Ein Wendepunkt im internationalen Klassenkampf

Printer-friendly version
In den ersten zehn Monaten des Jahres 2003 gab es größere Kämpfe, an denen eine ganze Reihe von Branchen beteiligt waren und die mit einer Entschlossenheit geführt wurden, wie sie seit 1980 unbekannt war. Im Mai und Juni demonstrierten in Frankreich Millionen Arbeiter gegen die Angriffe auf die Renten. In Österreich gab es ebenfalls eine Reihe von Demonstrationen gegen die Rentenangriffe. Den Höhepunkt bildete die Demonstration am 3. Juni, die größte seit dem 2. Weltkrieg. Eine Million Menschen waren auf den Straßen, und das in einem Land mit einer Bevölkerung von weniger als zehn Millionen.

Daneben hat es weitere bedeutende, inoffizielle, noch isolierte und spontane Kämpfe gegeben: Ein wilder Streik bei British Airways auf dem Flughafen London-Heathrow, der wilde Streik von bis zu 1.000 Arbeitern bei Alcatel-Espace in Toulouse im Juni. Im August streikten 2.000 festangestellte Arbeiter der Erdölraffinerie in Puertollano in Spanien nach einem Unfall, bei dem sieben Arbeiter getötet wurden. Im September traten bis zu 2.000 Arbeiter von drei verschiedenen Firmen auf der Humberside-Schiffswerft in England in einen wilden Streik, um 98 Zeitarbeiter zu unterstützen, die entlassen werden sollten, als sie eine Lohnerhöhung von 1,95 Pfund forderten. Es gibt zudem einen Streik unter den Postangestellten in England, der gegenwärtig mindestens 20.000 Arbeiter umfasst.

Es hat also eine wachsende Anzahl von Kämpfen in den meisten europäischen Ländern und in den USA gegeben, wo es z. B. Streiks bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in Los Angeles (Kalifornien) gab. Durch Solidaritätsaktionen waren Buslinien, die U-Bahn und die S-Bahn (Light Rail Transport) geschlossen. Ein Streik – der erste dieser Art seit 25 Jahren - von 70.000 Arbeitern einer Supermarktkette zog fast 900 Läden in Kalifornien in Mitleidenschaft.

In Griechenland gab es eine Streikwelle im öffentlichen Dienst mit Tausenden von Angestellten einschließlich der Lehrer, von Beschäftigten im Gesundheitswesen, Feuerwehrleuten und bei der Küstenwache. Auch andere Bereiche, wie die 15.000 Taxifahrer in Athen, haben gestreikt und demonstriert.

Nach 14 Jahren ohne größere Mobilisierung, mit einer rekordverdächtig geringen Zahl von Streiks in den kapitalistischen Hauptländern, und nach der Ankündigung des Endes des Klassenkampfes durch die herrschende Klasse sind die jüngsten Streiks ein Zeichen dafür, dass sich die soziale Situation geändert hat.

Was bedeuten diese Kämpfe?

Um die Bedeutung und die Folgen dieser Kämpfe voll zu begreifen, ist es notwendig, sie in ihren historischen Zusammenhang zu stellen. Auf der unmittelbaren Ebene unterscheiden sich die Kämpfe dieses Jahres nicht sehr von denen in anderen Perioden seit 1989. 1993 gab es in Italien große Demonstrationen gegen Angriffe auf die Renten. 1995 gab es in Frankreich eine größere Klassenbewegung als Antwort gegen ähnliche Angriffe. In diesem Jahr haben wir jedoch simultane Bewegungen, aufeinander folgende Kämpfe und eine Zunahme von kleinen, aber bedeutenden nicht-offiziellen Kämpfen gesehen. Vor allem haben sich diese Kämpfe im Zusammenhang mit einem wachsenden Unbehagen in der Arbeiterklasse über die Zukunft entwickelt, die der Kapitalismus ihr zu bieten hat.

Zur Zeit der Kämpfe in Frankreich im Mai/Juni wurden Vergleiche mit den Ereignissen vom Mai 1968 angestellt. Wir haben die Kämpfe dieses Jahres nicht als ein neues ‘68 eingeschätzt, aber ein Vergleich beleuchtet die Bedeutung des beginnenden Infragestellens des Kapitalismus.

”Einer der Hauptfaktoren beim internationalen Wiederauftauchen der Arbeiterklasse auf der Bühne der Geschichte und beim Wiederaufleben seines Kampfes 1968 war das abrupte Ende von Illusionen, die gedeihen konnten während der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg, in der einer ganzen Generation von Arbeitern Vollbeschäftigung, eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nach der Arbeitslosigkeit in den 30er Jahren, den Lebensmittelrationierungen und dem Hunger während des Krieges und der Zeit unmittelbar danach ermöglicht wurde. Beim ersten Anzeichen einer neuen offenen Krise fühlte sich die Arbeiterklasse nicht nur in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen angegriffen, sondern auch hinsichtlich der Blockierung einer Zukunftsperspektive, einer neuen Periode der wachsenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stagnation als Ergebnis der globalen Krise. Das Ausmaß der Arbeiterkämpfe, die dem Mai 1968 folgten, und das Wiedererscheinen einer revolutionären Perspektive zeigten klar, dass die Mystifikationen der Bourgeoisie über die Konsumgesellschaft und die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse verschlissen waren. Obgleich wir die Dinge im richtigen Verhältnis sehen sollten, gibt es trotzdem Ähnlichkeiten zwischen den gegenwärtigen Angriffen und der damaligen Lage. Natürlich sind die beiden Perioden nicht identisch. 1968 war ein größeres historisches Ereignis, das das Wiederauftauchen der Arbeiterklasse nach mehr als vier Jahrzehnten der Konterrevolution anzeigte. Dieses Ereignis hatte einen viel größeren Einfluss auf das internationale Proletariat als die jetzige Situation.

Nichtsdestoweniger sind wir heute Zeuge des Zusammenbruchs dessen, was in gewissen Sinne einen Trost darstellte nach Jahren unter dem Joch der Lohnarbeit und was einer der Pfeiler gewesen war, auf den das System 20 Jahre lang bauen konnte: Verrentung mit 60 und die Möglichkeit, sich nach der Verrentung eines Lebens frei von größeren materiellen Einschränkungen zu erfreuen. Heute werden die Arbeiter gezwungen, Abschied von der Illusion zu nehmen, in den letzten Jahren ihres Lebens dem zu entfliehen, was zunehmend als Hölle erfahren wird: nämlich die Arbeitswelt, wo es immer weniger Beschäftigte gibt, die eine immer größere Menge an Arbeit verrichten müssen, und wo die Arbeitshetze dauernd steigt. Entweder sie müssen länger arbeiten, was eine Verkürzung der Zeit bedeutet, in der sie hoffen können, schließlich der Lohnarbeit zu entfliehen, oder sie werden, weil sie nicht genügend Beiträge eingezahlt haben, in die Armut herabgedrückt, wo die Not die Stelle der Überarbeitung einnimmt. Für jeden Arbeiter stellt sich angesichts dieser neuen Lage die Frage nach der Zukunft.” (‚Die massiven Angriffe des Kapitals erfordern eine massive Antwort der Arbeiterklasse’ aus International Review Nr. 114)

Diese Infragestellung wird verstärkt durch die Erfahrung der Arbeiterklasse in den letzten 14 Jahren. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks hat das Proletariat einen herben Rückschlag erlitten. Der Zusammenbruch hinterließ unter den Arbeitern ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der veränderten internationalen Situation, die die Welt ins Chaos stürzte. Gleichzeitig gebrauchte die herrschende Klasse den Zusammenbruch und den Wirtschaftsboom der 90er Jahre, um die Idee zu verbreiten, dass die Arbeiterklasse tot sei und die Arbeiter sich selbst als Bürger sehen, die ein Interesse am Wohlergehen dieser Gesellschaft haben. Diese Propagandakampagnen zerschellten an der Wirklichkeit der Rezession zu Beginn des neuen Jahrhunderts, dem darauf folgenden Platzen der Internet-Blase und der Flutwelle von Entlassungen, die die USA, Europa und den Rest der Welt überschwemmte. Gleichzeitig greifen in ganz Europa, in den USA und mehr die kapitalistischen Staaten den Sozialstaat an: Kürzungen in der Arbeitslosenunterstützung und im Anspruch darauf, Senkung der Renten, Einschnitte im Gesundheitswesen, im Erziehungswesen usw. All das zeigt der Arbeiterklasse, was der Kapitalismus zu bieten hat, und erzeugt die Entschlossenheit unter den Arbeitern, den Angriffen auf die Renten und andere Teile des Soziallohns die Stirn zu bieten.

Diese kleineren, isolierten, inoffiziellen Kämpfe drücken einen wachsenden Unwillen im Proletariat aus, die Angriffe zu akzeptieren, die ihnen von den Bossen und Gewerkschaften aufgezwungen werden. Das Heathrower Flughafenpersonal, nicht gerade bekannt für seine Kampfbereitschaft, konnte einfach keinen weiteren Angriff und die Komplizenschaft der Gewerkschaften ertragen, so dass es auf die Straße ging. Die Tatsache, dass eine so kleine Anzahl von Arbeitern den Chefs, den Gewerkschaften und den Medien derart zu schaffen machte, war ein anschauliches Beispiel dafür, das die herrschende Klasse weiß, dass sich die soziale Lage geändert hat.

Die Perspektive

Das Potenzial, das in der gegenwärtigen Situation enthalten ist, ist von historischer Bedeutung. Heute ist nicht dieselbe Situation wie 1968, die Klasse taucht nicht aus einer Phase der historischen Niederlage auf, die Jahrzehnte angedauert hat, sondern vielmehr aus einer mehr als zehnjährigen Phase des Rückzugs. Und vor 1989 gab es 20 Jahre lang immer wiederkehrende Streikwellen. Deshalb hat die jetzige Generation von Arbeitern potenziell eine Erfahrung von über 30 Jahren, in denen sie mit Angriffen und Manövern der herrschenden Klasse konfrontiert war. Zusammen mit der Infragestellung des Systems, die hervorgerufen wird durch die wachsenden weltweiten Angriffe, könnte dies die Bedingungen dafür schaffen, dass bedeutende Schritte zu vielleicht entscheidenden Klassenauseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie gemacht werden, die Aufschluss darüber geben, ob das Proletariat die Fähigkeit hat, die revolutionäre Offensive zu ergreifen.

Klassenidentität - die Schlüsselfrage für die Arbeiterklasse

Zentral für diese Perspektive wird die Fähigkeit des Proletariats sein, seine Klassenidentität wieder zu gewinnen und zu stärken. Unter Klassenidentität verstehen wir, Teil einer Klasse zu sein, die gemeinsame Interessen zu verteidigen hat. Dieses Klassengefühl wird die Grundlage dafür sein, um schließlich die Kämpfe durch Ausdehnung und Selbstorganisation auf ein anderes Niveau zu heben.

Die Natur der jetzigen Angriffe liefert die Grundlage dafür, damit es dazu kommt. Die Demontage der sozialen Puffer des Wohlfahrtsstaates zusammen mit der Verschärfung der Ausbeutung in den Betrieben, Büros, Krankenhäusern usw. und die wachsende Arbeitslosigkeit (über fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, 10% der Bevölkerung; ein seit Jahrzehnten unbekanntes Ausmaß von Entlassungen in den USA; ein Verlust von 800.000 Industriearbeitsplätzen in Großbritannien seit 1997) konfrontieren die Arbeiter mit der brutalen Wirklichkeit des Kapitalismus: entweder wie blöd schuften, um Mehrwert zu produzieren, oder in Armut versinken.

Jahrzehntelang versuchte die herrschende Klasse, den Wohlfahrtsstaat dafür zu benutzen, um die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Arbeiterklasse zu mildern, aber nun wird die Wahrheit dessen immer deutlicher, was Marx im ‚Kapital’ gesagt hat: ”Die kapitalistische Produktionsweise ist deshalb die erste in der Geschichte der Menschheit, in der Arbeitslosigkeit und Elend einer großen und wachsenden Schicht der Bevölkerung und direkte hilflose Armut einer anderen ebenfalls wachsenden Schicht nicht nur das Ergebnis, sondern eine Notwendigkeit, eine Bedingung für die Existenz der Wirtschaft sind. Unsicherheit der Existenz der ganzen arbeitenden Bevölkerung und chronischer Mangel [...] sind zum ersten Mal ein normales gesellschaftliches Phänomen geworden.”

Gegenangriff der Bourgeoisie

Die herrschende Klasse ist sich der Gefahr sehr wohl bewusst, die von der Arbeiterklasse ausgeht. Der kapitalistische Staat hat einen ganzen Apparat, der sich mit den Aktionen der Arbeiter befasst: die Gewerkschaften, die Demokratie, die Linken, die Gerichte, die Polizei usw. Die größte Angst hat die Bourgeoisie davor, dass die Arbeiter ihre eigene Klassenidentität entwickeln und auf dieser Grundlage beginnen, sich politische Fragen über das Wesen des Kapitalismus und über die Notwendigkeit einer Alternative zu stellen.

Wenn die französische Bourgeoisie also einen Frontalangriff auf die Arbeiterklasse ausführen musste, dann tat sie dies, um zu verhindern, dass ein Sinn für die Klassenidentität entsteht. Die Gewerkschaften und die Linken stellten den Kampf als einen Kampf gegen die Hardliner der rechten Regierung dar und verbargen, dass der Kapitalismus die Ursache ist. Alle Sektoren der Bevölkerung wurden mobilisiert. Und sie statuierten ein Exempel an den Lehrern, deren Kampf eine arge Niederlage erlitt. Auch in Österreich waren die Gewerkschaften in der Lage, den Unmut innerhalb von Demonstrationen und begrenzten Streiks im Griff zu behalten. In Deutschland war die herrschende Klasse fähig, die Kämpfe in Frankreich und Österreich zu benutzen, um einen Kampf der Metallarbeiter in Ostdeutschland anzustacheln, der durch die Forderung nach gleicher Bezahlung wie die Arbeiter in Westdeutschland Spaltungen hervorrief. Sie war fähig, die Wut der Arbeiter gegen andere Arbeiter zu kehren, die nicht streiken wollten.

Letzterer Kampf war Ausdruck eines größeren Problems in der Zerfallsphase, mit dem das Proletariat in seinen Kämpfen konfrontiert sein wird. Das wachsende Auseinanderbrechen des sozialen Gefüges arbeitet gegen die Entwicklung einer Klassenidentität, weil es das ‘Jeder gegen Jeden’ begünstigt. Jeder Einzelne und jede Branche wird angehalten, sich nur um das eigene tägliche Überleben zu kümmern, auch wenn das bedeutet, seinen eigenen Arbeitskollegen übers Ohr zu hauen. Während der Lehrerkämpfe in Frankreich förderten die radikalen Gewerkschaften die Idee, dass die kämpferischsten Arbeiter versuchen sollten, die anderen Arbeiter zu zwingen, sich am Kampf zu beteiligen, indem sie Schulen, Straßen usw. blockierten, was zu Feindseligkeiten unter den Arbeitern und zu beträchtlichen Demoralisierungen führte. In Puertollano in Spanien hielten die Gewerkschaften den Kampf der Zeitarbeiter von den festangestellten Arbeitern fern, was ebenfalls zu Feindseligkeiten und Demoralisierung führte.

Die herrschende Klasse ist sehr raffiniert und hat viel Erfahrung in ihrem Kampf gegen das Proletariat. Es ist wichtig zu verstehen, warum eine Unterschätzung der Fähigkeiten des Klassenfeindes die Arbeiterklasse entwaffnet. Die heutigen Kämpfe sind die ersten unsicheren Schritte, um eine Periode der potenziellen Entwicklung des Klassenkampfes zu eröffnen. Die Bourgeoisie tut alles in ihrer Macht Stehende, um die Kampfbereitschaft und ein sich vertiefenden Bewusstsein zu unterminieren, zu zersplittern und zu korrumpieren.

Die Arbeiterklasse steht also vor einer enormen Herausforderung. Es wird eine lange und quälende Entwicklung von Kämpfen geben, die von Niederlagen und Rückschlägen gekennzeichnet sein werden. Die Arbeiter werden sich gegen die verheerenden Auswirkungen der zunehmenden Krise, gegen Arbeitslosigkeit und Armut zur Wehr setzen müssen. Der Eintritt in den Kampf ist ein sehr schwieriger Prozess, aber das ernsthafte Nachdenken, das die Entwicklung der Kämpfe begleiten muss, gibt ihnen eine politischere Bedeutung. Die Entwicklung des Kampfes wird das Proletariat auch in die Lage versetzen, sich die Lehren anzueignen, die es schon in den 80er Jahren zu ziehen begonnen hat, insbesondere über die Rolle der Gewerkschaften und über die Notwendigkeit, den Kampf über die eigene Branche hinaus auszudehnen. Dieser ganze Prozess wird genährt und angefacht werden durch die weitergehende Infragestellung des kapitalistischen Systems. Der Wechsel in der sozialen Lage ist eine große historische Herausforderung, und es gibt keine Garantie dafür, dass die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten fähig sein werden, diese Herausforderung zu bestehen. Dies wird vielmehr von der Entschlossenheit und dem Willen der Klasse und ihrer Minderheiten abhängen.