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Als diesen Sommer in Ungarn die dortige Regierung die Grenzen nach Österreich ”öffnete, als dann im Herbst in der DDR ein Stützpfeiler der moskautreuen Stalinisten nach dem anderen in sich zusammenkrachte, die Regierung der CSSR binnen weniger Tage weggefegt wurde, sich mittlerweile nach dem erdrutschartigen Sturz der stalinistischen Diktatoren ein vollständiges Chaos ausbreitete, war jedem klar geworden: als Militärbündnis bestand der Warschauer Pakt nur noch auf Papier. In Wirklichkeit war er in sich zusammengebrochen. Die sowjetische Armee und ihre Verbündeten des Warschauer Paktes waren unfähig gewesen, den Entwicklungen in Osteuropa militärisch Einhalt zu gebieten. Die Bevölkerung ganz Osteuropas, zuvor jahrzehntelang eingeschüchtert durch die Militärs, spürte, dass dem russischen Bär die Zähne ausgefallen waren, dass er selbst total entkräftet, geschwächt war.
Kein Wunder, dass dann Anfang Dezember Bush und Gorbatschow auf dem Malta-Gipfel vor die Kameras der Welt traten und erklärten, der "Kalte Krieg", die Konfrontation zwischen Ost und West sei endgültig am Ende, eine neue Ära sei angebrochen. Auch die westlichen Militärs müssen nun kleinlaut eingestehen, dass von der Sowjetunion nicht mehr die große Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung ausgeht.
DIE VERBÜNDETEN NEHMEN REISSAUS
Diese Lawine war im Sommer nach einer Zeit langer unterirdischer Erschütterungen voll ins Rollen gekommen.
* Im Sommer trat in Polen Solidarnosc in die Regierung ein, um die "Liberalisierung der Wirtschaft" voranzutreiben und eine Öffnung nach dem Westen einzuleiten, ohne dass sich dem Moskau entgegenstellte.
* In Ungarn änderte die stalinistische Partei ihren Namen, nannte sich nunmehr sozialdemokratische Partei, gleichzeitig erklärte sie, sie strebe einen neutralen Status für ihr Land an. Mittlerweile hat Ungarn seine Aufnahme in den Europarat, ein wichtiges Instrument des Westens, beantragt, was einem Ausscheren aus dem Warschauer Pakt gleichkommt. Gorbatschow schickte dazu ein Glückwunschtelegramm.
* In Bulgarien wurde Schiwkow, der dienstälteste stalinistische Henker, durch einen "Reformer" abgelöst, die Liberalisierung auf die Fahnen geschrieben.
* In der CSSR musste die stalinistische Regierung innerhalb weniger Tage zurücktreten, die KP stellt in der Regierung nicht mehr die Mehrheit der Minister.
Und schließlich der Wirbelsturm der Ereignisse in der DDR, die hinlänglich bekannt sind.
Von Rumänien abgesehen, kommt es fast jeden Tag in Osteuropa zu tief greifenden Umwälzungen. Jede einzelne dieser Umwälzungen hätte vor einigen Jahren noch sofort zum Einsatz von russischen Panzern, zum Ausrücken des russischen Militärs geführt. Wenn jetzt in Osteuropa all diese stalinistischen Regierungen hinweggefegt werden, handelt es sich nicht, wie oft dargestellt wird, um eine von Gorbatschow freiwillig, aus Überzeugung zielstrebig eingeleitete Politik, sondern um eine Krise des gesamten Ostblocks und damit gleichzeitig um das historische Scheitern des Stalinismus. Die Beschleunigung und Unberechenbarkeit der Ereignisse, die Tatsache, dass das jetzt entstandene Chaos unkontrollierbar geworden ist, dass jetzt der bisherige Hauptstützpfeiler der russischen Alliierten in Osteuropa, die DDR, einen Kollaps erlitten hat, ist der unwiderrufliche Beweis, dass die zweite imperialistische Weltmacht vollständig in sich zusammengesackt ist.
Diese Umwälzung ist mittlerweile unumkehrbar geworden, sie erstreckt sich nicht nur auf den ganzen Block, sondern hat auch sein Herz, die Sowjetunion selber, erfasst. Deutlichster Ausdruck des Auseinanderbrechens der SU selber ist die Explosion des Nationalismus, die Forderungen nach Autonomie, Loslösung peripherer Teile von der SU, sei es im asiatischen Teil, in den baltischen Republiken oder auch in der wirtschaftlich an zentraler Stelle stehenden Ukraine.
Wenn jedoch bei einem imperialistischen Block der Blockführer nicht mehr in der Lage ist, den Zusammenhalt des Blockes irgendwie aufrechtzuerhalten, und er nicht mal mehr die "Ordnung" in seinem Landesinnern garantieren kann, verliert er seine Stellung innerhalb des Blockes, sein Block als solcher bricht auseinander, er büsst seine Stellung als Weltmacht ein. Im Falle der Sowjetunion, die ihren Block nur mit militärischer Repression, der Präsenz von Hunderttausenden Soldaten, der Mauer, dem Eisernen Vorhang aufrechterhalten konnte, verstärken sich dann als erstes die auseinander brechenden Tendenzen. Oder wie in einem Gefängnis: wenn der Gefängniswächter nicht mehr da ist, brechen alle aus, türmen die Gefangenen.
Die UDSSR und ihr Block stehen somit nicht mehr im Mittelpunkt der inter-imperialistischen Widersprüche zwischen zwei kapitalistischen Lagern.
Wie konnte es zu diesem Zusammenbruch kommen? Wie war es möglich, dass innerhalb kürzester Zeit die Ostblockregimes mit Ausnahme Rumäniens in sich zusammensackten - und die früheren Verbündeten der Sowjetunion nun einer nach dem anderen Reißaus zu nehmen versuchen, um - ähnlich wie Ratten - vom sinkenden Schiff des sowjetischen Imperiums abzuspringen?
1945: DIE UdSSR WIRD ZUR IMPERIALISTISCHEN GROSSMACHT
Weil Hitler-Deutschland 1939 im Krieg nicht in einen Zwei-Fronten-Krieg im Westen und im Osten ziehen wollte, hatte Hitler der Sowjetunion als Belohnung für ihr Stillhalten die baltischen Republiken, Moldauen, einen Teil Polens (Hitler-Stalin-Pakt) zugeschachert.
Als es deutlich wurde, dass Hitler-Deutschland aber den Krieg verlieren würde, boten diesmal die westlichen Alliierten der Sowjetunion einen Teil der aufzuteilenden Beute Europas an, um sicherzustellen, dass die SU den Krieg gegen Hitler bis zu Ende führte (zum Preis von ca. 20 Mio. Menschen als Kanonenfutter und unzähligen Zerstörungen). Mit dem Lockpreis, der in Yalta ausgehandelt wurde, geriet somit Osteuropa und eine Hälfte Deutschlands unter die Kontrolle der Sowjetunion. Damit war dem immer noch wirtschaftlich rückständigen, im Vergleich zum Westen weit hinterherhinkenden Sowjetimperialismus plötzlich ein Reich in die Hände gefallen, das er nie aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke hätte erobern können.
Die Sowjetunion war von der vormals im Vergleich zu den USA, Frankreich oder GB zweit- oder gar drittrangigen imperialistischen Macht zum Führer eines Blocks aufgerückt. Aber im Gegensatz zu den USA war sie nicht in der Lage, ihre Vormachtstellung, ihre Blockführerschaft auf wirtschaftliche Stärke aufzubauen, sondern sie konnte sich fortan nur durch militärische Zwangsherrschaft aufrechterhalten. Einige ihrer unterworfenen Länder wie die DDR und die CSSR waren der wirtschaftlichen Entwicklung der SU weit voraus, was die SU zur Demontage unzähliger hoch entwickelter Industrieanlagen und zum Wiederaufbau derselben auf ihr Territorium veranlasste.
Während die USA nach einiger Zeit Milliarden Dollar in die Wirtschaften pumpten (Europäischer Wiederaufbauplan, Marshall-Hilfe usw.), um den Westen für die Konfrontation mit der SU fit zu machen, war die Sowjetunion aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwäche gezwungen, diese Länder auszusaugen, sie systematisch auszuplündern. Auch konnte sie sich nicht auf irgendeine klassische Fraktion des jeweiligen nationalen Kapitals stützen, das in der Regel restlos enteignet wurde. Stattdessen setzte sie militärische Statthalter ein, die alle in den Moskauer Parteischulen für die Unterwerfung unter Stalins Regime getrimmt worden waren. Wie die Statthalter im Römischen Reich oder in den Kolonien des Westens hing deren Fähigkeit, das Land zu kontrollieren, nur von der Terrorherrschaft, der direkten Rückendeckung durch das sowjetische Militär ab.
So war die Herrschaft der Sowjetunion über ihre Verbündeten jahrelang durch eine erdrückende Militärherrschaft gekennzeichnet, während die USA dagegen ihre wirtschaftliche Trumpfkarte voll ausspielen konnten. Anstatt immer und jederorts Militär einzusetzen, kauften die USA sich regelrecht ein - und wenn nötig, half natürlich auch das Militär nach. Auch konnten die USA durchaus damit fertig werden, dass ein Land keinem Militärbündnis mit den USA angehörte (z.B. China), die wirtschaftliche Abhängigkeit blieb bestehen und an der Kette der wirtschaftlichen Vormachtstellung der USA wurde dadurch nicht gerüttelt.
DIE SU ALS BLOCKFÜHRER BRICHT ZUSAMMEN
Auf dem Hintergrund der weltweiten Beschleunigung der Wirtschaftskrise Anfang der 80er Jahre, der Zuspitzung der inter-imperialistischen Gegensätze (Stichwort Afghanistan) leitete der US-Block unter Reagan damals eine Offensive gegen die SU ein, bei der versucht wurde, diese einerseits militärisch auf ihr eigenes Territorium zurückzudrängen, indem ihr die früheren Verbündeten in der sog. 3. Welt abgejagt wurden. Andererseits wurde der Rüstungswettlauf so beschleunigt (SDI, Raketensysteme, Neutronenbombe, usw.), dass die SU bei dem Versuch, damit Schritt zu halten, sich selbst erstickte. Ihr ging die Luft aus. Sie hat diesen Wettlauf verloren, ohne dass es überhaupt zu einem direkten Krieg mit den USA kam. Gleichzeitig kamen all die chronischen Schwächen der stalinistischen Herrschaftsform, die sie dem westlichen Modell der Kapitalsherrschaft unterlegen machen (z.B. parasitäre Parteibürokraten dirigieren die Produktion, ohne diese nach den Gesetzen der Konkurrenz auszurichten) voll zum Tragen.
Wirtschaftlich erstickt und im Chaos versunken, so stand die russische Herrscherclique einer Bevölkerung gegenüber, die sie nicht für einen Krieg gegen den Westen mobilisieren konnte. Die Arbeiterklasse versperrte ihr den Weg dazu (siehe dazu Weltrevolution Nr. 39).
Gleichzeitig sind aufgrund der Beschleunigung der Krise die nationalistischen Konflikte in dem Vielvölkerstaat SU in einer Reihe von Republiken weiter aufgebrochen, wodurch die Zentralmacht der SU noch weiter bedroht wird. Anstatt sowjetische Truppen für ihre imperialistischen Ziele weiter nach Afghanistan zu schicken, oder sie für die "Verteidigung" ihres Bündnisses in Osteuropa zu belassen, muss sie diese in die verschiedenen brodelnden sowjetischen Republiken schicken, um eine weitere Eskalation der kriegerischen, nationalistischen Auseinandersetzungen zu verhindern zu versuchen.
Am dringendsten werden die sowjetischen Truppen als Gendarmen hinter den eigenen Grenzen gebraucht, und auch in dieser Hinsicht sind sie nur sehr beschränkt einsatzfähig.
Nachdem der Oberaufseher mit seinen Truppen, der bislang eisern regierte, jetzt den Rückzug antreten muss, werden auch im Ostblock all die Gegensätze und Rivalitäten, die z.T. schon vor der Besetzung durch die sowjetischen Truppen vor 1945 vorhanden waren, erneut aufbrechen.
Verhältnisse wie im Libanon, Explosion der nationalistischen Konflikte, Zusammenstöße zwischen rivalisierenden bürgerlichen Cliquen, Pogrome, Zunahme der Spannungen zwischen den einzelnen Ländern (z.B. Ungarn - Rumänien, DDR - Polen), von diesen Zerfallserscheinungen, dem generalisierten Chaos wird diese Gesellschaft auch im Osten voll erfasst werden.
Die Bevölkerung kann weder eine Verbesserung der Lage noch eine Stabilisierung erwarten, sondern Verarmung, Chaos, die Dschungelgesetze der kapitalistischen Welt werden ihr jetzt das Leben zur Hölle machen.
HIN ZUM WELTWEITEN CHAOS
Wenn jetzt die Spitze des zweiten imperialistischen Weltbündnisses, die Supermacht SU selbst zusammenkippt, geht damit unmittelbar die Gefahr eines neuen Weltkrieges zurück. Man braucht halt zwei, um einen Krieg zu machen. Der Westen kassiert jetzt ohne militärische Invasion ab.
Dadurch wird dem westlichen Bündnis der bisherige gemeinsame Feind, gegenüber dem sich alle zu schützen versuchten und auf den alle Waffen gerichtet waren, genommen. Der Daseinsgrund dieses Bündnisses selbst verschwindet.
Denn aufgrund der Mechanismen der kapitalistischen Konkurrenz und des daraus erwachsenden Dranges nach kriegerischen Auseinandersetzungen kann es keinen einzigen Super-Imperialismus geben, d.h. ein Block, der alle anderen Mächte dominiert. Dies war die Auffassung, die seinerzeit von Kautsky vertreten, aber von Lenin schon verworfen wurde.
Das westliche Bündnis selbst wird jetzt die ersten Risse bekommen. Die alten Rivalitäten, die bislang unter der Kontrolle der USA zurückgedrängt wurden, werden jetzt wieder Auftrieb erhalten. Neue Bündnisse werden sich formieren, obwohl wir jetzt erst am Anfang dieses Prozesses stehen.
Die Idee des "gemeinsamen Hauses", von dem Gorbatschow und Kohl so gerne beschwichtigend reden, ist nichts als eine neue Lüge. Wenn ein imperialistischer Block auseinander bricht, verschwinden damit noch nicht die Ursachen für die kriegerischen Konflikte zwischen den nationalen Kapitalien. Im Gegenteil: die Gegensätze zwischen den Ländern, die unerbittlichen Gesetze der Konkurrenz, die Handelskriege werden nur noch an Schärfe zunehmen. Und das bedeutet: die bisherige länderübergreifende Kooperation in so vielen Institutionen (wirtschaftlicher, politischer, militärischer Art) wird erschüttert und, je nach der Entwicklung der Verhältnisse aufgekündigt werden...
Welche Auswirkungen diese Situation auf die Lage der Arbeiterklasse, ihre Bedingungen des Widerstandes gegen dieses generalisierte Chaos hat, haben wir versucht, an anderer Stelle in dieser Nummer der Weltrevolution aufzuzeigen.
Kol. 11.12.89