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In den 30er Jahren sahen sich sämtliche Revolutionäre veranlasst, über die theoretischen Lehren aus der Russischen Revolution zu diskutieren. Der Triumph des Stalinismus, der sich mit den westlichen „Demokratien“ verbündet hatte, seine Straflager (oder besser: KZs), von denen viele „Freunde“ der Sowjetunion nichts wissen wollten, in die aber nichtsdestotrotz zahllose Kämpfer der Arbeiterklasse gesteckt wurden, die Moskauer Prozesse – all dies zwang die Italienische Linke dazu, eine Bilanz der Oktoberrevolution zu ziehen. Sie musste erklären, wie eine proletarische Revolution binnen weniger Jahre zur Schrecken erregenden Karikatur des Sozialismus werden konnte. War der Sozialismus gescheitert? Oder war im Gegenteil diese schlimme Niederlage die Vorbedingung für den künftigen Sieg?
Die Krise von 1929 bewies der Italienischen Linken, dass nicht der Sozialismus, sondern der Kapitalismus gescheitert war, weil er unausweichlich zum Weltkrieg führt. Wenn die Russische Revolution letztendlich gescheitert war, dann deshalb, weil viele programmatische Fragen nur gestellt, aber von den Bolschewiki und der III. Internationalen nicht gelöst worden waren. Der zukünftige Sieg des Sozialismus, der durch die permanente Krise des Kapitalismus in greifbare Nähe rückte, setzte eine entschlossene Kritik an den Fehlern der Bolschewiki und der Internationalen voraus. Von den Schrecken des Stalinismus geplagt, wollte die Italienische Linke vermeiden, dass eine künftige Revolution an der Unfähigkeit des Proletariats scheitert, die bitteren, aber notwendigen Lehren aus den vergangenen Niederlagen zu ziehen. Um nicht dieselben Fehler zu wiederholen, war es notwendig, neue Wege zu finden. Um nicht der Verknöcherung anheimzufallen, musste der Marxismus als Untersuchungsmethode benutzt werden und nicht als Katechismus, in dem alles bereits im Voraus definiert, gelöst und in unveränderliche Dogmen gegossen ist. „Die Arbeiter dürfen in ihrem Befreiungskampf nicht alles ‚wiederholen‘, sondern müssen Neues schaffen, gerade weil sie die revolutionäre Klasse in der heutigen Gesellschaft darstellen. Die unausweichlichen Niederlagen, die diesen Weg säumen, werden daher anregende Elemente sein, wertvolle Erfahrungen, die das künftige erfolgreiche Wiedererstarken der Klasse ermöglichen. Doch wenn wir auch nur einen einzigen Fehler der russischen Revolution wiederholen, stellen wir das künftige Schicksal des Proletariats auf lange Sicht in Frage und rufen somit das Gefühl hervor, dass alles vergeblich sei.“ (Bilan, Nr. 29, März/April 1935, „Zum 65. Jahrestag der Pariser Kommune“)
Daher sind größte Entschlossenheit und Mut bei der Bilanzierung des Oktobers 1917 Voraussetzung für den künftigen Sieg. Wenn man dem Bolschewismus und Lenin treu bleiben wollte, musste man weitergehen. Lenins Werk zum „Leninismus“ zu stilisieren war in den Augen von Bilan die schlimmste Entartung. Von der Idee geleitet, dass der Marxismus Ausdruck der Klasse und nicht eines Individuums ist, sei es noch so „genial“, und überzeugt davon, dass die Theorie von den gemeinsamen Kämpfen der Arbeiterklasse gespeist wird und nicht vom Hirn eines einzelnen, auserwählten Individuums, schrieb Bilan: „Lenin hat uns die theoretischen Begriffe hinterlassen, die für die Arbeiterklasse zu seinen Lebzeiten ausreichend waren. Er konnte nicht mehr geben und auch nicht mehr verstehen. Der Marxismus ist kein religiöses Bekenntnis der neuen Welt, sondern das Instrument zur Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaft.“ (Nr. 2, „Die Krise der kommunistischen Bewegung“) Doch die Kritik von Bilan und anschließend von Octobre sollte weit über Russland und die Komintern hinausgehen. Tatsächlich wurde der gesamte Zeitraum zwischen dem I. Weltkrieg und 1933 der Feder der Kritik unterworfen, wobei man sich weder durch Vorurteile noch durch falsche Scheu beirren ließ. Kein Thema sollte tabu sein, weder die Organisationen der Arbeiterklasse – Partei, Gewerkschaften, Räte – noch die Form des Klassenkampfes, d.h. die Übergangsperiode nach der proletarischen Machtübernahme und das Wesen des „proletarischen“ Übergangsstaates.
„Heute können wir nur herumtasten“, erwiderte Vercesi (Bilan, Nr. 35, September/Oktober 1936) in einer Antwort an Hennaut über das Wesen und die Entwicklung der Russischen Revolution. Wie wir später sehen werden, ist die Italienische Linke weitergegangen. Sie hat Antworten geliefert, die sich durch ihre wissenschaftliche Stringenz, ihre Originalität und Substanz auszeichneten, unabhängig davon, wie man zum Inhalt dieser Beiträge stehen mag.
Fast von Anbeginn ihrer Existenz hat sich die Italienische Linke, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, darum bemüht, die politischen Lehren aus dem Scheitern der revolutionären Welle von 1917-23 zu ziehen. Ihre Opposition gegenüber der Komintern und der russischen KP (B) in den „taktischen“ Fragen (Einheitsfront, Arbeiter- und Bauernregierung, Block der vier Klassen Bucharins und Stalins) sowie in den Organisationsfragen (Zellen, Föderalismus und Zentralismus) brachte sie von Anfang an in einen Gegensatz zum russischen Staat, der die Komintern kontrollierte. Ihr Widerstand war vom Niedergang der Russischen Revolution und der Parteien der Internationalen begleitet.
Ausgehend von den „Römischen Thesen“ Bordigas, die von der PCI verabschiedet worden waren, meinte die Fraktion, dass das Proletariat seine Klassenexistenz allein von der Kommunistischen Partei ableite, die dem Proletariat zu Bewusstsein über seine Mittel und Ziele verhelfe. Zwar war die Fraktion eine der ersten linken Strömungen, die den Rückfluss der revolutionären Welle ab 1921 begriffen hatten, doch suchte sie die Ursachen der Niederlage der Russischen Revolution und der Komintern vor allem in den „taktischen Fehlern“ der Komintern und der russischen KP, welche zu einer unvermeidlichen Verfälschung und anschließenden Verwerfung der revolutionären Grundsatzprinzipien geführt hätten. Ihr zufolge war eine kommunistische Partei mit festen revolutionären Prinzipien automatisch im Besitz der richtigen Taktik. Jede falsche Taktik führe notwendigerweise zum Zerfall dieser Prinzipien. Taktik und Prinzipien seien untrennbar und bedingten sich gegenseitig.
Diese auf den ersten Blick abstrakte Auffassung legte die Betonung auf die subjektiven Bedingungen der Revolution, in denen die Partei das Schlüsselelement, ja, gar das einzige Element darstelle. Dass die italienische Fraktion der Partei eine derart herausragende Rolle zumaß, erschien anderen Gruppen als eine Karikatur des stalinistischen Parteikultes. Die belgische LCI schrieb (nach der Abspaltung ihrer „bordigistischen“ Minderheit), dass „die Positionen der Partei, die die italienische Fraktion vertritt, keine Überwindung, sondern eine der verschiedenen Erscheinungen des Niedergangs des Bolschewismus sind, genauso wie der Stalinismus und der Trotzkismus“. (Bulletin, März 1937)
Die ganze Geschichte der Italienischen Linken bewies, dass diese Beschuldigung nicht triftig war. Sie war wohl eher eine emotionale Reaktion als die politische Manifestation irgendeiner Position. Mit der Behauptung, dass die Partei die Revolution entscheidet, wurde die Auffassung aller Strömungen artikuliert, die aus der II. Internationalen hervorgegangen waren, die KAPD eingeschlossen, denn aus deren Sicht war dies ein wesentlicher Bestandteil des Marxismus. Mit der Behauptung, dass die Partei im Namen der Arbeiterklasse die Macht ergreife und die Diktatur an Stelle der Arbeiter ausübe, stand die Fraktion Lenin und der Kommunistischen Internationalen, ja, selbst Rosa Luxemburg nahe, die auch keine andere Meinung über dieses Thema hatten.
Was bei ihr auf den ersten Blick wie eine „Verherrlichung“ der Partei anmutete, der jedes gesellschaftliche Phänomen untergeordnet werden sollte, war in Wahrheit eine kritische Bilanz der Rolle der Partei in der Revolution, was nur bei oberflächlicher Beobachtung paradox erschien. Nach Auffassung der Fraktion erfüllte die Partei eine sehr wichtige Funktion. Sie fasste sie als ein wichtiges Instrument des Klassenkampfes auf, das angesichts der Unfähigkeit des Proletariats, spontan zu revolutionären politischen Auffassungen zu gelangen, für die Arbeiterklasse in die Bresche springen müsse. Ihr zufolge müsse die kommunistische Partei eine große historische Verantwortung erfüllen, nämlich die Vorbereitung und Durchführung einer erfolgreichen Revolution. Versagte sie dabei, so werde sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden und wäre zum Scheitern verurteilt. Beginge sie gar Verrat und würde zum Henker, würden die revolutionären Prinzipien, die sie einst mit Leben erfüllt hatte, obsolet werden.
Die Fraktion, die die Prinzipien von Rom und Lyon favorisierte, war der Auffassung, dass die Partei ein Teil des Proletariats sei, das die kommunistischen Ziele repräsentiere. Sie werde in der Hitze des Kampfes gebildet und durch neue Prinzipien stets bereichert. „Solange Klassen existieren, selbst in der Diktatur des Proletariats, wird es notwendig sein, das weltanschauliche Erbe des Proletariats zu bereichern, das eine Grundvoraussetzung für die Verwirklichung der historischen Mission der Arbeiterklasse ist.“ (Bilan, Nr. 5, „Die Prinzipien: Waffen der Revolution“, verfasst von Vercesi) Die Italienische Linke der 30er Jahre unterzog sich stets einer kritischen Überprüfung und lehnte jede blinde Gefolgschaft gegenüber der Partei ab. Die Waffe der Kritik sollte auch weiterhin benutzt werden.
In der Überzeugung, zusammen mit den anderen Linksfraktionen den Kern einer künftigen Weltpartei darzustellen, verrichtete die italienische und belgische Fraktion eine gewaltige theoretische Arbeit. Mit ihrer Auffassung, „ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Partei geben“, traten sie in die Fußstapfen Lenins. Auf vielen Hundert Seiten widmeten sich Bilan, Communisme und Octobre den Lehren aus der Russischen Revolution und befassten sich kritisch mit den Taktiken der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationalen.
Diese Kritik hatte nicht das Ziel, die Geschichte neu zu rekonstruieren, um sie nachträglich zu rechtfertigen. Bilan behauptete nicht á priori, dass alles, was existierte, auch tatsächlich rational wäre, sondern orientierte sich an der revolutionären Praxis. Statt hier die Positionen der Italienischen Linken zur Russischen Revolution detailliert aufzuzählen, scheint es uns eher angebracht, ihre Erkenntnisse zur proletarischen Revolution unter Berücksichtigung der Lehren aus der Oktoberrevolution von 1917 darzustellen. Ihre Theorie ging weit über den russischen Rahmen hinaus und stützte sich auf die Erkenntnisse der Fraktion hinsichtlich der Gewerkschaftsfrage. Ebenso berücksichtigte sie die Entwicklung des russischen Staates zur Zeit der Moskauer Prozesse, d.h. das allgemeine Phänomen des Staatskapitalismus nach der Weltwirtschaftskrise von 1929. Wir werden daher unterscheiden zwischen:
· den Bedingungen der Weltrevolution nach Bilan,
· den Mitteln der Weltrevolution – Partei und Gewerkschaften - und
· den Zielen – Kommunismus und Staat.
1. Die objektiven Bedingungen: die kapitalistische Dekadenz
Das Scheitern der revolutionären Welle nach der Niederschlagung des deutschen Proletariats zwischen 1919 und 1923 stellte die künftige Perspektive einer Weltrevolution in Frage. 1917 hatten die Menschewiki behauptet, dass die Revolution verfrüht sei, da die objektiven Bedingungen (die Entwicklung der kapitalistischen Produktion) in Russland noch nicht einmal annähernd herangereift seien. Nun, nach der tiefen Rezession der 30er Jahre, die dem Boom der 20er Jahre folgte, schienen viele Revolutionäre davon überzeugt zu sein, dass der Kapitalismus mittlerweile so stark geworden war, dass er nicht mehr gestürzt werden konnte. Obwohl sie sehr wohl den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zur Kenntnis genommen hatten, meinten sie dennoch (wie z.B. Prudhommeaux), dass das Proletariat ähnlich wie die Sklaven in der Antike (Spartakus) nur noch zu verzweifelten, aussichtslosen Revolten imstande sei.
Waren also die objektiven Bedingungen für die Weltrevolution überhaupt noch vorhanden? Und wenn ja, reichten sie für den Erfolg Letzterer aus? Dies waren Fragen, mit denen die Italienische Linke während dieser dunklen Jahre unübersehbar konfrontiert war.
Aus der Sicht von Bilan im Allgemeinen und von Mitchell im Besonderen bedeutete der I. Weltkrieg den Eintritt des Kapitalismus in die Phase des Niedergangs des gesamten kapitalistischen Systems (Dekadenz des Kapitalismus), die nur noch von Krieg und Revolution gesäumt sei. Diese Sichtweise lehnte sich eng an die Analysen der Komintern in ihrer Anfangsphase an. Die Dekadenztheorie entsprang keiner moralischen Auffassung, sondern stützte sich auf die Realität permanenter Krisen, die seit 1929 die Weltwirtschaft ständig im Griff hatten. Sie spiegelte sich jedoch weniger in einem Rückgang der Produktivkräfte wider, da die Akkumulation mit der Etablierung der Kriegswirtschaft fortgesetzt werden konnte, als vielmehr in der Fesselung und Drosselung der Produktivkräfte. Mitchell meinte in einem Bilan-Artikel: „Die kapitalistische Akkumulation ist auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, ihres Fortschritts angelangt, und die kapitalistische Produktionsweise hat nun eine bremsende Wirkung auf die geschichtliche Entwicklung.“ (Nr. 31, Mai/Juni 1936, „Probleme der Übergangsperiode“)
Die Dekadenz liefere die Grundlagen der Revolution, obgleich damit noch längst kein Automatismus für die Auslösung der Revolution gegeben sei. Der Kapitalismus sei „keine reife Frucht, die die Arbeiterklasse nur hätte ernten müssen, um in das Reich der Glückseligkeit einzutreten“. Mit ihr würden lediglich die „materiellen Bedingungen (zur) Errichtung der Grundlagen (und nur der Grundlagen!) des Sozialismus, zur Vorbereitung der kommunistischen Gesellschaft gegeben“.
Bedeutete dies, dass in allen Ländern, auch in den rückständigsten Ländern, die Bedingungen für die Revolution herangereift waren? In einer Polemik gegen die Italienische Linke schien Hennaut das Scheitern der Russischen Revolution mit der Unreife der ökonomischen Grundlagen in Russland zur Zeit der Oktoberrevolution 1917 zu erklären. Er meinte, dass „‘Bilan‘ dem rückständigen Zustand der wirtschaftlichen Struktur Russlands keine Bedeutung beizumessen schien, als es um die Erklärung für die, wie sie es nannte, Entartung des proletarischen Staates ging“. Er war der Auffassung, die „bolschewistische Revolution war vom Proletariat vollzogen worden, aber es handelte sich nicht um eine proletarische Revolution“ (Nr. 33, Juli/August 1936, „Wesen und Entwicklung der Russischen Revolution“)
Nach dieser Analyse konnte man zu der Auffassung gelangen, dass die proletarische Revolution in den rückständigen Ländern unmöglich ist und diese Länder bestenfalls in den Genuss einer bürgerlichen Revolution kommen konnten, die die alte vorkapitalistische Produktionsweise beiseite fegt. Ohne die nationalen Besonderheiten in der Weltwirtschaft außer Acht zu lassen, war die Italienische Linke jedoch der Auffassung, dass alle Länder, unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, reif für den Sozialismus seien, denn dieser ergebe sich aus den weltweit existierenden Klassenverhältnissen. „Das Reifekriterium sowohl für die höher entwickelten als auch für die rückständigen Länder muss abgelehnt werden (...) Das Problem muss unter dem Blickwinkel einer historischen Reifung der sozialen Gegensätze untersucht werden, die aus dem zugespitzten Konflikt zwischen den materiellen Kräften und den Produktionsverhältnissen hervorgehen. Auch wenn ein gegebenes Proletariat noch so ‚arm‘ ist, braucht es nicht auf die Aktionen und Handlungen eines ‚reicheren‘ Proletariats zu warten, um seine ‚eigene Revolution‘ zu machen.“ (Bilan, Nr. 28, Februar/ März 1936, „Probleme der Übergangsperiode“ von Mitchell)
Es war nicht überraschend, dass die proletarische Weltrevolution ihren Anfang in einem rückständigen Land wie Russland nahm, war doch die wirtschaftliche und politische Macht der Bourgeoisie dort schwächer verankert als in den Industrienationen. Aus der Sicht von Bilan konnte die Frage des Sozialismus nicht im Rahmen der besonderen nationalen Bedingungen gestellt werden, sondern nur auf internationaler Ebene, da „der Sozialismus international ist oder nichts“ (Bilan, Nr. 35, „Antwort an Hennaut“ von Vercesi).
Die Basis der proletarischen Revolution war grundsätzlich politischer Natur. Das Reifekriterium war subjektiver Art und bezog sich auf das sozialistische Bewusstsein der verschiedenen Teile des Proletariats, das in den unterentwickelten Ländern durch die nur schwache Mystifikationskraft der bürgerlichen Demokratie nicht so stark überlagert war. Denn die Demokratie erschien Bilan als schlimmes Gift.
2. Die subjektiven Bedingungen: die Partei
Aus der Sicht der Italienischen Linken gab es keine Revolution ohne revolutionäre Partei. Diese von der kommunistischen Bewegung dieser Zeit allgemein vertretene Auffassung bedeutete nicht, dass sie potenzielle proletarische Bewegungen leugnet, Bewegungen, die ohne dem entsprechenden Einfluss einer gegebenen kommunistischen Partei entstanden. Doch seien diese zum Scheitern verurteilt, falls sie nicht über eine klare Orientierung verfügten.
Tatsächlich spiegele die Bereitschaft des Proletariats, sich eine Partei zu schaffen, einen bestimmten Reifegrad im Klassenbewusstsein wider. Ihm liege eine objektiv revolutionäre Situation zugrunde, nämlich die Perspektive eines Angriffs gegen die Weltbourgeoisie (s. Octobre, Nr. 1, Februar 1938, „Resolution über die Gründung eines Internationalen Büros“). Außerhalb einer solchen Periode sei die Gründung einer Partei ein rein voluntaristischer Akt. Gegen die Forderung, „die Klassenpartei zu schaffen, um den Klassenkampf voranzutreiben, setzt das Büro die Losung: ‚Der Klassenkampf ist nötig für die Gründung der Partei‘“ (ebenda). In einer außer-revolutionären Phase kristallisiere die Fraktion das revolutionäre Bewusstsein des Proletariats, während sich das Proletariat selbst in einem Zustand der Apathie befände oder eine Niederlage hingenommen habe. „Trotz der Niederlage findet das Proletariat in der Fraktion eine politische Kraft, in der sich ihr Klassenbewusstein konzentrieren und bestätigen kann, was eine Vorbedingung für ihre Handlungsfähigkeit in einer Situation der revolutionären Reife darstellt.“ (Communisme, Nr. 1, April 1937, „Prinzipienerklärung der belgischen Fraktion“)
In der Metamorphose zur Partei käme ein ganzer historischer Prozess zum Ausdruck. „Ohne Fraktion keine Partei, ohne Partei keine Revolution“ (Octobre, Nr. 1, „Interne Regelung der Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken“). Die Funktion der Partei, die aus der revolutionären Situation hervorgehe, bestünde darin, das Proletariat auf dem Wege des Umsturzes der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, durch die Machtübernahme, zum Sieg zu führen. Als Verkörperung des Klassenbewusstseins übe die Partei im Namen des Proletariats während der Übergangsperiode ihre „Klassendiktatur“ aus. Sie sei die wirkliche Seele der Revolution und trachte danach, die Führung von Gewerkschaften und Räte zu übernehmen, da diese nur dann einen revolutionären Inhalt entwickeln könnten, wenn sich die Partei mit ihren politischen Positionen durchsetze. Was ihre Struktur angehe, müsse die künftige kommunistische Partei dem Beispiel der bolschewistischen Partei vor 1917 nachempfunden sein und eine kleine Organisation sein. Die Italienische Linke lehnte die Massenparteien der II. Internationalen ab. Zur Verwirklichung ihrer Aufgaben sollten ihre Mitglieder ideologisch und organisatorisch vorbereitet und durch den Klassenkampf und die damit verbundenen Erfahrungen gestählt sein. Statt unmittelbare Erfolge in Form von Rekrutierungskampagnen anzustreben, solle die Partei auf die Zukunft hinarbeiten, indem sie die künftigen revolutionären Kader sorgfältig auswählt. Bilan war der Auffassung, die Umwandlung der Sektionen der Komintern in Massenparteien sei eine der hervorstechendsten Merkmale ihres Niedergangs gewesen. In ihrer Kritik an die Komintern lehnte sie den „demokratischen Zentralismus“ ab, der aus ihrer Sicht einer der Gründe für den per Wahlen erfolgten Ausschluss der revolutionären Elemente war. Sie setzte ihm den „organischen Zentralismus“ entgegen, der aus dem Programm und nicht aus irgendeinem Wahlmechanismus hervorgehen sollte. Jedoch schloss sie programmatische Divergenzen nicht aus. Doch würden diese notwendigerweise in Gestalt der Fraktionen zum Ausdruck kommen. Die Partei müsse also zumindest das Fraktionsrecht anerkennen, so dass abweichende Fraktionen die Gelegenheit haben, in der Partei zu verbleiben, sofern sie das revolutionäre Programm vertreten.
In ihren grundsätzlichen Positionen wichen die italienischen Linkskommunisten nicht von den Auffassungen Lenins und vor allem Bordigas in den 20er Jahren ab. Sie befanden sich im Gegensatz zu den Auffassungen Trotzkis und der Trotzkisten, wonach die Partei sofort gegründet werden müsse und nicht erst aus einer revolutionären Situation hervorgehe. Auch ihre Auffassung über das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei stand im Gegensatz zu derjenigen Trotzkis; denn für die Italienische Linke handelte es sich bei beiden Faktoren um einen Prozess, in dem der eine den anderen beeinflusst. Doch Ausschlag gebend für das Leben einer kommunistischen Partei war nach Auffassung der Italienischen Linken ihre Verbindung zur Kommunistischen Internationalen. Sie fasste Letztere nicht als losen Zusammenschluss, als Föderation von nationalen Parteien auf, sondern als die kommunistische Weltpartei, deren territoriale Sektionen in den verschiedenen Ländern sich der Disziplin einer weltweiten Zentralisierung unterwarfen. Selbst wenn es einer nationalen Partei, wie den Bolschewiki in Russland, gelänge, die Macht in einem Land zu ergreifen, bliebe sie auch weiterhin dieser Disziplin unterworfen und besäße als eine Sektion der Weltpartei keinerlei Vorrechte. Auch die zahlenmäßige Stärke und das Prestige einer nationalen Partei dürfe keine Rolle spielen. Diese große Bedeutung, die sie der Partei als einen Faktor der proletarischen Revolution einräumte, sollte vor allem während und nach dem II. Weltkrieg große Auswirkungen auf die Geschichte der Italienischen Linken haben. In der Zeit von 1926 bis 1939 neigte vor allem die italienische und belgische Fraktion dazu, das Nichtvorhandensein einer Partei theoretisch mit der Auffassung zu rechtfertigen, dass das Proletariat als Klasse verschwände, wenn es die Partei nicht gebe. So behauptete Vercesi, dass „in der gegenwärtigen Situation das Proletariat als Klasse vorübergehend verschwunden ist und dass die Klasse erst wiederaufgebaut werden muss“ (Bilan, Nr. 6, April 1934, „Partei – Internationale – Staat“). Dieselbe Auffassung vertrat Vercesi übrigens auch während des Krieges, als er meinte, dass es, gesellschaftlich betrachtet, keine Arbeiterklasse geben könne. Sie sei verschwunden, und alles, was den kommunistischen Militanten noch verbliebe, sei lediglich die Entfaltung humanitärer Aktivitäten, denen er sich übrigens auch selbst widmete (siehe unten).
In einer gegen Bilan gerichteten Polemik meinte Hennaut, dass für die italienische Fraktion „der Klassenkampf nicht mehr der Motor ist, stattdessen tritt der Kampf der Klassenparteien an dessen Stelle“ (Bilan, Nr. 33, Juli/August 1936, „Wesen und Entwicklung der Russischen Revolution“ von A. Hennaut). Hennaut dagegen, der eine der Holländischen Linken nahestehende Auffassung vertrat, war vor allem davon überzeugt, dass die „proletarische Revolution keine Revolution der Partei sein könne. Sie werde entweder eine Revolution der Klasse sein oder gar nichts“ (Bilan, Nr. 34, August/September 1936, „Formelle Demokratie und sozialistische Demokratie“). Er schloss daraus, dass „die Genossen von ‚Bilan‘, die sich zu Anhängern Lenins erklärt haben, ohne sich jedoch als ‚Leninisten‘ zu bezeichnen, in Wirklichkeit leninistischer als Lenin sind“ (Bilan, Nr. 33, ebenda). Tatsächlich waren die Positionen von Bilan jedoch weniger leninistisch, als sie auf dem ersten Blick erschienen. Die theoretische Bilanz der Russischen Revolution und ihre Kritik an der während der Revolution praktizierten Leninschen Taktik machen dies deutlich. Die Kritik an der „Gewerkschaftstaktik“ sollte ein erster Schritt zur allgemeinen Infragestellung der Politik der Komintern werden.
GEWERKSCHAFTEN UND KLASSENKAMPF
Im Unterschied zur deutsch-holländischen Linken, deren gewerkschaftsfeindliche Positionen sie kritisierte, trat die Italienische Linke stets für eine aktive Arbeit in den Gewerkschaften ein. Alle Genossen, die Gelegenheit hatten, einer Gewerkschaft beizutreten, sollten dies auch tun, um dort aktiv aufzutreten und die Positionen der Fraktion in den Verteidigungskämpfen zu verbreiten.
Die Gewerkschaften waren aus ihrer Sicht eine „Schule des Kommunismus“, in der noch immer das proletarische Bewusstsein geschmiedet werden konnte. Sie seien der Ort, wo die künftige Partei einen Resonanzboden für die kommende revolutionäre Periode finden könne. Und schließlich würden die Gewerkschaften auch in der Übergangsperiode als Grundlage für die Diktatur des Proletariats dienen.
Die Fraktion verfolgte also mit besonderer Aufmerksamkeit die Entwicklung der „reformistischen“ Gewerkschaften in Frankreich wie auch in Belgien, die von den Linken unterstützt wurden, aber gleichzeitig auch die Kontrolle über Letztere ausübten.
Im Gegensatz zu Trotzki lehnte sie jede Arbeit in den faschistischen Gewerkschaften mit dem Ziel der „Unterwanderung“ ab. Indem sie zu Staatsorganen würden, seien sie als Organe der unmittelbaren, wirtschaftlichen Verteidigung der Arbeiter unbrauchbar. Unter diesen Umständen „war damit automatisch das Prinzip der Gründung neuer Gewerkschaften aufgeworfen“ (Communisme, Nr. 8, November 1937, „Resolution über die gegenwärtigen Aufgaben der Fraktion in den Gewerkschaften“).
Bezüglich der sozialistischen und kommunistischen Gewerkschaften schlug sie eine Eroberung von Innen vor, mit dem Ziel, deren Führung zu übernehmen und die „reformistische Spitze“ zu stürzen. Nur mit diesen Gewerkschaften sei eine Einheitsfront gegen die Bourgeoisie möglich. Um diese aber zu verwirklichen, sei es gegenüber der Offensive des Kapitalismus gegen die Löhne die beste Lösung, eine Einheitsgewerkschaft zu bilden. Doch die Praktizierung dieser Einheit unter dem Banner der Volksfront und mit dem eigentlichen Ziel, die Gewerkschaften an den Staat zu binden, bedeute „als solches ein neues Element der Demobilisierung der Arbeiterklasse zugunsten des Kapitalismus“ (Bilan, Nr. 9, Juli 1934, „Die Lage in Frankreich“).
Die Fraktion trat dennoch nicht für die Bildung neuer Gewerkschaften ein, auch nicht für deren „Politisierung“. Sie wandte sich sowohl gegen die Anarchosyndikalisten der CGT-S.R. wie auch gegen die „Föderation der Lehrer“ (CGTU) um Dommanget, die eine „politisch-gewerkschaftliche“ Strömung gründen wollte. Denn „die kommunistisch-gewerkschaftliche Strömung fördert die reaktionäre Meinung, dass ‚die Gewerkschaften ausreichen‘, um ‚bewusste Minderheiten‘ hervorzubringen“ (Bilan, Nr. 29, März/April 1936, „Die Niederschlagung des französischen Proletariats“).
Tatsächlich sollten die Gewerkschaften die Aufgabe haben, die unmittelbaren Interessen der Arbeiter gegenüber dem Kapitalismus zu verteidigen. Sie unterschieden sich von der kommunistischen Partei, weil die Arbeiterklasse „in ihren Reihen das Werkzeug nicht finden konnte, das es zum Sieg hätte führen können“ (Bilan, Nr. 5, ebenda). Nur die linkskommunistischen Genossen seien in der Lage, die Gewerkschaften wieder auf den richtigen Pfad zu bringen und sie zur Erfüllung ihrer ursprünglichen Aufgabe zu zwingen, nämlich als Instrumente des Klassenkampfes zu dienen, in dem der Wirtschaftskampf in einen politischen Kampf um die Macht übergeht. Die Verfälschung dieser Funktion veranlasste die Italienische Linke in den 30er Jahre zur Forderung nach einem „Fraktionsrecht“, um zur Aufrechterhaltung des „Klassenlebens“ beizutragen und die „Agenten der Bourgeoisie“ (d.h. die Parteien der Volksfront) herauszuschmeißen.
„Indem wir das Recht auf die Existenz von Fraktionen innerhalb der Klassenorganisationen einfordern, tragen wir der Unfähigkeit der Gewerkschaften Rechnung, ein revolutionäres Programm zu erstellen, und wir tragen auch ihrer Unfähigkeit Rechnung, das Klassenleben zum Ausdruck zu bringen, den Reaktionen der Gewerkschaften....“ (Bilan, Nr. 25, November/Dezember 1935, „Die gewerkschaftliche Einheit in Frankreich und die Fraktionen“)
„Obgleich es unmöglich war, mit ihren Positionen innerhalb der Gewerkschaften Gehör zu finden, wollten sie dennoch in den Gewerkschaften bleiben, und um dies zu erreichen, war die Kommunistische Linke dazu bereit, Lenins ‚Taktik‘ bis zum Äußersten fortzusetzen, die dieser in seiner Schrift ‚Die Kinderkrankheit des Kommunismus‘ entwickelt hatte. Was Lenin gesagt hat, bleibt für uns gültig: ‚Man muss all dem widerstehen können, muss zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar – wenn es sein muss – alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit leisten.‘“ (Communisme, Nr. 5, August 1937, „Die Arbeitergewerkschaften und der kapitalistische Staat“; Zitat in Zitat aus: „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus“, Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 3, S. 425)
Jedoch besaß die Italienische Linke ein zu großes politisches Verantwortungsgefühl, um sich zu verstecken. Sie vertrat ihren Standpunkt zu gewerkschaftlichen und politischen Fragen innerhalb der Gewerkschaften stets offen. Während des Spanienkriegs vertraten die „bordigistischen“ Militanten trotz der Ablehnung, auf die sie stießen, den „revolutionären Defätismus“ und riefen zur Arbeitersolidarität mit den Kriegsopfern auf beiden Seiten auf. Ebenso entlarvten sie die Politik der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien hinsichtlich des Krieges der UdSSR und der Volksfront. Natürlich ließen die Ausschlüsse aus den Gewerkschaften unter allerlei Vorwänden nicht lange auf sich warten. Sie waren politisch motiviert, da sich die „Bordigisten“ im Tageskampf als die aktivsten und militantesten Wortführer herausgestellt hatten und in gewisser Weise unangreifbar waren. Obwohl Vercesi von der Druckergewerkschaft in Brüssel verteidigt wurde, wurde er dennoch aufgrund seiner Positionen zum Spanienkrieg durch die Mitglieder der POB und der PCB ausgeschlossen.
Die Unmöglichkeit, in den Gewerkschaften zu arbeiten, veranlasste beide Fraktionen, die Gewerkschaftsfrage ausgiebig zu diskutieren und in dem Zusammenhang auch die Formen des Klassenkampfes in der Dekadenz des Kapitalismus zu behandeln. Erforderlich wurde diese theoretische Vertiefungsarbeit durch die Entwicklung der Gewerkschaften während der beiden Weltkriege. Die italienische und belgische Fraktion stellte fest, dass die Kontrolle des Staates über die Gewerkschaften infolge der Krise verstärkt worden sei. So träten die Gewerkschaften für die nationale Einheit in Kriegszeiten sowie für eine Reorganisation der Wirtschaft unter der Vorherrschaft des Staates ein; zudem neige der Staat selbst dazu, die Gewerkschaften mit allen Mitteln in sich zu integrieren, wie die Gewerkschaftszahlungen an die Arbeitslosenkasse und die paritätischen Kommissionen in Belgien, die Anerkennung der Gewerkschaften und die Institutionalisierung der „Arbeiterdelegierten“ bzw. Betriebsräte in Frankreich nach 1936 deutlich gezeigt hätten. Die „Schlichtungskommissionen“ und Tarifverhandlungen in diesen Ländern seien ein Indiz dafür, dass Staat und Arbeitgeber offenkundig versuchten, weitere „Unfälle“ wie im Juni 1936 zu vermeiden. Vor allem in der belgischen Fraktion wurde die politische Vertiefung und die „Gewerkschaftstaktik“ stark vorangetrieben, da sie schon aufgrund der Tatsache, dass die gewerkschaftliche Organisierung in ihrem Land praktisch obligatorisch war, gezwungen war, ihre Haltung gegenüber den Gewerkschaften deutlich zu artikulieren. Dabei wurde sie von ihren Kontakten zur Holländischen Linken beeinflusst, die jede Beteiligung ihrer Mitglieder in den Gewerkschaften ablehnte und die stattdessen für die Organisation der Arbeitslosenkomitees und Industrieunionen eintrat. Während sich die belgische Fraktion einerseits lebhaft gegen jeden Austritt aus den Gewerkschaften wandte, befürwortete sie aber andererseits auch wilde Streikaktionen, sofern sich die offiziellen Gewerkschaften den Streiks entgegenstellten, wie dies im Juli 1932 und im Mai 1936 geschehen war. Die unmittelbaren Ziele ihrer Aktivitäten umschrieb sie folgendermaßen:
„...a) die schrittweise Eingliederung der Gewerkschaften in den Staatsapparat hervorzuheben: der Beitrag der Gewerkschaften zur Organisation der Arbeitslosenversicherung, der Man-Plan, die nationale Einheit, die antifaschistischen Ablenkungsmanöver gegenüber den Reaktionen der Klasse, ihre Hilfe bei der Verankerung des Nationalsozialismus, die Kanalisierung der Klassenkonflikte mittels des Mechanismus der paritätisch besetzten Kommissionen und der Tarifverträge, die Entblößung des zutiefst reaktionären Wesens der Staatsreform und der Berufsorganisationen;
b) auf der lebensnotwendigen Forderung zu bestehen, dass die Gewerkschaften alle Verbindungen zwischen ihnen und den kapitalistischen Institutionen abbrechen,
c) schonungslos die Praxis der örtlichen Einschränkung der Streiks bloßzulegen und damit auch gegen die Kompromisse anzutreten, die die Streiks ersticken sollen, sowie gleichzeitig für die Losung einzutreten: ‚Generalisierung der Streiks, für ihre Politisierung‘; sie unterstützten die sog. wilden Streiks, die spontan und im Gegensatz zu den kapitalistischen Gewerkschaftsführungen entstehen;
(...)
e) die Gewerkschaftsdemokratie nur im Sinne eines regelmäßigen und häufigen Abhaltens von Vollversammlungen sowie mit Respekt vor der Unabhängigkeit der Versammlungen, der Meinungsfreiheit der gewerkschaftlichen Fraktionen und schließlich der organischen Unabhängigkeit gegenüber jeder politischen Partei zu fordern(...)
(...) die Gewerkschaft kann nur im Dienste des Proletariats stehen, wenn jeder Einschränkung des Klassenkampfes jederzeit entgegengetreten wird.“ (Communisme, Nr. 8, 15. November 1937, „Resolution über die gegenwärtigen Aufgaben der Fraktion in den Gewerkschaften“)
Noch zögernd, aber sehr früh stellte die belgische Fraktion das proletarische Wesen der Gewerkschaften in Frage. In einem Artikel vom 15. Juni 1938 („Fabrikbesetzungen und Klassenbewusstsein“) meinte sie, „es ist sicher, dass die Gewerkschaften heute das Opfer des Kapitalismus sind, aber so ergeht es auch dem Proletariat, das in den imperialistischen Krieg und die Kriegswirtschaft gezogen wird und sich somit an der Organisierung seines eigenen Massakers beteiligen soll“. Sie fügte hinzu: „Die Gewerkschaften sind die Proletarierklasse, und das Klassenleben kann sich nur in dem Leben ihrer Organisationen widerspiegeln.“
Damit entspreche der Inhalt, also das Bewusstsein, anders als die Form, nicht mehr den Interessen der Arbeiter, und das nicht in einem soziologischen, sondern in einem politischen Sinn. Noch unterschied sich diese Position von jener der KAPD, aus deren Sicht Form und Inhalt der Gewerkschaften verworfen werden müssen. Doch wann? Die belgische Fraktion schloss die Zerstörung der Gewerkschaften, d.h. ihre Metamorphose in eine neue Einheitsorganisation, in einer revolutionären Periode nicht aus. „Unter den gegebenen Umständen ist es gegenwärtig nicht möglich, das Problem der Zerstörung der Gewerkschaften anzugehen. Wir wissen nicht, wie dies in Zukunft sein wird. Es wird entscheidend von den schöpferischen Fähigkeiten der Massen in der Hitze der großen sozialen Schlachten abhängen. In der Zukunft wird man sehen, ob die Gewerkschaften durch die Bedürfnisse der neuen Situation überholt sind oder nicht. Andere, neue Probleme werden dann auftauchen.“ (Il Seme Comunista, Nr. 5, Februar 1938, „Diskussionsbeitrag zum Bericht Vercesis“ von Luciano)
Tatsächlich wurden die Mitglieder der Fraktion durch ihre zahlreichen Ausschlüsse dazu gezwungen, außerhalb der Gewerkschaften zu arbeiten, wo sie sich in einer Zeit wachsender, allgemeiner Isolierung noch weniger Gehör verschaffen konnten.
Es bestand die Gefahr, dass diese Isolierung theoretisiert werden würde. Wenn es abgesehen von der Fraktion keine Arbeiterorganisationen mehr gäbe, hieße dies, dass Tageskämpfe unmöglich werden? War die Arbeiterklasse gesellschaftlich verschwunden, wenn ihre Streiks vom Ziel der Revolution wegführten? Dies klang in den Auffassungen von Vercesi und einer Minderheit in der Fraktion durch, die auf der Grundlage ihrer Theorie der Kriegswirtschaft davon ausgingen, dass nun allein der offen revolutionäre Kampf möglich geworden sei. Diese Meinung stieß jedoch nicht auf einhellige Zustimmung. Jacobs, der kurz zuvor noch der Auffassung war, dass „das Proletariat gegenwärtig als Klasse nicht mehr existiert aufgrund der Folgen der tiefgreifenden, weltweiten Niederlagen“, kam zu dem Schluss, dass es zu einem politischen, nicht aber zu einem gesellschaftlichen Verschwinden des Proletariats gekommen sei. Der Klassenkampf werde auf wirtschaftlicher Ebene weiter fortgesetzt, ohne jedoch eine eigenständige politische Form anzunehmen. Das Beispiel Frankreichs zeige, dass in der ersten Phase, die man, in Ermangelung anderer Begriffe, noch „die aufsteigende Phase der Kriegswirtschaft nennen könnte, die Tageskämpfe nicht nur zerstückelt, sondern auch die gesamte Zeit hindurch ihrer Substanz beraubt wurden. In der zweiten Phase, jener der Krise, wurden die Tageskämpfe für den Kapitalismus unerträglich, so dass er zu den brutalsten Methoden überging, um ihr Entstehen zu verhindern“ (Il Seme Comunista, Februar 1938, „Die Gewerkschaften und der imperialistische Krieg“ von Michel alias Jacobs). All diese Fragen, die noch ihrer Lösung harrten, standen während des Krieges weiter auf der Tagesordnung der verschiedenen Gruppierungen, die aus der Italienischen Linken hervorgegangen waren.
Die Auffassungen beider Fraktionen über die Ziele der Weltrevolution und den Weg dahin waren weitaus klarer. Sie stützten sich dabei auf eine geduldige, reiflich diskutierte Reflexion und Auswertung der Russischen Revolution mit Hilfe der Theorien des Marxismus. Gestützt auf Marx und Engels, griff die Italienische Linke die marxistische Staatstheorie auf. Um die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft zu erreichen, müsse das Proletariat seine eigene Diktatur errichten, indem es die alte Staatsmaschinerie zerschlägt. In „Staat und Revolution“ hatte Lenin die Notwendigkeit eines proletarischen Staates in dieser Übergangsphase hervorgehoben: die proletarische Diktatur, die von der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung ausgeht und von den Sowjets ausgeübt wird, eine Diktatur, an deren Verwaltung sich auch die einfache Köchin beteilige. Die Geburt der Kommunistischen Internationalen 1919 bewies, dass damals die Bolschewiki und mit ihnen auch die Kommunisten aller anderen Länder sich darüber bewusst waren, dass diese Übergangsperiode nur nach dem weltweiten Sieg des Proletariats möglich war. Russland, das vor allen anderen Schauplatz des ersten erfolgreichen Arbeiteraufstandes war, wurde noch nicht als „Vaterland des Sozialismus“ betrachtet. Die „proletarische Bastion“ und der „proletarische Staat“ Russlands dienten noch der Weltrevolution und nicht umgekehrt. Und die Komintern war noch der Ausdruck der gesamten internationalen revolutionären Bewegung.
Einige Jahre später waren die Sowjets ihres Inhalts entleert. Nun standen sie unter der Kontrolle der bolschewistischen Partei und des Staates, obwohl sie ursprünglich ein Ausdruck des proletarischen Lebens gewesen waren. Die Militarisierung der Arbeit, die ab 1920 einsetzte, und schließlich die blutige Repression gegen die Arbeiter und Matrosen von Kronstadt 1921 waren alarmierende Anzeichen dafür, dass sich ein Graben zwischen der Arbeiterklasse einerseits und Staat und Partei andererseits auftat. Die Praktizierung des „Roten Terrors“ und das Wirken der Tscheka, deren Repression sich immer mehr gegen die russischen Arbeiter richtete, bewiesen, dass der Staat weit entfernt davon war abzusterben, dass er sich im Gegenteil immer weiter verstärkte, so dass es in den 20er Jahren mehr Beamte als Arbeiter gab. Die Diktatur des Proletariats, die die Gesellschaft kontrollieren sollte, hatte aufgehört zu existieren. Bald darauf wurde die Notwendigkeit einer „sozialistischen Akkumulation“ (Preobraschinski) verkündet, die seltsamerweise stark der kapitalistischen Akkumulation ähnelte. Auch Lenin und die Bolschewiki traten für die Installation eines Staatskapitalismus nach deutschem Vorbild ein, der angeblich das Gegenstück zum Sozialismus war. Schritt für Schritt wurde die Ankündigung des „Sozialismus in einem Land“ vorbereitet, welcher mit der kapitalistischen Welt in einen wirtschaftlichen Wettbewerb treten sollte, tatsächlich aber in der Ausbeutung der Arbeitskraft endete.
Die bolschewistische Partei der Weltrevolution wurde zu einer Partei, die mit dem russischen Staat, deren Führung sie übernommen hatte, verschmolz. Die Komintern wurde schrittweise zum Anhängsel der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) und der russischen Außenpolitik. Rapallo 1922 markierte die Reintegration Russlands in die Reihen der Großmächte. Es wurde ein Bündnis mit der Partei Mustafa Kemals geschlossen, der zuvor die kommunistische Partei in der Türkei, Mitglied der Komintern, blutig zerschlagen hatte. 1922 half die Rote Armee der deutschen Reichswehr bei der Wiederbewaffnung und stellte ihr russische Manövergebiete zur Verfügung. Während 1923 die Komintern die deutschen Arbeiter zum Aufstand aufrief, lieferte gleichzeitig die russische Regierung Waffen an von Seekt, der sie gegen die aufständischen Arbeiter einsetzte. Statt auf das Ziel der Weltrevolution hinzuwirken, wurden die kommunistischen Parteien trotz großen Widerstands (u.a. von der KPI) zum verlängerten Arm der russischen Politik im „eigenen“ Land.
Erst nach Jahren und einem hinreichend großen Abstand begannen die kleinen revolutionären Gruppen, die aus der Komintern hervorgegangen waren, die russische Erfahrung mit kritischem Auge zu betrachten. Oft vermeinten sie „taktische“ Fehler in der Politik der bolschewistischen Partei und der Komintern zu entdecken, ohne nach den tieferen Ursachen zu forschen. Häufig erklärten sie die "Entartung“ der Russischen Revolution mit ihrer Umzingelung durch den Kapitalismus und der Unfähigkeit der westeuropäischen Arbeiter, die Revolution in ihren eigenen Ländern zu verwirklichen. Doch alle, einschließlich Trotzki, sahen in den Fünf-Jahres-Plänen und in der Industrialisierung ein unleugbares Indiz dafür, dass der russische Sozialismus aufholt und die kapitalistische Welt, die sich in einer globalen Krise befand, gar überholen wird. Nicht die wirtschaftliche Verwaltung wurde in Frage gestellt, sondern die Politik des Individuums Stalins und der „Bürokratie“, die die „Errungenschaften des Oktobers“ bedrohten. Andere Revolutionäre wie die KAPD und die deutsch-holländische GIK vermeinten das russische Rätsel mit der Erklärung zu lösen, dass das Scheitern der Russischen Revolution ihr bürgerliches Wesen bestätigt habe. 1917 habe in Wirklichkeit keine proletarische Revolution stattgefunden, sondern ein Staatsstreich, mit dessen Hilfe die Bolschewiki die Macht ergriffen hätten, um mittels der Installation des Staatskapitalismus die bürgerliche Revolution nachzuholen.
Die Italienische Linke dagegen stellte weder den proletarischen Charakter der Russischen Revolution noch das revolutionäre Wesen der bolschewistischen Partei in Frage, die viel zur Gründung der Kommunistischen Internationalen beigetragen hatte. Ebensowenig machte sie sich die Thesen Trotzkis zu Eigen, nach denen die russische Wirtschaft auf den Sozialismus ausgerichtet sei, ungeachtet der „bürokratischen Entartungen“ des Staates.
Im Gegensatz zu all diesen Analysen, die nicht über den Rahmen Russlands hinausreichten, ging Bilan von einem weltweiten Zusammenhang aus, um die Ursachen der Niederlage zu erklären. In einer vom Kapitalismus beherrschten Welt konnte in Russland die Perspektive des Sozialismus nur gestellt, aber nicht verwirklicht werden. Bilan zufolge müsse die Revolution zunächst auf politischer Ebene vollzogen werden, das heißt, die Partei müsse auch nach der Machtergreifung unter der Führung der Kommunistischen Internationalen konsequent den revolutionären Weg fortsetzen. Ausgehend vom weltweiten Rahmen, lehnte Bilan die „Verteidigung der UdSSR“ ab. Auch war Bilan der Auffassung, dass der russische Staat in die Hände des Weltkapitalismus gefallen und zu einer Schachfigur auf dem Feld der interimperialistischen Zusammenstöße geworden sei.
Diese Herangehensweise wurde von der LCI stark kritisiert, mit der sich die Italienische Linke noch in Diskussion befand. Sie meinte, dass diese Vorgehensweise eine Rechtfertigung der von den Bolschewiki und der Komintern betriebenen Politik sei, um zu verhindern, dass die Frage nach der Verantwortung für den Tod der Revolution gestellt werde. Bilan hatte jedoch mit dem Hinweis darauf, dass das Scheitern der Russischen Revolution nicht allein das Ergebnis ihrer Isolierung gewesen war, auch deutlich machen wollen, dass mit dieser Rechtfertigung jede Kritik am Bolschewismus vermieden werden sollte.
„Aufgrund dieser Isolierung Ausreden für die Form zu suchen, in der sich die russische Revolution entwickelte, die Diktatur der Kommunistischen Partei, hieße unter diesen Bedingungen tatsächlich, die Wirkung als Ursache darzustellen.“ (Bilan, Nr. 34, ebenda)
Hennaut meinte in der Tat, dass die Ursachen der russischen Konterrevolution hauptsächlich innerer Natur gewesen seien. „Das russische Proletariat ist nicht durch die Großbourgeoisie (diese ist verschwunden) und auch nicht durch den internationalen Kapitalismus besiegt worden, sondern durch die Masse der kleinbürgerlichen Bauern und Stadtbewohner Russlands (...) Das Entstehen einer ausbeutenden Klasse in der UdSSR ermöglicht es dieser, sich mit dem internationalen Kapitalismus zu verbinden. Die russische Bürokratie arbeitet nicht zu ihrem eigenen Gunsten, wenn sie das Proletariat ausbeutet.“ (Bilan, Nr. 34, ebenda)
Tatsächlich scheint es, als berücksichtige die Italienische Linke nicht die äußeren Ursachen, wenn sie behauptet, dass „der Gegensatz zwischen dem Arbeiterstaat nur der Weltkapitalismus“ sei und „die internen Fragen nur von zweitrangiger Bedeutung sind“ (Bilan, Nr. 18, April/Mai 1935, „Der proletarische Staat“ von Vercesi).
Die Diskussionen in ihren eigenen Reihen und mit Hennaut führten schließlich zu einer Neueinschätzung der Ursachen für die Niederlage der Russischen Revolution, die sowohl die internen als auch die externen Faktoren berücksichtigte.
DAS WESEN DES RUSSISCHEN STAATES
In den 30er Jahren fand eine breite Diskussion über das
Wesen des russischen Staates statt. Tatsächlich hatte diese Debatte bereits in
den 20er Jahren begonnen. Während Stalinisten und Trotzkisten der Auffassung
waren, dass dieser Staat proletarisch sei, hatten kleinere revolutionäre
Gruppen diese Auffassung in Frage gestellt, da deren eigentliche Grundlage die „bedingungslose Verteidigung der UdSSR“
war. Die deutsche Linke meinte anfangs, dass die Russische Revolution eine
„Doppelrevolution“ gewesen sei – sowohl bürgerlich als auch proletarisch – und
ihre proletarische Tendenz sich aufgrund der Diktatur der bolschewistischen
Partei und des Gewichts der Bauernschaft innerhalb der russischen Gesellschaft
nicht durchsetzen konnte. Die Wirtschaft sei kapitalistisch, und die Profite
aus der Ausbeutung der Arbeitskraft wanderten via Staat in die Hände der
Bürokratie und der Bauernschaft. Jedoch arbeitete die KAPD und später die GIK
keine Definition der Klassennatur des russischen Staates aus. Vorausgesetzt,
die Wirtschaft sei wirklich staatskapitalistisch, welchen Charakter hatte dann
die staatliche Bürokratie? Auf
diese Frage wurde entgegnet, dass es sich hierbei nicht wirklich um eine kapitalistische
Klasse handele, sondern um eine neue „Führungselite“ bzw. eine von der
bolschewistischen Partei verkörperte Bourgeoisie. Es wird deutlich, dass die
Position der deutschen Linken in dieser Frage nicht homogen war. Insbesondere
im Frankreich der 30er Jahre war die Diskussion über das Wesen des Staates und
der russischen „Bürokratie“ dagegen weiter gediehen.
1933 hatte die Gruppe von Treint eine neue Theorie entwickelt. In dem Text „Um das russische Rätsel zu verstehen – Thesen des Genossen Treint zur russischen Frage“, der zur Vereinigungskonferenz der Linksopposition im 15. Departement vorgelegt wurde, wurde die Behauptung aufgestellt, dass die russische Bürokratie eine neue Klasse sei. Gestützt auf Texte von Marx über Louis Bonaparte, meinte Treint, dass auch diese Bürokratie von bonapartistischem Zuschnitt sei. Ihre Funktion bestünde darin, das Gleichgewicht zwischen den Klassen zu sichern, ohne tatsächlich zu verbürgerlichen, da die private Aneignung von Produktionsmitteln 1917 abgeschafft worden sei. Es herrschte Staatskapitalismus, jedoch existierte nur eine rudimentäre Kapitalistenklasse. Diese Analyse wurde schließlich zum Dreh- und Angelpunkt der Gruppe „Socialisme ou Barbarie“, die diese Auffassung 1949 übernommen hatte. Doch schon zuvor hatte sich auch Burnham aus den USA in diese Richtung entwickelt.
Die Italienische Linke widersetzte sich der Analyse von Treint. Sie behandelte ihrerseits das „russische Rätsel“ mit größter Vorsicht. Einerseits war sie davon überzeugt, dass die Russische Revolution eine proletarische gewesen sei. Ihr Niedergang und ihre Entartung seien nur von Außen, von der kapitalistischen Umwelt und dem langsamen Tod der Internationalen, bewirkt worden. Andererseits ging sie von den klassischen Positionen des Marxismus aus, die im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren. Nur mit dem Rückgriff auf die Klassiker wagte sie den Blick nach vorne. Anfangs war sie der Meinung, dass sich der Kapitalismus allein durch die private Aneignung der Produktionsmittel auszeichne. Daher könne der Staat, der aus der Russischen Revolution hervorgegangen war, nur proletarisch sein; schließlich sei die Bourgeoisie wirtschaftlich und politisch entmachtet worden.
Doch wie konnte man zu einer neuen proletarischen Revolution in Russland aufrufen und gleichzeitig behaupten, der russische Staat sei proletarisch? Wie konnte man behaupten, dass dieser Staat ein „Arbeiterstaat“ sei, und gleichzeitig feststellen, dass er sich in den Händen des Weltkapitalismus befand? Die Italienische Linke war sich dieses Widerspruchs durchaus bewusst, konnte ihn aber vor dem Krieg nicht überwinden. Ihre Absicht war vor allem, ihre Antworten auf die Lehren des Marxismus zu stützen. „Wenn man uns entgegenhält, dass die Idee einer proletarischen Revolution gegen einen proletarischen Staat ein Unding, ein Widersinn sei und dass es darauf ankomme, die Phänomene miteinander zu vereinbaren, indem dieser Staat ein bürgerlicher Staat genannt wird, dann entgegnen wir darauf, dass diejenigen, die so argumentieren, nur Verwirrung über das Problem erzeugen, das schon von unseren Meistern behandelt worden war.“ (Bilan, Nr. 45, Mai/Juni 1937, „Wenn die Henker sprechen: Die Reden Stalins“)
Die Italienische Linke war deutlich durch die Polemik mit „Reveil Communiste“ (Kommunistisches Erwachen) und gegen die Thesen von Treint geprägt worden. Treint hatte behauptet, dass die russische Bürokratie eine neue Klasse sei. Aus der Sicht von Bilan dagegen besaß diese Bürokratie lediglich einen parasitären Charakter. „Die russische Bürokratie ist keine Klasse und schon gar keine herrschende Klasse, da es keine besonderen Rechte über die Produktion außerhalb des Privateigentums an Produktionsmitteln gibt und die Kollektivierung in Russland im Prinzip fortbesteht. Es trifft zwar zu, dass die russische Bürokratie einen großen Anteil der gesellschaftlichen Arbeit für sich verbraucht, aber dies trifft auch auf jeden anderen parasitären Körper zu und darf nicht mit der Ausbeutung als Klasse verwechselt werden.“ (Bilan, Nr. 37, November/Dezember 1936, „Probleme der Übergangsperiode“, Teil 4, von Mitchell)
Doch allmählich begann die Italienische Linke, ihre eigene Analyse implizit in Frage zu stellen. Die Untersuchungen über die Übergangsperiode, die bis zum Ausbruch des Krieges angestellt wurden, trugen viel dazu bei. Doch vor allem die Entwicklung Russlands, das immer unverhohlener als Großmacht auftrat, und die Entwicklung des Staatskapitalismus, den die Italienische Linke als eine allgemeine Tendenz begriff, waren die treibende Kraft hinter der Infragestellung ihrer früheren Analyse. Bereits 1936 schloss Vercesi in einer Antwort an Hennaut, der das Wesen der Bürokratie als bürgerlich darstellte, eine Entwicklung dieser Bürokratie zu einer kapitalistischen Form grundsätzlich nicht aus. Diese Entwicklung stünde in Verbindung mit der privaten Wiederaneignung der vergesellschafteten Produktionsmittel. „In Russland, wo die Differenzierung noch nicht den Punkt erreicht hat, wo die private Aneignung der Produktionsmittel exakt festgestellt werden kann, gibt es noch keine kapitalistische Klasse.“ (Bilan, Nr. 35, „Wesen und Entwicklung der russischen Revolution: Eine Antwort an den Genossen Hennaut“ von Vercesi) Drei Jahre später behauptete Vercesi, dass „die staatliche Industrie sich durchaus zu einem Staatskapitalismus umwandeln und zu einer brutalen Verneinung der Arbeiterklasse werden kann, ohne dass es notwendig ist, die Gestalt eines bürgerlichen Regimes mit Privateigentum anzunehmen.“ (Octobre, Nr. 5, August 1939, „Die Diktatur des Proletariats und die Frage der Gewalt“)
Indem sie behauptete, die russische Wirtschaft bleibe weiterhin dem Wertgesetz unterworfen und beruhe auf dem Auspressen von Mehrwert, sah sich die Italienische Linke allmählich dazu veranlasst, zu einer „Übereinstimmung der Phänomene“, zu einer einheitlichen Einschätzung zu gelangen. Eine noch weitergehende ökonomische Untersuchung und die Wiederaneignung der entsprechenden Texte von Marx und Engels (Anti-Dühring) halfen ihr bei der Erkenntnis, dass die Vergesellschaft der Produktionsmittel mit der Existenz einer Kapitalistenklasse einhergehen könne, die sich den Mehrwert mittels des Staates aneignet. Doch die Definition des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist“ und der Bürokratie als bürgerlich wurde erst während des Krieges von der französischen und italienischen Fraktion aufgeworfen, d.h. lange nach der Gründung der PCInt.
DER STAAT DER ÜBERGANGSPERIODE
All diese Überlegungen über das Wesen des russischen
Staates und über die eigentlichen Ursachen der Niederlage des russischen
Proletariats bewegten die Italienische Linke zu einer tatsächlichen Umkehr bei
der Einschätzung der Perspektiven. Während sie ursprünglich davon ausging, dass
die Konterrevolution in Russland von Außen kam, gründete sie nun ihre
theoretische Analyse mehr und mehr auf die inneren Ursachen, die den äußeren
Faktoren zu einer derartigen Wirksamkeit verholfen hatten. Der Schlüssel des
„russischen Rätsels“ lag der Italienischen Linken zufolge letztendlich in der
schädlichen Rolle des „proletarischen Staates“, der entsprechend seiner Natur
eine permanente Bedrohung für die proletarische Revolution darstellte.
1. Die staatliche Bedrohung
Ausgehend von der marxistischen Erkenntnis, dass der Staat das Produkt einer in Klassen gespaltenen und vom Mangel geprägten Gesellschaft ist und dass dieser Staat alles versucht, um im Sinne der ausbeutenden Klasse selbst am Leben zu bleiben, gelangte die Italienische Linke zur Auffassung, dass der Staat ein „notwendiges Übel“ sei, das das Proletariat bei seinem Machtantritt in Russland notgedrungen geerbt hatte. In einer Schrift von Vercesi hieß es gar, dass die Italienische Linke „gegenüber dem Staat ein fast instinktives Misstrauen hegte“ (Bilan, Nr. 26, Januar 1936, „Der sowjetische Staat“, letzter Teil).
Das Proletariat, dessen Revolution erst beginne, sobald es die Macht ergriffen hat, stoße auf einen Staat, dessen Funktionen denen des Proletariats diametral entgegengesetzt seien. Die Aufgabe des Staates bestehe nämlich in der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. „Der Staat ist derzeit ein Instrument, dessen historische Notwendigkeit aus der Unfähigkeit der Produktion hervorgeht, die Bedürfnisse der Produzenten zu decken (ein historischer Zustand, der in jeder Revolution zum Ausdruck kommt). Er ist seinem Wesen nach ein Organismus, der dazu dient, die Vorherrschaft einer ausbeutenden Klasse aufrechtzuerhalten, die wiederum die staatlichen Mechanismen ausnutzt, um eine Bürokratie zu etablieren, die allmählich für die Interessen der Feindesklasse gewonnen wird.“ (Bilan, Nr. 25, November/Dezember 1935)
Noch weiter ging die Italienische Linke, als sie behauptete, „dass der Staat trotz der Bezeichnung ‚proletarisch‘ ein Zwangsorgan ist. Er steht in ständigem und immer schärferem Gegensatz zum Ziel der Verwirklichung des kommunistischen Programms. Er zeigt auf seine Weise auf, dass die kapitalistische Gefahr in der gesamten Übergangsperiode fortbesteht“ (Octobre, Nr. 2, März 1938, „Die Frage des Staates“). Die Machtübernahme durch das Proletariat ändere also nicht das Wesen und die Funktion des Staates, der auf eine lange Geschichte zurückblicken könne. Er werde nur dann proletarisch, wenn das Proletariat bei der Machtergreifung die alte, bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlägt. Auf keinen Fall aber verkörpere dieser neue „proletarische“ Staat den revolutionären Charakter der Arbeiterklasse. Im besten Fall sei „der Staat nur ein notwendiges Hilfsorgan, damit sich die Arbeiter auf eine Lösung im allgemeinen Interesse orientieren“ (Bilan, Nr. 5, „Partei-Internationale-Staat: Prämissen“, Vercesi).
Alles in allem war dieses nahezu „instinktive Misstrauen“ der Italienischen Linken gegenüber dem Staat keine nur instinktive, anarchistische Reaktion gegenüber dem modernen Leviathan. Es wurde auch aus der Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Auswertung der russischen Erfahrung gespeist.
Auch die Übergangsperiode werde von den kapitalistischen Gesetzen beherrscht, die ihren Einfluss gegenüber dem Staat geltend machten und ständig versuchten, die Arbeiter dem allgemeinen Wohl zu unterwerfen, das nichts anderes sei als die Interessen der nicht-proletarischen Schichten. Es gebe einen permanenten wirtschaftlichen Widerspruch zwischen dem Kapitalismus, dessen Einfluss bis in den Staat hineinreichte, und dem Sozialismus. "Das Zentrum der Mehrwertkonzentration ist der Staat, dessen Gesetze unvermeidbar zu noch größerer Akkumulation auf Kosten der Arbeiter führen.“ (Octobre, Nr. 2, ebenda) Mit Hilfe des „proletarischen“ Staates setzten sich die kapitalistischen Privilegien immer wieder durch und verleibten sich Ersteren immer mehr ein. „Daher kann es zwischen Bourgeoisie und bürgerlichem Staat keinen Gegensatz geben, wohl aber zwischen dem Proletariat und dem Übergangsstaat.“ (Bilan, Nr. 37, November/Dezember 1936, „Probleme der Übergangsperiode“, Mitchell)
Politisch beweise das russische Exempel, dass alle proletarischen Organe - Partei, Arbeiterräte und Gewerkschaften - Gefahr liefen, von diesem Staat einverleibt zu werden, denn dieser Staat akzeptiere nur seine eigene Macht. „Die russische Revolution, die weit davon entfernt war, die Aufrechterhaltung und das Leben der Klassenorganisationen des Proletariats sicherzustellen, wird diese unschädlich machen, indem sie in den bürgerlichen Staatsapparat aufgesogen und damit ihrer eigenen Substanz beraubt werden." (Bilan, Nr. 31, Mai/Juni 1936, ebenda)
2. Die Gefahr des Substitutionismus: Die Gewalt
Angesichts der Untersuchungen von Vercesi und Mitchell konnte die Italienische Linke nicht die Augen vor der Rolle der bolschewistischen Partei verschließen, die diese beim Triumph der staatlichen Konterrevolution gespielt hatte. Sie war eine der wenigen revolutionären Gruppen, die die Unterdrückung kritisierten, die gegen die Machno-Bewegung und die Matrosen von Kronstadt praktiziert wurde. Sie war der Überzeugung, dass „die ersten massiven Schläge, die die Bolschewiki gegen jene Gruppen austeilten, die im Interesse des Proletariats handelten (Machno und Kronstadt), auf Kosten der proletarischen Natur der staatlichen Organisationen erzielt wurden“ (Bilan, Nr. 19, Mai/Juni 1935, „Der sowjetische Staat“, 2. Teil, Vercesi).
Bilan zufolge hätten die Bolschewiki den Fehler begangen, Partei und Staat miteinander zu verschmelzen, ein Irrweg, der „um so gefährlicher war, da es keine Möglichkeit gab, diese beiden Organe miteinander zu versöhnen, weil zwischen dem Wesen, der Funktion und den Zielen des Staates und jenen der Partei ein unversöhnlicher Gegensatz herrscht“ (Bilan, Nr. 26, Januar 1936, ebenda). Damit stellte die Italienische Linke die Auffassung der Bolschewiki in Frage, wonach die Diktatur des Proletariats mit jener der Partei gleichzusetzen sei. Dennoch blieb sie ihren eigenen Auffassungen über die Partei als Trägerin des Klassenbewusstseins treu und meinte, dass „die Diktatur des Proletariats nichts anderes als die Diktatur der Partei über den Staat“ sei. Sie betonte, dass diese Auffassung in Widerspruch zur Diktatur der stalinistischen Partei stehe. „Diktatur der Partei darf aber nicht (...) Durchsetzung von Parteibeschlüssen gegen die Arbeiterklasse sein, darf vor allem nicht bedeuten, dass die Partei sich auf Unterdrückungsorgane des Staates stützt, um jede abweichende Stimme zum Schweigen zu bringen. Unsere Ausgangsposition darf nicht sein, dass jede Kritik, jede Position, die aus anderen Strömungen der Arbeiterklasse stammt, gleich konterrevolutionär ist...“ (ebenda)
Die Italienische Linke war überzeugt davon, dass es keine Garantie gegen einen im Namen der Revolution begangenen Verrat der Interessen des Proletariats durch die Kommunistische Partei gibt. Sie behauptete sogar (was für eine Strömung, die die Diktatur des Proletariats befürwortete, erstaunlich war), dass diese kein „perfekter, unveränderlicher Organismus ist. Sie besitzt kein unwiderrufliches Mandat der Klasse und vertritt natürlich auch nicht auf ewig die Endziele der Arbeiterklasse“ (Communisme, Nr. 18, September 1938).
Wichtiger als die Partei selbst war aus der Sicht von Bilan das Ziel der proletarischen Revolution: der Sozialismus, der den Ausgebeuteten Freiheit und nicht Zwang versprach. „Wer Staat sagt, sagt Zwang, wer Sozialismus sagt, sagt Freiheit“, behauptete Octobre (ebenda). Dieses schwierige Ziel könne nur von den Arbeitern selbst erreicht werden, die zu aktiv Handelnden in einem Prozess werden müssten, den niemand sonst verwirklichen könne. „‘Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.‘ Und diese zentrale Auffassung vom Sozialismus ist aus unserer Sicht etwas anderes als die Schikanen gegenüber jenen Arbeitern, die andere Auffassungen haben. Sie stellt das grundlegende Prinzip der Arbeiterklasse selbst dar.“
Dieses Prinzip, das von vielen Revolutionären anscheinend vergessen worden war, war für ihre kompromisslose Ablehnung von Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse und innerhalb ihrer Organe (Partei, Gewerkschaften, Sowjets) Ausschlag gebend. „Besteht die zentrale proletarische Position nicht darin, dass man der Verfolgung und Auslöschung der Arbeiter ihre Verbrüderung entgegensetzt?“, schrieb Vercesi in Octobre (Nr. 5, August 1939, „Die Diktatur des Proletariats und die Frage der Gewalt“) „Obwohl die Gewalt eine Notwendigkeit gegenüber anderen Klassen unter Bürgerkriegsbedingungen war, konnte sie nur ein Hilfsmittel sein, jedoch nie als ein grundsätzliches Mittel eingesetzt werden. Auf keinen Fall aber kann das Proletariat unter Zwang zum Sozialismus bekehrt werden.“ (Octobre, Nr. 2)
Daher trat die Italienische Linke für die Aufrechterhaltung der Diktatur des Proletariats ein. „... die größtmögliche Demokratie ohne irgendwelche Einschränkungen innerhalb der Partei; der ganze Mechanismus der Partei muss völlig frei funktionieren und der Bildung von Fraktionen die größtmögliche Freiheit eingeräumt werden. Diese Fraktionen müssen auch über die notwendigen finanziellen Mittel für ihre Verbreitung innerhalb der Partei selbst verfügen.“ (ebenda)
Sie trat gleichfalls für die Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter gegenüber dem Staat und den Gewerkschaften sowie für das Streikrecht ein. „Gegenüber einem Staat, dessen natürliche Entwicklung darin besteht, sich dem wirtschaftlichen Fortkommen der Arbeiter entgegenzustellen, gibt es keine andere Lösung, als auf die Existenz von Gewerkschaftsorganisationen mit all ihren Rechten, insbesondere ihrer organisatorischen Unabhängigkeit gegenüber der Partei und dem Staat, einschließlich des Streikrechts, zu bauen.“ (ebenda)
Die Italienische Linke ging sogar noch weiter. Im Falle eines Konflikts zwischen dem „proletarischen“ Staat mit der Partei als seinem „Vertreter“ und dem Proletariat meinte sie, dass es besser sei, dass die Partei die Macht abgebe, statt „im Namen des Sozialismus“ zum Henker der Arbeiter zu werden, wie dies in Kronstadt geschehen war. „Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, als es vom geographischen Standpunkt aus zu behalten, wo dieser Sieg doch hauptsächlich nur zu einem Ergebnis führen konnte: zu einer Veränderung der Grundlagen der Substanz der von der Arbeiterklasse betriebenen Handlungen.“ (ebenda)
Sie zog daraus die Schlussfolgerung, dass es weitaus besser sei, auf dem Schlachtfeld vom Staat geschlagen zu werden, statt „an der Macht zu bleiben und damit den Prinzipien der Arbeiterklasse eine Niederlage zuzufügen“ (ebenda). Obwohl sie dem Prinzip der „Diktatur der Partei“ Treue geschworen hatte, gab die Italienische Linke in der Praxis dieses Prinzip Schritt für Schritt auf. Der Parole Lenins, derzufolge es nur zwei Parteien gebe, nämlich eine an der Macht, die andere im Gefängnis, stellte sie ihre Auffassung entgegen, die einen politischen Kampf gegen nicht-proletarische, kleinbürgerliche Parteien in Form von despotischen, polizeilichen Maßnahmen ablehnte. Sie war davon überzeugt, dass es keine Pluralität von proletarischen Parteien in der Regierung geben könne. Denn „gegnerische Parteien zuzulassen bedeutet, dass man die Bedingungen für die Wiederherstellung des geschlagenen Feindes schafft“ (Bilan, Nr. 35, „Antwort an Hennaut“, Vercesi). Gegenüber den anderen Parteien, die das Sprachrohr der bürgerlichen Ideologie sind, sei der ideologische Kampf der einzige, der nicht zu einer „schrittweisen Umwandlung des eigentlichen Wesens der proletarischen Partei“ (ebenda) führe. Alle von der Kommunistischen Linken vorgeschlagenen Mittel siedelten sich innerhalb eines Landes (oder einer Reihe von Ländern an, in denen das Proletariat die Macht ergriffen hatte. Sie war sich dessen bewusst, dass die einzige Garantie für die Bewahrung der Arbeiterkontrolle über den Staat allein in der Ausdehnung der Revolution zu suchen war. Sollte diese scheitern, müsse die Diktatur des Proletariats durch eine Verstärkung der Kontrolle der an der Macht befindlichen Partei durch die gesamte Kommunistische Internationale gesichert werden. So umgehe die kommunistische Partei die Gefahr, sich mit den Interessen des Nationalstaates zu verschmelzen, der bekanntlich jedem Internationalismus gegenüber feindlich gesinnt ist. Auf keinen Fall aber sei ein revolutionärer Krieg wie jener gegen Polen 1920 eine Lösung für den Gegensatz zwischen Arbeiterstaat und Weltkapitalismus. Die einzige Lösung sei die weltweite Machtübernahme durch die Arbeiter aller Länder. Gestützt auf dieser Perspektive, seien alle anderen, externen wie internen Instrumente bloße Hilfsmittel.
3. Die Gefahr des „sozialistischen Aufbaus“
Sicherlich ruft die große Bedeutung, die Bilan, Octobre und Communisme den politischen Aufgaben des Proletariats in der Übergangsperiode beimaßen, Erstaunen hervor. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Italienischen Linke getreu dem Marxismus betonte, dass das Wesen der Revolution zunächst politisch sei, ehe sie sich in eine ökonomische Revolution umwandle. Sie lehnte jedes Schema stalinistischer oder trotzkistischer Art ab, das den „Aufbau des Sozialismus“ als vorrangige Aufgabe des Proletariats darstellte. Dieser „Aufbau kann erst nach der Zerstörung der stärksten kapitalistischen Staaten in Angriff genommen werden“ (Bilan, Nr. 37, November/Dezember 1936, Mitchell, ebenda).
In der Tat solle die Ökonomie der Politik, d.h. dem internationalen Kampf um die Weltrevolution, untergeordnet werden. Auf keinen Fall dürfe in jenen Ländern, in denen das Proletariat bereits die Macht ergriffen hat, eine Akkumulation auf Kosten des revolutionären Endziels, den Weltsozialismus, stattfinden. Die Italienische Linke dachte dabei an den Horror der stalinistischen Kapitalakkumulation, die als „Vergesellschaftung“ präsentiert wurde. Dieses Modell war ein „Monster“, das die russischen Arbeiter „in die Armut gestürzt“ (ebenda) habe.
Bilan nahm sich also der Frage der wirtschaftlichen Maßnahmen in der Übergangsperiode erst nach langem Zögern an. Wie Mitchell, der sich mit dieser Frage beschäftigte, feststellte, haben die Genossen von Bilan in der Sorge, die Rolle des proletarischen Staates im weltweiten Klassenkampf richtig zu würdigen, die Bedeutung des Problems stark unterschätzt. Sie gingen nämlich davon aus, dass „die wirtschaftlichen und militärischen Bereiche nur untergeordnete Einzelbereiche in den Aktivitäten des proletarischen Staates wären, während sie für die Ausbeutung der Klasse von vorrangiger Bedeutung sind“ (Bilan, Nr. 38, ebenda). Die Revolution werde nicht nur politisch sein, sondern müsse auch in die Wirtschaftssphäre Einzug halten. Es sei schwer vorstellbar, dass das Proletariat einerseits die Macht in der Hand hält und andererseits immer noch den alten wirtschaftlichen Zwängen des Kapitalismus ausgeliefert ist. Denn wie sonst hätte es die Initiative behalten können, als es durch den Hunger geschwächt und unfähig war zu kämpfen. Alles, was ihm blieb, sei, um sein nacktes Überleben zu kämpfen, was seine ganzen Kräfte erforderte und den Kampf jeder gegen jeden förderte. Aus diesem Grund plädierte die Italienische Linke für eine Wirtschaftspolitik, deren Vorrang nicht die Kapitalakkumulation, sondern die Massenproduktion von Konsumgütern war. Marxistisch ausgedrückt, sollte der erste Sektor, die Produktionsgüterindustrie, zugunsten eines Wachstums des zweiten Sektors, der Konsumgüterindustrie, schrumpfen, um somit eine erhöhte Produktion von Nahrungsmitteln, Kleidung, Möbeln, „Vergnügungsmitteln“ zu ermöglichen. Auch wenn das Wertgesetz in der Übergangsperiode wirksam bleibt, werde es dennoch durch eine reale Verbesserung des Lebensstandards der arbeitenden Klassen einem tiefgreifenden Wandel unterworfen und allmählich verschwinden. „Was man ändern muss, ist die Produktionsform, die nicht mehr den Gesetzen der permanenten Steigerung der Mehrarbeit unterworfen ist, sondern den entgegengesetzten Gesetzen einer ständigen und anhaltenden Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter.“ (Bilan, Nr. 21, Juli/August 1935, ebenda, Vercesi)
Doch der Sozialismus könne nur aus einer bislang nie dagewesenen Entwicklung der Produktivkräfte hervorgehen. Dazu sei es notwendig, die Zahl der Arbeitsstunden zu erhöhen. Es bestand daher das Risiko, dass man im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Ziels große Opfer von den Arbeitern verlangen muss. Die Kommunistische Linke verweigerte sich diesem Ansinnen. Sie war der Auffassung, es längere Zeit bei einem „Rhythmus der Akkumulation zu belassen, der einen langsameren Verlauf als die kapitalistische Wirtschaft“ nimmt. Der Kommunismus werde so als Ergebnis der Reifung eines langen Prozesses entstehen, in dem die Gesellschaft aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich des Überflusses übergeht. Kein Rezept irgendeiner „egalitärer“ Form könne hierbei den Weg verkürzen. Insbesondere der Kriegskommunismus von 1920 dürfe auf keinen Fall als Modell dienen. Dieser sei eine Fortsetzung der Zwangsmaßnahmen gewesen, in deren Rahmen nur der Mangel „vergesellschaftet“ wurde. In den Industrieländern wären solche Bedingungen für die Arbeiterklasse unangemessen.
Die Italienische Linke lehnte brüsk die wirtschaftlichen Maßnahmen ab, die von der Deutsch-Holländischen Linken vorgeschlagen wurden. In einer 1930 in Berlin erschienenen Schrift mit dem Titel „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“, die von Jan Appel und Henk Canne-Meijer, beide Mitglieder der GIK, verfasst worden war, trat diese Strömung für die „Einführung von Arbeitsgutscheinen“ als den besten Weg zum Kommunismus ein. Diese Gutscheine würden der Übergangsgesellschaft nicht nur die Integration von nicht-bürgerlichen Schichten, die noch nie gearbeitet hätten, in den Arbeitsprozess ermöglichen, sondern darüber hinaus jede Art von kapitalistischer Akkumulation verhindern. Denn Arbeitsgutscheine seien weder akkumulierbar noch austauschbar und schon gar nicht sparfähig. Sie stellten nur die Arbeitszeit dar, die von jedem Arbeiter erbracht werde. Als Austausch dafür erhielte jeder Arbeiter, unabhängig von seiner Qualifikation und der geleisteten Arbeitszeit, auf der Grundlage einer gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit seinen Anteil am kollektiven Konsum. So solle schrittweise das auf dem Tausch beruhende Wertgesetz und jede individuelle Neigung, konsumierbare Reichtümer anzuhäufen, ausgeschaltet werden.
Bilan war von den Thesen der GIK nicht überzeugt. Mitchell stellte fest, dass die Festlegung des Konsums auf der Grundlage der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit darauf hinausläuft, Letztere durch das Wertgesetz zu bestimmen. Er warf den holländischen Linkskommunisten vor, sich auf zählbare Lösungen zu beschränken und vom Beispiel des Kriegskommunismus in Bann geschlagen worden zu sein. Tatsächlich hätten sie eine juristische Gleichstellung im Lohnbereich angestrebt. Doch die von ihnen geforderte Abschaffung der Lohnungleichheit bleibe „im Leeren hängen, da die Abschaffung der kapitalistischen Lohnarbeit nicht unmittelbar der Abschaffung der Unterschiede bei der Verteilung von Arbeit entspricht“ (Bilan, Nr. 35).
Aus der Sicht der Italienischen Linken war das Problem weniger ein rechnerisches als ein politisches. Auf der Tagesordnung stünde die beträchtliche Erhöhung der Konsumgüter, um den Mangel zu überwinden. Nur so, auf einer wirtschaftlichen Basis, die von den gesellschaftlichen Bedürfnissen und nicht vom Profit, vom Markt und Austausch ausgehe, sei es möglich, das Wertgesetz und die Lohnarbeit allmählich abzuschaffen. Tatsächlich könne es in Anbetracht der individuellen, geographischen und anderen Unterschiede keine „formelle Gleichheit“ geben. „Der Kommunismus ‚verarbeitet‘ schließlich die reale Gleichheit in der natürlichen Ungleichheit.“ (ebenda)
Es überrascht vielleicht, dass fast nirgendwo in den vielen Ausgaben von Bilan, Octobre und Communisme die Frage der Arbeiterräte aufgegriffen wurde. Dies ist darauf zurückzuführen, dass abgesehen von der Deutsch-Holländischen Linken sich keine Strömung gründlich mit den Arbeiterräten in Russland und Deutschland befasst hat. Anfangs stand die Italienische Linke unter dem Einfluss von Bordiga den Fabrikräten, für die Gramsci eingetreten war, sehr misstrauisch gegenüber. Sie war der Auffassung, dass die Räte aus den lokalen Bezirken der kommunistischen Partei hervorgehen müssen. Andernfalls würden sie einer ökonomistischen und lokalistischen Auffassung anheimfallen.
In den 30er Jahren modifizierte die Italienische Linke ihre Position nur geringfügig. Sie räumte zwar ein, dass die Arbeiterräte bzw. Sowjets eine „gewaltige Bedeutung in der ersten Phase der Revolution und auch im Bürgerkrieg bei der Niederschlagung des kapitalistischen Regimes“ gehabt hätten“. Doch anschließend hätten sie ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Die wahren Organe fände die Arbeiterklasse lediglich in der Partei und der Internationalen. Aus der Sicht der Italienischen Linken waren die Räte eine „russische Form der Diktatur des Proletariats und nicht ihre international spezifische Form“ (Bilan, Nr. 31, Mai/Juni 1936, ebenda). Doch vor allem Vercesi blieb vorsichtig. Er meinte, dass die Räte „ein Kontrollelement der Handlungen der Partei darstellen könnten, die vor allem auch daran interessiert sein müsste, der aktiven Überwachung durch die gesamte Masse unterworfen zu sein, die in diesen Institutionen zusammengefasst wären“ (Bilan, Nr. 26, Januar 1936, ebenda). Insbesondere nach dem Weltkrieg begann ein Teil der Italienischen Linken, die Frage der Räte wirklich zu vertiefen und sie als die wahren Organe der proletarischen Diktatur darzustellen.
Die theoretischen Überlegungen der Italienischen Linken waren voller Widersprüchlichkeiten. Einerseits vertrat sie die Idee vom proletarischen Staat, andererseits wurde sie zu seinem entschiedenen Gegner. Obwohl sie peu à peu die Gewerkschaften als Klassenorgane ablehnte, würdigte sie sie dennoch als Institutionen der proletarischen Diktatur. Und als Anhänger der Parteidiktatur trat sie gleichzeitig für deren strikteste Kontrolle durch die Arbeitermassen und die Internationale ein, sogar für ihre Entfernung von der Macht, falls dies die Umstände erfordern. Aber nach ihren eigenen Worten war die Italienische Linke lediglich dabei, sich vorwärts zu tasten. Dabei war sie mehr von den Erfahrungen aus Italien, Frankreich und Russland beeinflusst als von den deutschen Erfahrungen, die stark von der antigewerkschaftlichen Rätebewegung geprägt waren.
Es ist schon erstaunlich, welch enorme Vertiefungsarbeit die Strömung der Italienischen Linken in den dunklen 30er Jahren zu all den Fragen der Vergangenheit und Gegenwart geleistet hat. Diese Strömung wollte die zukünftige kommunistische Revolution vorbereiten. Dabei nutzte sie ihre Isolierung, um zu verhindern, dieselben Fehler zu wiederholen, die ihre berühmten Vorgänger begangen hatten. Sie hatte keine vorgefasste Meinung über die Revolution, und für sie gab es auch kein Programm, das auf ewig festgeschrieben war. Ihr zufolge war das Programm der permanente Versuch, größtmögliche Klarheit, „bis an die Stufe der kommunistischen Gesellschaft“, anzustreben. Es sei nie mehr als ein „Augenblick in dem historischen Bewusstsein, dessen Fortschritt durch die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt wird“ (Communisme, Nr. 18, September 1938).
Die Italienische Kommunistische Linke fasste sich als ein Teil des Weltproletariats auf. Die Theorie war für sie kein Luxus, keine Spielerei, in der die harte Wirklichkeit durch Träume ersetzt wird. Sie war ein lebensnotwendiges Element, das sie einsetzen wollte, um ihre Verbundenheit mit der Arbeiterklasse, aus der sie selbst stammte, zu stärken. Denn ihr Bestreben war es, weder Verrat zu begehen noch der Henker der Arbeiterklasse zu sein.