Bundesratswahlen in der Schweiz

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Die Parlaments- und Regierungswahlen in der Schweiz sind vorbei. Die Zauberformel (1) ist geknackt worden. Der Rauch und der Nebel des Medienspektakels verziehen sich langsam. Eines ist sicher: Mit dem Wahlzirkus hat es die Bourgeoisie einmal mehr geschafft, grosse Teile der Arbeiterklasse davon abzulenken, dass im vergangenen Jahr der verfügbare Teil der Löhne stark gesunken ist und der Wahlzettel kein Mittel ist, um diesen Angriffen entgegenzutreten. Es gab zwar einzelne Streiks im Herbst. Doch selbst die Neue Zürcher Zeitung stellt im Zusammenhang mit dem alljährlich von den Gewerkschaften angekündigten heissen Herbst fest: "Die hitzigen Diskussionen in den vergangenen Monaten konzentrierten sich vorab auf die (Bundesrats-)Wahlen. Die Gewerkschaften ihrerseits beschränkten ihre publizitätsträchtigen Aktionen auf Streiks im Zusammenhang mit einigen von der Schliessung bedrohten Traditionsunternehmen wie Zyliss und Allpack. Die Lohnverhandlungen hingegen fanden ganz entsprechend dem Schweizer Gusto im Stillen statt." (24.12.03)

Der revolutionäre Standpunkt

Kommunisten beteiligen sich nicht an den Geschäften des bürgerlichen Staates, weder in Regierungen noch in Parlamenten. Die Demokratie ist eine besonders heuchlerische Herrschaftsform der Bourgeoisie. Jeder Aufruf zur Beteiligung am Wahlzirkus kann nur die Wirkung der Verschleierung verstärken, die diese Kampagnen der bürgerlichen Parteien (Sozialdemokraten, Grüne, Partei der Arbeit, Solidarités, etc. inbegriffen) bezwecken. Nachdem selbst die NZZ kein Hehl daraus macht, dass die Wahlen vom Klassenkampf abgelenkt haben, könnte man vom revolutionären Standpunkt aus geneigt sein, das Thema Wahlen für erledigt zu erklären. Doch das wäre eine oberflächliche Sichtweise.

Die Marxisten haben immer wieder unterstrichen, dass die Manöver des Klassenfeindes genau zu analysieren sind. Gerade in Zeiten, in denen die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse niedrig ist und nur selten Streiks oder Arbeiterdemonstrationen stattfinden, kann oft nur aus den Schachzügen der Bourgeoisie auf das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Hauptklassen im Kapitalismus geschlossen werden. Je nachdem, wie die Bourgeoisie ihr Arsenal bereitstellt (rechte und linke Parteien, Parlament, Regierung, Gewerkschaften, Medien), wird klar, ob sie mit offenen Konfrontationen rechnet oder ob sie eher die Sabotage der Bewusstseinsreifung im Auge hat. Wenn die herrschende Klasse die Sozialdemokratie mit den Regierungsgeschäften betraut, verfolgt sie andere Ziele, als wenn sie die Linke in die Opposition schickt. Wir haben dies an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt (vgl. "Die Linke an der Regierung" in Internationale Revue Nr. 24; "Mit linken oder rechten Rezepten - die Arbeiterklasse wird immer angegriffen" in Weltrevolution Nr. 120). Im vorliegenden Artikel wollen wir auf diesem Hintergrund den Ausgang der letzten Wahlen in der Schweiz analysieren.

Einige Fakten

Aus den Parlamentswahlen im Oktober 03 sind einerseits die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) von Blocher, andererseits die Linken (SPS und Grüne) als Sieger hervorgegangen. Sitze verloren v.a. die Mitte-Rechts-Parteien Freisinnig-Demokratische Partei (FDP, liberal) und Christliche Volkspartei (CVP, katholisch). Im Vergleich zu den letzten eidgenössischen Wahlen konnte die SVP um rund 20% zulegen und wurde mit 63 von total 246 Sitzen zur stärksten Partei in der Bundesversammlung (Nationalrat und Ständerat).

Die aus sieben Bundesräten bestehende Regierung wird durch das Parlament gewählt. Da dem Nationalstaat Schweiz mit seiner Viersprachigkeit und dem grossen Gewicht der verschiedenen Regionen starke Zentrifugalkräfte innewohnen, ist die Bourgeoisie im Laufe des Zweiten Weltkriegs dazu übergegangen, alle gewichtigen politischen Parteien in die Regierung zu integrieren. Damals wählte sie zum ersten Mal einen Sozialdemokraten in den Bundesrat. Ende der 1950er Jahre wurde diese Regel noch verfeinert mit der so genannten Zauberformel: Von nun an sollten die grössten vier Parteien ungefähr entsprechend ihrem Wähleranteil im Bundesrat vertreten sein. Dies erwies sich deshalb als sinnvoll, weil in der Schweiz ein (ursprünglich zum Schutz der regionalen, sprachlichen und konfessionellen Minderheiten geschaffenes) Referendumsrecht besteht, das einer starken Lobby die Möglichkeit gibt, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zur Volksabstimmung zu bringen. Dies kommt faktisch einem Vetorecht der grossen Interessenverbände gleich. Also drängte es sich auf, die grössten Parteien so an der Regierung zu beteiligen, dass eine Blockierung durch eine starke Opposition, die gegen jedes Gesetz zum Referendum greifen könnte, verhindert wird.

Bis zu den letzten Wahlen galt, dass SP, FDP und CVP je zwei und die SVP einen Sitz im Bundesrat haben sollten. Dies war die Zauberformel. Aufgrund des massiven Stimmenzuwachses in den letzten Jahren erhob die SVP nun einen Anspruch auf einen zusätzlichen Sitz, und zwar auf Kosten der CVP, die zur schwächsten dieser vier Parteien geworden war.

Grundsätzlich bestand in der Bourgeoisie Einigkeit über diesen Anspruch. Die Situation schien lediglich dadurch kompliziert zu werden, dass die SVP nach den Parlamentswahlen das Ultimatum stellte: Entweder wird das Aushängeschild der Partei, Christoph Blocher, in den Bundesrat gewählt, oder die SVP zieht auch ihren bisherigen Vertreter aus der Regierung zurück und geht in die Opposition. Denn die Bundesratswahlen liefen bisher oft so ab, dass zwar der Anspruch der vier grossen Parteien auf ihre Sitze, nicht aber der jeweilige Wunschkandidat der betreffenden Partei berücksichtigt wurden. Mit ihrem Ultimatum verringerte also die SVP den Spielraum, den das Parlament bei der Regierungsbildung normalerweise hat.

Probe bestanden

Die Bundesratswahlen vom 10. Dezember verliefen dann so, wie es die SVP gefordert hatte. Blocher wurde auf Kosten der bisherigen CVP-Bundesrätin Ruth Metzler gewählt. Dies ist aber nicht nur ein Sieg für die SVP (oder die Männer bzw. die Rechten, wie die Linken gegenwärtig lamentieren), sondern für den schweizerischen Staatskapitalismus insgesamt.Angesichts der gegenwärtigen historischen Lage stand die herrschende Klasse in der Schweiz vor einer doppelten Herausforderung:

a) Wie in anderen Ländern gewannen die Rechtspopulisten in den letzten Jahren immer mehr Wählerstimmen. Ihre isolationistische und fremdenfeindliche Politik ist zwar von einem nationalstaatlichen Standpunkt aus nicht vernünftig. Sie entspricht aber dem kapitalistischen Gesetz des "Jeder-gegen-jeden", das in der gegenwärtigen Zerfallsphase auf die Spitze getrieben wird. Die Bourgeoisie in jedem Land hat Schwierigkeiten mit Zersetzungstendenzen, wie sie sich in den letzten Jahren z.B. in anderen mittel- und westeuropäischen Ländern wie in Österreich (Haider), Holland (Pim Fortuyn) oder Italien (Bossi) breit gemacht haben. Die Gefahr für die jeweilige nationale Bourgeoisie besteht dabei nicht in einer angeblichen Tendenz zum Faschismus, sondern im Ausbruch gewisser Fraktionen der Bourgeoisie aus der staatskapitalistischen Disziplin, im Aufkommen von Parteien, die den nationalen Zusammenhalt durch Verfolgung von "unvernünftigen" Sonderinteressen untergraben. Von diesem Gesichtswinkel aus ging es also für die Schweizer Bourgeoisie darum, die SVP, die diese Tendenz verkörpert (3) verstärkt in die Regierungsverantwortung einzubinden, um sie einerseits der Narrenfreiheit einer Oppositionspartei zu berauben und andererseits gerade dadurch tendenziell zu diskreditieren und wieder auf eine "vernünftige" Grösse zurückzuwerfen.

b) Gleichzeitig stand die herrschende Klasse aber auch vor der Herausforderung, die Linke nicht in die Opposition zu drängen (4). Die Sozialdemokraten müssen die Oppositionsrolle vor allem dann spielen, wenn die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse relativ gross ist. Zu diesen Zeiten ist jene klassische Arbeitsteilung vorteilhaft, bei der die Rechten eine harte Regierungspolitik durchziehen und die Linken mit den Gewerkschaften den Kampf der Arbeiter von innen zu sabotieren versuchen. In der heutigen Zeit aber ist die Kampfkraft des Proletariats noch gering. Die Linken sollen aus staatskapitalistischer Sicht durchaus in der Regierung bleiben und als soziale Bundesräte die Botschaft vermitteln, dass die Sparmassnahmen zwar hart, aber halt unvermeidlich seien. So erfüllen sie am besten die heute wichtige Rolle, den Ausbruch der Kämpfe möglichst lange hinauszuschieben.

Schon vor den Bundesratswahlen im Herbst war klar, dass die Bourgeoisie diesen beiden Anforderungen gerecht werden muss. Von den beiden Erfordernissen war aber das erste prioritär: Die Beispiele der oben erwähnten Länder, die mit einem starken Rechtspopulismus konfrontiert waren, hatte bereits gezeigt, dass die Bourgeoisie in der gegenwärtigen Phase durchaus mit einer linken Opposition leben kann, während aber die fehlende Einbindung der Rechtspopulisten zu einem Kontrollverlust führt. Die herrschende Klasse hat es geschafft, beide Aufgaben zu erfüllen. Dies ist ein Zeichen der relativen Stärke: Obwohl sie mit Zerfallstendenzen wie dem Aufkommen der Rechtspopulisten zu kämpfen hat, gelingt es ihr, trotz der schwerfälligen Zauberformel die Kontrolle zu behalten.

Gegen demokratische Illusionen

Der demokratische Medienrummel ist nach den Bundesratswahlen nicht verstummt, er ist lediglich in neue Fahrwasser gelenkt worden. Während vor den Wahlen der Kampf für oder gegen Blocher als Show-down inszeniert wurde, stehen nun die Linken und Feministinnen im Rampenlicht, die zetern, dass jetzt nicht nur eine Frau weniger im Bundesrat, sondern mit Hans-Rudolf Merz, dem Nachfolger des zurückgetretenen FDP-Bundesrates Kaspar Villiger, neben Blocher ein weiterer "Konservativer" gewählt worden sei. Am Samstag nach der Wahl gab es aus diesem Anlass eine für schweizerische Verhältnisse grosse Protestdemonstration in Bern. Dabei wird Blocher als das Hauptproblem dargestellt und davon abgelenkt, dass die Linke nach wie vor massgeblich an der Regierung beteiligt ist und alle vergangenen, laufenden und zukünftigen Angriffe auf unsere Lebensbedingungen mitträgt, wenn nicht gar initiiert. So ist beispielsweise die geplante Rentenreform des freisinnigen Bundesrates Couchepin bereits von seiner sozialdemokratischen Vorgängerin Dreifuss vorbereitet worden. Die Bourgeoisie ist also nicht dazu übergegangen, die Linke in die Opposition zu versetzen. Vielmehr spielt die herrschende Klasse nach wie vor die Karte der "Linken an der Regierung" mit dem Ziel, das Anwachsen der noch schwachen Kampfbereitschaft so lange wie möglich hinauszuzögern. Die zur Schau getragene Empörung der Linken und der Frauenverbände über die Wahl Blochers und Merz' ist nur ein weiterer Versuch, das Interesse der Leute und vorab der Arbeiterklasse auf das demokratische Spiel zu lenken und die entsprechenden Illusionen zu schüren. Bei diesem Spiel sind aber die Karten schon vorher verteilt, und die Arbeiterklasse ist und bleibt Zuschauerin, wenn sie nicht selber kämpft. FSN 21.01.04

1 Mit der Zauberformel meint man das 1959 eingeführte zahlenmässige Verhältnis zwischen den vier grossen Parteien in der siebenköpfigen Exekutive (Bundesrat). Dieses Verhältnis hat bis in die 1990er Jahre ungefähr dem Wähleranteil dieser Parteien entsprochen (SP: 2, CVP: 2, FDP: 2, SVP: 1).

2 Mit der Zauberformel vermied die Schweizer Bourgeoisie eine Blockierung im Verhältnis zwischen Regierung und Gesetzgebung, indem sie eine formelle Opposition durch eine grosse Partei ausschloss. Im Gegensatz zum System in anderen Ländern, wo es einerseits eine Regierungspartei oder -koalition und andererseits eine Opposition gibt, die an der Regierung nicht beteiligt ist, sitzen in der Schweiz alle grossen Parteien in der Exekutive. Dies heisst aber nicht, dass dem schweizerischen System eine Arbeitsteilung zwischen Regierung und Opposition völlig fremd wäre, es funktioniert lediglich anders: Wenn international die Bourgeoisie die Karte der Rechten an der Regierung spielt und die linken Parteien in die Opposition versetzt, so wird diese Oppositionsrolle in der Schweiz in der Regel von linken Teilen der Sozialdemokratie (sowie Gewerkschaften und linksextremen Parteien) gespielt. Wenn umgekehrt eine linke Regierung mit einer rechten Opposition ansteht, so wird die Rolle der Letzteren z.B. durch Teile der SVP übernommen, während die formelle Regierungskoalition eine allgemein links gefärbte Politik betreibt.

3 Im Gegensatz zu einer Lega Nord von Umberto Bossi vertritt Blochers SVP keine Forderungen, die die Abtrennung von Teilen der Schweiz zum Inhalt hätten. Was die SVP bisher auszeichnete, war eine insbesondere gegenüber der EU verfolgte Abschottungspolitik, die angesichts der geographischen Lage und Grösse des Landes und der wirtschaftlichen Verflechtungen nicht den Interessen der "vernünftigen", massgebenden Teile der Bourgeoisie entspricht. Diese haben vielmehr die Devise, keine Türen zuzuschlagen und möglichst lange alle Optionen offen zu halten. So ist die offizielle Haltung der Regierung immer noch, langfristig der EU beizutreten.

4 Und zwar weder in eine formelle Opposition (im Sinne anderer Länder) noch in eine nach Schweizer Art (wie sie beispielsweise in den 1980er Jahren bestand).