15. Kongress der IKS: Resolution über die internationale Lage

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Resolution über die internationale Lage

Wir veröffentlichen hier ein Dokument, das am 15. Kongress der IKS angenommen wurde, zur Analyse der internationalen Lage. Dieser Kongress hat im Frühjahr 2003 stattgefunden.

1. Mit der massiven US-Offensive gegen den Irak betreten wir eine neue Stufe auf dem Abstieg des Kapitalismus in die militärische Barbarei, die eine Verschlimmerung aller anderen offenen Feindschaften oder Spannungsherde auf dem Globus in Gang setzt. Abgesehen von den fürchterlichen Verwüstungen, von denen die unglückliche Bevölkerung Iraks erfasst ist, kann dieser Krieg auch anderswo nur das Schüren der imperialistischen Spannungen und des militärischen Chaos bewirken. Die Kriegsvorbereitungen haben bereits den ersten offenen Riss zwischen Amerika auf der einen Seite und der einzigen anderen Macht, die sich als Kandidat für die Führungsrolle in einem neuen antiamerikanischen Block positionieren könnte, Deutschland, auf der anderen Seite verursacht. Die Spaltungen zwischen den Grossmächten in der Irak-Frage haben das Ende der NATO und vielleicht gar der UN eingeläutet, während gleichzeitig offensichtlich wurde, dass Europa, weit davon entfernt, bereits ein Block zu sein, von tiefgehenden Divergenzen in Schlüsselfragen der internationalen Beziehungen zerrissen ist. Sie haben einen anderen Pol in der „Achse des Bösen“, Nordkorea, dazu veranlasst, sein eigenes Spiel in der Krise zu treiben, mit der Gefahr, dass dies mittelfristig das Kriegsszenario auf den Fernen Osten ausweiten wird. Unterdessen spielt auch der dritte Pol der Achse, Iran, die Nuklearkarte. In Afrika wird Frankreichs vorgeblicher Anspruch, eine „pazifistische“ Macht zu sein, durch die wachsende Verwicklung seiner Truppen im blutigen Krieg an der Elfenbeinküste entlarvt. Die Folgen des Irakkrieges werden beileibe kein nahöstliches „Westdeutschland“ bewirken, wie einige leichtsinnige bürgerliche Kommentatoren voraussagten, sondern dienen allein dazu, eine Zone der Instabilität zu schaffen, was zur unmittelbaren Konsequenz die Verschärfung des palästinensisch-israelischen Konflikts und die Provozierung neuer terroristischer Angriffe rund um den Globus hat. Der Krieg gegen den Terrorismus verbreitet Terror auf den ganzen Planeten – nicht nur durch die Massaker, die er gegen seine unmittelbaren Opfer an den Fronten der imperialistischen Rivalitäten verübt, sondern auch in der Gestalt einer wachsenden Besorgnis in weiten Kreisen der Bevölkerung darüber, was die Zukunft für die Gesamtheit der Menschheit noch bereithält.

2. Es ist kein Zufall, dass das Aufschaukeln der imperialistischen Spannungen mit einem erneuten Sturz in die Weltwirtschaftskrise „zusammenfällt“. Dies ist nicht nur vom offenkundigen Zusammenbruch schwächerer (aber ökonomisch immer noch wichtigen) Volkswirtschaften wie die Argentiniens manifestiert worden, sondern auch und vor allem durch die Rückkehr der offenen Rezession in die US-Wirtschaft, deren durch Schulden angetriebenes Wachstum in den 90er Jahren – als Triumph der „neuen Wirtschaft“ dargestellt – die große Hoffnung für das gesamte Weltwirtschaftssystem, insbesondere für die Länder Europas, war. Diese famosen Jahre sind nun, wo die US-Wirtschaft einer deutlich steigenden Arbeitslosigkeit, dem Fall in der Industrieproduktion, dem Rückgang der Konsumausgaben, Börsenschwankungen, Firmenskandalen und Bankrotten und der Rückkehr des defizitären Bundeshaushaltes entgegentreibt, endgültig vorbei.

Um eine Vorstellung vom Ernst der derzeitigen Wirtschaftslage zu erhalten, sei auf den Zustand der britischen Wirtschaft hingewiesen, die unter den europäischen Hauptländern noch als am besten positioniert galt, um die von den USA ausgelösten globalen Stürme abzuwettern. Tatsächlich jedoch wurden, unmittelbar nachdem Schatzkanzler Brown erklärt hatte, dass „Großbritannien besser platziert ist als in der Vergangenheit, um mit dem weltwirtschaftlichen Rückgang fertigzuwerden“, offizielle Zahlen bekanntgegeben, die aufzeigen, dass die britische Produktion – in der Hightech-Branche genauso wie in den traditionellen Industrien – sich auf dem niedrigsten Stand seit der Rezession von 1991 befindet und dass monatlich 10000 Jobs in diesem Bereich verschwinden.

Zusammen mit den Opfern, die die steigende Spirale von Rüstungsausgaben erfordert, hat der Rutsch in die offene Rezession bereits eine ganz neue Runde von Angriffen gegen den Lebensstandard der Arbeiterklasse (Entlassungen, „Modernisierung“, Streichungen von Sozialausgaben, besonders bei den Renten, etc.) eingeleitet.

3. Die Situation, der die Arbeiterklasse gegenübersteht, ist also unerhört ernst. Seit über einem Jahrzehnt hat die Arbeiterklasse den längsten Rückgang ihrer Kämpfe seit dem Ende der konterrevolutionären Periode in den späten 60er Jahren erlebt. Konfrontiert mit dem Doppelschlag des Krieges und der Wirtschaftskrise, hat die Arbeiterklasse beträchtliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung ihrer eigenen Kämpfe, selbst auf der grundlegendsten Ebene der wirtschaftlichen Selbstverteidigung, gehabt. Auf der politischen Ebene waren ihre Schwierigkeiten gar noch ausgeprägter, da ihr allgemeines Bewusstsein für die riesige historische Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, im letzten Jahrzehnt einen Schlag nach dem anderen erlitten hat. Und gerade jene Kräfte, deren erste Aufgabe es ist, die politischen Schwächen im Proletariat zu bekämpfen, die Kräfte des Linkskommunismus, sind in einem desolaten Zustand wie nie zuvor seit dem Wiederauftreten revolutionärer Kräfte Ende der 60er. Der unerhörte Druck einer zerfallenden kapitalistischen Ordnung tendiert dazu, die lang anhaltenden, opportunistischen und sektiererischen Schwächen im politischen Milieu des Proletariats weiter zu verstärken, was in eine ernste theoretische und politische Regression mündete, welche dazu neigt, den Ernst der Lage, der sich das Proletariat und seine revolutionären Minderheiten gegenübersehen, zu unterschätzen und jedes wirkliche Verständnis der Natur und Dynamik der gesamten historischen Epoche zu trüben.

4. Angesichts des Zusammenbruchs des rivalisierenden russischen Blocks Ende der 80er Jahre und der rapiden Auflösung des eigenen westlichen Blocks heckte der US-Imperialismus einen strategischen Plan aus, der im folgenden Jahrzehnt immer offener zu Tage trat. Gestärkt als einzig verbliebene Supermacht, würden die USA alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass keine neue Supermacht – in Wirklichkeit kein neuer imperialistischer Block – entsteht, der ihre „neue Weltordnung“ herausfordern könnte. Die hauptsächlichen Methoden dieser Strategie wurden nachdrücklich durch den ersten Golfkrieg von 1991 demonstriert:

– eine massive Zurschaustellung der militärischen Überlegenheit der USA, die das Regime von Saddam Hussein als Prügelknaben benutzte;

– der Druck auf die anderen Mächte, an der US-Operation teilzunehmen und ihr so einen Hauch von Legitimation zu verschaffen, und die Beschaffung eines beträchtlichen Anteils der enormen Gelder, die für die Operation erforderlich waren, bei Erstgenannten. Besonders Deutschland – der einzig wahre Kandidat für die Führung eines neuen antiamerikanischen Blocks – sollte das meiste bezahlen.

5. Wenn es das vorrangige Ziel des Golfkriegs war, eine wirksame Warnung an all diejenigen zu richten, die die US-Hegemonie herausfordern wollten, so muss er als gescheitert betrachtet werden. Binnen eines Jahres provozierte Deutschland den Krieg auf dem Balkan in der Absicht, seinen Einfluss auf einer strategischen Schlüsselposition Europas und des Nahen Osten auszuweiten, Es dauerte einen Gutteil des Jahrzehnts, ehe die USA, durch den Krieg im Kosovo, ihre Autorität in dieser Region durchsetzen konnte, nachdem nicht nur Deutschland (das Kroatien verdeckt unterstützte), sondern auch Frankreich und ihr angeblich treuer Verbündeter Großbritannien durch die heimliche Unterstützung Serbiens sich als widerspenstig erwiesen hatten. Das Chaos auf dem Balkan war ein deutlicher Ausdruck für die Widersprüche, denen sich die USA gegenübersahen: Je mehr sie danach trachteten, ihre ehemaligen Verbündeten zu disziplinieren, desto mehr Widerstand und Feindseligkeit riefen sie hervor und desto weniger waren sie in der Lage, Letztere für militärische Operationen zu rekrutieren, von denen diese wussten, dass sie letztlich gegen sie selbst gerichtet sind. Daher das Phänomen, dass die USA in wachsendem Maße dazu gezwungen sind, ihre Abenteuer allein zu meistern, und sich immer weniger auf die „legalen“ internationalen Strukturen wie die UN und die NATO verlassen, die immer mehr als Hindernisse für die US-Pläne fungieren.

6. Nach dem 11. September 2001 – höchstwahrscheinlich mit der Komplizenschaft des US-Staates verübt – wechselte die globale Strategie der USA auf eine höhere Ebene. Sofort wurde der „Krieg gegen den Terrorismus“ als permanente und weltweite Militäroffensive angekündigt. Angesichts der wachsenden Herausforderung durch ihre imperialistischen Hauptrivalen (ausgedrückt durch die Streitereien über das Kyoto-Protokoll, die europäische Militärkraft, die Manöver bei der Bildung einer Polizei für den Kosovo, etc.) schlugen die USA eine Politik der massiveren und direkteren Militärinterventionen ein, mit dem strategischen Ziel der Umzingelung Europas und Russlands durch die Erlangung der Kontrolle über Zentralasien und Nahost. Auch im Fernen Osten hat der US-Imperialismus durch die Einbeziehung Nordkoreas in die „Achse des Bösen“ und durch die Erneuerung seiner Interessen im „Kampf gegen den Terrorismus“ in Indonesien nach dem Bombenanschlag auf Bali seine Absicht ausgedrückt, direkt im Hinterhof Chinas und Japans zu intervenieren.

7. Die Ziele dieser Intervention sind keinesfalls auf die Frage des Öls beschränkt, das ausschließlich als eine Quelle des kapitalistischen Profits betrachtet wird. Die Kontrolle über den Nahen Osten und Zentralasien aus geostrategischen Gründen war das Objekt heftiger interimperialistischer Rivalitäten, lange bevor das Erdöl zu einem lebenswichtigen Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft wurde. Und auch wenn es natürlich notwendig ist, die riesigen Ölförderkapazitäten im Nahen Osten und im Kaukasus zu kontrollieren, wird die US-Militäraktion dort nicht auf Veranlassung der Erdölgesellschaften ausgeführt: Den Erdölgesellschaften wird lediglich die Rückerstattung offener Rechnungen gestattet, vorausgesetzt, sie passen in den vorrangigen strategischen Plan, der die Fähigkeit miteinschließt, die Ölversorgung der potenziellen Feinde Amerikas zu unterbrechen und somit jegliche militärische Herausforderung schon im Keim zu ersticken. Besonders Deutschland und Japan sind weitaus abhängiger vom Öl aus dem Nahen Osten als die USA.

8. Das verwegene Projekt der USA, einen stählernen Ring um ihre imperialistischen Hauptrivalen zu errichten, liefert also die wirkliche Erklärung für den Krieg in Afghanistan, für den Anschlag gegen den Irak und für die erklärte Absicht, sich danach mit dem Iran zu befassen. Doch die Erhöhung des Einsatzes durch die USA hat eine gemeinsame Antwort ihrer Hauptherausforderer hervorgerufen. Der Widerstand gegen die US-Pläne wurde von Frankreich angeführt, das damit drohte, von seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch zu machen. Doch noch bedeutsamer ist die offene Herausforderung durch Deutschland, das bis dahin dazu neigte, im Dunklen zu agieren, und dabei Frankreich gestattete, die Rolle des erklärten Widersachers der US-Ambitionen zu spielen. Heute jedoch betrachtet Deutschland das US-Abenteuer im Irak als eine reale Bedrohung seiner Interessen in einem Gebiet, das seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt seiner imperialistischen Ambitionen gestanden hatte. Es hat daher eine weit offenere Herausforderung an die USA gerichtet als jemals zuvor; ferner hat seine resolute „Anti-Kriegs“-Haltung Frankreich den Rücken gestärkt, das bis kurz vor dem Kriegsausbruch noch angedeutet hatte, dass es den Kurs wechseln und an der militärischen Aktion teilnehmen könnte. Mit dem Kriegsausbruch nahmen diese Mächte eine gemäßigte Haltung an, doch historisch war ein echter Meilenstein gesetzt. Diese Krise hat auf das Dahinscheiden nicht nur der NATO (deren Irrelevanz sich an ihrer Unfähigkeit zeigte, kurz vor dem Krieg in der Frage der „Verteidigung“ der Türkei zu einer Übereinkunft zu kommen), sondern auch der UN aufmerksam gemacht. Die amerikanische Bourgeoisie betrachtet diese Institution zunehmend als Mittel ihrer Hauptrivalen und äußert offen, dass sie keine Rolle beim „Wiederaufbau“ des Irak spielen werde. Die Abschaffung solcher Institutionen des „internationalen Rechts“ stellen einen wichtigen Schritt in der Weiterentwicklung des Chaos in den internationalen Beziehungen dar.

9. Der Widerstand gegen die US-Pläne durch ein Bündnis zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und China zeigt, dass angesichts der massiven Überlegenheit der USA ihre Hauptrivalen keine andere Wahl haben, als sich dagegen zusammenzutun. Dies bestätigt, dass die Tendenz zur Bildung eines neuen imperialistischen Blocks ein realer Faktor in der gegenwärtigen Situation bleibt. Doch es wäre ein Fehler, eine Tendenz mit einem Fait accompli zu verwechseln, vor allem weil in der Periode des kapitalistischen Zerfalls die Bewegung zu einer Bildung eines neuen Blocks ständig von den Gegentendenzen aller Länder, ihre eigenen unmittelbaren, nationalen Interessen vor alle anderen zu stellen – die Tendenz des Jeder-für-sich – behindert wird. Die tiefen Zerwürfnisse zwischen den europäischen Ländern in der Frage des Krieges gegen den Irak haben demonstriert, dass „Europa“ weit davon entfernt ist, einen kohärenten Block zu bilden, wie einige Elemente der revolutionären Bewegung geneigt sind zu argumentieren. Abgesehen davon beruhen solche Argumente auf einer Verwechslung von Wirtschaftsallianzen und realen imperialistischen Blöcken, die vor allem militärische Formationen sind, die sich auf einen Weltkrieg orientieren. Und hier kommen zwei weitere wichtige Faktoren ins Spiel: erstens die unbestrittene militärische Dominanz der USA, die es für ihre Rivalen unter den Großmächten noch unmöglich macht, irgendeine kriegsähnliche Herausforderung gegen die USA zu richten; und zweitens der unbesiegte Charakter des Proletariats, was bedeutet, dass es noch nicht möglich ist, die gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen für neue Kriegsblöcke zu schaffen. Daher nimmt der Krieg gegen den Irak, so sehr er die imperialistischen Rivalitäten zwischen den Großmächten ans Tageslicht bringt, dieselbe Grundform an wie alle anderen Hauptkriege in dieser Phase: ein „verdeckter“ Krieg, dessen wirkliches Ziel hinter einem Sündenbock, gebildet von einer dritt- oder viertrangigen Macht, versteckt ist und in dem die Hauptmächte darauf achten, nur Berufsarmeen einzusetzen.

10. Die Krise der US-Führung hat den britischen Imperialismus in eine immer widersprüchlichere Position manövriert. Nach dem Ende der besonderen Beziehungen erfordert es die Verteidigung der britischen Interessen, eine „vermittelnde“ Rolle zwischen Amerika und den europäischen Hauptmächten und unter den letztgenannten Mächten selbst zu spielen. Obzwar als Pudel der USA präsentiert, hat die Blair-Regierung eine bedeutende Rolle bei der Verursachung der gegenwärtigen Krise gespielt, indem sie darauf beharrte, dass Amerika nicht im Alleingang Irak erledigt, sondern den Weg über die UN geht. Großbritannien war auch der Schauplatz eines der größten „Friedens“märsche, wobei große Fraktionen der herrschenden Klasse, nicht nur ihre linksextremistischen Anhängsel, die Demonstrationen organisierten. Die starken „Antikriegs“gefühle von Teilen der britischen Bourgeoisie drücken ein echtes Dilemma der herrschenden Klasse Großbritanniens aus, da das wachsende Schisma zwischen Amerika und den anderen Großmächten ihre „zentristische“ Rolle in steigendem Maße ungemütlich macht. Besonders das britische Argument, dass die UN eine zentrale Rolle bei der Regelung der Post-Saddam-Ära spielen soll und dass dies durch bedeutende Zugeständnisse gegenüber den Palästinensern begleitet werden muss, wird von der USA politisch ignoriert. Obgleich es bis jetzt keine echte Alternative innerhalb der britischen Bourgeoisie gibt, herrscht über die Blair-Linie in den auswärtigen Beziehungen und über seine allzu enge Anbindung an das US-Abenteurertum wachsende Unruhe. Der Morast, der sich jetzt im Irak auftut, kann diese Unruhe nur verstärken.

11. Obwohl die USA fortfahren, all den anderen Hauptmächten ihre erdrückende militärische Überlegenheit zu demonstrieren, neigt der immer offenere Charakter ihrer imperialistischen Ambitionen dazu, ihre politische Autorität zu schwächen. In beiden Weltkriegen und im Konflikt mit dem russischen Block waren die USA in der Lage, sich selbst als der größte Schutzwall der Demokratie und des Existenzrechts der Nationen, als Verteidiger der freien Welt gegen Totalitarismus und militärische Aggressionen zu positionieren. Doch seit dem Zusammenbruch des russischen Blocks sind die USA dazu genötigt worden, selbst die Rolle des Aggressors zu spielen; und während unmittelbar nach dem 11. September die USA noch in gewisser Weise in der Lage waren, ihre Aktionen in Afghanistan als einen Akt der Selbstverteidigung zu präsentieren, ist die Rechtfertigung für den gegenwärtigen Krieg im Irak vollends fadenscheinig geworden, wohingegen ihre Rivalen sich angesichts der Einschüchterungsversuche der USA als die größten Verteidiger der demokratischen Werte profilieren.

Die ersten Wochen der Militärhandlungen haben hauptsächlich dazu gedient, der politischen Autorität der USA weitere Schwierigkeiten zu bereiten. Anfangs als einen Krieg dargestellt, der sowohl schnell als auch sauber sein werde, kommt jetzt zum Vorschein, dass die Kriegspläne, die von der gegenwärtigen Administration entworfen worden waren, ernsthaft das Ausmaß unterschätzten, in dem die Invasion Gefühle der nationalen Verteidigung in der irakischen Bevölkerung provozieren würde. Auch wenn die Allgegenwart von Saddams Sondereinheiten sicherlich eine Rolle dabei spielten, durch ihre gewohnten Methoden des Zwangs und Terrors den Widerstand der regulären Truppen zu stärken, so gab es daneben auch allgemein feindselige Reaktionen gegen die amerikanische Invasion, die dabei keinesfalls von einer großen Begeisterung für das Saddam-Regime begleitet waren. Selbst die schiitischen Organisationen, auf deren „Aufstand“ gegen Saddam man gezählt hatte, haben erklärt, dass es die erste Pflicht eines jeden Irakers sei, sich den Invasoren entgegenzustellen. Die Verlängerung des Krieges kann nur dazu dienen, das Elend der Bevölkerung zu verschlimmern, ob durch Hunger und Durst oder durch die Intensivierung des Bombardements, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dies zu einem Anwachsen der Feindseligkeit der Bevölkerung gegen die USA beitragen wird. Die Belagerung und Einnahme Bagdads schwört ein wahrhaftiges Blutbad herauf.

Die USA haben also große Schwierigkeiten, sich selbst als „Befreier“ des irakischen Volkes darzustellen. Darüber hinaus vertieft der Krieg die Spaltungen in der irakischen Gesellschaft, insbesondere zwischen denjenigen, die sich mit den USA verbündet haben, und denjenigen, die gegen die Invasion gekämpft haben. Diese Spaltungen können nur dazu führen, Unordnung und Instabilität im Post-Saddam-Irak zu schaffen, und den Anspruch der USA untergraben, der Überbringer von Frieden und Wohlstand in der Region zu sein. Im Gegenteil, der Krieg schürt bereits die Spannungen in der gesamten Region, wie der Einfall der Türkei in den Nordirak, die Annahme einer antiamerikanischen Position durch Syrien und das erneute Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan demonstrieren.

Somit kann der gegenwärtige Krieg, weit entfernt davon, die Krise der amerikanischen Führung zu lösen, sie nur auf eine höhere Stufe stellen.

Dekadenz und Zerfall

12. Das Abgleiten in den Militarismus ist ein Ausdruck par excellence für die Sackgasse, in der sich die kapitalistische Produktionsweise befindet – für ihre Dekadenz als Produktionsweise. Wie in den beiden Weltkriegen und im Kalten Krieg zwischen 1945 und 1989 sind die Kriege in der 1989 eingeleiteten Periode die schlagendsten Manifestationen der Tatsache, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einem Hindernis für den menschlichen Fortschritt geworden sind. Nicht nur, dass diese fürchterlichen Zahlen der Zerstörung (und der Produktion der Zerstörungsmittel) eine schwindelerregende Verschwendung der menschlichen Arbeitskraft in einer Periode darstellen, wo die Produktivkräfte objektiv in der Lage sind, den Menschen von allen Formen wirtschaftlicher Mühsal und Armut zu befreien, sie sind darüber hinaus gleichermaßen Produkt und aktiver Faktor in einer Dynamik, die das eigentliche Überleben der Menschheit bedroht. Diese Dynamik hat sich während der Dekadenzperiode weiter beschleunigt: Wir müssen nur das Ausmaß an Tod und Zerstörung vergleichen, das der Erste und der Zweite Weltkrieg bewirkt haben, wie auch die globale Ausweitung dieser Konflikte, um dies zu verstehen. Hinzu kommt, dass, auch wenn der dritte Weltkrieg zwischen dem russischen und dem amerikanischen Block – ein Krieg, der sicherlich zur Auslöschung der Menschheit geführt hätte – nie stattgefunden hat, die Stellvertreterkriege, die sie über vier Jahrzehnte lang miteinander ausgefochten haben, allein genausoviel Tote verursachte haben wie die beiden Weltkriege zusammen. Dies sind nicht nur mathematische oder technische Fakten; sie bezeugen eine qualitative Vertiefung der Tendenz des Kapitalismus zur Selbstzerstörung.

13. Es ist für jeden Beobachter der internationalen Szenerie ersichtlich, dass 1989 den Beginn einer völlig neuen Phase im Leben des Kapitalismus markierte. 1990 versprach Bush senior eine neue Weltordnung des Friedens und Wohlstands. Und für die intellektuellen Apologeten der herrschenden Klasse bedeutete das Ende des „kommunistischen Experiments“ einen neuen Aufschwung des Kapitalismus, der nun endlich ein wahrhaft „globales“ System geworden sei, ausgerüstet mit wundersam neuen Technologien, die aus seinen Wirtschaftskrisen eine Sache der Vergangenheit machen würden. Auch würde der Kapitalismus nicht mehr vom Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat behelligt werden, weil in der „neuen Wirtschaft“ die Arbeiterklasse und ihr Klassenkampf aufhören würden, zu existieren. So unübersehbar war die Morgendämmerung des neuen Zeitalters der Globalisierung, dass selbst ihre am meisten veröffentlichten Opponenten – die globale, antikapitalistische Bewegung – praktisch alle wesentlichen Annahmen ihrer Apologeten teilten. Für den Marxismus jedoch war der Zusammenbruch des stalinistischen Blocks der Kollaps eines Teils eines längst globalen kapitalistischen Systems; und die Periode, die von diesem seismischen Ereignis eingeleitet worden war, stellt kein Aufblühen, keine Verjüngung des Kapitalismus dar, im Gegenteil, sie kann nur als die Endphase der kapitalistischen Dekadenz verstanden werden – als die Phase, die wir als Zerfall bezeichnen, als das „Aufblühen“ aller angehäuften Widersprüche einer längst senilen Gesellschaftsordnung.

14. Die Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise in den späten 60er Jahren hatte bereits das letzte Kapitel im klassischen Zyklus der kapitalistischen Dekadenz – Krise, Krieg, Wiederaufbau, neue Krise – eingeleitet. Von nun an war es dem Kapitalismus eigentlich nicht mehr möglich, einen Wiederaufbau zu betreiben nach einem dritten Weltkrieg, der wahrscheinlich die Auslöschung der Menschheit oder im günstigsten Fall einen Rückfall von unkalkulierbaren Proportionen bedeuten würde. Die historische Wahl, die die Menschheit jetzt hat, lautet nicht mehr nur: Revolution oder Krieg, sondern: Revolution oder die Zerstörung der Menschheit.

15. 1968 war das Jahr der historischen Wiederbelebung des proletarischen Kampfes als Antwort auf das Auftauchen der Krise, was einen Kurs zu massiven Klassenkonfrontationen eröffnete. Ohne dieses wiedererwachte Proletariat zu besiegen, wird die herrschende Klasse nicht fähig sein, die Gesellschaft in den Krieg zu führen, der, selbst wenn er sicherlich die Selbstzerstörung des Kapitalismus bedeuten würde, das „logische“ Ergebnis der fundamentalen Widersprüche des Systems bleibt. Diese neue Periode von Arbeiterkämpfen manifestierte sich in drei internationalen Wellen (68–74, 78–81, 83–89), doch der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 verursachte mit seinen Begleitkampagnen über den Sturz des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes einen erheblichen Bruch mit der gesamten Periode. Die Arbeiterklasse hatte zwar keine vernichtende historische Niederlage erlitten, und die Drohung eines dritten Weltkrieges, die bereits durch die Wiederbelebung des Klassenkampfes in Schach gehalten worden war, wurde durch neue objektive Barrieren gegen die Wiedererschaffung von imperialistischen Blöcken, insbesondere durch die ausgeprägte Tendenz des „Jeder-für-sich“ in der neuen Periode, nun noch weiter nach hinten auf der historischen Tagesordnung gerückt. Dennoch sah sich die Arbeiterklasse, deren Kämpfe in der Periode von 1969–1989 die Bourgeoisie daran gehindert hatten, ihre „Lösung“ der Wirtschaftskrise durchzusetzen, nun immer mehr den Konsequenzen aus ihrem eigenen Scheitern gegenüber, ihre Kämpfe auf eine höhere, politische Stufe zu stellen und der Menschheit eine Alternative anzubieten. Die Zerfallsperiode, das Resultat dieses „Patts“ zwischen den beiden Hauptklassen, bringt der ausgebeuteten Klasse keinerlei positiven Früchte ein. Obwohl die Kampfbereitschaft der Klasse auch in dieser Periode nicht ausgetilgt wurde und ein Prozess der unterirdischen Reifung des Bewusstseins immer noch konstatiert werden konnte, besonders in Gestalt „suchender Elemente“, kleiner politisierter Minderheiten, trat der Klassenkampf überall den Rückzug an und tut dies noch heute. Die Arbeiterklasse sah sich in dieser Periode nicht nur mit ihren eigenen politischen Mängeln konfrontiert, sondern auch mit der Gefahr, ihre Klassenidentität unter dem Gewicht eines sich auflösenden Gesellschaftssystems zu verlieren.

16. Diese Gefahr ist nicht grundsätzlich das Resultat der Reorganisation der Produktion und der Arbeitsteilung nach den Erfordernissen der Wirtschaftskrise (z.B. die Umschichtung vom sekundären auf den tertiären Bereich in vielen entwickelten Ländern, Computerisierung, etc.); sie resultiert auch und zuerst aus den allgegenwärtigen Tendenzen des Zerfalls (die beschleunigte Atomisierung der gesellschaftlichen Beziehungen, Kriminalisierung) und

– noch viel wichtiger – aus dem systematischen Angriff gegen die historische Perspektive des Proletariats, der im Schatten des Zusammenbruchs des „Kommunismus“ von der Bourgeoisie ausgeübt wurde. Der Kapitalismus kann in der Tat nicht ohne eine Arbeiterklasse funktionieren, aber die Arbeiterklasse kann zeitweise jedes Bewusstsein über ihre Existenz als Klasse verlieren. Dieser Prozess wird täglich spontan und objektiv vom Zerfall gefördert, und die herrschende Klasse tut ihr Übriges, bewusst alle Manifestationen des Zerfalls zu benutzen, um die Klasse noch weiter zu atomisieren. Der aktuelle Aufstieg der Rechtsextremen, die aus den Ängsten in der Bevölkerung, von verzweifelten Flüchtlingen aus den von Krieg und Krise am meisten betroffenen Ländern überflutet zu werden, Kapital schlugen, ist ein Beispiel dafür, wie auch das Ausnutzen der Ängste vor dem Terrorismus für die Stärkung des Repressionsarsenals des Staates.

17. Obgleich der Zerfall des Kapitalismus aus dieser historischen „Sackgasse“ zwischen den Klassen resultiert, ist diese Situation beileibe nicht statisch. Die Wirtschaftskrise, die am Anfang sowohl des Kriegskurses als auch der proletarischen Antwort stehen kann, vertieft sich weiter, doch im Gegensatz zur Periode von 1968–89, als das Ergebnis der damaligen Klassenkonfrontationen nur der Weltkrieg oder die Weltrevolution sein konnte, eröffnet die neue Periode eine dritte Alternative: die Zerstörung der Menschheit nicht durch einen apokalyptischen Krieg, sondern durch ein allmähliches Fortschreiten des Zerfalls, der nach einer gewissen Zeit die Fähigkeit des Proletariats untergraben könnte, als eine Klasse zu antworten, und der den Planeten durch eine Spirale von regionalen Kriegen und ökologischen Katastrophen gleichermaßen unbewohnbar machen könnte. Um einen Weltkrieg zu führen, müsste die Bourgeoisie zunächst die Hauptbataillone der Arbeiterklasse offen konfrontieren, besiegen und sie anschließend dazu mobilisieren, mit Begeisterung hinter den Bannern und der Ideologie eines neuen imperialistischen Blocks zu marschieren. In dem neuen Szenario könnte die Arbeiterklasse schleichend und indirekt besiegt werden, wenn es ihr nicht gelingt, auf die Krise des Systems zu antworten, und sie hinnimmt, dass sie immer tiefer in den Pfuhl des Zerfalls gedrängt wird. Kurz: die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten werden mit einer viel gefährlicheren und schwierigeren Perspektive konfrontiert.

18. Die Notwendigkeit für Marxisten zu begreifen, dass es einen grundsätzlichen Wechsel im Szenario für die Menschheit gegeben hat, wird von der wachsenden Bedrohung für die natürliche Umwelt unterstrichen, die von der bloßen Fortsetzung der kapitalistischen Produktion ausgeht. Immer mehr Wissenschaftler schlagen Alarm wegen der Möglichkeiten eines „positiven Feedbacks“ im Prozess der globalen Erwärmung, zum Beispiel im Fall des Amazonas-Gebiets, wo die kombinierten Auswirkungen von Rodungen und anderer Eingriffe genauso wie die steigenden Temperaturen die Zerstörungsrate dramatisch beschleunigen. Wenn die Vernichtung ungebremst weitergeht, würde dies weitere Massen von Kohlendioxyd in die Atmosphäre freigeben, was die globale Temperatur noch weiter ansteigen lassen würde. Hinzu kommt, dass die Intensivierung der ökologischen Gefahren nur massive destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaftsstrukturen, auf die Wirtschaft und auf die interimperialistischen Beziehungen haben kann. In diesem Bereich kann die Arbeiterklasse nur wenig tun, um diesen Abwärtstrend aufzuhalten, bis sie die politische Macht auf Weltebene übernommen hat; und je länger sich die Weltrevolution verzögert, desto größer ist die Gefahr, dass das Proletariat überwältigt und die eigentliche Grundlage des gesellschaftlichen Wiederaufbaus untergraben wird.

19. Trotz der sich anhäufenden Gefahren akzeptiert die Mehrheit der linkskommunistischen Gruppen nicht das Konzept des kapitalistischen Zerfalls, auch wenn sie ihre sichtbaren Manifestationen im wachsenden Chaos auf internationaler und gesellschaftlicher Ebene durchaus sehen. In der Tat hat die neue und beispiellose Periode des Zerfalls, weit davon entfernt, einen klaren Blick auf die Perspektive zu verschaffen, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, für eine große theoretische Verwirrung gesorgt. Die bordigistischen Gruppen haben nie eine feste Theorie der Dekadenz besessen, auch wenn sie den Kurs zum imperialistischen Krieg in dieser Epoche durchaus anerkennen und daher noch immer in der Lage sind, auf internationalistische Weise zu antworten. Auch sind sie nicht in der Lage, das Konzept des historischen Kurses zu übernehmen, das während der 1930er-Jahre von der italienischen Fraktion erarbeitet worden war – der Gedanke, dass der imperialistische Weltkrieg zuvor eine Niederlage und aktive Kriegsmobilisierung des Proletariats erfordert. Ihnen mangelt es also an den beiden fundamentalen theoretischen Stützpfeilern des Konzeptes des Zerfalls. Das IBRP hat, obwohl es den Begriff der Dekadenz akzeptiert, ebenfalls das Konzept der Italienischen Linken über den historischen Kurs abgelehnt. Darüber hinaus zeigen jüngste Verlautbarungen dieser Strömung, dass ihnen ihr Verständnis des Dekadenzkonzeptes abhanden kommt. Eine Polemik gegen die Auffassung der IKS zum Zerfall enthüllt ganz offensichtlich die Inkohärenz der Positionen, die sie nun anzunehmen gedenken:

„Die Tendenz zum Zerfall, die die apokalyptische Sichtweise der IKS überall aufzuspüren vermeint, würde in der Tat beinhalten, dass die kapitalistische Gesellschaft sich am Rande des Abgrunds befindet, wenn dies zuträfe. Jedoch ist dies nicht der Fall, und wenn die IKS die Phänomene der zeitgenössischen Gesellschaft etwas dialektischer untersuchen würde, würde dies offensichtlich werden. Während auf der einen Seite die alten Strukturen kollabieren, entstehen auf der anderen Seite neue. Deutschland zum Beispiel hätte sich nicht wiedervereinigen können ohne den Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik und dem Zusammenbruch des russischen Blocks. Die Länder der Comecon hätten der EU nicht beitreten können ohne die Auflösung der Comecon, etc. Der Prozess des Zusammenbruchs ist gleichzeitig ein Prozess des Wiederaufbaus. Obwohl die IKS anerkennt, dass es eine Tendenz zur Neuzusammensetzung gibt, betrachtet sie diese im Angesicht der vorherrschenden Tendenz zu Zerfall und Chaos als unbedeutend. (...) Der IKS ist es nicht gelungen zu demonstrieren, wie diese Tendenz der kapitalistischen Infrastruktur entspringt. Die Schwierigkeit, mit der sie es zu tun hat, besteht in der Tatsache, dass es die Tendenz zur Neuzusammensetzung ist, die den Kräften der kapitalistischen Infrastruktur entspringt. Insbesondere die fortschreitende Wirtschaftskrise, die aus der verminderten Profitabilität des Kapitals herrührt, zwingt das schwächere Kapital in Handelsblöcke, und somit sind die Handelsblöcke die Auswahl, aus denen die künftigen imperialistischen Blöcke gebildet werden.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 27)

Angesichts dieser Hypothese ist es notwendig, folgende drei Punkte festzuhalten:

– Der Marxismus hat stets darauf beharrt, dass der Beginn der Epoche des Abstiegs des Kapitalismus die historische Alternative zwischen Sozialismus oder Barbarei stellt. Bevor sie Häme über die „apokalyptische Sichtweise“ der IKS ausschütten, sollten sich die Genossen des IBRP fragen, ob sie den Ernst der Weltlage und die zerstörerische Dynamik, der das Kapital aufgrund seiner historischen Sackgasse ausgesetzt ist, nicht unterschätzen.

Es geht nicht darum, den Zeitpunkt des endgültigen Zusammenbruchs zu benennen; die Tendenz zum Zusammenbruch wohnt der gesamten dekadenten Periode seit, als der alte Rahmen des Wirtschaftswachstums zerbrach und der buchstäbliche Zusammenbruch des Systems allein von den entsprechenden Maßnahmen der herrschenden Klasse aufgehalten wurde – durch staatliche Kontrolle der Wirtschaft und die Flucht in den Krieg, der selbst die Gefahr des Zusammenbruchs in einem viel zerstörerischen Ausmaß als durch das einfache Stottern des Wirtschaftsmotors heraufbeschwört. Darüber hinaus bedeutet die Zerfallsphase eine reale Beschleunigung dieses nach unten gerichteten Momentums. Dies wird vielleicht am offensichtlichsten auf der Ebene der interimperialistischen Beziehungen, wo die internationale Konkurrenz am gnadenlosesten und anarchischsten ist. Auf der ökonomischen Ebene hingegen ist die herrschende Klasse besser in der Lage, die Gefahr der entfesselten Konkurrenz zwischen den nationalen Kapitalien abzuschwächen (z.B. erkannte die US-Bourgeoisie die Notwendigkeit, ihren wirtschaftlichen Hauptrivalen, Japan, zu stützen).

– In der Dekadenzperiode gibt es keine „dialektische“ Harmonie zwischen „Neuzusammensetzung“ und Zerfall. Der Zerfall ist die endgültige Phase einer Tendenz zu Chaos und Katastrophe, die bereits vom ersten Kongress der Dritten Internationalen identifiziert worden war. In der dekadenten Epoche wird der Krieg eines Jeden-gegen-jeden – keine Erfindung von Hobbes, ssondern die fundamentale Realität einer Gesellschaft, die auf der allgemeinen Warenwirtschaft beruht – keineswegs durch die Bildung riesiger „staatskapitalistischer Trusts“ und imperialistischer Blöcke ad acta gelegt; wie Bucharin schon 1915 feststellte. Diese Gebilde heben die grundlegende Anarchie des Kapitals vielmehr auf eine noch höhere und noch destruktivere Stufe. Dies ist die Tendenz, die der „kapitalistischen Infrastruktur“ entspringt, wenn diese nicht mehr in Übereinstimmung mit ihren eigenen Gesetzen wachsen kann. Auf der einen Seite gibt es in dieser Epoche keine spontane Tendenz zur Wiederherstellung. Wenn die Genossen damit den Wiederaufbau meinen, dann geschah dies nach der fürchterlichen physischen Vernichtung durch den imperialistischen Krieg und ist zudem für den heutigen Kapitalismus nicht mehr möglich. Auf der anderen Seite: Wenn sie meinen, dass die „Neuzusammensetzung“ eine natürliche und friedliche Evolution des „modernen“ Kapitalismus ausdrückt, würde dies, so scheint es, den Einfluss „autonomistischer“ Theorien aufzeigen, die die katastrophistische Sichtweise ablehnen, die dem Marxismus innewohnt. Auch weist die Teil-Akzeptanz der Ideologie der Globalisierung, der Mikrochip-Revolution, etc. auf eine tatsächliche Konzession gegenüber den aktuellen bürgerlichen Kampagnen über einen neuen Aufstieg des Kapitalismus hin.

– Schließlich: Wenn „Neuzusammensetzung“ bedeutet, dass neue imperialistische Blöcke bereits gebildet sind, so beruht dies auf einer falschen Identifikation von Handelsbündnissen mit imperialistischen Blöcken, die einen fundamental militärischen Charakter haben. Die Irak-Krise hat insbesondere gezeigt, dass „Europa“ heute in seinen Beziehungen zu den USA total gespalten ist. Die Faktoren, die die Bildung neuer Blöcke verhindern, bleiben weiterhin gültig: tiefgehende Spaltungen unter den potenziellen Mitgliedern eines deutschen Blocks; die massive militärische Überlegenheit der USA; der Mangel an einer ideologischen Basis für neue Blöcke, was selbst ein Ausdruck der unbesiegten Natur des Proletariats ist.

Die Irrationalität des Krieges in der Dekadenzperiode

20. Die Zerfallsperiode zeigt deutlicher als alles andere die Irrationalität des Krieges in der Dekadenz auf – die Tendenz seiner zerstörerischen Dynamik, autonom und in wachsendem Maße unvereinbar mit der Logik des Profits zu werden. Dies passt nahtlos zu den Grundbedingungen der Akkumulation in der dekadenten Periode. Die Unfähigkeit des Kapitals, in neue „außerhalb liegende Produktionsgebiete“ zu expandieren, behindert immer mehr die „natürliche“ Funktionsweise der Marktgesetze, die, sich selbst überlassen, in eine katastrophale Wirtschaftsblockade münden würden. Die Kriege der Dekadenz machen, anders als die Kriege in der Aufstiegsperiode, ökonomisch keinen Sinn. Im Gegensatz zur Ansicht, Krieg sei „gut“ für die Gesundheit der Wirtschaft, drückt der Krieg heute ihre unheilbare Erkrankung aus und verschlimmert sie. Darüber hinaus hat sich die Irrationalität des Krieges im Verhältnis zu den eigenen Gesetzen des Kapitals während des Verlaufs der Dekadenzperiode noch vergrößert. So verfolgte der Erste Weltkrieg noch ein klares, sichtbares „ökonomisches“ Ziel – im Wesentlichen der Griff nach den Kolonien der Rivalen. In einem gewissen Sinn war dieses Element auch im II. Weltkrieg präsent, obgleich sich bereits zeigte, dass es keine automatische Verknüpfung zwischen wirtschaftlicher Rivalität und militärischen Konfrontationen gibt: So lag die III. Internationale in den frühen 20er Jahren mit ihrer Ansicht falsch, dass der nächste imperialistische Konflikt zwischen den USA und Großbritannien stattfinden werde.

Was den Eindruck vermittelte, dass der II. Weltkrieg eine rationale Funktion für den Kapitalismus besäße, war die lange Wiederaufbauperiode, die ihm folgte und die viele Revolutionäre zur Schlussfolgerung verleitete, dass das Hauptmotiv des Kapitals für den Krieg darin bestünde, Kapital zuerst zu zerstören und daraufhin wieder aufzubauen. In Wirklichkeit war der Krieg nicht das Ergebnis der erklärten Absicht des Nachkriegswiederaufbaus, sondern wurde dem Kapital durch die unbarmherzige Logik der imperialistischen Konkurrenz aufgezwungen, die aus hauptsächlich strategischen Gründen die totale Vernichtung des Gegners erfordert.

Dies ändert nichts an der Tatsache, dass der Kurs zum Krieg im Wesentlichen ein Resultat der wirtschaftlichen Sackgasse des Kapitalismus ist. Doch die Verknüpfung zwischen Krise und Krieg ist keine mechanische Verbindung. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Kapitalismus zur Zeit des Ersten Weltkrieges waren lediglich in embryonaler Form vorhanden; der Zweite Weltkrieg brach aus, nachdem der erste Schock der Depression gerade verdaut war. Die Verschlimmerung der Wirtschaftskrise schafft zwar die allgemeinen Bedingungen für die Verschärfung der imperialistischen Rivalitäten, doch die Geschichte der Dekadenz zeigt, dass die rein ökonomischen Rivalitäten sich in wachsendem Maße den strategischen Interessen unterordnen mussten. Dies drückt umgekehrt die tiefe Ausweglosigkeit aus, in der sich der Kapitalismus befindet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der globale Konflikt zwischen dem amerikanischen und russischen Block fast ausschließlich von strategischen Gesichtspunkten dominiert, da Russland zu keiner Zeit sich als ernsthafter Wirtschaftsrivale der USA positionieren konnte. Und seitdem ist klar, dass der Weltkrieg nicht die ökonomischen Probleme des Kapitalismus lösen kann, dass er statt dessen zur finalen Selbstzerstörung des gesamten Systems führt.

Ferner demonstriert auch die Art, wie die Periode der Blöcke zu Ende ging, die ruinösen ökonomischen Kosten des Militarismus: Der schwächere russische Block brach zusammen, weil er nicht imstande war, die ökonomischen Kosten für das Wettrüsten zu schultern (und gleichermaßen unfähig war, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, um sich vom strategischen und wirtschaftlichen Würgegriff zu befreien, den der stärkere US-Block angelegt hatte). Und entgegen aller Voraussagen, dass der „Fall des Kommunismus“ den kapitalistischen Unternehmern eine glänzende neue Zukunft verschaffen würde, hat die Wirtschaftskrise seither ihre Verwüstungen fortgesetzt, im Westen genauso wie in den früheren Ostblockländern.

Heute beinhaltet der US-Krieg gegen den Terrorismus auch die Verteidigung der unmittelbaren Wirtschaftsinteressen der USA zuhause und rund um den Globus. Die Kriegslüsternheit der USA wird von der rapiden Erschöpfung der Optionen für ihre Wirtschaft noch weiter angestachelt werden. Doch im Wesentlichen wird sie von den Strategien der USA diktiert, um ihre weltweite Führerschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. Die immensen Kosten, die sich im ersten Golfkrieg 1991, in Serbien 1999, Afghanistan 2001 und im Golfkrieg von 2003 auftürmten, weisen das oberflächliche Argument zurück, dass diese Kriege zu Gunsten der multinationalen Erdölgesellschaften oder in Hinblick auf die saftigen Verträge für den Nachkriegswiederaufbau ausgefochten wurden. Der wahrscheinliche Wiederaufbau im Iraks nach dem Krieg wird zudem von einem ideologischen und politischen Bedürfnis motiviert sein: Er wird eine unerlässliche, aber nicht ausreichende Bedingung für die amerikanische Vorherrschaft in diesem Land sein.

Der Krieg ruiniert das Kapital – er ist sowohl ein Produkt seines Niedergangs als auch treibender Faktor bei dessen Beschleunigung. Die Entwicklung einer blutigen Kriegswirtschaft bietet keine Lösung der Krise des Kapitalismus, wie einige Elemente der italienischen Fraktion in den 30er-Jahren annahmen. Die Kriegswirtschaft existiert nicht für sich selbst, sondern weil der Kapitalismus in der Dekadenz dazu gezwungen ist, einen Krieg nach dem anderen zu führen und zunehmend die gesamte Wirtschaft den Kriegsbedürfnissen unterzuordnen. Dies bewirkt einen gewaltigen Aderlass in der Wirtschaft, da Rüstungsausgaben letztlich unfruchtbar sind. In diesem Sinn gibt uns der Zusammenbruch des russischen Blocks eine Ahnung von der Zukunft des Kapitals, denn die Unfähigkeit des Ostblocks, einem sich beschleunigenden Rüstungswettlauf standzuhalten, war einer der Schlüsselfaktoren für sein Ableben. Und obwohl dies ein vom US-Block bewusst verfolgtes Resultat war, bewegt sich heute die USA selbst auf einen ähnlichen Zustand hin, auch wenn dies in einem langsameren Tempo geschieht. Der gegenwärtige Krieg am Golf und – allgemeiner – der ganze „Krieg gegen den Terrorismus“ ist mit einem starken Anstieg der Rüstungsausgaben verknüpft, um die Wehretats des Rests der Welt in den Schatten zu stellen. Doch der Schaden, den dieses ungesunde Projekt für die US-Wirtschaft bewirken wird, ist unkalkulierbar.

21. Die zutiefst irrationale Natur des Krieges in der dekadenten Periode wird auch durch seine ideologischen Rechtfertigungen demonstriert, eine Realität, die bereits mit dem Aufstieg des Nazismus in der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg enthüllt wurde. So ist in Afrika ein Land nach dem anderen Bürgerkriegen ausgesetzt, in denen marodierende Banden ohne den Anschein eines ideologischen Vorwandes töten und verstümmeln sowie die ohnehin zerbrechliche Infrastruktur ohne jede Aussicht auf eine Nachkriegsrenaissance zerstören. Die Flucht einer wachsenden Zahl von Staaten in den Terrorismus und besonders das Wachstum des islamistische Terrorismus mit seinen Selbstmord- und Todesphantasien sind weitere Ausdrücke einer Gesellschaft in voller Verwesung, gefangen in einer tödlichen Spirale der Zerstörung um ihrer selbst willen. Gemäß den Genossen von CWO, „stellt (al-Qaida) einen Versuch dar, einen unabhängigen nahöstlichen Imperialismus zu installieren, der auf dem Islam und den Grenzen des Ummayal-Reiches im 8. Jahrhundert beruht. Es ist nicht einfach eine Bewegung, die Zerfall und Chaos ausdrückt“. (RP, Nr. 27) Tatsächlich ist ein solch reaktionäres und unrealistisches Ziel nicht rationaler als Bin Ladens zweite heimliche Hoffnung, dass seine Aktionen uns dem Jüngsten Gericht einen Schritt näher bringt. Der Islamismus ist eine reine Kreatur des Zerfalls.

Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Rechtfertigung des Krieges durch die demokratischen Großmächte immer noch allgemein im Gewand des Humanitarismus, der Demokratie und anderen fortschrittlichen und rationaler Ziele. In der Tat herrscht eine große Kluft zwischen den Rechtfertigungen, die die imperialistischen Staaten anbieten, und den wirklich niederträchtigen Motiven und Handlungen, die dahinter stecken. So schimmert die ganze Irrationalität des Vorhabens der USA allmählich durch den ideologischen Nebel hervor: ein neues Imperium, in dem eine einzige Macht unangefochten und für immer herrscht. Die Geschichte, und insbesondere die Geschichte des Kapitalismus, hat bereits die Hohlheit solcher Träume aufgezeigt. Doch dies hat nicht die Entwicklung einer neuen und zutiefst rückwärtsgewandten Ideologie verhindert, um das ganze Projekt zu rechtfertigen: das Konzept eines neuen und humanen Kolonialismus, das von einer Reihe amerikanischer und britischer Ideologen heute ernst genommen wird.

Der Klassenkampf

22. Es ist äußerst wichtig, den Unterschied zwischen dem historischen Gewicht der Klasse und ihrem unmittelbaren Einfluss auf die Situation zu begreifen. Unmittelbar kann die Klasse nicht die gegenwärtigen Kriege verhindern und befindet sich womöglich auf dem Rückzug, aber dies ist nicht dasselbe wie eine historische Niederlage. Die Tatsache, dass die Bourgeoisie nicht fähig ist, die Klasse für den direkten interimperialistischen Konflikt zwischen den Großmächten zu mobilisieren, und ihn statt dessen auf zweit- und drittrangige Staaten „ablenken“ muss, wobei nur Berufssoldaten rekrutiert werden, ist ein Ausdruck für dieses historische Gewicht der Klasse.

Selbst im Zusammenhang mit diesen „abgelenkten“ Kriegen ist die Bourgeoisie, wenn sie die Einsätze, die auf dem Spiel stehen, erhöhen will, dazu gezwungen, Präventivmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse zu ergreifen. Die Organisation der pazifistischen Demonstrationen in einer nie da gewesenen Dimension (sowohl in der Größe dieser Demonstrationen als auch bezüglich ihrer internationalen Koordination) bezeugt die Unruhe der herrschenden Klasse über die sich steigernde Feindseligkeit gegen ihren Kriegskurs sowohl in der Bevölkerung im Allgemeinen als auch in der Arbeiterklasse im Besonderen. Im Moment geht der Hauptstoß der pazifistischen Kampagnen dahin, ihre Klassen übergreifende, demokratische Natur, ihre Appelle an die UN und die pazifistischen Absichten der Rivalen Amerikas hervorzuheben. Doch noch während die Reden vom Podium der Proteste ausgespuckt werden, gibt es bereits einen starken Zug zur ouvrieristischen Demagogie, zum Gerede über die Mobilisierung der Macht der Gewerkschaften, über illegale Streikaktionen, wenn der Krieg ausbricht, und selbst zur Wiederaufwärmung klassischer internationalistischer Parolen wie: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Hinter dieser Rhetorik wird das Wissen der Bourgeoisie darübers deutlich, dass der Kriegskurs die Konfrontation mit dem Widerstand ihres Hauptopfers, die Arbeiterklasse, auf Dauer nicht vermeiden kann, auch wenn die aktuelle Klassenopposition zum Krieg sich auf vereinzelte, isolierte Reaktionen von Arbeitern oder auf die Aktivitäten einer kleinen revolutionären Minderheit beschränkt.

23. All dies ist Beweis genug, dass sich der historische Kurs nicht gewendet hat, auch wenn im Zerfall die Bedingungen, unter denen er sich entfaltet, sich sichtlich geändert haben. Was mit dem Zerfall hinzu gekommen ist, ist die Möglichkeit einer historischen Niederlage nicht durch einen Frontalzusammenstoß zwischen den Hauptklassen, sondern durch ein langsames Dahinsiechen der Fähigkeit des Proletariats, sich selbst als eine Klasse zu konstituieren, was es erschweren würde, den „Point of no Return“ wahrzunehmen, da dieser bereits vor dem definitiven katastrophalen Ende erreicht wäre. Das ist die tödliche Gefahr, vor der die Klasse heut steht. Doch wir sind davon überzeugt, dass dieser Punkt noch nicht erreicht ist und dass das Proletariat seine Fähigkeit beibehalten hat, seine historische Mission wiederzuentdecken. Um das wirkliche Potenzial innerhalb des Proletariats zu berücksichtigen und die Verantwortung anzunehmen, die es den Revolutionären aufzwingt, ist es um so wichtiger, nicht mit einer immediatistischen Analyse der Lage zu beginnen.

24. Ohne einen klaren historischen Rahmen für das Verständnis der aktuellen Lage der Klasse ist es allzu naheliegend, in ein immediatistisches Verhalten zu fallen, das zwischen euphorischer Stimmung und schwärzestem Pessimismus schwanken kann. In der gegenwärtigen Periode wird der Haupttrend im proletarischen Milieu von falschen Hoffnungen über massive Klassenbewegungen getragen: So sah eine Zahl von Gruppen im Aufruhr in Argentinien im Dezember 2002 den Beginn einer Bewegung zur proletarischen Erhebung, obwohl die Bewegung sich nicht auf das fundamentale Klassenterrain stellte. Auch der Streik der Feuerwehrleuten in Großbritannien wurde als Brennpunkt des massiven Klassenwiderstandes gegen den Kriegskurs interpretiert. Oder es gab, bei Abwesenheit offener gesellschaftlicher Bewegungen, eine Neigung, den großen Haufen der gewerkschaftlichen Organismen als Basis für die Vorbereitung auf die künftige Wiederbelebung des Klassenkampfes zu betrachten.

25. Im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen historischen Kurs bleibt die Perspektive des Klassenkampfes die Wiederbelebung der Massenkämpfe als Antwort auf die sich vertiefende Krise. Diese Kämpfe werden der Dynamik des Massenstreiks folgen, die typisch ist für die wirkliche Klassenbewegung in der Epoche der Dekadenz: Sie werden nicht im Voraus von einem bereits bestehenden Organ organisiert. Nur durch die Tendenz zu Massenkämpfen wird die Klasse ihre Klassenidentität wiedererlangen, die eine unerlässliche Vorbedingung für die eigentliche Politisierung des Kampfes ist. Doch wir sollten in Erinnerung behalten, dass solchen Bewegungen unvermeidlich eine Reihe von Geplänkeln vorausgehen wird, die unter gewerkschaftlicher Kontrolle bleiben, und selbst wenn sie einen massiveren Charakter annehmen, werden sie nicht geradwegs, in „reiner Form“ auftreten, d.h. offen außerhalb und gegen die Gewerkschaften sowie von unabhängigen Versammlungen und Streikkomitees organisiert und zentralisiert. In der Tat wird es für die revolutionären Minderheiten und fortschrittlichen Arbeitergruppen wichtiger denn je sein, die Perspektive der Bildung solcher Organismen innerhalb der kommenden Bewegungen zu verteidigen.

26. Es gab während der 90er Jahre viele solcher Geplänkel, und sie drückten die Gegentendenz zum allgegenwärtigen Rückzug aus. Doch ihr Mangel an jeglicher politischen Dimension wurde von der Bourgeoisie benutzt, um die Unordnung in der Klasse zu steigern. Ein besonders wichtiger Trumpf in den 90ern bestand darin, linke Regierungen zu installieren, die in der Lage waren, dem Arsenal der Bourgeoisie an demokratischer und reformistischer Ideologie einen starken Schub zu geben. In Einklang damit haben die Gewerkschaften eine Reihe von Präventivaktionen organisiert, um die wachsende Unzufriedenheit in der Klasse zu kanalisieren. Am spektakulärsten waren die Streiks in Frankreich im Dezember 1995, welche zum Schein über die Gewerkschaften hinausgingen und sich an der Basis vereinigten, um so zu verhindern, dass dies tatsächlich passiert. Seitdem wurden die Gewerkschaftskampagnen entsprechend der Desorientierung in der Klasse leiser; dennoch kann heute eine Rückkehr zu konfrontativeren Antworten am Beispiel der ausgerufenen oder angedrohten Streiks im öffentlichen Sektor Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens, Deutschlands und anderswo festgestellt werden.

27. Der Marxismus hat stets darauf bestanden, dass es nicht ausreichend ist, den Klassenkampf nur aus dem Blickwinkel des Proletariats zu betrachten, da auch die Bourgeoisie einen Klassenkampf gegen das Proletariat und gegen dessen Bewusstwerdung führt. Es war immer ein Schlüsselelement in der Handlungsweise des Marxismus gewesen, die Strategien und Taktiken zu untersuchen, die von der herrschenden Klasse benutzt werden, um ihrem Todfeind zuvorzukommen. Ein wichtiger Teil dessen ist die Analyse, welches Regierungsteam in welchem Moment der Entwicklung des Klassenkampfes und der allgemeinen Gesellschaftskrise von der Bourgeoisie bevorzugt zusammengesetzt wird.

28. Wie die IKS bereits in ihren ersten Tagen bemerkt hat, bestand die anfängliche Antwort der herrschenden Klasse auf die historische Wiederauferstehung des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre darin, linke Mannschaften ans Ruder zu setzen und Arbeiterkämpfe abzulenken, indem linke Regierungen der Bewegung als falsche Perspektive angedient wurden. Wir sahen dann, Ende der 70er Jahre, als Antwort auf die zweite internationale Welle von Kämpfen die Annahme einer neuen Strategie, mit der die Rechte wieder an die Regierung gehievt und die Linke in die Opposition entlassen wurde, um den Arbeiterwiderstand von innen zu sabotieren. Zwar fanden sie nie auf sämtliche Länder automatisch Anwendung, doch zumindest in den wichtigsten kapitalistischen Ländern konnten solche Strategien festgestellt werden.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gab es jedoch, entsprechend dem Rückgang im Bewusstsein der Arbeiterklasse, keine Notwendigkeit mehr, diese Rollenverteilung weiter aufrechtzuerhalten, und in einer Reihe von Ländern wurden mit Blick sowohl auf das Management der Wirtschaftskrise als auch auf das Bedürfnis, die gegenwärtige Flucht des Kapitalismus in den Militarismus als eine neue Form des Humanitarismus darzustellen, Mitte-Links-Regierungen vom Typ des Blair-Regimes in Großbritannien als best geeignete Regierungsteams bevorzugt.

Der aktuelle Aufstieg der rechten Parteien in Regierungsämter bedeutet dagegen nicht, dass die herrschende Klasse zur konzertierten Strategie der Linken in die Opposition zurückkehrt. Das Zustandekommen rechter Regierungen in einer Reihe von zentralen kapitalistischen Ländern ist vielmehr der Ausdruck des Mangels an Kohärenz innerhalb der nationalen Bourgeoisien und zwischen ihnen, was eine der Folgen des Zerfalls ist. Ein grosser Fortschritt im Klassenkampf wäre erforderlich, damit die Bourgeoisie ihre Spaltung überwinden und eine einheitlichere Antwort erteilen würde: zur Strategie der Linken in der Opposition zurückkehren, um einer ernsthaften Wiederbelebungder Klassenbewegung entgegen zu treten, und als letzte Karte die Installierung einer „Linksextremen“ an der Macht im Falle einer direkten revolutionären Bedrohung durch die Arbeiterklasse.

29. Auch wenn die Hauptstoßrichtung der Arbeiterkämpfe sich nicht direkt gegen den Krieg entwickeln wird, sollten die Revolutionäre die Augen offen halten gegenüber den Klassenreaktionen, die da kommen werden. Sie sollten dabei im Kopf behalten, dass die Kriegsfrage immer mehr zu einem Faktor in der Weiterentwicklung eines politischen Bewusstseins darüber werden wird, was im Klassenkampf auf dem Spiel steht, besonders da die Aufblähung der Kriegswirtschaft in wachsendem Maß die Notwendigkeit von Einschnitten im Lebensstandard der Arbeiterklasse mit sich bringen wird. Die immer engere Verknüpfung zwischen der Krise und dem Krieg wird sich zunächst in der Formierung von Minderheiten ausdrücken, deren Ziel es ist, eine internationalistische Antwort gegen den Krieg zu richten, aber sie wird ebenfalls dazu tendieren, die allgemeinere Bewegung zu durchdringen, sobald die Klasse ihr Vertrauen wiederentdeckt hat und die Kriege der herrschenden Klasse nicht mehr als Beweis ihrer eigenen Machtlosigkeit ansieht.

30. Die neue Generation von „suchenden Elementen“, eine Minderheit, die sich hin zu Klassenpositionen bewegt, wird in den künftigen Arbeiterkämpfen eine Rolle von unerhörter Bedeutung haben, die viel schneller und tiefer als die Kämpfe von 68–89 mit ihren politischen Auswirkungen konfrontiert werden. Diese Elemente, die bereits eine langsame, aber bedeutsame Entwicklung des Bewusstseins in der Tiefe ausdrücken, werden dazu aufgerufen sein, der massiven Ausbreitung des Bewusstseins in der gesamten Klasse Beistand zu leisten. Dieser Prozess erreicht seinen höchsten Punkt mit der Bildung der kommunistischen Weltpartei. Doch diese kann nur Wirklichkeit werden, falls die existierenden linkskommunistischen Gruppen ihrer historischen Verantwortung gerecht werden. Besonders heute bedeutet dies, den Gefahren ins Auge zu schauen, die vor ihnen liegen. So wie die Abdankung der Arbeiterklasse gegenüber der Logik des Zerfalls sie der Fähigkeit beraubt, für eine Antwort auf die Krise zu sorgen, der sich die Menschheit gegenüber sieht, so riskiert die revolutionäre Minderheit ihre Zerstörung und Einebnung durch die verkommende Umwelt, von welcher sie umgeben ist und die ihre Reihen in Gestalt des Parasitismus, Opportunismus, Sektierertums und der theoretischen Konfusion penetriert. Die Revolutionäre können heute in die intakten Kapazitäten ihrer Klasse und mit demselben Recht in die Fähigkeit des revolutionären Milieus vertrauen, auf die Erfordernisse zu antworten, die die Geschichte auf ihre Schultern geladen hat. Sie wissen, dass sie ihre Arbeit langfristig sehen und alle immediatistischen Fallstricke vermeiden müssen. Doch gleichzeitig müssen sie begreifen, dass wir nicht alle Zeit der Welt haben und dass ernste Fehler, die heute begangen werden, morgen Hindernisse auf dem Weg zur Formierung der Klassenpartei bilden.

IKS

Fußnoten:

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

Theoretische Fragen: 

Erbe der kommunistischen Linke: