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Welche Zukunft für die Menschheit? Imperialistischer Krieg oder Klassensolidarität?
1867 stellte Marx im Vorwort der ersten Ausgabe des berühmten „Kapital“ fest, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Grossbritannien, der fortgeschrittensten Industrienation, das Vorbild für die Entwicklung des Kapitalismus in allen anderen Ländern darstellte. Grossbritannien war das „führende Land“ bezüglich der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Ab dieser Zeit beherrschte das aufstrebende kapitalistische System zunehmend die ganze Welt. Hundert Jahre später, 1967, befand sich Grossbritannien erneut in einer bedeutenden symbolischen und wegweisenden Situation, und zwar mit der Entwertung des Sterlings – doch diesmal während des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise und angesichts ihres zunehmenden Scheiterns. Die Ereignisse vom Sommer 2005 in London haben gezeigt, dass Grossbritannien erneut ein Indikator für die Lage des Weltkapitalismus darstellt. Dieser Sommer in London war einerseits geprägt von den imperialistischen Spannungen, konkret einem tödlichen Konflikt zwischen den verschiedenen Nationalstaaten, und andererseits vom internationalen Klassenkampf, konkret vom Konflikt zwischen den zwei entscheidenden Klassen der Gesellschaft: der Bourgeoisie und dem Proletariat.
Die Anschläge vom 7. Juli in London wurden von Al Kaida als Rache für die Beteiligung britischer Truppen an der Besetzung des Iraks in Anspruch genommen. An diesem Dienstagmorgen, als die Explosionen zu einer Stosszeit des öffentlichen Verkehrs erfolgten, erinnerte dies die Arbeiterklasse erneut brutal daran, dass sie diejenige ist, welche im Kapitalismus den Kopf hinhalten muss. Nicht nur durch Lohnarbeit und die sich ausbreitende Armut, sondern auch mit ihrem Fleisch und Blut. Die vier Bomben in der Londoner U-Bahn und in einem Bus haben 52[1] Arbeiter, meist junge, getötet und Dutzende verstümmelt und traumatisiert. Doch diese Attentate haben eine viel weiterreichende Auswirkung gehabt. Sie vermittelten Millionen von Arbeitern die Botschaft, dass ihre nächste Fahrt zur Arbeit, oder diejenige ihrer Freunde und Angehörigen, möglicherweise die letzte in ihren Leben ist. All die Sympathieparolen der Regierung Blair, des Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone (Repräsentant des linken Flügels der Labour Party), der Medien und Chefetagen waren kaum zu übertreffen. Doch mit den Schlagworten „Wir beugen uns nicht vor den Terroristen“ und „London bleibt einig“ versuchte die herrschende Klasse lediglich zu vermitteln, dass das Business weiterlaufen solle, als wäre nichts gewesen. Die Arbeiter müssten eben das Risiko weiterer Explosionen in den Verkehrsmitteln in Kauf nehmen, wenn sie weiterhin von ihrem „bisherigen Lebensstandard“ profitieren wollen.
Der Imperialismus erschüttert das Herz des Kapitalismus
Diese Anschläge waren die blutigsten gegen die Zivilbevölkerung Londons seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich mit der imperialistischen Schlächterei von 1939–45 ist mehr als gerechtfertigt. Die Anschläge von London, welche auf den 11. September in New York und den März 2004 in Madrid folgten, zeigen, dass der Imperialismus „zurückschlägt“, und zwar in seine wichtigsten Metropolen.
Es dauerte jedoch nicht wirklich 60 Jahre, bis erneut militärische Anschläge gegen die Bewohner Londons erfolgten. Die Stadt war ab 1972 während beinahe 20 Jahren Ziel von Bomben der „Provisionals“ der IRA.[2] Die Bevölkerung hatte damit schon einen Vorgeschmack des imperialistischen Terrors erhalten. Doch die Grausamkeiten vom 7. Juli 2005 sind keine simple Wiederholung dieser Erfahrungen: Sie wiederspiegeln eine verschärfte Bedrohung und sind Ausdruck der aktuellen, mörderischen Phase des imperialistischen Krieges.
Selbstverständlich waren die terroristischen Attentate der IRA ein Vorläufer der Barbarei der Anschläge von Al Kaida. Sie waren schon ein Zeichen für die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkende Tendenz, den Terror gegen die Zivilbevölkerung immer mehr zur bevorzugten Methode des imperialistischen Krieges werden zu lassen.
Dennoch, während der meisten Zeit der IRA-Attentate war die Welt noch in zwei imperialistische Blöcke unter der jeweiligen Kontrolle der USA und Russlands aufgeteilt. Diese Blöcke steuerten mehrheitlich die zweitrangigen, isolierten imperialistischen Konflikte zwischen einzelnen Staaten im selben Lager, wie denjenigen zwischen Irland und Grossbritannien im amerikanischen Block. Der amerikanische Block konnte und durfte nicht zulassen, dass ein solcher Konflikt ein Ausmass annahm, welches die militärische Hauptfront gegenüber dem Rivalen Russland und seinen Satelliten schwächen würde. In Wahrheit waren (und blieben) die Kampagnen der IRA mit dem Ziel, Grossbritannien aus Nordirland zu verjagen, von der finanziellen Unterstützung der USA an die IRA abhängig. Die terroristischen Anschläge der IRA in London stellten zur damaligen Zeit in den Metropolen der hochentwickelten Länder eine Ausnahme dar. Hauptbühne der imperialistischen Auseinandersetzung zwischen den zwei Blöcken durch ihre stellvertretenden Nationen war vielmehr die Peripherie: Vietnam, Afghanistan, Naher Osten.
Die Opfer der IRA waren ebenfalls wehrlose Zivilisten, doch folgten die Ziele dieser Bomben – ausserhalb Irlands – im Allgemeinen einer eher klassischen imperialistischen Logik. Es waren militärische Anlagen wie die Chelsea Barracks 1981 oder der Hyde Park 1982,[3] welche ausgewählt wurden, oder Symbole der wirtschaftlichen Macht wie Bishopsgates in der Londoner City[4] und Canary Wharf 1996.[5] Im Gegensatz dazu sind die Anschläge der Al Kaida auf öffentliche Transportmittel symptomatisch für eine gefährlichere imperialistische Situation auf Weltebene und typisch für die neue internationale Tendenz. Diese ist ein Resultat der Situation, dass es keine imperialistischen Blöcke mehr gibt, welche eine gewisse Ordnung über den kapitalistischen Militarismus bewahren. „Jeder für sich“ ist das Leitmotiv des Imperialismus geworden, gewalttätig und unerbittlich angeführt von den USA in ihrem Bestreben, die Kontrolle über den Globus aufrecht zu erhalten. Die selbstherrliche Strategie Washingtons, vor allem bei der Invasion und Besetzung des Iraks, hat dieses militärische Chaos lediglich zugespitzt. Der ansteigende weltweite Einfluss von Al Kaida und anderen Kriegsherren des Imperialismus im Nahen Osten ist das Produkt dieser alltäglich gewordenen imperialistischen Querelen, über welche die führenden Staaten die Kontrolle verlieren, weil sie alle gegeneinander arbeiten. Die Grossmächte, inklusive Grossbritannien, haben selber aktiv an der Entfaltung des Terrorismus mitgewirkt, in dem sie ihn selber benutzten und manipulierten, um Profit daraus zu schlagen.
Der britische Imperialismus war gezwungen, sich an der amerikanischen Invasion im Irak zu beteiligen. Er erhoffte sich, seine eigenen Interessen in der Region verteidigen und sein Ansehen als gewichtige militärische Macht aufrechterhalten zu können. Indem zur Rechtfertigung einer Beteiligung an der amerikanischen „Koalition“ mit dem berühmten Dossier über die angeblichen Massenvernichtungswaffen der Weg geebnet wurde, spielte der britische Imperialismus seine eigene Rolle, um den Irak in das blutige Chaos zu stürzen. Der britische Staat hat auch die terroristische Kampagne der Al Kaida gegen den westlichen Imperialismus genährt. Sicherlich hat dieser terroristische Feldzug schon vor der Invasion des Irak begonnen, und es sind die Grossmächte, welche ihn zum Leben erweckt hatten. Konkret hat Grossbritannien, genau wie die USA, in den 80er Jahren die Guerilla von Bin Laden geschult und bewaffnet, um die russische Besatzung Afghanistans zu bekämpfen.
Nach dem 7. Juli haben die wichtigsten „Verbündeten“ Grossbritanniens (in Wirklichkeit seine Rivalen) sich nicht gescheut, die Kapitale des Landes als „Londonistan“ zu bezeichnen – ein Refugium für verschiedene radikale islamistische Gruppen, die in Verbindung mit den Terrororganisationen des Nahen Ostens stünden. Der britische Staat hatte sie auf seinem Boden toleriert und gewisse Figuren beschützt in der Hoffnung, sie im Nahen Osten für seine eigenen Zwecke gegen die anderen „verbündeten“ Grossmächte einsetzen zu können. So hat Grossbritannien zum Beispiel 10 Jahre lang den Antrag Frankreichs auf Auslieferung Rachid Ramdas abgeschlagen, der im Zusammenhang mit den Bombenanschlägen auf die Pariser Metro verdächtigt wird! Die Zentralbehörde des französischen Nachrichtendienstes (laut International Herald Tribune vom 9.8.2005) unterliess es im Gegenzug, ihren britischen Kollegen den Rapport ihres Geheimdienstes vom Juni zukommen zu lassen, in dem über ein geplantes Bombenattentat pakistanischer Al-Kaida-Sympathisanten in London berichtet wurde.
Die imperialistische Politik Grossbritanniens hat mit ihren „Prinzipien“ – „Lasst sie auf die Anderen los, bevor sie uns an den Kragen gehen“ – lediglich die terroristischen Attentate auf eigenem Boden geschürt.
In der gegenwärtigen Phase ist der Terrorismus keine Ausnahme mehr im Krieg zwischen Staaten, sondern zur bevorzugten Methode geworden. Die Ausbreitung des Terrorismus geht grösstenteils einher mit dem Verschwinden stabiler Bündnisse zwischen den imperialistischen Mächten und ist charakteristisch für eine Zeit, in welcher jeder Staat versucht, den Einfluss der anderen zu untergraben und zu sabotieren.
In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Geheimdienstaktionen und des psychologischen Krieges durch die mächtigsten imperialistischen Staaten nicht zu unterschätzen, wenn es darum geht, die Rivalen eines bestimmten Staates vor dessen Bevölkerung zu diskreditieren und damit die militärischen Operationen vorzubereiten. Auch wenn keine offiziellen Beweise vorliegen – die wohl auch kaum jemals auftauchen werden – gibt es starke Vermutungen, dass das Attentat auf die Twin Towers und dasjenige gegen die Wohnblöcke in Moskau, die beide jeweils für die USA und Russland die Türe für ein militärisches Abenteuer geöffnet haben, unter Mitwirkung der eigenen Geheimdienste zustande kamen. Auch der britische Imperialismus ist keineswegs ein Unschuldslamm. Sein verdecktes Engagement auf beiden Seiten des terroristischen Konfliktes in Nordirland ist wohlbekannt, so auch die Präsenz seiner Agenten innerhalb der „Real IRA“, der Organisation, die sich zum Attentat von Omagh bekannte.[6] Kürzlich, im September 2005, wurden zwei Mitglieder der SAS (der britischen Sondereinheiten) in Basra von der irakischen Polizei festgenommen, weil sie, laut einigen Journalisten, ein terroristisches Attentat ausführen wollten.[7] Diese Geheimagenten wurden später durch einen Überfall britischer Truppen auf das Gefängnis, in dem sie inhaftiert waren, befreit. Betrachtet man solche Ereignisse, so liegt der Gedanke auf der Hand, dass der britische Imperialismus selber in die tagtägliche Schlächterei im Irak involviert ist: mit der Absicht, seine eigene „stabilisierende“ Präsenz als Besatzungsmacht zu rechtfertigen. Es ist der britische Imperialismus selber, welcher als erster unter den alten Kolonialmächten das Prinzip des „Teile und Herrsche“ einführte, das man im Irak erneut hinter seiner Taktik des Terrors erkennen kann.
Die sich zuspitzende Tendenz zum Einsatz des Terrorismus innerhalb imperialistischer Konflikte trägt alle Zeichen der letzten Phase des niedergehenden Kapitalismus, der Phase des sozialen Zerfalls und der mangelnden langfristigen Perspektive.
Bezeichnend für diese Situation ist, dass die Attentate vom 7. Juli von Kamikazes britischer Herkunft ausgeführt wurden, die in Grossbritannien geboren und aufgewachsen waren. Diese Attentate offenbaren eine selbstzerstörerische Irrationalität, die zunehmend auch im „Herzen“ des Kapitalismus vor allem unter jungen Leuten ihre Früchte treibt. Ob der britische Staat selbst auch in die Attentate verwickelt war, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gesagt werden.
Die willkürliche Grausamkeit des imperialistischen Krieges schlägt somit zurück in die kapitalistischen Kernländer, in Sektoren mit der höchsten Konzentration der Arbeiterklasse. New York, Washington, Madrid, London: Zielscheiben sind nicht mehr ausschliesslich Drittweltländer, sondern zunehmend Industriemetropolen. Und die Ziele sind nicht mehr ausdrücklich wirtschaftlicher oder militärischer Natur. Vielmehr geht es um die grösstmögliche Zahl an Zivilopfern.
Schon in den 90er Jahren zeigte sich in Ex-Jugoslawien dieser tendenzielle Rückschlag des imperialistischen Krieges in die kapitalistischen Kernländer. Dann traf es Spanien und jetzt Grossbritannien.
Der Terror des bürgerlichen Staates
Im Juli 2005 wurde die Londoner Bevölkerung von der tödlichen Bedrohung durch terroristische Attentate getroffen. Dabei ist es aber nicht geblieben. Am 22. Juli wurde an der U-Bahnstation Stockwell ein junger brasilianischer Elektriker, Jean Charles de Menezes, auf dem Weg zu seiner Arbeit von der britischen Polizei mit acht Schüssen hingerichtet. Nach offizieller Erklärung hatte ihn die Polizei für einen Selbstmordattentäter gehalten. All dies geschah in einem Land, indem die Polizei ihr integres Bild von Scottland Yard als Garanten für die demokratische Gemeinschaft, für den Frieden und als Hüter der Bürgerrechte pflegt. Dazu passte der nette „Bobby“ von nebenan, der alten Damen über die Strasse hilft. Aber in Wirklichkeit – und dies wurde durch diese jüngsten Ereignisse offensichtlich – unterscheidet sich die britische Polizei nicht grundsätzlich von derjenigen irgendwelcher Diktaturen der so genannten Dritten Welt, wo „Todesschwadronen“ ohne Umschweife für Staatsinteressen eingesetzt werden. In offiziellen Erklärungen wurde die Ermordung von Jean Charles als tragischer Irrtum bezeichnet. Tatsächlich aber erhielten die bewaffneten Einheiten der U-Bahnpolizei seit dem 7. Juli die Anweisung, auf jeden Kamikazeverdächtigen zu „schiessen um zu töten“. Und sogar nach der Ermordung von Jean Charles wurde diese Politik weiterhin energisch verteidigt. Da es aber nahezu unmöglich ist, einen Kamikaze vor der Sprengstoffzündung zu identifizieren oder sich ihm anzunähern, ist die Polizei durch eine derartige Anweisung ermächtigt, auf irgendwelche Personen zu schiessen, und zwar eigentlich ohne Warnung. Unbestreitbar erlaubten die höchsten Etagen der britischen Polizei solche „tragischen Fehler“, in ihrem Verständnis unvermeidbare Nebenwirkungen auf dem Weg zu einer stärkeren Staatsmacht.
Die Ermordung von Jean Charles ist daher kaum als tragischer Unfall zu verstehen. Sie muss im Zusammenhang mit der Funktion des Staates und seiner Repressionsorgane betrachtet werden: Diese Funktion besteht nicht wie vorgegeben im Schutz der Bevölkerung, und der Staat steht auch nicht vor der angeblich schwierigen Wahl zwischen der Verteidigung seiner Bürger und dem Schutz seiner Rechte. In Wahrheit ist die Hauptfunktion des Staates eine andere: die Verteidigung der herrschenden Ordnung für die Interessen der Herrschenden. Das heisst vor allem, dass der Staat sein Monopol der bewaffneten Macht erhalten und zum Ausdruck bringen will. Besonders wichtig ist dies in Kriegszeiten aufgrund der Notwendigkeit, die Staatsmacht zur Schau zu stellen und Repressionsakte durchzuführen. Die Antwort des britischen Staates auf Attentate wie jene vom 7. Juli ist daher vor allem eine Machtdemonstration. Die angebliche Aufgabe, die Verteidigung der Bevölkerung, ist sowieso nur für eine kleine Minderheit hoher Funktionäre realisierbar. Die Demonstration des staatlichen Gewaltmonopols ist ein absolutes Muss, soll die Unterwerfung der eigenen Bevölkerung gesichert und den anderen Staaten Respekt eingeflösst werden. Unter solchen Umständen ist die Verhaftung der wirklichen Täter und Kriminellen nebensächlich oder hat sogar mit dem Hauptanliegen des Staates nichts zu tun.
An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Attentaten der IRA 1974 hilfreich. Infolge dieser Attentate gegen Pubs in Birmingham und Guildford[8] hatte die Polizei zehn verdächtige Iren festgenommen. Die Verhafteten wurden zu falschen Geständnissen gezwungen, willkürliches Material wurde in Beweisstücke gegen sie verwandelt und schliesslich wurden sie zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Erst fünfzehn Jahre später gestand die Regierung einen „tragischen Justizirrtum“ ein. Solche Beispiele lassen darauf schliessen, dass diese Massnahmen doch eher Repressalien gegen die „fremde“ und „feindliche“ Bevölkerung sind.
Der 22. Juli hat gezeigt, welche Realität sich hinter der demokratischen und humanitären Fassade des Staates verbirgt – einer Fassade, die in Grossbritannien sehr gut bestückt ist. In seiner Hauptrolle als Zwangsapparat kann der Staat nicht für die Mehrheit der Bevölkerung oder an ihrer Stelle handeln, sondern nur gegen sie.
Das eben Gesagte findet seine Bestätigung in einer ganzen Reihe „antiterroristischer“ Massnahmen, welche von der Regierung Blair im Zuge der Attentatsserie beantragt wurden. Derartige Massnahmen sind gegenüber dem islamischen Terrorismus chancenlos, sie dienen einzig der verschärften Staatskontrolle über die Bevölkerung als Ganzes: die Einführung der Identitätskarte; eine zeitlich unbegrenzte Politik des „Schiessens um zu töten“; Kontrollweisungen, die zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung führen; die offizielle Anerkennung der Überwachung von Telefongesprächen und Internet; eine dreimonatige Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklage; Spezialgerichte, wo Zeugenaussagen hinter verschlossenen Türen und ohne Geschworene erzwungen werden.
Die terroristischen Attentate vom letzten Sommer wurden also vom britischen Staat als Vorwand benutzt, um – wie schon oftmals zuvor – seinen Repressionsapparat zu verstärken. Dieser Ausbau dient der Vorbereitung eines viel allgemeineren und wichtigeren Angriffs gegen einen viel gefährlicheren Staatsfeind: das wieder erstarkende Proletariat.
Die Antwort der Arbeiter
Anders als am 7. Juli blieben am 21. Juli offiziell nur die U-Bahnlinien Victoria und Metropolitan geschlossen. Tatsächlich aber waren wegen Arbeiterprotesten auch die Linien Bakerloo und Northern geschlossen. Die Fahrer hatten sich wegen der unsicheren Lage und mangelnden Sicherheitsgarantien geweigert, ihre Arbeit fortzusetzen. Dieser Protest war immerhin ein punktueller Ausdruck einer längerfristige Perspektive zur Lösung dieser unerträglichen Situation: Die Arbeiter müssen ihre Sache in die eigenen Hände nehmen. Aber die Gewerkschaften reagierten auf dieses Aufflammen der Klasseneigenständigkeit ebenso schnell wie die Notdienste auf die Attentate. Unter gewerkschaftlicher Führung mussten die Fahrer ihre Arbeit wieder aufnehmen, bis dass die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Leitung zu einer Vereinbarung kommen würden. Die Gewerkschaftsseite versicherte zwar, dass jeder Fahrer in seiner Arbeitsverweigerung unterstützt würde – das hiess jedoch nichts anderes, als dass er seinem eigenen Schicksal überlassen wurde.
In den ersten Augustwochen nahm der Widerstand der Arbeiter grössere Ausmasse an: Auf dem Londoner Flughafen Heathrow begann ein wilder Streik, ausgelöst von den Angestellten des Catering-Unternehmens Gate Gourmet, das die Mahlzeiten für British Airways zubereitet. Schnell griff der Streik auf andere Beschäftigte über und löste bei den Gepäckarbeitern von British Airways eine spontane Solidaritätsaktion aus. Etwa 1.000 Arbeiter beteiligten sich insgesamt an dieser Aktion. British Airways musste zusehen, wie ihre Flugzeuge während mehreren Tagen am Boden stehen blieben. Weltweit wurden Bilder von massenhaft gestrandeten und blockierten Passagieren ausgestrahlt.
Der Ungehorsam der Arbeiter und ihre Anknüpfung an die Taktik des Solidaritätsstreiks wurden von den britischen Medien scharf verurteilt. Die Arbeiter hätten angeblich wissen müssen, dass derartige Solidaritätsaktionen „veraltet“ sind, dass nach einstimmiger Meinung der „Experten“ (Juristen und andere Spezialisten der Arbeitswelt) solche Aktionen gänzlich den Geschichtsbüchern angehören und daher auch als illegal erklärt wurden.[9] Indem die Medien die schädlichen Folgen für die Passagiere hervorhoben, versuchten sie den beispielhaften Mut dieser Arbeiter herabzusetzen.
Im Übrigen war von den Medien auch ein etwas versöhnlicherer Ton zu vernehmen, jedoch nicht minder feindlich gegenüber der Sache der Arbeiter. Dabei wurde der Flughafenstreik als ein Resultat der rücksichtslosen Taktik der amerikanischen Eigentümer von Gate Gourmet dargestellt. Diese hatten per Lautsprecher den Arbeitern mit massiven Kündigungen gedroht. Der Streik sei also Ausdruck eines Irrtums gewesen. Er sei die Antwort auf ein unfähiges Management gewesen; die Streikaktionen seien demzufolge eine Ausnahmeerscheinung im Gange der regulären und zivilisierten Industrieverhältnisse und der Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Geschäftsführung, die im Normalfall solche Solidaritätsaktionen überflüssig werden liessen. Tatsächlich aber liegt die Hauptursache des Streiks nicht in der Arroganz des kleinen Arbeitgebers. An der brutalen Taktik von Gate Gourmet ist nichts Aussergewöhnliches. Nennen wir nur ein Beispiel unter vielen: Auch Tesco, die grösste und rentabelste Supermarktkette in Grossbritannien hat erst kürzlich angekündigt, dass Absenztage aus Krankheitsgründen zukünftig unbezahlt bleiben. Ebenso sind massive Entlassungen keineswegs ein typisches Zeichen fehlender gewerkschaftlicher Aktivität. Die Zeilen der International Herald Tribune vom 19.8.2005 enthalten folgende Meinung von Sophie Greenyer, Mediensprecherin von British Airways. „Sie sagte, dass es dem Unternehmen im Laufe der Vergangenheit dank der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gelungen ist, sowohl die Anzahl Arbeitsplätze als auch Kosten zu senken. British Airways hat in den letzten drei Jahren 13.000 Stellen gestrichen und seine Kosten um 850 Millionen Sterling vermindert. ‚Wir haben es geschafft, in vernünftiger Weise mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, um diese Ersparnisse zu erreichen’, meinte sie.“
Das Ziel, die Betriebskosten zu senken, hatte British Airways dazu veranlasst, die Gehälter und Lebensbedingungen der Angestellten zu verschlechtern. Gate Gourmet seinerseits wollte es mit bedachten Provokationen möglich machen, gegenwärtige Angestellte durch Arbeitskräfte aus dem osteuropäischen Raum zu ersetzen, welche zu noch tieferen Löhnen und schlechteren Bedingungen arbeiten.
Die von British Airways angestrebten Kostensenkungen sind nichts Aussergewöhnliches. Im Gegenteil: Sei es in der Luftfahrt oder in einem anderen Sektor, die verschärfte Konkurrenz aufgrund zunehmender Marktsättigung ist die normale Antwort des Kapitalismus auf eine sich zuspitzende Wirtschaftskrise.
Der Streik in Heathrow war also kein Zufall, sondern ein Beispiel des Verteidigungskampfes der Arbeiter gegen die zunehmenden Angriffe der Bourgeoisie insgesamt. Der Kampfeswille der Arbeiter ist aber nicht der einzige Aspekt von Belang in diesem Streik. Noch wichtiger sind die illegalen Solidaritätsaktionen anderer Teile der Flughafenbeschäftigten. Diese Arbeiter setzten nämlich ihre eigene Existenzgrundlage aufs Spiel, indem sie den Kampf ausdehnten.
Diese Solidaritätsbekundung war zwar von kurzer Dauer und blieb embryonal. Aber angesichts der von der Bourgeoisie als Antwort auf die Attentate erzeugten Atmosphäre der nationalen Unterordnung war dieser Solidaritätsausdruck dennoch ein kontrastreicher Lichtblick. Zumindest wurde bestätigt, dass sich die Londoner Bevölkerung nicht mehr nur demütig den Interessen des imperialistischen Krieges unterordnet. Zeiten wie 1940, als die nächtlichen „Blitz“-Bombardierungen der deutschen Luftwaffe passiv erduldet wurden, sind vorbei.
Der Streik von Heathrow ist vielmehr Teil einer ganzen Reihe von Arbeitskämpfen seit 2003, die in verschiedenen Erdteilen aufflackerten, so z.B. die Solidaritätsaktion der Arbeiter von Opel in Deutschland oder der Angestellten von Honda in Indien.[10] Nach einer langen, von Desorientierung geprägten Phase seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 findet die weltweite Arbeiterklasse nun ganz langsam und fast unmerklich ihre Kraft wieder. Allmählich tastet sich das Proletariat zu einer deutlicheren Klassenperspektive vor.
Die Schwierigkeiten, welche mit der Entwicklung dieser Perspektive verbunden sind, zeigten sich schnell durch die Sabotage der Gewerkschaften an der Solidaritätsaktion in Heathrow. Die Transport and General Worker’s Union setzte dem Streik der Gepäckarbeiter ein schnelles Ende und die von Gate Gourmet entlassenen Arbeiter sahen sich schliesslich gezwungen, den Ausgang der verlängerten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmensführung abzuwarten.
Trotzdem bleibt dieses Zeichen vom mühevollen Wiedererstarken des Klassenkampfes in Grossbritannien von grosser Bedeutung. Denn die englische Arbeiterklasse hat eine längere Zeit der Kampfesschwäche hinter sich. Nach der Konjunktur der Klassenkämpfe des englischen Proletariats 1979 mit dem massiven Streik im öffentlichen Sektor und 1984/85 mit dem Streik der Bergarbeiter folgte eine längere Zeit der Kampfesschwäche. Die englische Arbeiterklasse litt stark unter der Niederlage der oben genannten Streiks von 1984/85, und diese Situation wurde von der Regierung Thatcher bis aufs Äusserste ausgenutzt, indem unter anderem Solidaritätsstreiks als illegal erklärt wurden. Daher ist das Wiederaufkommen von solchen Streiks in Grossbritannien mehr als erfreulich.
Grossbritannien war nicht nur das erste kapitalistische Land. In Grossbritannien zeigten sich auch die ersten Ausdrücke einer weltweiten Arbeiterklasse und ihre ersten politischen Organisationen in Form der Chartisten; in Grossbritannien befand sich auch der Sitz des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation. Heute ist Grossbritannien nicht mehr die Drehachse der Weltwirtschaft, spielt aber noch immer eine Schlüsselrolle in der Weltindustrie. Der Flughafen Heathrow ist der grösste Flughafen der Welt. Die britische Arbeiterklasse hat weiterhin ein bedeutendes Gewicht im weltweiten Klassenkampf.
In Grossbritannien wurde im vergangenen Sommer die politische Situation auf Weltebene aufgedeckt: auf der einen Seite die Tendenz des Kapitalismus zu immer schärferer Barbarei und Chaos, wo es keinen Platz für gesellschaftliche Werte gibt; auf der anderen Seite hat der Flughafenstreik in London zumindest für eine kurze Zeit gezeigt, dass andere gesellschaftliche Prinzipien durchaus existieren, Prinzipien, die auf der unbeschränkten Solidarität der Produzenten gründen – Prinzipien des Kommunismus.
Como
[1] Ohne die vier Kamikaze-Attentäter, die sich in die Luft gejagt haben.
[2] Die „IRA-Provisionals“ nannten sich so, um sich von der sogenannten „offiziellen IRA“ zu unterscheiden, von der sie sich getrennt hatten. Die „offizielle IRA“ spielte im Bürgerkrieg in Nordirland ab den 70er Jahren keine wesentliche Rolle.
[3] Chelsea Barracks ist eine Kaserne mitten in London, in welcher damals das Regiment der Irish Guards stationiert war. Das Attentat im Hyde Park richtete sich gegen eine Militärparade der königlichen Garde.
[4] Die Londoner City ist das Finanzzentrum, mit einer Fläche von ca. einem Quadratkilometer in Central London, einem Teil von Gross-London. Canary Wharf ist ein Wolkenkratzer, Symbol für das neue Geschäftsquartier, das in den alten Londoner Hafenanlagen errichtet wurde.
[5] Eines der mörderischsten Attentate der IRA – gegen das Arndale-Handelszentrum im Zentrum von Manchester 1996 – in einer Zeit, in der die IRA vor allem als Instrument der amerikanischen Bourgeoisie diente, um die britischen Versuche nach einer selbständigeren imperialistischen Politik einzudämmen – gehört schon in die Epoche des Chaos, in der auch die Al Kaida gross geworden ist.
[6] Die „Real IRA“ ist eine Abspaltung der IRA, die sich auf die Fortführung des Kampfes gegen die Briten beruft. Die Gruppe war verantwortlich für einen Bombenanschlag in der Stadt Omagh in Nordirland, bei dem am 15. August 1998 29 Zivilisten getötet wurden.
[7] Siehe die Internetseite: http//www.prisonplanet.com/articles/september2005/270905plantinbombs.html.
[8] Die Begründung für diese Attentate lautete, dass die betroffenen Pubs vor allem von Militärangehörigen besucht worden seien.
[9] In Grossbritannien sind Solidaritätsstreiks tatsächlich illegal. Ein entsprechendes Gesetz wurde unter der Regierung Thatcher in den 80er Jahren eingeführt und findet seine Fortsetzung unter der Labour-Regierung Blair.
[10] s. den Artikel auf unserer Website veröffentlicht von der indischen Sektion der IKS: welt/132_indien