Kapitel 6: Hin zum Krieg oder zur Revolution? (1937 – 1939)

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Im Februar 1938 erschien die erste Nummer von „Octobre". Bis August 1939 wurden insgesamt fünf Ausgaben dieser Zeitschrift veröffentlicht. Sie war das monatlich erscheinende Organ des Internationalen Büros der linkskommunistischen Fraktionen. Wie „Bilan" wurde sie in Brüssel gedruckt, wo sich auch die Redaktion befand. Offiziell verantwortlich für die Zeitschrift war Albert Boyer aus Paris. Die Ereignisse in Spanien hatten Gaston Davoust (Chazé) zur Weigerung veranlasst, weiterhin solch eine Verantwortung für die Organe der Internationalen Kommunistischen Linken auszuüben.

Es war beabsichtigt, die internationale Zeitschrift „Octobre" in drei Sprachen herauszugeben, auf Französisch, Deutsch und Englisch. Die Kommunistische Linke kündigte an, dass „bald die englische und deutsche Ausgabe veröffentlicht wird", und appellierten eindringlich an „die deutschen Genossen" wegen „ihrer offenkundigen Schwierigkeiten, deutsche Übersetzungen anzufertigen".

Das Verschwinden von „Bilan" und das Erscheinen von „Octobre" war Zeichen eines tiefgreifenden Orientierungswechsels innerhalb der Italienischen und Belgischen Fraktion. Das Titelblatt war mit einem Kreis dekoriert, der den Globus darstellen sollte und über dem die Worte „révolution mondiale" (Weltrevolution) standen. Der Titel „Octobre" zeigt deutlich, dass die Kommunistische Linke sich am Vorabend eines neuen „Roten Oktober" wähnte.

So entsprach die Gründung eines Internationalen Büros Ende 1937 der Hoffnung, die Grundlagen einer neuen Internationale zu bilden. Das Beispiel von Zimmerwald, Ausgangspunkt für die Gründung der III. Internationale, war in den Köpfen der Genossen noch lebendig. Der Verrat, den seit 1933 sämtliche kommunistischen und trotzkistischen Parteien begangen hatten – wie die Sozialdemokraten 1914 -, bedeutete für die Italienische Linke, dass es allein an ihr lag, das Zentrum einer neuen Internationale zu bilden. Die vergangene Arbeit, die „vor allem in der Kontaktaufnahme mit Einzelpersonen in verschiedenen Ländern bestand, welche eine kämpferische Position gegen den imperialistischen Krieg eingenommen hatten", musste nun einer „anderen Arbeitsphase, nämlich der Perspektive einer Bildung von linken Fraktionen" weichen („Bilan", Nr. 43, „Pour le bureau international des fractions communistes de gauche").

Die Schaffung eines Internationalen Büros, das die beiden Fraktionen miteinander verband, bedeutete zweifellos eine Verstärkung der Italienischen Kommunistischen Linken. Die Bildung eines internationalen Zentrums vor Kriegsausbruch (die Zimmerwalder Konferenz, der Grundstein für die III. Internationale, wurde erst während des I. Weltkrieges von den Bolschewiki angeregt) trug aber auch zur Illusion bei, besser vorbereitet zu sein, als es damals die Bolschewiki waren.

Anscheinend war mit „der Liquidierung all der Gruppen, die am Ende ihre Entwicklung angelangt waren", ein Schlussstrich unter die „Bilanz" gezogen. Ideologisch hatte das Internationale Büro den Eindruck, dass diese Liquidierung für Klarheit gesorgt hat, dass sie das Proletariat in eine Situation versetzt hat, in der der Verrat der alten „Arbeiter"parteien sich deutlich abzeichnete und somit die Notwendigkeit entfiel, eine brutale und demoralisierende Wiederauflage des 4. August 1914 zu durchleben.

Aber war die „„Bilanz" tatsächlich geschlossen? Die Diskussionen zwischen den beiden Fraktionen über die Frage des Staates und der Gewerkschaften, die im internen Bulletin „Il seme Comunista" und in „Octobre" ausgetragen wurden, zeigten, dass diese „Bilanz" tatsächlich noch unvollendet war (siehe dazu nächstes Kapitel).

Krieg oder Revolution?

Aber in dem Maße, wie die lokalen Kriege Europa immer näher rückten und den finalen Großbrand ankündigten, wurde die Haltung der Internationalen Kommunistische Linken immer unsicherer. Waren die „lokalen Kriege" Vorboten der Weltrevolution oder des imperialistischen Weltkrieges? Krieg oder Revolution - oder Krieg und Revolution? Dies war das historische Dilemma, das sich den beiden Fraktionen täglich stellte. Der Zusammenhalt der „bordigistischen" Organisation hing von ihrer Fähigkeit ab, eine klare Antwort auf diese Fragen zu geben.

In Kontinuität mit der III. Internationale Lenins und Trotzkis machte die Italienische Linke von Beginn an keine Anstalten, dem Dilemma aus dem Weg zu gehen, das von marxistischen Theoretikern aufgestellt worden war: „Krieg oder Revolution". Gemäß der Tradition der Kommunistischen Internationale hatte „Bilan" im Dezember 1933 das Verhältnis zwischen den beiden historischen Alternativen folgendermaßen eingeschätzt:

„In der imperialistischen Phase des Kapitalismus und von einem generellen Standpunkt aus betrachtet, gibt es nur zwei Auswege: den kapitalistischen, der Krieg, und den proletarischen, die Revolution. Nur der Aufstand der Arbeiter kann den Ausbruch des Krieges verhindern." („Bilan", Nr. 2, „Une victoire de la contre-revolution: les Etats-Unis reconnaissent l’URSS")

Die Publikation von „Bilan" war Ausdruck der Überzeugung, dass die Serie von Niederlagen des Proletariats zwischen 1923 und 1933 den historischen Kurs zum Weltkrieg eröffnet hatte. Auf der ideologischen Ebene drückte sich dies im Triumph der Konterrevolution in Russland und in den alten Parteien der Kommunistischen Internationale aus. Die Gewissheit der italienischen Fraktion, dass der Krieg unabwendbar war, fußte nicht auf einer fatalistischen Konzeption der Geschichte; sie bedeutete auch nicht die Einstellung jeglicher Interventionen in der Arbeiterklasse Frankreichs, Belgiens und der Vereinigten Staaten. Im Gegenteil, die Italienische Linke fuhr selbst in der Euphorie über die Streiks von 1936 fort, in Flugblättern und Manifesten die Arbeiter vor den Gefahren eines weltweiten Konflikts zu warnen. Denn solange das Kräfteverhältnis sich nicht zu Gunsten des Proletariats geändert hatte, blieb der Kurs zum Krieg weiterhin offen.

Tatsächlich war die Vernichtung des Proletariats bereits vollendet; und bei dieser Vernichtung – die eher ideologischer als physischer Natur war – spielte Russland eine entscheidende Rolle.

„... der Krieg ist nicht anders möglich als durch das Verschwinden des Proletariats als Klasse von der historischen Bühne. Dies ist seinerseits von einem langen Einwirken der Korruption auf proletarische Organismen bewerkstelligt worden, die darin endeten, Verrat zu begehen und sich der Sache des Feindes anzuschließen." („Bilan", Nr. 16, März 1935, „Projet de resolution sur la situation internationale" von Philippe alias Vercesi) (1)

Doch wenn der Krieg die Niederlage des Proletariats voraussetzt, wie konnte es dann die Kraft haben, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln? Konnte die Weltrevolution aus einer totalen Niederlage entstehen?

Der Italienischen Linken zufolge konnte die Revolution, wie 1917, notwendigerweise nur aus dem Krieg hervorgehen. Sie nahm sogar an, dass „es im Vergleich zum letzten Krieg gewiss ist, dass die Bedeutung des Proletariats enorm gewachsen ist und die Möglichkeiten der Wiederaufnahme des Klassenkampfes um so größer sind". Sie war der Auffassung, dass die wachsende Akkumulation von Waffen „... die Notwendigkeit (beinhaltete), enorme Industriewerke aufzubauen und dort die Bevölkerung massenweise zu beschäftigen". Dies würde „das Proletariat in die Lage versetzen, das Bewusstsein über seine Interessen schneller wiederzuerlangen, da die Umstände zeigen, dass es weniger schwierig ist, die Disziplin und Hierarchie in den Betrieben zu übertreten als in den Reihen einer Armee, deren Schützengräben weit entfernt sind von der Heimatfront" (ebenda).

Diese sehr optimistische Vorstellung, die von Vercesi vertreten wurde, stieß indes nicht auf einhellige Gegenliebe in der italienischen Fraktion. In einem Diskussionsbeitrag griff Gatto Mammone die Perspektive einer quasi automatischen Umwandlung des Weltkrieges in eine Revolution ausdrücklich an, zumal Vercesi selbst auf die „Pulverisierung des Proletariats" hingewiesen hatte.

„... jene, die die Machtlosigkeit, Auflösung und Pulverisierung des Proletariats vor dem Krieg hervorgehoben haben, beharren auch aufs Stärkste auf die Klassenfähigkeiten der Arbeiter unmittelbar nach dem Krieg. Sie sprechen also dem Krieg selbst ein wundersames Mittel bei der Reifung des Klassenbewusstseins im Proletariat zu und behandeln diejenigen, die mit einer mehr oder weniger langen Übergangsphase und mit der Manövrierfähigkeit der Bourgeoisie in dieser Zeit rechnen, mit hochnäsiger Verachtung." („Bilan", Nr. 29, März/April 1936)

Doch die Streiks in Frankreich und Belgien und besonders der Krieg in Spanien, den die Mehrheit durchaus als imperialistischen Krieg ansah, der die Konfrontation zwischen dem demokratischen und dem faschistischen Block ankündigte, veranlasste die italienische und, wenn auch in geringerem Maße, die belgische Fraktion zur Haltung, voller Erwartungen und Hoffnungen auf den Krieg zu warten. All diese sozialen Bewegungen könnten trotz ihrer Niederschlagung Vorboten der nächsten Weltrevolution sein.

Auf theoretischer Ebene konnte sich die Italienische Linke jedoch nicht damit zufrieden geben, auf die Ereignisse lediglich zu reagieren. Sie musste sowohl die Gültigkeit ihrer Prognose von 1933, dass der Krieg unvermeidlich ist, verifizieren als auch schauen, ob die Veränderungen, die seit der Krise von 1929 im Kapitalismus stattgefunden hatten, nicht auch Veränderungen in der historischen Perspektive und somit in der kommunistischen Politik beinhalteten.

Die theoretische Debatte in der Italienischen Linken kreiste um drei Themen:

um den Charakter des Krieges seit 1914 und die Haltung der Kommunisten ihm gegenüber;

um die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Kriegswirtschaft;

um den Charakter der lokalen Konflikte seit 1937 und die revolutionäre Perspektive.

Es war von entscheidender Bedeutung für die Fraktion, den Charakter der Kriege in einer Periode zu begreifen, die sie - in der Tradition des Ersten Weltkongresses der Kommunistischen Internationale - als die Periode der Dekadenz des Kapitalismus definierte. Diese Dekadenztheorie bestimmte alle politischen Positionen, welche die italienische Fraktion in jedem Konflikt einnahm.

 

Die Wurzeln des imperialistischen Krieges: Die Dekadenz des Kapitalismus

Wie Lenin, auf den sie sich bezog, sah die Fraktion im Imperialismus das letzte Stadium des Kapitalismus. In dieser Phase der kapitalistischen Metamorphose fand ein Kampf zwischen den verschiedenen kapitalistischen Staaten um die Aufteilung und Wiederaufteilung der Welt statt, insbesondere um die Quellen der Rohstoffe zu kontrollieren, die für die Produktion notwendig waren. Diese Theorie neigt jedoch dazu, die Frage der Märkte zu ignorieren, die für den Absatz aller produzierten Waren unabdingbar sind. Das Gestammel der russischen kommunistischen Bewegung bei ihrem Versuch, die 1914 eröffnete historische Periode zu definieren, hinterließ ein ganzes Feld der Theorie, das es zu beackern galt.

Es war die Entdeckung der Werke von Rosa Luxemburg, die es, erst kürzlich ins Französische übersetzt, der Italienischen Linken ermöglichte, sich einer Theorie zuzuwenden, die auf der Bejahung der Dekadenztheorie und der Sättigung des Weltmarktes beruhte. Die Krise von 1929, eine weltweite Überproduktionskrise, erschien als vollkommene Bestätigung der Thesen, die Rosa Luxemburg in ihrem Werk „Die Akkumulation des Kapitals" (1913) vertreten hatte. Sie widerlegte die Theorie von Bucharin, der behauptet hatte, dass es außerhalb der direkten Produktionssphäre keine Grenzen für die kapitalistische Expansion gebe (2). Sie werde nur durch den tendenziellen Fall der Profitrate gebremst bzw. behindert. Auch nichtmarxistische Zeitgenossen in den 30er Jahren zögerten angesichts der Krise, die weder nur lokal noch vorübergehend, sondern eine echte Weltwirtschaftskrise war, nicht, vom Niedergang und von der Dekadenz des Kapitalismus zu sprechen. Schon die Dauer der Krise (von 1929 bis zum Ausbruch des Weltkrieges), der Schwindel erregende Sturz von Produktion und Handel sowie das Aufkommen autarkistischer Tendenzen zeigten, dass die Krise von 1929 keine „klassische" Krise war, die durch eine Wiederankurbelung der Produktion schnell überwunden werden konnte. (3)

Es waren Mitchell und die belgische Fraktion, welche die Theorien Luxemburgs, die von der italienischen Fraktion eher intuitiv als systematisch vertreten wurden, wiederaufnahmen und weiterentwickelten. Die Beiträge Mitchells waren dabei entscheidend. Sie erschienen als Artikelreihe in „Bilan" und trugen den Titel „Crise et cycles dans l’economie du capitalisme agonisant" (Nr. 10 und 11, August/September 1934). Die Broschüre „Das Problem des Krieges", die er 1936 im Namen der LCI publizierte, befasste sich mit den politischen Konsequenzen dieser Analyse.

Mitchell zeigte auf, dass das 19. Jahrhundert, mit der wachsenden Entwicklung eines Weltmarktes, die Epoche des Aufstiegs der kapitalistischen Produktionsweise auf Weltebene war. Dies war in dem Sinne fortschrittlich, als es die Bedingungen für die proletarische Revolution heranreifen ließ.

„Es war dieses fundamentale, antreibende Gesetz des kapitalistischen ‚Fortschritts‘, das die Bourgeoisie unaufhörlich dazu zwang, einen immer größeren Teil des dem Arbeiter abgepressten Mehrwerts in Kapital umzuwandeln und somit die produktiven Kapazitäten der Gesellschaft ständig weiter zu entwickeln. So drückte sich die fortschrittliche, historische Mission des Kapitalismus aus. Auf der anderen Seite, aus der Sicht der Klasse, bedeutete kapitalistischer ‚Fortschritt‘ zunehmende Proletarisierung und eine sich unaufhörlich steigernde Ausbeutung. Der Kapitalismus war nicht wegen seines Wesens progressiv, sondern wegen seiner Notwendigkeit. Er blieb progressiv, solange er den Fortschritt mit den Interessen der Klasse, die ihn verkörpert, in Einklang brachte." („Le Probléme de la Guerre", Januar 1936)

Die Krisen, die den Akkumulationsprozess in dieser Phase regelmäßig störten, waren „chronische Krisen". Die Perioden von Krisen und Konjunktur waren "untrennbar miteinander verbunden und bedingten sich gegenseitig". Mitchell berief sich hier auf Rosa Luxemburg, für die „die Krisen als ein Mittel erscheinen, das Feuer der kapitalistischen Entwicklung immer wieder anzufachen und zu entfesseln".

Der Widerspruch, in dem sich der Kapitalismus befindet – die Tendenz, immer mehr Kapital zu akkumulieren und dieses in einen Überschuss an Waren auf dem nationalen Markt zu verwandeln - wurde durch die Ausweitung der Märkte und vor allem durch das Erschließen außerkapitalistischer Territorien gelöst. In einer Reihe von Untersuchungen kam Mitchell zu dem Schluss, dass „die Annexionen von neuen Bereichen in den kapitalistischen Markt, von neuen Regionen, in denen noch veraltete Wirtschaftsweisen überdauert hatten, in denen der Kapitalismus jedoch einen Absatzmarkt für seine Produkte und sein Kapital fand", es erlaubten, diesen Widerspruch zu lösen. Die Kolonialkriege hatten die Funktion, den kapitalistischen Markt auszudehnen. Auf die Kriege, die „die bürgerlichen Revolutionen des letzten Jahrhunderts unterstützten", folgten die Kolonialkriege, in deren Verlauf die kapitalistische Herrschaft auf der ganzen Welt vervollständigt wurde, was wiederum die Widersprüche eines Systems beschleunigte, das imperialistisch geworden war.

„... der sich ausdehnende Kolonialismus war in seiner Entwicklung eingeschränkt, und der Kapitalismus, dieser unersättliche Eroberer, hatte schon bald alle verfügbaren außerkapitalistischen Absatzmärkte ausgeschöpft. Die interimperialistische Konkurrenz, die keinen Ausweg mehr hatte, schlug den Weg zum imperialistischen Krieg ein." (a.a.O., „Bilan", Nr. 11)

Nachdem die Welt zwischen den verschiedenen Imperialismen aufgeteilt war, hörte der Kapitalismus weltweit auf, fortschrittlich zu sein.

„Nachdem die Aufteilung allen verwertbaren Landes unter diesen großen kapitalistischen Gruppen, die Aufteilung aller einträglichen Regionen, aller ausbeutbaren Reichtümer, aller Einflusszonen abgeschlossen war, kurz: aller Ecken der Welt, aus denen Arbeit gestohlen werden konnte, die sich, in Gold verwandelt, in den Nationalbanken der Metropolen auftürmte, war auch die fortschrittliche Mission des Kapitalismus abgeschlossen." („Le Probléme de la Guerre"")

Der Krieg von 1914 bedeutete „den Niedergang, den Zerfall des Kapitalismus". „Das Zeitalter der spezifischen Kolonialkriege war definitiv abgeschlossen" und ersetzt worden durch das Zeitalter des „imperialistischen Krieges zum Zwecke einer Neuaufteilung der Märkte unter den alten, demokratischen Imperialisten, die vor langer Zeit reich geworden waren und mittlerweile nur noch parasitär sind, und den jungen Nationen, die zu spät auf der Bühne erschienen waren." (ebenda)

Der Krieg drückte nicht mehr den Aufstieg des Kapitalismus aus, sondern seine allgemeine Dekadenz, die durch „die Revolte der Produktivkräfte gegen ihre private Aneignung" gekennzeichnet ist. Aus der „chronischen" Krise wurde eine permanente, „eine allgemeine Zerfallskrise", die „die Geschichte als eine Reihe von blutigen und quälenden Erschütterungen registrieren wird" („Bilan", Nr. 11, s.o.) Mitchell zufolge waren die Merkmale hierfür:

„eine allgemeine und andauernde industrielle Überproduktion";

„permanente Massenarbeitslosigkeit, die die Klassengegensätze noch zuspitzt";

„chronische landwirtschaftliche Überproduktion";

„eine beträchtliche Verlangsamung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, die aus der Verengung des Aubeutungsreservoirs der Arbeitskraft (organische Zusammensetzung) und aus dem andauernden Fall der Profitrate resultiert."

Aufgrund dieser theoretischen Analyse kam Mitchell in der Untersuchung der Krise von 1929 zu dem Schluss, dass „der Kapitalismus unaufhaltsam in sein Schicksal, den Krieg, gedrängt wird", in einen Krieg, der „eine gigantische Vernichtung von stillgelegten Produktivkräften und unzähliger, aus der Produktion gestoßener Proletarier" („Le Probléme de la Guerre") verursache.

So verbot sich eine Gleichstellung der Kriege in der dekadenten Ära mit den Nationalkriegen des 19. Jahrhunderts. Erstere waren nicht das Werk einzelner Staaten, Deutschlands oder Italiens etwa, sondern das Ergebnis eines weltweiten Prozesses, der alle Nationalstaaten in den Krieg treibt. Es konnte keine „gerechten" Kriege, keinen Gegensatz zwischen „reaktionären Staaten und fortschrittlichen Staaten" (ebenda) mehr geben.

Die politischen Schlussfolgerungen standen in Kontinuität mit den Positionen der Bolschewiki und Rosa Luxemburgs. „Die zwei Begriffe der historischen Alternative" waren „die proletarische Revolution oder der imperialistische Krieg" (ebenda).

Folglich lehnten beide Fraktionen jede nationale Verteidigung auch nur eines Landes, einschließlich der UdSSR, wie auch jegliche pazifistische Politik von der Art des „Amsterdam-Pleyel-Komitees" in den 30er Jahren ab. Für die Fraktionen war der einzig mögliche Kampf, wie 1914, nicht jener „für den Frieden", sondern für die Weltrevolution, gegen jede Art „faschistischen" oder „antifaschistischen" Krieges, da beide die Vernichtung des Proletariats bezwecken.

„Der Krieg ist keine zufällige, sondern eine organische Manifestation der kapitalistischen Herrschaft. Das Dilemma ist nicht ‚Krieg oder Frieden‘, sondern ‚kapitalistische oder proletarische Herrschaft‘. Gegen den Krieg zu kämpfen, heißt für die Revolution zu kämpfen." („Bilan", Nr. 11, „La Russie entre dans la SDN")

„Die Arbeiterklasse kann nur zu einem Krieg aufrufen, zum Bürgerkrieg, der gegen die Unterdrücker in jedem Staat gerichtet ist und mit dem Sieg des Aufstandes endet." („Bilan", Nr. 16, „Projet de resolution sur la situation internationale" von Philippe)

Auf der Grundlage dieser Gesamtanalyse der weltweiten Dekadenz des kapitalistischen Systems gelangten die Italienische und Belgische Kommunistische Linke zur Schlussfolgerung, dass nationale Befreiungskämpfe der kolonialisierten Völker unmöglich geworden waren und nur ein Glied in der Kette der imperialistischen Kriege darstellen konnten.

Die reaktionäre Funktion der Nationalbewegungen in den Kolonien

Entgegen Lenin und den Thesen des II. Kongresses der KI, die zur Unterstützung der nationalen Bewegungen in den Kolonien aufriefen, bekannte sich die Italienische Linke offen zu den Positionen von Rosa Luxemburg.

„Bilan", jene Zeitschrift, der die Union Communiste vorwarf, sie sei „leninistischer als Lenin", schreckte nicht davor zurück, sich Lenin zu widersetzen oder die Positionen von Marx im 19. Jahrhundert in Frage zu stellen. Wie sie sagte, „ist der Marxismus nicht eine Bibel, er ist eine dialektische Methode; seine Kraft beruht auf seiner Dynamik, auf seinem ständigen Drang, die durch das revolutionäre Proletariat auf seinem Weg zur Revolution erworbenen Lehren zu mehren..." („Bilan", Nr. 14, Januar 1935, „Le Probléme des minorités nationales")

„Bilan" lehnte also nicht nur das „Recht der Völker auf Selbstbestimmung" ab, das von Lenin 1917 postuliert wurde, sondern auch die Thesen von Baku, die den „heiligen Krieg der farbigen Völker gegen den Imperialismus" predigten. Kühn wies „Bilan" die heiligen Dogmen zurück und betrachtete sie in ihrem Urteil über diese Bewegungen als Antithese zur proletarischen Revolution, die eng mit dem Imperialismus verknüpft seien.

„... wir haben keine Furcht davor zu beweisen, dass Lenins Formulierung über die nationalen Minderheiten durch die Ereignisse überholt ist und dass seine Position, die er nach dem Krieg umsetzte, sich als Widerspruch zum wesentlichen Ziel ihres Autors erwiesen hat: die Weiterentwicklung der Weltrevolution zu fördern.

Nationalistische Bewegungen, terroristische Gesten der Repräsentanten der unterdrückten Nationalitäten drücken heute das Unvermögen des Proletariats und den Kurs zum Krieg aus. Es wäre falsch, in diesen Bewegungen einen Verbündeten der proletarischen Revolution zu sehen, denn sie können nur aufblühen, wenn die Arbeiter niedergeschlagen sind, also in Verbindung mit den Bewegungen feindlicher Imperialismen." (ebenda)

Diese Analyse, die „Bilan" von anderen Strömungen der Zwischenkriegsperiode, wie den Trotzkismus, unterschied, war jedoch keineswegs auf „Bilan" beschränkt. Sie wurde auch von der Union Communiste vertreten, die an die Tradition der deutschen Linken wie der KAPD und der GIK zur nationalen und kolonialen Frage anknüpfte. (4)

Auf der theoretischen Ebene begründete „Bilan" seine grundsätzliche Ablehnung einer Unterstützung der antikolonialen und nationalen Bewegungen mit der Unmöglichkeit ihrer Weiterentwicklung. Der Imperialismus der großen Industrienationen stehe gegen die Bildung neuer autonomer kapitalistischer Nationen, die sich dem Imperialismus nur unterordnen könnten.

„Der Kapitalismus der Metropolen, der unter dem Gewicht eines Produktionsapparates, der nicht mehr vollständig genutzt werden kann, in sich zusammen sinkt, kann den Kolonien nicht erlauben, neue kapitalistische Industriestaaten zu gründen, die fähig wären, mit ihnen zu konkurrieren, so wie es mit den alten Kolonien Kanadas, Australiens oder der Vereinigten Staaten geschah. Der Imperialismus stellt sich gegen jede ernsthafte Industrialisierung, gegen jede wirtschaftliche Emanzipation, gegen jede nationale bürgerliche Revolution." („Le Probléme de la Guerre")

Auf der politischen Ebene erkannte die Italienische Linke, dass die Zerschlagung des chinesischen Proletariats 1927 durch die „einheimische" Bourgeoisie die reaktionäre Rolle jeder nationalen und kolonialen Bourgeoisie angesichts ihres einzigen Feindes, des Proletariats, ausreichend deutlich gemacht hat. Folglich sei „jede progressive Entwicklung der Kolonien nicht das Ergebnis so genannter Emanzipationskriege der ‚unterdrückten‘ Bourgeoisien gegen die Vorherrschaft des Imperialismus, sondern das Resultat von Bürgerkriegen des Proletariats und der Bauernmassen gegen ihre direkten Ausbeuter, von Aufständen, die in Verbindung mit dem fortgeschrittenen Proletariat in den Metropolen geführt werden." (ebenda)

Als die Konflikte zwischen Italien und Äthiopien und anschließend zwischen China und Japan ausbrachen, weigerte sich die italienische Fraktion, den Negus oder Tschiang in irgendeiner Weise zu unterstützen. Denn eine Unterstützung Letzterer hätte nicht nur eine Entschuldigung der Henker des einheimischen Proletariats und der Bauern bedeutet, sondern auch den Kurs zum Krieg begünstigt, in dem jeder lokaler Konflikt den Zusammenprall der imperialistischen Mächte im Kampf um die Neuaufteilung der Welt widerspiegelte.

So war für „Bilan" und „Communisme" nur der Bürgerkrieg in allen Ländern, der Kampf des Proletariats „gegen seine eigene Bourgeoisie, gleich, ob sie faschistisch oder demokratisch, fortschrittlich oder reaktionär, ‚unterdrückt‘ oder ‚imperialistisch‘ ist", die einzige historische Alternative zu jedem anderen Krieg, der „unabhängig von seinen Aspekten imperialistisch" sei („Communisme", Nr. 9, 15. Dezember 1937, „La Guerre imperialiste en Chine et le probléme de l’Asie", Resolution der belgischen Fraktion).

Die Diskussion über die Kriegswirtschaft

Während der theoretische und politische Rahmen der Kommunistischen Linken klar abgesteckt war, blieb ihre Analyse des Kriegskurses teilweise unentschlossen.

Ab 1936 begann sich die italienische Fraktion mit einem Phänomen zu beschäftigen, das sie in große Ratlosigkeit stürzte: die Kriegswirtschaft. Ab 1933/34 begann in allen Ländern die wirtschaftliche Tätigkeit wieder zu erwachen. In Deutschland, Russland und den USA ging die Arbeitslosigkeit gegen Null, das Wachstum der Produktion stabilisierte sich. Das Militärbudget verdreifachte sich seit 1913. Die Staaten schufen mit ihren Aufträgen einen ganzen Markt für Rüstungsgüter. Würde die Rüstungsproduktion es dem Kapitalismus ermöglichen, einen neuen Weltkrieg zu vermeiden, indem sie der Produktion einen neuen Absatzmarkt verschafft? (5)

Doch wenn die Kriegswirtschaft einen Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise darstellte, wie erklärte sich dann die Zunahme der bewaffneten Konflikte von Afrika bis Asien, von Spanien bis nach Mitteleuropa? Dienten diese „lokalen" Kriege etwa als Absatzmarkt für die angehäuften Waffen, um auf diese Weise die Kriegswirtschaft oder gar den Weltkrieg aufzuheben?

Und schließlich: Bedeuteten die Lohnerhöhungen und die Arbeitszeitverkürzungen wie in Frankreich und Belgien, die keynesianische Politik der „Vollbeschäftigung" und des „Erhalts der Kaufkraft" in Großbritannien und den USA, dass die Perspektive einer proletarischen Weltrevolution in weite Ferne gerückt ist? Waren also die ökonomischen Kämpfe - deren potenziell revolutionären Charakter die Italienische Linke immer unterstrichen hat - nicht zwecklos, wenn sie, wie anno 1936, darin endeten, dass die Herrschenden die Arbeiter mittels Zugeständnissen noch enger ans Regime binden?

All diese Fragen wurden ab 1936 zum Gegenstand der Debatten in der Fraktion, ohne dass eine befriedigende Antwort gefunden wurde. Die Debatten, die in der „bordigistischen" Organisation ausgetragen wurden, offenbarten tiefe Divergenzen, die schwer wiegende Konsequenzen nach sich zogen.

Die „orthodoxe" Position innerhalb der Italienischen Linken zur Kriegsökonomie wurde von Mitchell aus der belgischen Fraktion vertreten, der die weltwirtschaftliche Situation genau verfolgte. Für ihn wie für andere in beiden Fraktionen war die Kriegswirtschaft einfach ein Wirtschaftskrieg, der in einen militärischen Krieg umgewandelt wurde.

Ihre Funktion befand sich also im Widerspruch zur „klassischen" Entwicklung des Kapitalismus, der sich auf einer erweiterten Reproduktion des Kapitals und der Produktivkräfte gründete. Sie hatte einen negativen Effekt, indem sie weltweit akkumuliertes Kapital einfror, Kapital, das nicht in den Produktionssektor reinvestiert wurde, und vor allem durch die massive Zerstörung von Kapital durch die von ihm produzierten Waffen. „Communisme" (Nr. 12, „Rapport sur la situation internationale") stellte eindeutig fest, dass die „Kriegsproduktion einen kolossalen unproduktiven Verbrauch von Arbeit und Reichtum beinhaltet, die lebenswichtige Ressourcen der Gesellschaft sind". Die belgische Zeitschrift fügte hinzu, dass der Krieg kein „wirtschaftlicher" Ausweg für das System sei, wenn man es vom globalen statt vom nationalen Standpunkt aus betrachtet. Der Weltkrieg wie auch der lokale Krieg bedeute „die Vernichtung von Millionen von Proletariern und die Zerstörung unermesslichen Reichtums, der den kapitalistischen Mehrwert verkörpert". Interessant ist, dass dieser Text bereits die Möglichkeit einer Wiederaufbauperiode nicht ausschloss, da der Phase der Zerstörung „eine Phase des ‚Wiederaufbaus‘ und der Wiederbelebung der todkranken bürgerlichen Gesellschaft folgen wird" (ebenda).

Vercesi und ein Teil der italienischen Fraktion nahmen dagegen an, dass das Phänomen der Wiederankurbelung der Produktion durch das Wachstum der Rüstungsproduktion eine Modifizierung der Theorie notwendig mache. Das Phänomen des Staatskapitalismus in allen Ländern, der nach Ansicht der Italienischen Linken eine „weltweit wirkende Tendenz" war, und der „Manipulationen mit der Kreditwaffe" erschienen ihm dabei besonders bedeutsam zu sein. Auch wenn sie „nur eine industrielle Entwicklung in den spezifischen Bereichen der Rüstungsindustrie erlauben", so können sie „doch den Interessen des Kapitalismus dienen, vor allem indem sie den ökonomischen Kollaps verhinderten..." („Bilan", Nr. 24, Oktober/November 1935, „La tension de la situation italienne et internationale")

Im Grunde sagten Vercesi und seine Tendenz mehr oder weniger deutlich, dass der Staatskapitalismus auf der Grundlage der Kriegswirtschaft eine neue Lösung der Krise sei, indem er die Frage der Realisierung der Produktion auf dem Weltmarkt löse.

„... die gegenwärtige Wirtschaft, die durch die Hegemonie der Kriegsproduktion beherrscht wird, macht es möglich zu verhindern, dass der Markt durch eine Invasion des vorherrschenden Teils der Produktion überlastet wird. Aus diesem Grund haben sich sowohl die ökonomischen als auch die Klassengegensätze verlagert: Es ist nicht länger der Markt, der die antagonistische Basis der kapitalistischen Strukturen offenbart, sondern die Tatsache, dass künftig der größte Teil der Produktion seiner Absatzmöglichkeiten beraubt wird ."

Wenn die Rüstungsproduktion den im Markt verkörperten Widerspruch überwand, so musste sie folglich auch die Widersprüche des Systems überwinden, wenn diese in der Wirtschaftskrise kulminierten:

„Diese Verpflanzung der Achse der kapitalistischen Produktion hat als direkte Auswirkung auf die Strukturen des Systems einen gigantischen Anstieg der Mehrwertrate zur Folge, ohne dass die daraus resultierende Produktion sofort zum Ausbruch der spezifischen Widersprüche des bürgerlichen Regimes führt." („Bilan", Nr. 41, Mai/Juni 1937, „Rapport sur le situation internationale", vorgestellt von Vercesi auf dem Kongress der italienischen Fraktion).

Aus seiner Analyse der Maßnahmen der Volksfront und des New Deal folgerte Vercesi, dass der Kapitalismus die sozialen Spannungen vermindern könne, indem er den Arbeitern substanzielle Reformen zugesteht:

„... dem Kapitalismus gelingt es, die Ausbeutungsrate zu steigern und gleichzeitig Lohnerhöhungen, bezahlten Urlaub, Arbeitszeitverkürzungen zuzugestehen." (Nr. 43, September/Oktober 1937, „Pour le Bureau Internationale des Fraction Communistes de Gauche", von Vercesi)

Unter diesen Umständen verlören die Tageskämpfe jeden Klasseninhalt. Die ökonomischen Kämpfe mündeten nicht mehr in die Revolution. Nur der direkte revolutionäre Kampf könne die Klassenantagonismen noch wiederbeleben:

„... in der neuen wirtschaftlichen Situation, die der gigantischen, 1929 ausgebrochenen Krise folgte, besteht die unmittelbare Forderung der Arbeiterklasse nicht in der Forderung nach Lohnerhöhungen, sondern im direkten Kampf gegen die Errichtung der Kriegswirtschaft

... der Klassenantagonismus kann nur aus dem Widerspruch zwischen dem Kapitalismus, der unweigerlich in den imperialistischen Krieg führt, und dem Proletariat entstehen, das für die kommunistische Revolution kämpft." („Bilan", Nr. 41, s.o.)

Mitchell von der belgischen Fraktion unterstrich dagegen, dass die Kriegswirtschaft sich weder in einer Reallohnverbesserung noch in einer Unterdrückung der ökonomischen Widersprüche ausdrücke, die von der Aneignung des Mehrwerts bestimmt werden.

Ohne zu leugnen, dass der Generalstreik von 1936 zu Lohnerhöhungen geführt hatte, beharrte er darauf, dass sich der französische Kapitalismus keine Reallohnsteigerungen erlauben könne. „Jede Anhebung des Reallohns senkt automatisch die Ausbeutungsrate, denn (...) die Erhöhung des einen verringert unvermeidlich den Teil des anderen." („Communisme", Nr. 7, Oktober 1937) Die Intensivierung der Produktivität nach dem Juni 1936, die Kaskade von Abwertungen (um 50 Prozent in anderthalb Jahren) und die 35%-ige Inflation machten die Lohnerhöhungen binnen einiger Monate wieder zunichte und mündeten schließlich in einer unerbittlichen Senkung der Reallöhne. Tatsächlich „bestand der Irrtum darin zu meinen, was unter dem Druck der Massen zugestanden worden war, könne sich definitiv in das Programm des Kapitalismus einpflanzen lassen. Die Wahrheit ist, dass die Volksfront ihre Theorie der Kaufkrafterhöhung von den Fakten bestätigt sieht und dass folglich ihre Glaubwürdigkeit in den Massen verstärkt wurde. Dies ist ein politischer Erfolg für den Kapitalismus, der den wirtschaftlichen Verlust ausgleicht, den er durch das Matignon-Abkommen erlitten hatte." (ebenda)

Die belgische Fraktion widersetzte sich also heftig Vercesis Theorie über das Verschwinden des ökonomischen Kampfes, derzufolge „die Erfolge in den Tageskämpfen in gewisser Hinsicht zur Kollaboration der Arbeiter bei der Organisierung und dem Funktionieren der Kriegswirtschaft führen und folglich auch zu ihr Mitwirken in der Heiligen Einheit, die sie in das imperialistische Massaker stürzen wird." (aus: „Communisme", Nr. 8, November 1937, „Les convulsions de la decadence capitaliste dans la France du Front Populaire") Entgegen dieser Auffassung äußerte Mitchell, dass der partielle Kampf zwar die niedrigste Form des Klassenkampfes sei, aber „dennoch ein Ausdruck des Klassengegensatzes bleibt und nichts anderes sein kann". Er sei nicht „ein Selbstzweck, sondern ein Mittel, ein Ausgangspunkt". Seine Bedeutung bleibe entscheidend, „sofern die Arbeiter ihre spezifische Waffe, den Streik, einsetzen, die zu zerstören sich der Kapitalismus vorgenommen hat". In einer „zutiefst reaktionären Phase" sei es utopisch, den ökonomischen Kampf durch „den Kampf um die Macht" zu ersetzen, und zudem laufe man Gefahr, Trotzkis Position zu übernehmen, d.h. in Frankreich zur „Enteignung der Kapitalisten" aufzurufen (ebenda).

Vercesi hielt bis in den Krieg hinein an seiner Theorie der Kriegswirtschaft fest (siehe unten). Noch aber war er nicht so vermessen zu behaupten, dass das Proletariat gesellschaftlich verschwunden sei – dies geschah später. Tatsächlich gehörte er zu jenen, die die Weltrevolution am Horizont sahen. Wenn das Proletariat nicht mehr auf wirtschaftlicher Ebene kämpfen könne, würden seine Kämpfe sofort revolutionär werden und sich spontan auf das politische Terrain ausbreiten. Die neue gesellschaftliche Periode sei eine Ära des Bürgerkriegs durch die Weltbourgeoisie, um die revolutionären Kräfte des Proletariats Land für Land zu zerstören.

Seit dem Äthiopienkrieg zeichnete sich ein allgemeiner Krieg immer deutlicher ab, und es war schwierig, all die Konflikte zu ignorieren, die diesen Prozess ankündigten. Alle Mitglieder der Internationalen Kommunistischen Linken waren sich einig in der Annahme, dass die Revolution aus dem Krieg hervorgeht. Wie konnte Vercesi diese Gewissheit mit seiner Theorie der Kriegswirtschaft in Einklang bringen, die doch ausdrücklich leugnete, dass der Weltkrieg der einzige Ausweg des Kapitalismus ist?

Die Theorie der „lokalisierten Kriege". Anlässlich der Gründung des Internationalen Büros der Fraktionen 1937 gaben Vercesi und eine kleine Minderheit eine Antwort, die plausibel erschien. Die Kriegswirtschaft rücke die interimperialistischen Gegensätze in den Hintergrund. Die Bourgeoisie könne so den Ausbruch des Weltkrieges hinausschieben. Sich auf die klassische marxistische Theorie beziehend, derzufolge die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei, meinten sie, dass der einzige Widerspruch, der die kapitalistische Gesellschaft untergrabe, sozialer Art sei und zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausgetragen werde.

„Was mich betrifft, so denke ich, dass dieser Weltenbrand (der Krieg) nicht stattfinden wird und dass von nun an die einzige der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung entsprechende Kriegsform der Bürgerkrieg zwischen den Klassen ist, während umgekehrt die interimperialistischen Gegensätze einer nicht-gewaltsamen Lösung näher gebracht werden können (...)

Die Konkurrenz unter den Imperialisten ist ein zweitrangiges und niemals ein grundsätzliches Element. 1914 spielte sie eine wichtige, aber auch damals nur nebensächliche Rolle: Das Wesentliche war der Kampf zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat." („Bilan", Nr. 43)

Sie folgerten daraus, dass der imperialistische Krieg seine Funktion geändert habe. Für den Kapitalismus stelle sich nicht mehr die Frage, „neue Märkte zu erobern" („Bilan", Nr. 38, „Guerre civile ou guerre imperialiste?"), ja nicht einmal die Frage der Neuaufteilung der Welt. Der Krieg werde „zur äußersten Form des Kampfes des Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse". Er habe nur ein Zweck: das Proletariat zu massakrieren, „die Zerstörung des Proletariats in jedem Land" (ebenda). (6)

Diese Theorie war zutiefst durch die Ereignisse in Spanien geprägt, wo der Arbeiteraufstand vom Juli 1936 auf die Schiene des imperialistischen Krieges geleitet worden war. Wenn ein Krieg ausbrach, so konnte dies also nur bedeuten, dass zuvor eine revolutionäre Bewegung des Proletariats niedergeschlagen worden war, indem zum Mittel des modernen imperialistischen Krieges gegriffen wurde.

„Jedes Mal, wenn ein Krieg ausbricht, geht es nicht um die Frage, ‚welche imperialistischen Interessen auf dem Spiel stehen‘. Die Frage, die sich stellt, lautet vielmehr: ‚Welche sozialen Gegensätze werden in Richtung Krieg gelenkt?‘" („Bilan", Nr. 46, „Contrastes inter-imperialistes ou contrastes de classes: la guerre imperialiste en Chine")

Für die Bourgeoisie hätten diese „lokalen Kriege" schließlich den Vorteil, den allgemeinen Krieg zu verhindern, „ihre Gegensätze auf Gebiete zu lenken, wo sie nicht direkt aufeinanderprallen", und gleichzeitig ihre Wirtschaft durch die Waffenproduktion zu stimulieren. Dies bedeutete, dass es eine „interimperialistische Solidarität" gab (ebenda).

Auf ihre absurdesten Schlussfolgerungen zugespitzt, hatte diese Theorie zweierlei Auswirkungen:

Die Fraktionen neigten dazu, in jedem Angriff auf das Proletariat die Ankündigung der Revolution zu erblicken. So schrieb „Bilan", dass „Stalin, die letzte Reserve des Weltkapitalismus, durch die Auswüchse der von ihm praktizierten Folter (...)" Vorbote „sich nähernder, großer revolutionärer Stürme" sei („Bilan", Nr. 39, Januar/Februar 1937, „Les proçes de Moscou"). Jede Niederlage schien sich wie durch ein Wunder in einen Sieg zu verwandeln.

Die Fraktionen verstanden nicht die Bedeutung von München und der Besetzung der Tschechoslowakei. Sie meinten, dass die Bourgeoisie, geplagt von der Angst, einen neuen Oktober 1917 zu provozieren, versuche, einen Weltkonflikt zu vermeiden. (7)

Obwohl es eine starke Opposition gegen die Thesen Vercesis und seiner Tendenz gab, herrschte tatsächlich große Verwirrung in beiden Fraktionen. Im Glauben, dass die Revolution aus dem Krieg hervorgeht, gelangten sie zur Einschätzung, dass keiner der verschiedenen Imperialismen ein Interesse daran habe, einen Weltkrieg auszulösen. Gleichzeitig konnten sie jedoch nicht die reale Gefahr eines Weltkrieges leugnen. Bar jeder Orientierung, fanden sie es „schwierig zu sagen, ob die kapitalistische Gesellschaft definitiv auf den Weltkrieg zusteuert oder ob sich noch Perspektiven revolutionärer Klassenkämpfe eröffnen" („Communisme", Nr. 3, Juni 1937, „La situation internationale: tendances de l’évolution capitaliste")

Diese Unfähigkeit, entschlossen Stellung zum historischen Kurs zu beziehen, schwächte die Fraktionen beträchtlich. Da die Revolution auf sich warten ließ, entsprach die Theorie nicht mehr der Wirklichkeit. Die Demoralisierung begann, ihren Tribut einzufordern. Die Austritte häuften sich. „Octobre" stellte sein Erscheinen ein Jahr lang, bis zur letzten Ausgabe im August 1939, ein. Das Internationale Büro erlebte nach Angaben seiner eigenen Mitglieder (u.a. Vercesi, Mitchell und Jacobs) eine Art Herzstillstand. Die Diskussion innerhalb der Fraktionen führte zu keiner kohärenten und homogenen Position.

Tatsächlich standen sich am Vorabend des Krieges drei Positionen gegenüber:

Jene von Vercesi vertrat immer noch die Theorie der lokalen Kriege.

Die Position vor allem von Mitchell ging davon aus, dass München zu einem Weltenbrand führen werde, in dem die faschistischen Staaten ihre endgültige Niederlage erleiden werden.

 

Eine dritte Theorie glaubte schließlich an einer „Entwicklung des Weltkapitalismus zur Errichtung faschistischer Terrorregimes in allen Ländern" („Octobre", Nr. 3, „Manifest des Internationalen Büros der Linksfraktionen").

Einige Tage vor dem Krieg musste „Octobre" zugeben, dass „die Ereignisse von München die beiden Fraktionen stark erschüttert haben (...) In der belgischen Fraktion haben sich zwei Strömungen gegenseitig voneinander abzugrenzen versucht; in der italienischen Fraktion ist die Abgrenzung weniger deutlich." („Octobre", Nr. 5, „Erklärung des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken") (8)

Der Krieg sollte bestätigen, wie schlimm die Lage wirklich war.

Fußnoten:

  • (2) Siehe Bucharins Buch „Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals" (Antwort an Rosa Luxemburg). In der Kommunistischen Internationale nach 1925 wurde ein gewaltsamer Angriff gegen die „Luxemburgistischen" Thesen unternommen. Ziel war, die Gültigkeit des „Sozialismus in einem Land" aufzuzeigen, denn der Kapitalismus sei in der Lage gewesen, seine Widersprüche in die ferne Zukunft zu verschieben. Laut Bucharin konnten sich diese Widersprüche nur durch „die Revolte der Farbigen" zuspitzen, denen der Imperialismus ihre wirtschaftliche Grundlage entzogen hatte. Wirtschaftlich gesehen, war der Hauptwiderspruch der tendenzielle Fall der Profitrate, und nicht das Schrumpfen der Märkte, die Bucharin als „Drittpersonen" bezeichnete.
  • (3) Sternberg stellte (im Anhang zu „Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht") fest, dass die Weltproduktion zwischen 1929 und 1932 von 100 auf 69 gefallen war. In den USA betrug ging die Produktion um 50 Prozent zurück. Die Zahl der Arbeitslosen in den Industrieländern der Welt stieg von zehn auf 40 Millionen. Der Weltaußenhandel ging in der Krise um mehr als 60 Prozent zurück.
  • (4) Anfangs machte die holländische Linke, die ansonsten in der nationalen und kolonialen Frage ganz auf der Linie Rosa Luxemburgs stand, bei ihrer Verurteilung der „nationalen Befreiungskämpfe" eine einzige Ausnahme, nämlich bei den ostindischen Kolonien der Niederlande.
  • (5) Sternberg zeigte in seiner Untersuchung, dass der Index der industriellen Produktion in Deutschland, verglichen mit dem Stand von 1929, auf 126 im Jahre 1938 gestiegen war. In den USA stieg er 1937 auf 113, um 1938 auf 89 zurückzufallen. Doch „konnte der Welthandel in keinem Moment dieser Periode die Zahlen von 1929 erreichen oder gar übertreffen".
  • (6) Diese Theorie von Vercesi, die die LCI fälschlicherweise allen Militanten beider Fraktionen zuschrieb, verleitete die LCI zur Behauptung, dass „sie schlicht und einfach die imperialistischen Widersprüche leugnen, ebenso wie den Gegensatz zwischen Faschismus und Demokratie". Die LCI von Hennaut fügte in ihrem „Bulletin" vom März 1937 hinzu, dass „das Konzept, wonach die Bourgeoisie international einig und untrennbar verbunden sei, notwendigerweise zur Negation der imperialistischen Antagonismen oder zur Auffassung ihres extremen Rückgangs führen muss. Die Geringschätzung dieser Antagonismen muss zur Idee verleiten, dass der Krieg der spezifische Kampf der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist. Man kann sich keine schlimmere Verirrung vorstellen."
  • (7) Ein Flugblatt der belgischen Fraktion, das nach München verteilt wurde, erklärte: „Mit dem Pakt von München demonstrierte die internationale Bourgeoisie zynisch ihre Fähigkeit, sich angesichts des auftauchenden Gespenstes der Revolution über die Querelen der imperialistischen Clans hinwegzusetzen. Schon fortgetragen vom Tumult der Mobilisierung, schon angesteckt vom Kriegsfieber, hat sie in letzter Minute eine Kehrtwende gemacht und die Perspektive eines Weltkonflikts zurückgestellt, weil sie sich noch deutlich an den Oktober 1917 und an das Erwachen der Arbeiter als Klasse erinnert." Allerdings fügte sie hinzu: „Auf die Kriegsdrohung des letzten 28. September müsst ihr mit der Ausbreitung eurer Kämpfe in allen Ländern antworten." (aus: „Communisme", Nr. 19, Oktober 1938, „Dem imperialistischen „A la ‚paix‘ imperialiste, il faut opposer le revolution")
  • (8) In der italienischen Fraktion hatten sich jedoch einige Militante aus Paris und Marseille heftig den Thesen über die „lokalen" Kriege und der Kriegswirtschaft widersetzt. Einer unter ihnen beteiligte sich 1942 an der Gründung der französischen Fraktion der Kommunistischen Linken (siehe unten).
(1) „Phillipe" war das Synonym, das Vercesi gelegentlich benutzte, wenn er Artikel für „Bilan" schrieb.

Politische Strömungen und Verweise: 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: