Grafik unten).
Das Gewicht der öffentlichen Verschuldung in Prozent am BIP nimmt in der gesamten aufsteigenden Phase ab. Der Anteil übersteigt im Allgemeinen niemals die 50%-Marke. Er explodiert mit dem Eintritt in die Dekadenz und nimmt nur in den Jahren 1950 bis 1980 ab, jedoch ohne jemals unter die 50%-Marke zu fallen. Er steigt danach in den Jahren 1980 bis 1990 (siehe Grafik auf Seite 14).
Dieser Schuldenberg stellt nicht nur in Japan, sondern auch in den anderen entwickelten Ländern ein potenziell destabilisierendes Pulverfass dar. Eine grobe Schätzung der weltweiten Verschuldung der Gesamtheit aller Wirtschaftsakteure (Staaten, Unternehmen, Haushalte, Banken) schwankt zwischen 200 und 300% des Weltsozialprodukts. Das bedeutet konkret zweierlei Dinge: Einerseits hat das System ein monetäres Äquivalent im Umfang des zwei- bis dreifachen Wertes der gesamten globalen Produktion vorgeschossen, um der drückenden Überproduktion entgegenzutreten; anderseits müsste man zwei bis drei Jahre gratis arbeiten, um diese Schulden zu begleichen. Eine solch massive Verschuldung können die entwickelten Ökonomien heute noch ertragen, die „aufstrebenden“ Länder hingegen drohen eines nach dem anderen daran zu ersticken. Diese auf Weltebene phänomenale Verschuldung ist historisch beispiellos und drückt gleichzeitig sowohl die Tiefe der Ausweglosigkeit aus, in der sich der Kapitalismus befindet, als auch seine Fähigkeit zur Manipulation des Wertgesetzes, um die Zahlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. In der vergangenen Periode „haben sich die USA als herrschende Macht das Recht herausnehmen können, ihre Investi-
tionsanstrengungen und das starke Wachstum des Konsums finanzieren zu lassen“ (vgl. Revue Internationale, Nr. 111 „Apres l’euphorie, la gueule de bois“ /„Nach der Euphorie, der Kater“). Kein anderes Land als die USA hätten sich ein dermassen grosses Handelsbilanzdefizit zur Finanzierung des Wachstums leisten können. „Daraus ging eine klassische Überproduktionskrise hervor, die sich in einem Rückgang der Profitkurve und in einer Verlangsamung der Aktivitäten einige Monate vor dem 11. September 2001 manifestierten“ (ebd.). Man kann also in keiner Art und Weise über eine erneute Rückkehr des Wachstums basierend auf einer sog. neuen technologischen Revolution spekulieren. Die theoretischen Diskurse um die New Economy, der Betrug um letztere sowie die kürzlichen beträchtlichen Betrugsfälle führen zu einer ernsthaften Infragestellung der Richtigkeit der nationalen Buchführung auf der Basis der Berechnung des BIP. Das ist insbesondere in den USA der Fall. Seit dem Ausbruch der Enron-Affäre hat man gesehen, dass ein guter Teil der New Economy bloss fiktiv ist. Hunderte von Milliarden Dollars in den Unternehmensbuchführungen haben sich in Nichts aufgelöst. Dieser Zyklus ist übrigens mit einem Börsenkrach beendet worden, der besonders stark die Sektoren betraf, die eben gerade am Anfang dieses neuen Kapitalismus stehen sollten.
Die Fabel vom „schlanken Staat“
“Die direkten Ursachen der Verstärkung des kapitalistischen Staates sind ein Ausdruck der Schwierigkeiten, die von dem Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte herrühren.“ (siehe IKS-Broschüre „Die Dekadenz des Kapitalismus“)
Man versucht uns glauben zu machen, im Zuge von Liberalisierung und „Globalisierung“ hätten die Staaten praktisch keinen Einfluss mehr, dass sie gegenüber den Märkten und den supranationalen Organisationen wie dem IWF, der WTO etc. ihre Eigenständigkeit verloren hätten. Konsultiert man aber die Statistiken, so muss man feststellen, dass trotz den zwanzig Jahren „Neoliberalismus“ das globale ökonomische Gewicht des Staates (genauer gesagt des sogenannten nicht kommerziellen Bereichs: Ausgaben der ganzen öffentlichen Verwaltung und einschliesslich der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung) kaum abgenommen hat. Das globale ökonomische Gewicht des Staates nimmt zu, auch wenn dies in einem weniger stetigen Rhythmus geschieht, und erreicht einen Anteil von 45 bis 50% bei den 32 Ländern der OECD, wobei er bei den Vereinigten Staaten einen relativ niedrigen Anteil von etwa 35%, bei den nordischen Ländern einen relativ hohen Anteil von 60% bis 70% ausmacht (siehe Grafik).
Während der ganzen aufsteigenden Phase des Kapitalismus schwankte der Anteil des Staates (des nicht kommerziellen Bereichs) an der Mehrwertproduktion im Bereich von 10%. Im Laufe der dekadenten Phase des Kapitalismus klettert ebendieser Anteil progressiv in die Höhe und nähert sich in den OECD-Ländern im Jahr 1995 einem Wert von 50%. (Quelle: Weltbank, Bericht über die weltweite Entwicklung, 1997).
Diese Statistik enthüllt die künstliche Aufblähung der Wachstumsraten in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz, insoweit als die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zum Teil dasselbe zwei Mal in Rechung stellt. Tatsächlich umfasst der Verkaufspreis der Waren die Steuern, deren Betrag der Deckung der Staatsausgaben dient, nämlich die Kosten der Dienste ausserhalb des kommerziellen Bereich (Schulwesen, staatliche Sozial- und Krankenversicherung, Angestellte der öffentlichen Dienste). Die bürgerliche Ökonomie spricht diesen Dienstleistungen denselben Wert zu wie der Summe der Löhne, die den Angestellten bezahlt werden, welche diese Dienste leisten müssen. Nun wird diese Summe in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dem im kommerziellen Bereich (dem einzigen produktiven Sektor) produzierten Mehrwert hinzugefügt, obwohl sie schon im Verkaufspreis der kommerziellen Güter inbegriffen ist (Berücksichtigung der Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge im Preis der Waren). Infolgedessen erhöhen sich in der Periode der Dekadenz das BIP und die Wachstumsrate des BIP künstlich. Sie wachsen insoweit als der Anteil der öffentlichen Ausgaben mit der Zeit zunimmt (von einem 10%igen Anteil um 1913 zu einem 50%igen Anteil um 1995). Dieser Anteil war in der aufsteigenden Phase beinahe konstant geblieben (etwa 10%). Für diese Zeit wird zwar das BIP um 10% zu hoch geschätzt, aber die dieser Phase eigenen Wachstumsraten widerspiegeln die tatsächliche Entwicklung des Produktivsektors. In der Dekadenz hingegen wird die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus durch das immense Anwachsen des unproduktiven Sektors – v. a. zwischen 1960 und 1980 – künstlich erhöht. Um das reelle Wachstum in der Dekadenz richtig zu bewerten, muss man vom BIP den seit 1913 wachsenden Anteil des unproduktiven Sektors abziehen. Das sind nahezu 40% des aktuellen BIP!
Betrachtet man das politische Gewicht des Staates, so stellt man auch hier eine deutliche Zunahme fest. Der Staatskapitalismus kann heute und konnte während dem ganzen 20. Jahrhundert keiner bestimmten politischen Schattierung zugeordnet werden. In den Vereinigten Staaten sind es die Republikaner (die „Rechten“), welche die Initiative einer staatlichen Unterstützung zwecks eines Wideraufschwungs ergreifen und die Fluggesellschaften und Versicherungsträger subventionieren. Im übrigen fördert die Regierung unmittelbar deren Erhaltung mithilfe des Gesetzes des „Kapitel 11“, welches den Gesellschaften ermöglicht, sich auf einfache Weise vor ihren Gläubigern zu schützen. Die von Bush angesetzte Wiederbelebung im budgetären Bereich hat gemäss Schätzungen des IWF den Bundesausgleich von einem 2,5%igen Überschuss des BIP im Jahr 2000 zu einem 1,5%igen Defizit des BIP im Jahr 2002 gebracht. Dieses Ausmass ist vergleichbar mit dem der kostspieligsten europäischen Staaten. Die mit der Regierung eng verbundene Zentralbank (die Federal Reserve) hat ihrerseits ihre Zinsen im Zusammenhang mit der immer deutlicher werdenden Rezession nach und nach gesenkt, um zur Ankurbelung des Wirtschaftsapparates beizutragen:
von 6,5% zu Beginn auf 2% zu Ende des Jahres 2001. Dies erlaubt unter anderem den überverschuldeten Haushalten, mehr Kredite abzu-
schliessen oder sie zu einem günstigeren Preis zu erhalten. Schliesslich erfordert der Zusammenhang dieser neuen Orientierung eine Abwertung des Dollars, um die Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Produkte wiederherzustellen und um Teile des Marktes wiederzugewinnen. In Japan wurden die Banken zweimal vom Staat unterstützt und einige wurden sogar verstaatlicht. In der Schweiz war es der Staat, der die gigantische Operation zur finanziellen Unterstützung der nationalen Fluggesellschaft Swissair organisierte. Auch in Argentinien setzt die Regierung mit dem Segen des IWF und der Weltbank ein breites staatliches Arbeitsprogramm ein und versucht damit, Arbeitsplätze wieder entstehen zu lassen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts instrumentalisierten die politischen Parteien den Staat, um ihren eigenen Interessen Vorrang zu verschaffen. In der dekadenten Periode hingegen sind es die globalen ökonomischen und imperialistischen Notwendigkeiten, welche die angemessene Politik diktieren, unabhängig von der politischen Richtung der aktuellen Regierungen. Diese von der Kommunistischen Linken entwickelte grundsätzliche Analyse wurde während dem ganzen 20. Jahrhundert reichlich bestätigt und ist heute mit den noch höheren Einsätzen aktueller denn je.
Die Entwicklung der Militärausgaben
Engels drückte Ende des 19. Jahrhunderts als erster die historische Alternative der dekadenten Phase des Kapitalismus aus: „Sozialismus oder Barbarei“. Rosa Luxemburg entwickelte daraus eine Vielzahl politischer und theoretischer Implikationen und die Kommunistische Internationale baute darauf ihre für die neue Periode charakteristische Formel auf: „Das Zeitalter der Kriege und Revolutionen“. Schliesslich waren es die Linkskommunisten, unter ihnen vor allem die Französische Kommunistische Linke, welche Art und Bedeutung des Krieges sowohl in der aufsteigenden als auch in der dekadenten Phase des Kapitalismus systematisierten und vertieften.
Man kann zweifelsohne bestätigen, dass – im Gegensatz zur aufsteigenden Phase – das Merkmal der kapitalistischen Dekadenz der Krieg in seinen unterschiedlichsten Formen ist: Weltkriege, lokale Kriege usw. Dazu wollen wir, als nützliche knappe historische Ergänzung, Auszüge aus dem Werk Das Zeitalter der Extreme (1994) des Historikers Eric Hobsbawm zitieren. Er beschreibt darin in Form jeweiliger Bilanzen die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem „langen 19. Jahrhundert“ und dem „kurzen 20. Jahrhundert“:
“Wie sollen wir dem kurzen 20. Jahrhundert einen Sinn abgewinnen – vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion – diese Jahre, die, wie wir im Nachhinein sehen, eine kohärente und nunmehr abgeschlossene geschichtliche Periode darstellen? (...) Während des kurzen 20. Jahrhunderts wurden mehr Menschen auf Weisung und mit Erlaubnis ermordet als jemals zuvor in der Geschichte. (...) Es war ohne Zweifel das mörderischste Jahrhundert von allen, über das wir Aufzeichnungen besitzen: mit Kriegszügen von nie gekannten Ausmassen, sowohl was das Niveau, die Häufigkeit und die Dauer dieser Kriege betrifft (und welche seit den 20er Jahren kaum einen Unterbruch hatten), als auch bezüglich dem Ausmass der grössten Hungersnöte der Geschichte und den systematischen Genoziden. Im Unterschied zum langen 19. Jahrhundert, welches eine Periode des nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts zu sein schien und auch wirklich war (...), sind wir seit 1914 Zeugen eines markanten Rückgangs dieser bis anhin für die entwickelten Länder als selbstverständlich angenommenen Werte. (...) Im Laufe des 20. Jahrhunderts zielten die Kriege zunehmend auf die Wirtschaft und die Infrastruktur der Staaten sowie auf deren zivilen Bevölkerungen. Seit dem Ersten Weltkrieg nahm in allen kriegerischen Ländern mit Ausnahme der Vereinigten Staaten die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zur Zahl der militärischen Opfer immer zu. (...) Um 1914 lag der letzte grosse Krieg ein Jahrhundert zurück (...). Die Mehrzahl der Kriege, welche die Grossmächte betrafen, waren von relativ kurzer Dauer. (...) Die Dauer der Kriege war eine Frage von Monaten oder sogar (wie beim Krieg von 1886 zwischen Preussen und Österreich) von Wochen. Zwischen 1871 und 1914 gab es in Europa keinen Konflikt, der die Armeen der Grossmächte in feindliches Gebiet getrieben hätte. (...) Es gab keinen Weltkrieg. (...) dies alles änderte um 1914 (...) 1914 leitete die „Epoche der Massaker“ ein (...). Im modernen Krieg werden alle Bürger hineingezogen und die Mehrheit von ihnen wird mobilisiert (...), der moderne Krieg wird mit Rüstung geführt, deren Produktion eine Umleitung der ganzen Wirtschaft erfordert und die in unvorstellbarem Umfang eingesetzt wird; der moderne Krieg erzeugt unglaubliche Zerstörungen, dominiert und verändert aber auch in jeder Hinsicht die Existenz der darin verwickelten Länder. Alle diese Phänomene sind also dem Krieg des 20. Jahrhunderts eigen. (...) Diente der Krieg dem Wirtschaftswachstum? Es ist klar, dass dem nicht so ist (...) über diese zunehmende Barbarei nach 1914 gibt es leider keinerlei Zweifel“.
Diese „Epoche der Massaker“, eingeleitet durch den Ersten Weltkrieg und im Gegensatz zum langen, deutlich weniger mörderischen 19. Jahrhundert, wird belegt durch die unterschiedliche Bedeutung der Militärausgaben in der aufsteigenden bzw. dekadenten Phase. Die Bedeutung des Anteils der Militärausgaben am Weltprodukt war während der ganzen aufsteigenden Phase des Kapitalismus relativ gering und quasi beständig, wohingegen sie in der Dekadenz kräftig zugenommen hat. Von 2% des Weltprodukts im Jahr 1860 steigt ihr Anteil auf 2,5% im Jahr 1913, während er 1938 7,2% und in den 1960er Jahren ungefähr 8,4% erreicht. Im Moment des Höhepunktes des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre erreicht der Anteil der Militärausgaben etwa 10% (Quellen: Paul Bairoch für das Weltprodukt und das SIPRI für die Militärausgaben). An den Rüstungsprodukten ist demnach speziell, dass sie im Gegensatz zu einer Maschine oder einem Konsumgut nicht auf produktive Weise verbraucht werden können (sie können die Produktivkräfte nur hemmen oder zerstören). Das bedeutet also eine Sterilisierung des Kapitals. Den 40%, die dem wachsenden Anteil der unproduktiven Ausgaben in der Dekadenzperiode entsprechen, müssen demnach noch 6%-Punkte hinzugefügt werden, welche der relativen Zunahme der Militärausgaben entsprechen, wodurch wir auf ein Weltprodukt schliessen müssen, welches um nahezu die Hälfte zu hoch veranschlagt ist. Dies gibt uns ein wahrheitsgetreueres Bild über die angebliche Leistungsfähigkeit des Kapitalismus im 20. Jahrhundert und der Kontrast zu der Epoche des langen 19. Jahrhunderts mit seinem „nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritt“ wird deutlich.
Die Zukunft bleibt in den Händen der Arbeiterklasse
Zweifelsohne wird mit der Entwicklung der Rezession auf internationalem Niveau die Bourgeoisie eine erneute und gewaltige Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiterklasse durchsetzen. Hinter dem Schleier des Kriegszustandes und im Namen der höheren Interessen der Nation profitiert dabei die herrschende Klasse der Vereinigten Staaten, um Sparmassnahmen durchzusetzen, die aufgrund der Erfordernisse im Zusammenhang einer fortschreitenden Rezession von langer Hand geplant wurden: massive Entlassungen, verschärfte Produktionszwänge, Ausnahmegesetze im Namen des Antiterrorismus, die in Wirklichkeit vor allem als Experimentierfeld zur Erhaltung der herrschenden sozialen Ordnung dienen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hatte sich der Rüstungskurs während einiger Jahre verlangsamt, beschleunigte sich aber Mitte der 90er Jahre wieder sehr schnell. Der 11. September 2001 diente der Rechtfertigung einer noch stärkeren Rüstungsentwicklung. Die Militärausgaben der USA machen 37% der weltweiten Militärausgaben aus, welche in allen Ländern spürbar steigen. Überall auf der Welt befinden sich die Arbeitslosenquoten erneut im Ansteigen, mag es auch der Bourgeoisie gelungen sein, einen Teil des realen Ausmasses dieses Phänomens durch die Politik der sozialen Frage – Schaffung unsicherer Jobs und grobe Manipulationen der Statistiken – zu verbergen. Überall in Europa wurden die Budgets nach unten korrigiert und sind erneute Sparmassnahmen programmiert. Im Namen der Budgetstabilität, welche mit den Interessen der Arbeiterklasse nichts gemein hat, ist die herrschende Klasse Europas dabei, die Rentenfrage zu revidieren (Verringerung der Renten und Verlängerung des Berufstätigkeit). Und schon sind neue Massnahmen vorgesehen, um die „Schranken der Wachstumsentwicklung“ zu sprengen, wie es die Experten der OECD verhüllend ausdrücken. Sie sprechen von „einer Schwächung der Rigiditäten“ und „einer Begünstigung des Arbeitskräfteangebots“, währendem sie die Unsicherheit verschärfen und alle Sozialleistungen kürzen (Arbeitslosengeld, Gesundheitsvorsorge, verschiedene Beihilfen, etc.). Mit dem Börsenkrach entblössen die Rentensysteme heute ihr wahres Wesen: Sie sind ein Schwindel, um die Arbeiterklasse noch stärker ihrer Einkommen zu berauben. In Japan hat der Staat eine Restrukturierung für 40% der öffentlichen Institutionen geplant:
17 davon werden geschlossen und 45 weitere sollen privatisiert werden. Nachdem nun die erneuten Attacken auf das Proletariat in Zentren des Kapitalismus erfolgen, nimmt auch die Armut in der Peripherie des Kapitalismus schwindelerregende Ausmasse an. Die Situation der sogenannten „Schwellenländer“ ist in dieser Hinsicht bezeichnend, besonders in Ländern wie Argentinien, Venezuela oder Brasilien. In Argentinien ist das mittlere Einkommen pro Einwohner in den letzten drei Jahren um 2/3 gesunken. Dieses Debakel übertrifft das Ausmass des Zusammenbruchs der Vereinigten Staaten in den 30er Jahren. Die Türkei und Russland stehen dem kaum nach.
Für die Arbeiterklasse ergibt sich aufgrund der ökonomischen Sackgasse, des sozialen Chaos und der wachsenden Misere nur eine mögliche Antwort: Sie muss ihre Kämpfe auf ihrem eigenen Klassenterrain und in allen Ländern massiv steigern. Kein „demokratischer Machtwechsel“, kein Regierungswechsel, keine alternative Politik kann dem Kapitalismus im Todeskampf irgend ein Heilmittel bringen. Die Generalisierung und Vereinigung der weltweiten proletarischen Kämpfe, die einzig auf den Umsturz des Kapitalismus zielen können, sind die einzige Alternative, um die Gesellschaft aus dieser Sackgasse zu befreien. Selten in der Geschichte war die objektive Realität deutlicher, dass man nicht länger die Folgen des Kapitalismus bekämpfen kann, ohne Letzteren selbst zu zerstören. Die erreichte Stufenleiter der Zersetzung des Systems und die ernsthaften Konsequenzen sind derart, dass die Frage der Überwindung des Kapitalismus durch einen revolutionären Umsturz immer deutlicher als der für die Ausgebeuteten einzige „realistische“ Ausgang erscheint und weiterhin erscheinen wird. Die Zukunft bleibt in den Händen der Arbeiterklasse.
(Auszüge des Berichts über die Wirtschaftskrise, vom Dezember 2002; angenommen 15. Kongress der IKS)
Quellen:
– Wachstum de BIP (1962–2001): OECD
– Verschuldungsquote: Paul Masson und Michael Muss: "Long term tendencies in budget deficits and debst", Dokument über die Arbeit des IWF, 95/128 (Dezember 1995)
– Alternatives Economiques (Hors série): Der Zustand der Wirtschaft 2003.
– Maddison: Die Weltwirtschaft 1820–1992, OECD und zwei Jahrhunderte industrielle Entwicklung