Kommunisten beteiligen sich nicht an den Geschäften des bürgerlichen Staates, weder in Regierungen noch in Parlamenten. Die Demokratie ist eine besonders heuchlerische Herrschaftsform der Bourgeoisie. Jeder Aufruf zur Beteiligung am Wahlzirkus kann nur die Wirkung der Verschleierung verstärken, die diese Kampagnen der bürgerlichen Parteien (Sozialdemokraten, Grüne, Partei der Arbeit, Solidarités, etc. inbegriffen) bezwecken. Nachdem selbst die NZZ kein Hehl daraus macht, dass die Wahlen vom Klassenkampf abgelenkt haben, könnte man vom revolutionären Standpunkt aus geneigt sein, das Thema Wahlen für erledigt zu erklären. Doch das wäre eine oberflächliche Sichtweise.
Die Marxisten haben immer wieder unterstrichen, dass die Manöver des Klassenfeindes genau zu analysieren sind. Gerade in Zeiten, in denen die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse niedrig ist und nur selten Streiks oder Arbeiterdemonstrationen stattfinden, kann oft nur aus den Schachzügen der Bourgeoisie auf das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Hauptklassen im Kapitalismus geschlossen werden. Je nachdem, wie die Bourgeoisie ihr Arsenal bereitstellt (rechte und linke Parteien, Parlament, Regierung, Gewerkschaften, Medien), wird klar, ob sie mit offenen Konfrontationen rechnet oder ob sie eher die Sabotage der Bewusstseinsreifung im Auge hat. Wenn die herrschende Klasse die Sozialdemokratie mit den Regierungsgeschäften betraut, verfolgt sie andere Ziele, als wenn sie die Linke in die Opposition schickt. Wir haben dies an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt (vgl. "Die Linke an der Regierung" in Internationale Revue Nr. 24; "Mit linken oder rechten Rezepten - die Arbeiterklasse wird immer angegriffen" in Weltrevolution Nr. 120). Im vorliegenden Artikel wollen wir auf diesem Hintergrund den Ausgang der letzten Wahlen in der Schweiz analysieren.
Aus den Parlamentswahlen im Oktober 03 sind einerseits die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) von Blocher, andererseits die Linken (SPS und Grüne) als Sieger hervorgegangen. Sitze verloren v.a. die Mitte-Rechts-Parteien Freisinnig-Demokratische Partei (FDP, liberal) und Christliche Volkspartei (CVP, katholisch). Im Vergleich zu den letzten eidgenössischen Wahlen konnte die SVP um rund 20% zulegen und wurde mit 63 von total 246 Sitzen zur stärksten Partei in der Bundesversammlung (Nationalrat und Ständerat).
Die aus sieben Bundesräten bestehende Regierung wird durch das Parlament gewählt. Da dem Nationalstaat Schweiz mit seiner Viersprachigkeit und dem grossen Gewicht der verschiedenen Regionen starke Zentrifugalkräfte innewohnen, ist die Bourgeoisie im Laufe des Zweiten Weltkriegs dazu übergegangen, alle gewichtigen politischen Parteien in die Regierung zu integrieren. Damals wählte sie zum ersten Mal einen Sozialdemokraten in den Bundesrat. Ende der 1950er Jahre wurde diese Regel noch verfeinert mit der so genannten Zauberformel: Von nun an sollten die grössten vier Parteien ungefähr entsprechend ihrem Wähleranteil im Bundesrat vertreten sein. Dies erwies sich deshalb als sinnvoll, weil in der Schweiz ein (ursprünglich zum Schutz der regionalen, sprachlichen und konfessionellen Minderheiten geschaffenes) Referendumsrecht besteht, das einer starken Lobby die Möglichkeit gibt, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zur Volksabstimmung zu bringen. Dies kommt faktisch einem Vetorecht der grossen Interessenverbände gleich. Also drängte es sich auf, die grössten Parteien so an der Regierung zu beteiligen, dass eine Blockierung durch eine starke Opposition, die gegen jedes Gesetz zum Referendum greifen könnte, verhindert wird.
Bis zu den letzten Wahlen galt, dass SP, FDP und CVP je zwei und die SVP einen Sitz im Bundesrat haben sollten. Dies war die Zauberformel. Aufgrund des massiven Stimmenzuwachses in den letzten Jahren erhob die SVP nun einen Anspruch auf einen zusätzlichen Sitz, und zwar auf Kosten der CVP, die zur schwächsten dieser vier Parteien geworden war.
Grundsätzlich bestand in der Bourgeoisie Einigkeit über diesen Anspruch. Die Situation schien lediglich dadurch kompliziert zu werden, dass die SVP nach den Parlamentswahlen das Ultimatum stellte: Entweder wird das Aushängeschild der Partei, Christoph Blocher, in den Bundesrat gewählt, oder die SVP zieht auch ihren bisherigen Vertreter aus der Regierung zurück und geht in die Opposition. Denn die Bundesratswahlen liefen bisher oft so ab, dass zwar der Anspruch der vier grossen Parteien auf ihre Sitze, nicht aber der jeweilige Wunschkandidat der betreffenden Partei berücksichtigt wurden. Mit ihrem Ultimatum verringerte also die SVP den Spielraum, den das Parlament bei der Regierungsbildung normalerweise hat.
Die Bundesratswahlen vom 10. Dezember verliefen dann so, wie es die SVP gefordert hatte. Blocher wurde auf Kosten der bisherigen CVP-Bundesrätin Ruth Metzler gewählt. Dies ist aber nicht nur ein Sieg für die SVP (oder die Männer bzw. die Rechten, wie die Linken gegenwärtig lamentieren), sondern für den schweizerischen Staatskapitalismus insgesamt.Angesichts der gegenwärtigen historischen Lage stand die herrschende Klasse in der Schweiz vor einer doppelten Herausforderung:
a) Wie in anderen Ländern gewannen die Rechtspopulisten in den letzten Jahren immer mehr Wählerstimmen. Ihre isolationistische und fremdenfeindliche Politik ist zwar von einem nationalstaatlichen Standpunkt aus nicht vernünftig. Sie entspricht aber dem kapitalistischen Gesetz des "Jeder-gegen-jeden", das in der gegenwärtigen Zerfallsphase auf die Spitze getrieben wird. Die Bourgeoisie in jedem Land hat Schwierigkeiten mit Zersetzungstendenzen, wie sie sich in den letzten Jahren z.B. in anderen mittel- und westeuropäischen Ländern wie in Österreich (Haider), Holland (Pim Fortuyn) oder Italien (Bossi) breit gemacht haben. Die Gefahr für die jeweilige nationale Bourgeoisie besteht dabei nicht in einer angeblichen Tendenz zum Faschismus, sondern im Ausbruch gewisser Fraktionen der Bourgeoisie aus der staatskapitalistischen Disziplin, im Aufkommen von Parteien, die den nationalen Zusammenhalt durch Verfolgung von "unvernünftigen" Sonderinteressen untergraben. Von diesem Gesichtswinkel aus ging es also für die Schweizer Bourgeoisie darum, die SVP, die diese Tendenz verkörpert (3) verstärkt in die Regierungsverantwortung einzubinden, um sie einerseits der Narrenfreiheit einer Oppositionspartei zu berauben und andererseits gerade dadurch tendenziell zu diskreditieren und wieder auf eine "vernünftige" Grösse zurückzuwerfen.
b) Gleichzeitig stand die herrschende Klasse aber auch vor der Herausforderung, die Linke nicht in die Opposition zu drängen (4). Die Sozialdemokraten müssen die Oppositionsrolle vor allem dann spielen, wenn die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse relativ gross ist. Zu diesen Zeiten ist jene klassische Arbeitsteilung vorteilhaft, bei der die Rechten eine harte Regierungspolitik durchziehen und die Linken mit den Gewerkschaften den Kampf der Arbeiter von innen zu sabotieren versuchen. In der heutigen Zeit aber ist die Kampfkraft des Proletariats noch gering. Die Linken sollen aus staatskapitalistischer Sicht durchaus in der Regierung bleiben und als soziale Bundesräte die Botschaft vermitteln, dass die Sparmassnahmen zwar hart, aber halt unvermeidlich seien. So erfüllen sie am besten die heute wichtige Rolle, den Ausbruch der Kämpfe möglichst lange hinauszuschieben.
Schon vor den Bundesratswahlen im Herbst war klar, dass die Bourgeoisie diesen beiden Anforderungen gerecht werden muss. Von den beiden Erfordernissen war aber das erste prioritär: Die Beispiele der oben erwähnten Länder, die mit einem starken Rechtspopulismus konfrontiert waren, hatte bereits gezeigt, dass die Bourgeoisie in der gegenwärtigen Phase durchaus mit einer linken Opposition leben kann, während aber die fehlende Einbindung der Rechtspopulisten zu einem Kontrollverlust führt. Die herrschende Klasse hat es geschafft, beide Aufgaben zu erfüllen. Dies ist ein Zeichen der relativen Stärke: Obwohl sie mit Zerfallstendenzen wie dem Aufkommen der Rechtspopulisten zu kämpfen hat, gelingt es ihr, trotz der schwerfälligen Zauberformel die Kontrolle zu behalten.
Der demokratische Medienrummel ist nach den Bundesratswahlen nicht verstummt, er ist lediglich in neue Fahrwasser gelenkt worden. Während vor den Wahlen der Kampf für oder gegen Blocher als Show-down inszeniert wurde, stehen nun die Linken und Feministinnen im Rampenlicht, die zetern, dass jetzt nicht nur eine Frau weniger im Bundesrat, sondern mit Hans-Rudolf Merz, dem Nachfolger des zurückgetretenen FDP-Bundesrates Kaspar Villiger, neben Blocher ein weiterer "Konservativer" gewählt worden sei. Am Samstag nach der Wahl gab es aus diesem Anlass eine für schweizerische Verhältnisse grosse Protestdemonstration in Bern. Dabei wird Blocher als das Hauptproblem dargestellt und davon abgelenkt, dass die Linke nach wie vor massgeblich an der Regierung beteiligt ist und alle vergangenen, laufenden und zukünftigen Angriffe auf unsere Lebensbedingungen mitträgt, wenn nicht gar initiiert. So ist beispielsweise die geplante Rentenreform des freisinnigen Bundesrates Couchepin bereits von seiner sozialdemokratischen Vorgängerin Dreifuss vorbereitet worden. Die Bourgeoisie ist also nicht dazu übergegangen, die Linke in die Opposition zu versetzen. Vielmehr spielt die herrschende Klasse nach wie vor die Karte der "Linken an der Regierung" mit dem Ziel, das Anwachsen der noch schwachen Kampfbereitschaft so lange wie möglich hinauszuzögern. Die zur Schau getragene Empörung der Linken und der Frauenverbände über die Wahl Blochers und Merz' ist nur ein weiterer Versuch, das Interesse der Leute und vorab der Arbeiterklasse auf das demokratische Spiel zu lenken und die entsprechenden Illusionen zu schüren. Bei diesem Spiel sind aber die Karten schon vorher verteilt, und die Arbeiterklasse ist und bleibt Zuschauerin, wenn sie nicht selber kämpft. FSN 21.01.04
1 Mit der Zauberformel meint man das 1959 eingeführte zahlenmässige Verhältnis zwischen den vier grossen Parteien in der siebenköpfigen Exekutive (Bundesrat). Dieses Verhältnis hat bis in die 1990er Jahre ungefähr dem Wähleranteil dieser Parteien entsprochen (SP: 2, CVP: 2, FDP: 2, SVP: 1).
2 Mit der Zauberformel vermied die Schweizer Bourgeoisie eine Blockierung im Verhältnis zwischen Regierung und Gesetzgebung, indem sie eine formelle Opposition durch eine grosse Partei ausschloss. Im Gegensatz zum System in anderen Ländern, wo es einerseits eine Regierungspartei oder -koalition und andererseits eine Opposition gibt, die an der Regierung nicht beteiligt ist, sitzen in der Schweiz alle grossen Parteien in der Exekutive. Dies heisst aber nicht, dass dem schweizerischen System eine Arbeitsteilung zwischen Regierung und Opposition völlig fremd wäre, es funktioniert lediglich anders: Wenn international die Bourgeoisie die Karte der Rechten an der Regierung spielt und die linken Parteien in die Opposition versetzt, so wird diese Oppositionsrolle in der Schweiz in der Regel von linken Teilen der Sozialdemokratie (sowie Gewerkschaften und linksextremen Parteien) gespielt. Wenn umgekehrt eine linke Regierung mit einer rechten Opposition ansteht, so wird die Rolle der Letzteren z.B. durch Teile der SVP übernommen, während die formelle Regierungskoalition eine allgemein links gefärbte Politik betreibt.
3 Im Gegensatz zu einer Lega Nord von Umberto Bossi vertritt Blochers SVP keine Forderungen, die die Abtrennung von Teilen der Schweiz zum Inhalt hätten. Was die SVP bisher auszeichnete, war eine insbesondere gegenüber der EU verfolgte Abschottungspolitik, die angesichts der geographischen Lage und Grösse des Landes und der wirtschaftlichen Verflechtungen nicht den Interessen der "vernünftigen", massgebenden Teile der Bourgeoisie entspricht. Diese haben vielmehr die Devise, keine Türen zuzuschlagen und möglichst lange alle Optionen offen zu halten. So ist die offizielle Haltung der Regierung immer noch, langfristig der EU beizutreten.
4 Und zwar weder in eine formelle Opposition (im Sinne anderer Länder) noch in eine nach Schweizer Art (wie sie beispielsweise in den 1980er Jahren bestand).
Daneben hat es weitere bedeutende, inoffizielle, noch isolierte und spontane Kämpfe gegeben: Ein wilder Streik bei British Airways auf dem Flughafen London-Heathrow, der wilde Streik von bis zu 1.000 Arbeitern bei Alcatel-Espace in Toulouse im Juni. Im August streikten 2.000 festangestellte Arbeiter der Erdölraffinerie in Puertollano in Spanien nach einem Unfall, bei dem sieben Arbeiter getötet wurden. Im September traten bis zu 2.000 Arbeiter von drei verschiedenen Firmen auf der Humberside-Schiffswerft in England in einen wilden Streik, um 98 Zeitarbeiter zu unterstützen, die entlassen werden sollten, als sie eine Lohnerhöhung von 1,95 Pfund forderten. Es gibt zudem einen Streik unter den Postangestellten in England, der gegenwärtig mindestens 20.000 Arbeiter umfasst.
Es hat also eine wachsende Anzahl von Kämpfen in den meisten europäischen Ländern und in den USA gegeben, wo es z. B. Streiks bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in Los Angeles (Kalifornien) gab. Durch Solidaritätsaktionen waren Buslinien, die U-Bahn und die S-Bahn (Light Rail Transport) geschlossen. Ein Streik – der erste dieser Art seit 25 Jahren - von 70.000 Arbeitern einer Supermarktkette zog fast 900 Läden in Kalifornien in Mitleidenschaft.
In Griechenland gab es eine Streikwelle im öffentlichen Dienst mit Tausenden von Angestellten einschließlich der Lehrer, von Beschäftigten im Gesundheitswesen, Feuerwehrleuten und bei der Küstenwache. Auch andere Bereiche, wie die 15.000 Taxifahrer in Athen, haben gestreikt und demonstriert.
Nach 14 Jahren ohne größere Mobilisierung, mit einer rekordverdächtig geringen Zahl von Streiks in den kapitalistischen Hauptländern, und nach der Ankündigung des Endes des Klassenkampfes durch die herrschende Klasse sind die jüngsten Streiks ein Zeichen dafür, dass sich die soziale Situation geändert hat.
Was bedeuten diese Kämpfe?
Um die Bedeutung und die Folgen dieser Kämpfe voll zu begreifen, ist es notwendig, sie in ihren historischen Zusammenhang zu stellen. Auf der unmittelbaren Ebene unterscheiden sich die Kämpfe dieses Jahres nicht sehr von denen in anderen Perioden seit 1989. 1993 gab es in Italien große Demonstrationen gegen Angriffe auf die Renten. 1995 gab es in Frankreich eine größere Klassenbewegung als Antwort gegen ähnliche Angriffe. In diesem Jahr haben wir jedoch simultane Bewegungen, aufeinander folgende Kämpfe und eine Zunahme von kleinen, aber bedeutenden nicht-offiziellen Kämpfen gesehen. Vor allem haben sich diese Kämpfe im Zusammenhang mit einem wachsenden Unbehagen in der Arbeiterklasse über die Zukunft entwickelt, die der Kapitalismus ihr zu bieten hat.
Zur Zeit der Kämpfe in Frankreich im Mai/Juni wurden Vergleiche mit den Ereignissen vom Mai 1968 angestellt. Wir haben die Kämpfe dieses Jahres nicht als ein neues ‘68 eingeschätzt, aber ein Vergleich beleuchtet die Bedeutung des beginnenden Infragestellens des Kapitalismus.
”Einer der Hauptfaktoren beim internationalen Wiederauftauchen der Arbeiterklasse auf der Bühne der Geschichte und beim Wiederaufleben seines Kampfes 1968 war das abrupte Ende von Illusionen, die gedeihen konnten während der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg, in der einer ganzen Generation von Arbeitern Vollbeschäftigung, eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nach der Arbeitslosigkeit in den 30er Jahren, den Lebensmittelrationierungen und dem Hunger während des Krieges und der Zeit unmittelbar danach ermöglicht wurde. Beim ersten Anzeichen einer neuen offenen Krise fühlte sich die Arbeiterklasse nicht nur in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen angegriffen, sondern auch hinsichtlich der Blockierung einer Zukunftsperspektive, einer neuen Periode der wachsenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stagnation als Ergebnis der globalen Krise. Das Ausmaß der Arbeiterkämpfe, die dem Mai 1968 folgten, und das Wiedererscheinen einer revolutionären Perspektive zeigten klar, dass die Mystifikationen der Bourgeoisie über die Konsumgesellschaft und die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse verschlissen waren. Obgleich wir die Dinge im richtigen Verhältnis sehen sollten, gibt es trotzdem Ähnlichkeiten zwischen den gegenwärtigen Angriffen und der damaligen Lage. Natürlich sind die beiden Perioden nicht identisch. 1968 war ein größeres historisches Ereignis, das das Wiederauftauchen der Arbeiterklasse nach mehr als vier Jahrzehnten der Konterrevolution anzeigte. Dieses Ereignis hatte einen viel größeren Einfluss auf das internationale Proletariat als die jetzige Situation.
Nichtsdestoweniger sind wir heute Zeuge des Zusammenbruchs dessen, was in gewissen Sinne einen Trost darstellte nach Jahren unter dem Joch der Lohnarbeit und was einer der Pfeiler gewesen war, auf den das System 20 Jahre lang bauen konnte: Verrentung mit 60 und die Möglichkeit, sich nach der Verrentung eines Lebens frei von größeren materiellen Einschränkungen zu erfreuen. Heute werden die Arbeiter gezwungen, Abschied von der Illusion zu nehmen, in den letzten Jahren ihres Lebens dem zu entfliehen, was zunehmend als Hölle erfahren wird: nämlich die Arbeitswelt, wo es immer weniger Beschäftigte gibt, die eine immer größere Menge an Arbeit verrichten müssen, und wo die Arbeitshetze dauernd steigt. Entweder sie müssen länger arbeiten, was eine Verkürzung der Zeit bedeutet, in der sie hoffen können, schließlich der Lohnarbeit zu entfliehen, oder sie werden, weil sie nicht genügend Beiträge eingezahlt haben, in die Armut herabgedrückt, wo die Not die Stelle der Überarbeitung einnimmt. Für jeden Arbeiter stellt sich angesichts dieser neuen Lage die Frage nach der Zukunft.” (‚Die massiven Angriffe des Kapitals erfordern eine massive Antwort der Arbeiterklasse’ aus International Review Nr. 114)
Diese Infragestellung wird verstärkt durch die Erfahrung der Arbeiterklasse in den letzten 14 Jahren. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks hat das Proletariat einen herben Rückschlag erlitten. Der Zusammenbruch hinterließ unter den Arbeitern ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der veränderten internationalen Situation, die die Welt ins Chaos stürzte. Gleichzeitig gebrauchte die herrschende Klasse den Zusammenbruch und den Wirtschaftsboom der 90er Jahre, um die Idee zu verbreiten, dass die Arbeiterklasse tot sei und die Arbeiter sich selbst als Bürger sehen, die ein Interesse am Wohlergehen dieser Gesellschaft haben. Diese Propagandakampagnen zerschellten an der Wirklichkeit der Rezession zu Beginn des neuen Jahrhunderts, dem darauf folgenden Platzen der Internet-Blase und der Flutwelle von Entlassungen, die die USA, Europa und den Rest der Welt überschwemmte. Gleichzeitig greifen in ganz Europa, in den USA und mehr die kapitalistischen Staaten den Sozialstaat an: Kürzungen in der Arbeitslosenunterstützung und im Anspruch darauf, Senkung der Renten, Einschnitte im Gesundheitswesen, im Erziehungswesen usw. All das zeigt der Arbeiterklasse, was der Kapitalismus zu bieten hat, und erzeugt die Entschlossenheit unter den Arbeitern, den Angriffen auf die Renten und andere Teile des Soziallohns die Stirn zu bieten.
Diese kleineren, isolierten, inoffiziellen Kämpfe drücken einen wachsenden Unwillen im Proletariat aus, die Angriffe zu akzeptieren, die ihnen von den Bossen und Gewerkschaften aufgezwungen werden. Das Heathrower Flughafenpersonal, nicht gerade bekannt für seine Kampfbereitschaft, konnte einfach keinen weiteren Angriff und die Komplizenschaft der Gewerkschaften ertragen, so dass es auf die Straße ging. Die Tatsache, dass eine so kleine Anzahl von Arbeitern den Chefs, den Gewerkschaften und den Medien derart zu schaffen machte, war ein anschauliches Beispiel dafür, das die herrschende Klasse weiß, dass sich die soziale Lage geändert hat.
Das Potenzial, das in der gegenwärtigen Situation enthalten ist, ist von historischer Bedeutung. Heute ist nicht dieselbe Situation wie 1968, die Klasse taucht nicht aus einer Phase der historischen Niederlage auf, die Jahrzehnte angedauert hat, sondern vielmehr aus einer mehr als zehnjährigen Phase des Rückzugs. Und vor 1989 gab es 20 Jahre lang immer wiederkehrende Streikwellen. Deshalb hat die jetzige Generation von Arbeitern potenziell eine Erfahrung von über 30 Jahren, in denen sie mit Angriffen und Manövern der herrschenden Klasse konfrontiert war. Zusammen mit der Infragestellung des Systems, die hervorgerufen wird durch die wachsenden weltweiten Angriffe, könnte dies die Bedingungen dafür schaffen, dass bedeutende Schritte zu vielleicht entscheidenden Klassenauseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie gemacht werden, die Aufschluss darüber geben, ob das Proletariat die Fähigkeit hat, die revolutionäre Offensive zu ergreifen.
Zentral für diese Perspektive wird die Fähigkeit des Proletariats sein, seine Klassenidentität wieder zu gewinnen und zu stärken. Unter Klassenidentität verstehen wir, Teil einer Klasse zu sein, die gemeinsame Interessen zu verteidigen hat. Dieses Klassengefühl wird die Grundlage dafür sein, um schließlich die Kämpfe durch Ausdehnung und Selbstorganisation auf ein anderes Niveau zu heben.
Die Natur der jetzigen Angriffe liefert die Grundlage dafür, damit es dazu kommt. Die Demontage der sozialen Puffer des Wohlfahrtsstaates zusammen mit der Verschärfung der Ausbeutung in den Betrieben, Büros, Krankenhäusern usw. und die wachsende Arbeitslosigkeit (über fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, 10% der Bevölkerung; ein seit Jahrzehnten unbekanntes Ausmaß von Entlassungen in den USA; ein Verlust von 800.000 Industriearbeitsplätzen in Großbritannien seit 1997) konfrontieren die Arbeiter mit der brutalen Wirklichkeit des Kapitalismus: entweder wie blöd schuften, um Mehrwert zu produzieren, oder in Armut versinken.
Jahrzehntelang versuchte die herrschende Klasse, den Wohlfahrtsstaat dafür zu benutzen, um die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Arbeiterklasse zu mildern, aber nun wird die Wahrheit dessen immer deutlicher, was Marx im ‚Kapital’ gesagt hat: ”Die kapitalistische Produktionsweise ist deshalb die erste in der Geschichte der Menschheit, in der Arbeitslosigkeit und Elend einer großen und wachsenden Schicht der Bevölkerung und direkte hilflose Armut einer anderen ebenfalls wachsenden Schicht nicht nur das Ergebnis, sondern eine Notwendigkeit, eine Bedingung für die Existenz der Wirtschaft sind. Unsicherheit der Existenz der ganzen arbeitenden Bevölkerung und chronischer Mangel [...] sind zum ersten Mal ein normales gesellschaftliches Phänomen geworden.”
Die herrschende Klasse ist sich der Gefahr sehr wohl bewusst, die von der Arbeiterklasse ausgeht. Der kapitalistische Staat hat einen ganzen Apparat, der sich mit den Aktionen der Arbeiter befasst: die Gewerkschaften, die Demokratie, die Linken, die Gerichte, die Polizei usw. Die größte Angst hat die Bourgeoisie davor, dass die Arbeiter ihre eigene Klassenidentität entwickeln und auf dieser Grundlage beginnen, sich politische Fragen über das Wesen des Kapitalismus und über die Notwendigkeit einer Alternative zu stellen.
Wenn die französische Bourgeoisie also einen Frontalangriff auf die Arbeiterklasse ausführen musste, dann tat sie dies, um zu verhindern, dass ein Sinn für die Klassenidentität entsteht. Die Gewerkschaften und die Linken stellten den Kampf als einen Kampf gegen die Hardliner der rechten Regierung dar und verbargen, dass der Kapitalismus die Ursache ist. Alle Sektoren der Bevölkerung wurden mobilisiert. Und sie statuierten ein Exempel an den Lehrern, deren Kampf eine arge Niederlage erlitt. Auch in Österreich waren die Gewerkschaften in der Lage, den Unmut innerhalb von Demonstrationen und begrenzten Streiks im Griff zu behalten. In Deutschland war die herrschende Klasse fähig, die Kämpfe in Frankreich und Österreich zu benutzen, um einen Kampf der Metallarbeiter in Ostdeutschland anzustacheln, der durch die Forderung nach gleicher Bezahlung wie die Arbeiter in Westdeutschland Spaltungen hervorrief. Sie war fähig, die Wut der Arbeiter gegen andere Arbeiter zu kehren, die nicht streiken wollten.
Letzterer Kampf war Ausdruck eines größeren Problems in der Zerfallsphase, mit dem das Proletariat in seinen Kämpfen konfrontiert sein wird. Das wachsende Auseinanderbrechen des sozialen Gefüges arbeitet gegen die Entwicklung einer Klassenidentität, weil es das ‘Jeder gegen Jeden’ begünstigt. Jeder Einzelne und jede Branche wird angehalten, sich nur um das eigene tägliche Überleben zu kümmern, auch wenn das bedeutet, seinen eigenen Arbeitskollegen übers Ohr zu hauen. Während der Lehrerkämpfe in Frankreich förderten die radikalen Gewerkschaften die Idee, dass die kämpferischsten Arbeiter versuchen sollten, die anderen Arbeiter zu zwingen, sich am Kampf zu beteiligen, indem sie Schulen, Straßen usw. blockierten, was zu Feindseligkeiten unter den Arbeitern und zu beträchtlichen Demoralisierungen führte. In Puertollano in Spanien hielten die Gewerkschaften den Kampf der Zeitarbeiter von den festangestellten Arbeitern fern, was ebenfalls zu Feindseligkeiten und Demoralisierung führte.
Die herrschende Klasse ist sehr raffiniert und hat viel Erfahrung in ihrem Kampf gegen das Proletariat. Es ist wichtig zu verstehen, warum eine Unterschätzung der Fähigkeiten des Klassenfeindes die Arbeiterklasse entwaffnet. Die heutigen Kämpfe sind die ersten unsicheren Schritte, um eine Periode der potenziellen Entwicklung des Klassenkampfes zu eröffnen. Die Bourgeoisie tut alles in ihrer Macht Stehende, um die Kampfbereitschaft und ein sich vertiefenden Bewusstsein zu unterminieren, zu zersplittern und zu korrumpieren.
Die Arbeiterklasse steht also vor einer enormen Herausforderung. Es wird eine lange und quälende Entwicklung von Kämpfen geben, die von Niederlagen und Rückschlägen gekennzeichnet sein werden. Die Arbeiter werden sich gegen die verheerenden Auswirkungen der zunehmenden Krise, gegen Arbeitslosigkeit und Armut zur Wehr setzen müssen. Der Eintritt in den Kampf ist ein sehr schwieriger Prozess, aber das ernsthafte Nachdenken, das die Entwicklung der Kämpfe begleiten muss, gibt ihnen eine politischere Bedeutung. Die Entwicklung des Kampfes wird das Proletariat auch in die Lage versetzen, sich die Lehren anzueignen, die es schon in den 80er Jahren zu ziehen begonnen hat, insbesondere über die Rolle der Gewerkschaften und über die Notwendigkeit, den Kampf über die eigene Branche hinaus auszudehnen. Dieser ganze Prozess wird genährt und angefacht werden durch die weitergehende Infragestellung des kapitalistischen Systems. Der Wechsel in der sozialen Lage ist eine große historische Herausforderung, und es gibt keine Garantie dafür, dass die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten fähig sein werden, diese Herausforderung zu bestehen. Dies wird vielmehr von der Entschlossenheit und dem Willen der Klasse und ihrer Minderheiten abhängen.
Das neue Jahr begann mit einem Erfolg der Rot-Grünen Bundesregierung. Die unter dem Schlagwort "Agenda 2010" bekannt gewordenen Gesetzesvorlagen sind in Kraft getreten. Bundeskanzler Schröder nannte dieses Maßnahmenpaket das kühnste und radikalste "Reformwerk" in der Geschichte der Bundesrepublik. Tatsächlich stellt 2010 einen äußerst radikalen Angriff gegen die Arbeiterklasse dar. Er beinhaltet unter anderem die Abschaffung des Kündigungsschutzes für Millionen Beschäftigte, die faktische Streichung der Arbeitslosenhilfe, die massive Verteuerung und Verschlechterung der Gesundheitsfürsorge für die große Bevölkerungsmehrheit, die Verelendung der breiten Masse der Rentner.
Deshalb bestand der Haupterfolg der Bundesregierung auch nicht darin, ihr Gesetzespaket durch Bundestag und Bundesrat gebracht zu haben, sondern in der Tatsache, dass diese Beschlüsse ohne nennenswerten Widerstand der arbeitenden Bevölkerung durchgesetzt werden konnten.
Nachdem Schröder im Frühjahr das erste Mal dem Bundestag seine Agenda vorgestellt hatte, wurde er auf einer anschließenden Pressekonferenz gefragt, ob er nicht in Sorge sei wegen der Drohung der parlamentarischen Oppositionsparteien, sein Vorhaben im Bundesrat zu blockieren. Nachdem der Kanzler mit dem Hinweis auf die gemeinsamen Interessen der Hauptverantwortlichen der Nation (sprich die herrschende Klasse) diese Drohung beiseite gewischt hatte, wies er statt dessen auf eine andere, realere Gefahr hin. Nicht alles, was ökonomisch notwendig wäre, sei auch sofort und ohne weiteres durchsetzbar. Die "politische Klasse" insgesamt dürfe - so Schröder - nicht vergessen, dass das "Reformwerk" nicht nur von ihren Beschlüssen, sondern auch davon abhänge, die Bevölkerung von deren "Notwendigkeit" zu überzeugen.
Es zeichnet einen linken, aus dem Lager der Sozialdemokratie stammenden Staatschef aus, dass er ein besonderes Augenmerk darauf richtet, wie die Arbeiterklasse auf die Angriffe des Kapitals reagieren könnte, und besonders viel davon versteht, deren Widerstand zu verhindern oder zu erschweren. Denn seitdem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften im 1. Weltkrieg auf der Seite des Kapitals übergewechselt und in den bürgerlichen Staatsapparat integriert worden sind, besteht deren besondere Aufgabe im Auftrag des Kapitals darin, das Proletariat zu kontrollieren und politisch zu entwaffnen.
Nachdem also ‚2010' eine überwältigende Zustimmung nicht nur aus den Reihen der Regierungsparteien selbst, sondern auch von Seiten der Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsinstitute, der Kirchen sowie (hinter vorgehaltener Hand) der Gewerkschaften erfahren hatte, ging die SPD dazu über, Maßnahmen zu ergreifen, um die lohnabhängige Bevölkerung als eigentliches Opfer der "Reformen" zu täuschen und zu lähmen. Zwar wusste die Regierung, dass in der gegenwärtigen Phase ein eventueller Arbeiterwiderstand relativ leicht durch die Gewerkschaften zu kontrollieren und zu brechen wäre, da das Selbstvertrauen und Klassenidentität des Proletariats v.a. seit 1989 angeschlagen sind. Und dennoch drohte ein solcher Widerstand, bei den Arbeitern das Gefühl wieder zu erwecken, zu einer gemeinsamen Klasse zu gehören. So wollte die Bourgeoisie die Angriffe nach Möglichkeit ohne Gegenwehr durchgesetzt sehen.
Zu diesem Zweck setzte die Regierung in der zweiten Jahreshälfte 2003 zwei Kriegslisten ein. Die erste List war das Versprechen einer radikalen Steuerentlastung. Nicht nur wurden im Zuge der Einschnitte in den Sozialleistungen "spürbare" Beitragssenkungen in Aussicht gestellt. Darüber hinaus sollte ab dem 1. Januar 2004 das Masseneinkommen um 25 Milliarden Euro steuerlich begünstigt werden. Das zweite Manöver bestand darin, die Folgen der staatlichen "Einsparungen" für die Hochschulen medial hochzuspielen, um damit einerseits die drastischen Folgen der Angriffe für die Arbeiterklasse aus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu verdrängen, und andererseits die Unzufriedenheit der Bevölkerung wegzulenken in Richtung einer rein kapitalistischen Diskussion darüber, welche Reformen "sinnvoll" sind. In diesem Sinne wurde die Frage mit Hilfe der Studentenproteste thematisiert, ob die Interessen des "Standort Deutschlands" (d.h. die Interessen des nationalen Kapitals) nicht besser bedient wären, wenn man mehr statt weniger Mittel für Bildung ausgibt. Denn wenn man den Blickwinkel der Interessen des Kapitals übernimmt, um die "Berechtigung" der "Agenda 2010" zu beurteilen - wie die Studenten in der Hoffnung auf mehr staatliche Finanzmittel bereitwillig taten - so können die Ansprüche der Arbeiter, Erwerbslosen und Rentner auf ihr Auskommen um so leichter als unberechtigte und egoistische Sonderwünsche abgetan werden.
Die Ankündigung der Bundesregierung, die Agenda 2010 mit einer Steuersenkung zu koppeln, erwischte die Oppositionsparteien im Bundestag zunächst auf dem falschen Fuß. Da die Agenda 2010 gerade in der Notwendigkeit, die ausufernde Staatsverschuldung einzudämmen, ihre politische Rechtfertigung fand, verstand v. a. die Führung von CDU/CSU nicht, weshalb die öffentliche Hand plötzlich auf soviel Steuereinnahmen verzichten sollte. So liefen sie zunächst Sturm gegen das Vorhaben, verlangten eine solide Gegenfinanzierung usw. Erst als sie sich davon überzeugt hatten, dass es sich hierbei nicht um ein parteipolitisches Manöver, sondern um eine Täuschung der Arbeiterklasse handelte, schwenkten sie auf Schröders Linie ein und eröffneten das Wettrennen mit der SPD um die radikalere Steuerreform.
Als Regierung und Opposition schließlich kurz vor Jahresende in Berlin sich zu einem sorgfältig inszenierten "Reformgipfel" trafen, war von Leistungskürzungen oder anderen Zumutungen gar nichts mehr zu hören, sondern nur noch von den fabelhaftesten Steuerentlastungen die Rede. Die Medien kannten ebenfalls nur noch ein Thema: um wieviel und wie schnell würden die Bürger ihren angeblich milliardenschweren Einkommenszugewinn erhalten und ausgeben.
Die angebliche Entlastung, die am Ende ohnehin nicht 25, sondern lediglich 15 Milliarden Euro betrug, und v.a. den Beziehern höherer Einkommen unter die Arme greift, wird dem Durchschnittsarbeiter sofort wieder weggenommen, indem allerhand andere "Begünstigungen" wie Eigenheimzulagen oder Pendlerpauschalen eingeschränkt werden. Darüber hinaus beträgt die Mehrbelastung der Versicherten allein im Gesundheitswesen mit bislang veranschlagten 7,3 Mrd. Euro bereits die Hälfte des Volumens der Steuerreform.
Jeder weiss, dass unter totalitären Diktaturen die Bevölkerung einer systematischen, staatlich gelenkten Propaganda unterworfen wird, damit Maßnahmen zugunsten der herrschende Klasse als Wohltaten für die große Masse erscheinen. Bekannt ist beispielsweise, wie das Hitlerregime die Arbeiter in Deutschland Geld sparen ließ für den Erwerb eines PKW, dieses Mittel aber für die Rüstung verwendete, wohl wissend, dass vor der fälligen Übergabe eines neuen Volkswagens der Weltkrieg ausbrechen würde.
Angeblich verhindere heutzutage die Demokratie - sprich die "freie" Konkurrenz der Parteien um Wähler, der Firmen um Marktanteile und der Medien um Leser und Zuschauer -eine totalitäre Anwendung staatlich gelenkter Propaganda gegen die "eigene" Bevölkerung. Jedoch ruht der derzeitige Medienrummel um die Stärkung des Masseneinkommens auf dem alten Goebbelschen Prinzip, dass eine Lüge, wenn oft genug wiederholt, glaubwürdig erscheinen kann. Denn während die gesamte arbeitende Bevölkerung verarmt, wird von allen Seiten das genaue Gegenteil behauptet.
Der Unterschied zu Hitler-Deutschland oder zu Stalins Russland besteht aber darin, dass in der Demokratie diese Propaganda subtiler und wirksamer ist, da sie arbeitsteilig den "Pluralismus" der Konkurrenzgesellschaft ausschöpft, um das Proletariat nicht nur mit einer, sondern gleich mit mehreren, alternativen Täuschungen zu konfrontieren.
Eine dieser betrügerischen Perspektiven ist die wieder hervorgezauberte liberale Steuerrevolution. Je näher die Stunde der Verabschiedung des Gesetzespakets 2010 rückte, desto mehr überboten sich die Parteien in der Radikalität der eingeforderten Steuerentlastungen, damit die Arbeiterklasse bloß nicht auf Gedanken an einen aktiven Widerstand komme. So forderte der CDU "Steuerexperte" Merz die Einführung von nur drei Steuersätzen, welche lediglich 12, 24 und 36% betragen sollten. Auf einmal wurden sämtliche Subventionen des Staates gegenüber der Wirtschaft als streichungswürdige Hemmnisse der ökonomischen Entwicklung dargestellt. In Talkshows wurde darüber gefachsimpelt, dass man die Funktion des Staates wie im 19. Jahrhundert auf die einfache Rolle eines Ordnungshüters stutzen müsse. Ein paar Polizisten hier, einige Soldaten da, mehr brauche man nicht; schließlich "weiß" der "Bürger" selbst am besten, wofür er sein Geld ausgeben soll. Märchenhafte Aussichten eines kühn vereinfachten Steuersystems wurden ausgemalt, wo Facharbeiter spielend leicht ihre Steuererklärung selbst ausfüllen würden.
Erst nachdem das Gesetzpaket gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt worden war, wichen diese Steuersenkungsutopien einer realistischeren Besprechungen der Lage der Staatsfinanzen. Da die Finanzlage von Bund, Länder und Kommunen "prekärer" sei - so CDU Chefin Merkel Anfang 2004 -, müsse man sich auf eine "kostenneutrale" Steuerreform einigen, welche vielleicht keine Entlastung, dafür aber eine "Vereinfachung" bringen solle. Doch nicht mal damit ist zu rechnen, denn das bürgerliche Steuerrecht ist nicht umsonst so undurchsichtig! Und bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die sogenannten "Subventionen", welche die Bourgeoisie streichen will, allesamt auf Kosten der Arbeiter gehen: Pendlerpauschale, Eigenheimzulage, die steuerliche Besserstellung der Nacht- Feiertags- und Wochenendzuschläge!
Doch nicht nur mittels der Farce einer angeblichen Steuerentlastung hat die Bourgeoisie den Widerstand der Arbeiterklasse zu lähmen verstanden. Auch die Studentenproteste wurden herangezogen, um den Ruf nach dem "aktiven Sozialstaat" wieder zu aktivieren. Dienten die Steuersenkungsmärchen dazu, Illusionen in einen staatlich geförderten Einkommensausgleich für die beschlossenen Einschnitte und Verteuerungen zu schüren, so dient der Ruf nach mehr Staatsausgaben für Bildung u.a. dazu, im Nachhinein die Tatsache zu rechtfertigen, dass die Steuer- und Abgabenlast der arbeitenden Bevölkerung gegenüber dem Staat gar nicht gesunken ist und sogar steigen wird.
In den letzten Monaten des Jahres 2003, als es darum ging, die Agenda der Regierung gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, ließ man die Studenten protestieren. Man tat dies, indem man provokante Maßnahmen gegen die Studierenden beschloss, dann aber den dadurch hervorgerufenen Protesten große Medienaufmerksamkeit und unverhohlene Sympathie schenkte. Nicht nur die Jugend- und Hochschulorganisationen der Sozialdemokratie, sondern selbst SPD Parteigrößen wie Generalsekretär Müntefering oder der regierende Bürgermeister von Berlin Wowereit zeigten Verständnis für die Einwände der Studenten gegen die Beschlüsse der eigenen Regierungsparteien. So wurde an den Hochschulen bewusst die falsche Hoffnung geschürt, mit der öffentlichen Meinung im Rücken die Maßnahmen der Bundes- und Länderregierungen relativ leicht und rasch rückgängig machen zu können.
Ohne Zweifel gehören viele Studenten - von ihrer Herkunft wie ihrer beruflichen Zukunft etwa als Lehrer oder akademisch gebildete Erwerbslose her gesehen - zur Arbeiterklasse. Wenn die Kämpfe des Proletariats sich entwickeln, werden viele dieser Studenten sich dieser anschließen, wie das z.T. in 1968 geschah. Auch heute schon gibt es, auch unter den Studenten, kleine politisierte Minderheiten, welche sich an dem "unterirdischen" Nachdenken über das Wesen des kapitalistischen Systems beteiligen.
Doch heute werden sie nicht als Proletarier, sondern als Studenten mobilisiert d.h. als Teil einer klassenmäßig undifferenzierten Masse - zu der auch die kapitalistische Elite der Zukunft gehört - innerhalb welcher der einzig gemeinsame Nenner der der Interessen als Studierende ist.
Deswegen ist jede Studentenbewegung naturgemäß systemkonform, reformistisch und klassenversöhnlerisch ausgerichtet. Es ist ein Kampf um eine "bessere Bildung" und nicht ein Kampf gegen Ausbeutung wie die der Arbeiterklasse.
Die Bourgeoisie hat es auch immer wieder verstanden, die Studenten dann zu mobilisieren, wenn die Arbeiterklasse nach einer längeren Abwesenheit erste Anzeichen gibt, den eigenen Kampf wieder aufzunehmen. Indem er die klassenübergreifende Atmosphäre des demokratischen Protests verbreitet, verdrängt der Studentenprotest zunächst das wieder aufkeimende Gefühl unter den Arbeitern, zu einer eigenen, gesonderten Klasse zu gehören. Dieses Gefühl ist notwendig, damit das Proletariat sein Selbstvertrauen, Kampfgeist und seine Haltung der Solidarität wieder gewinnen kann.
Darüber hinaus instrumentalisiert die Bourgeoisie die Studenten gerade heute, um die Ideologie der Staatsintervention zu verbreiten. Denn die Studenten lassen sich ohne weiteres zum Sprachrohr der Forderung nach einem größeren finanziellen Engagement des Staates für die Bildung machen, um die nationalen Interessen des Standortes langfristig zu sichern. Sie schlagen damit in dieselbe Kerbe wie die "Globalisierungsgegner", welche gegen den "Neoliberalismus" wettern, oder die "gewendeten" Stalinisten, welche europaweit anlässlich der Demonstration am Todestag von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Anfang Januar medienwirksam in Berlin ihren "Zusammenschluss" verkündeten.
Es ist lehrreich zu sehen, wie die SPD derzeit sich dieser nur scheinbar sich ausschließenden Ideologien des Neoliberalismus und des Sozialstaates bedient. Nachdem gegen Ende 2003 die Regierung den Steuersenkungsbetrug ausgespielt hatte, eröffnete die Sozialdemokratie das neue Jahr mit einem "Weimarer Bildungsgipfel", welcher anstelle von Steuersenkungen die Bildung als neue nationale Priorität setzte. Damit lassen sich gegenüber der Arbeiterklasse die Kosten des weiter verstärkten Eingreifens des Staates zugunsten des Kapitals rechtfertigen, welches angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise immer unerlässlicher wird. Darüber hinaus kann die SPD im Wahlkampfjahr 04 sich damit wieder ideologischen Themen zuwenden, womit sie die eigene traditionelle Wählerklientel eher mobilisieren kann.
Die Bourgeoisie hat nicht zuletzt dank einer außerordentlich erfahrenen und gescheit vorgehenden Regierung ihre massiven Angriffe ohne weiteres durchsetzen und damit einen Sieg erringen können. Damit hat sie aber nur eine Schlacht gewonnen. Der soziale Krieg wird weitergehen. Die Klassengraben werden sich vertiefen. Die Agenda 2010 hat selbstverständlich die historische, weltweite Krise des Kapitalismus nicht gelöst. Zwar hat das Kapital sich vorübergehende Vorteile geschaffen. So fiel beispielsweise das Haushaltsdefizit des Bundes für das Jahr 2003 geringer als erwartet aus aufgrund von Einschnitten von 4,4 Mrd. Euro zu Lasten der Arbeitslosen und bestimmter Steuermehreinnahmen auf Kosten der Beschäftigten und Rentner. Dennoch verrennt sich das System immer mehr in die Sackgasse seiner chronischen Überproduktionskrise. Das Wirtschaftswachstum (offiziell -0,2 %) war im verflossenen Jahr das niedrigste, der Stand der Arbeitslosigkeit der höchste seit einem Jahrzehnt.
Auch der politische Sieg der Bourgeoisie wird nicht von Dauer sein. Die unerbittliche Verschärfung der Krise des Kapitals ist ein mächtiger Faktor der Zerstörung der Illusionen der Arbeiterklasse. Auch die geschicktesten Lügen der Herrschenden werden nach und nach entlarvt.
Schon jetzt ist diese Desillusionierung mit Händen zu greifen. Die versprochenen Krankenkassenbeitragssenkungen etwa sind nirgends eingetreten. Statt dessen sehen sich z.B. viele Rentner mit einer Verdoppelung ihrer Beiträge konfrontiert. Seit Jahresanfang müssen die Rentner allein und im vollen Umfang für die Pflegeversicherung aufkommen. Auch müssen sie neuerdings auf alle Pensionen - auch zusätzliche Privatvorsorge oder eine Betriebsrente - Beiträge zahlen. Auf der anderen Seite müssen etwa chronisch Kranke mit bis zu 100 % mehr für ihre Behandlung selbst aufkommen. Und was es mit der "Verstärkung des Masseneinkommens" auf sich hat, erfuhren die Beschäftigten der Kommerzbank, des Gerlingkonzerns u.a. bereits in den ersten Wochen des neuen Jahres, als ihre Betriebsrente gestrichen oder radikal gekürzt wurden! Auch die vielen Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die eine Streichung bzw. Kürzung ihres Weihnachtsgeldes bzw. des 13. Monatsgehalts erfahren müssen, können ein Lied davon singen. Und vielen Beschäftigten wird jetzt auch noch zugemutet, mehrere Stunden wöchentlich gratis mehr zu arbeiten.
Die Bourgeoisie hat den Prozess der Wiederbelebung des Arbeiterkampfes und der Wiedereroberung einer eigene Klassenidentität aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Die Zukunft gehört den Klassenkampf.
23.01.04
Das Kishinevprogrom wurde ausgelöst durch Gerüchte, wonach Juden einen christlichen Jugendlichen ermordet haben sollen, um mit seinem Blut ihr Passatfest zu feiern. Dies ist eine völlig absurde Idee, wenn man berücksichtigt, dass es gläubigen Juden verboten ist, überhaupt irgendeine Art von Blut zu sich zu nehmen. Nichtsdestotrotz wurde diese alte "Blutlüge" aus dem Mittelalter wieder aufgefrischt und die RSDAP (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) hatte schon ganz recht damit, hinter den antisemitischen Unruhen die finstere Hand der herrschenden Klasse zu vermuten, wie es schon sooft bei den Pogromen des Mittelalters gewesen war.
Einmal mehr wurden die Juden als Sündenbock für die Probleme der Klassengesellschaft missbraucht. Hierdurch soll die unterdrückte Klasse daran gehindert werden zu erkennen, wer ihre wirklichen Feinde sind. Darum bezeichnete der deutsche Marxist A. Bebel den Antisemitismus als den Sozialismus der Dummköpfe.
100 Jahre kapitalistischen "Fortschritts" später, ein Jahrhundert, das den Holocaust an den europäischen Juden im 2. Weltkrieg einschließt, ist die Zahl derer, die sich von den alten, antijüdischen Mythen verdummen lässt, nicht geringer geworden, auch wenn sich der Focus zu einem großen Teil auf die "muslimische" Welt gerichtet hat. Die Rücktrittsrede des malaysischen Premierministers Mahathir Mohamad`s im Oktober 2003 zeigt dies deutlich. Darin zeichnet er ein Bild, wonach die Muslime der Welt durch eine kleine Minderheit, - die Juden- unterdrückt werden, die ihrerseits die Kontrolle über das amerikanische Empire errichtet haben.
Mahathir versuchte sich von den radikal islamischen Terroristen abzugrenzen, aber seine Sprache ist die gleiche wie die eines Bin Laden und seiner Konsorten, wenn er sagt:
"Es ist die Pflicht der Muslime, die Juden überall auf der Welt zu bekämpfen."Das ist genau der ideologische Hintergrund, mit dem die wahllosen und blinden Bomben-anschläge auf Juden in Israel, Tunesien, Marokko und sogar in Argentinien rechtfertigt werden. Das bildet den Hintergrund für die Neuauflage der notorischen Fälschung der zaristischen Geheimpolizei - die Protokolle der "Elders of Zion", die auf irgendeiner ‚islamischen' Webseite frei zugänglich sind - die vorgibt, uns über die die innere Arbeitsweise der weltweit agierenden jüdischen Konspiration zu informieren. All dies beweist, dass diese 100 Jahre nicht Jahre des Fortschritts, sondern Jahre der kapitalistischen Fäulnis waren, die die absurdesten und irrationalsten Hasstiraden über den Planeten verstreut haben. Vor allem in den beiden letzten Dekaden ist der Geist des Pogroms überall anzutreffen. .
Zu Anfang des 20.Jahrhunderts gab es natürlich auch Pogrome an anderen Minderheiten - wobei das Abschlachten von nahezu einer Million Armenier durch die türkische Armee in der Zeit des 1. Weltkrieges das Abscheulichste war - und zudem schon ein deutlicher Ausdruck der Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft war. Aber heute, in der Phase des beschleunigten Zerfalls wächst die Zahl solcher Massaker täglich.
Heute haben die Juden ihre eigene "Pogromfraktion". Die so genannte Kachgruppe in Israel, gegründet von dem amerikanischen Rabbi Meir Kahane, begrüßt ausdrücklich die Aktion von Baruch Goldstein, einem mit Kach verbundenen amerikanisch-jüdischen Siedler, der im März 1994 das Feuer auf Gläubige an der Il Jibrihimi Moschee in Hebron eröffnete, 29 Menschen tötete und 125 verletzte. Die Ideologie der Kachgruppe ermunterte 3 jüdische Siedler im September dieses Jahres dazu, palästinensische Kinder in ihrer Schule durch gezielte Bomben abzuschlachten. Sie propagiert ähnlich wie die Nazis eine "Endlösung" des palästinensischen Problems, weiter ihre Vertreibung aus dem "großisraelischen" Reich. Offiziell sind Kach und seine Splittergruppe Kahane Chai als terroristische Gruppe von der Knesset, dem israelischen Parlament, verboten worden. Aber sie werden begünstigt durch die allgemeine, politische Atmosphäre in Israel. Ariel Sharon, der israelische Premierminister hat selbst eine dunkle Vergangenheit, was ethnische Massenmorde betrifft. 1953 leitete er den Angriff eines Kommandounternehmens gegen die Palästinenserstadt Kibya, als er die Mörder von 3 jüdischen Siedlern verfolgte. 69 Einwohner, die Hälfte Frauen und Kinder wurden ermordet, und 45 Häuser wurden zerstört. 1982 spielte Sharon eine Schlüsselrolle bei den Massakern in den libanesischen Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila: mit aktiver Unterstützung der israelischen Armee wurden während eines 3 Tage dauernden Massakers tausende von Palästinensern durch den rechten Flügel der christlichen Milizen ermordet. Sharon, seinerzeit Verteidigungsminister, wurde später durch ein hohes israelisches Untersuchungskomitee scharf gerügt wegen seiner "indirekten Verantwortung" für dieses abscheuliche Verbrechen. Und heute regiert Sharon einen Staat, der Fakten schafft für ein "Großisrael", so eine Kette von jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, ebenso die so genannte "antiterroristische Mauer", die sich an der israelischen Grenze entlang zieht, wie eine Schlinge über einem Flickenteppich auf besetztem Land.
<<>>Kurzum, Sharons Regime ist ein Regime der ethnischen Säuberung, ein System des Pogroms. >"Ethnische Säuberung" ist ein Begriff, der während des 7jährigen Balkankrieges in den 90er Jahren geprägt wurde. Er bezeichnet die Ermordung, Einschüchterung und gewaltsame Vertreibung von verschiedenen Minderheiten in dieser Region.Ob es nun serbische Truppen waren, die die kroatische, bosnische oder albanische Bevölkerung angriffen oder aber der serbischen Bevölkerung dasselbe durch kroatische, bosnische oder albanische Truppen widerfuhr, die Auswirkung war stets die gleiche: Es wurden die schlimmsten Exzesse rassistischer Barbarei seit dem 2. Weltkrieg nach Europa zurückgebracht. Noch schlimmer war 1994 der Völkermord an hunderttausenden von Tutsis durch die Todesschwadrone der Hutus innerhalb von wenigen Wochen in Ruanda. Diese Mörderorgien wurden unter verschiedenen Fahnen und Ideologien durchgeführt: Auf dem Balkan war es der serbische, kroatische und albanische Nationalismus, gemischt mit alten, religiösen Differenzen zwischen Muslimen, Orthodoxen oder römisch-katholischen Christen. In Ruanda und anderen afrikanischen Staaten wie heute im Kongo, stehen Stammesfehden im Vordergrund, obwohl im Sudan, Uganda oder Algerien die Abschlachterei von Unschuldigen eine religiöse Rechtfertigung bekam. In Indien richtet sich die Aggression des hinduistischen Mobs gegen die Moslems, in Indonesien haben muslimische Schlägertrupps Christen angegriffen und ermordet.Des Öfteren wurden diese Horrorszenarien in der so genannten "zivilisierten Welt" als unverständlicher Ausdruck uralter Stammesfehden und religiöser Hasstiraden verkauft. Oft genug wird uns erzählt, diese Greueltaten könnten nur durch humanitäre Interventionen der aufgeklärteren Truppen der ‚Demokratie' gestoppt werden. Unter diesem Vorwand griffen die NATO-Truppen Serbien 1999 an.
Aber ebenso wie sich die zaristische Herrschaft der schwarzen Hundertschaften bedienten, die die Pogrome in Russland vor annähernd 100 Jahren verübten, so steckt der Staat hinter den Pogromen von heute.
Auf dem Balkan verübten Banden wie Arkans "faschistische Tiger" mit die schlimmsten Grausamkeiten. Aber sie agierten mit dem Segen des serbischen Präsidenten Milosevic. Und hinter ihm standen jahrelang Frankreich und England, die darauf erpicht sind, ihren Einfluss in diesem Teil der Welt gegen das Vordringen von Deutschland und den USA aufrecht zu erhalten. In Ruanda war der Genozid kein spontaner Ausbruch von Wahnsinn. Er wurde staatlicherseits seit Monaten dadurch vorbereitet, dass er die Todesschwadrone der Hutus ins Leben rief. Und eben diese Todesschwadrone wurden von keinem geringeren als von der französischen Armee ausgebildet, einer Armee, die nach den erfolgten Massakern selbst im Namen der Humanität eingriff.
Es stimmt, die moralische Stimmung einer Gesellschaft, die im Zerfall begriffen ist, erzeugt Verzweiflung und Irrationalität in einem wahrlich erschreckenden Maße. Diese Flucht in die reaktionärsten Ideologien vergiften Herz und Verstand aller gesellschaftlichen Klassen. Dies betrifft auch die herrschende Klasse in den höchstentwickelten Ländern. Das Maß, in dem die gegenwärtige Bush-Administration bereits infiziert ist, zeigt sich anhand der Enthüllungen, wonach der frisch ernannte Staatssekretär, im Verteidigungsministerium für Aufklärung zuständig, Generalleutnant William Boykim glaubt, dass der Islam eine Religion ist, die alle Christen im Namen Jesu bekämpfen müssen. Die Furcht vor dem Islam ist im Westen genau das Spiegelbild dessen, was wir in der islamischen Welt in Form des Antisemitismus und Antiamerikanismus wieder finden. Aber während der Phase des Abstiegs in den apokalyptischen Wahnsinn ist die herrschende Klasse in den "liberalen Demokratien" im Stande, die dunklen Leidenschaften, Kälte und Zynismus, bis hin zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufzuwühlen. Sie tut dies, um ihre imperialistischen Ziele zu fördern, wie auf dem Balkan oder in Afrika oder um Spaltungen in den Reihen ihres Todfeindes der Arbeiterklasse zu säen.
Ein deutliches Beispiel hierfür ist die widerwärtige Schmutzkampagne gegen die Asyl-suchenden in der englischen Sensationspresse. Diese Kampagne bildet den ideologischen Hintergrund für die Zunahme körperlicher Angriffe auf die Flüchtlinge in diesem Land. Eine kleine Anzahl Asylsuchender für die allgemeine Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiterklasse verantwortlich zu machen, ist ein klassisches Beispiel, eine rassistische Sündenbockstimmung zu schaffen, die ganz bewusst darauf abzielt, Klassenidentität und Solidarität zu untergraben.
Das Hochkochen des Geistes des Pogroms stellt die Arbeiterklasse vor die Frage von Leben und Tod. Wenn die Arbeiterklasse diese Spaltung zulässt, wenn sie dieser schändliche Atmosphäre kapitalistischen Zerfalls unterliegt, dann ist sie verloren und mit ihr die gesamte Menschheit. Denn diese Arbeiterklasse, die die Klasse der Solidarität ist, die als internationalistische Klasse weltweit die gleichen materiellen Interessen hat, ist die einzige Kraft, die sich einem blindwütigem Sturm der Selbstzerstörung entgegenstemmen kann, der so typisch ist für die sich ausbreitende Krankheit von ethnischen und religiösen Hasstiraden. .
1903 konnten wir sehen, dass die russischen Sozialisten Pogrome gegen die Juden nicht zuletzt deshalb denunzierten, weil diese Pogrome die Entwicklung von proletarischem, revolutionärem Klassenbewusstsein behinderten. 1905 brach sich dieses unterirdische Klassenbewusstsein Bahn in Form von Massenstreiks und der Bildung der ersten Räte. Und wie definierte Trotzki, jener Revolutionär, der wie kein anderer zu jener Zeit die Bedeutung dieser ersten Organe proletarischer Macht sah, die unmittelbare Rolle der Räte: "Was ist das Wesen dieser Institution, die innerhalb kürzester Zeit einen so wichtigen Platz in der Revolution einnahm und diese Periode als Periode besonderer Stärke kennzeichnete? Die Räte organisierten die arbeitenden Massen, lenkten die politischen Streiks und Demonstrationen, bewaffneten die Arbeiter und schützten die Bevölkerung vor Pogromen."Trotzki 1905 in ‚ Summing up'. Heute ist die Arbeiterklasse im Weltmaßstab betrachtet die einzige soziale Macht, die die Bevölkerung der Welt gegenüber der neuen Welle von Pogromen schützen kann. Nicht weil die Arbeiterklasse eine Klasse ist, die nur für hehre Ideale kämpft, sondern weil sie ein lebendiges, materielles Interesse daran hat, so zu handeln. Das Proletariat kann sich nicht verteidigen, wenn es gespalten ist. Jede Form von Rassismus, oder Nationalismus spaltet und schwächt die Arbeiter.
Die Arbeiterklasse kann nur dadurch ihre revolutionäre Rolle wahrnehmen, dass sie jede Form der Spaltung, die der Kapitalismus ihr auferlegt, sowohl theoretisch wie auch praktisch entschieden bekämpft. Dies bewahrheitet sich in Israel ebenso wie sonst irgendwo auf der Welt. Die enorm hohen Kosten des israelischen "Verteidigungshaushaltes" in Verbindung mit der weltweiten Wirtschaftskrise lassen die Obdachlosigkeit und Armut innerhalb der israelischen Arbeiterklasse stark anwachsen. Aber sie begünstigen auch die Faktoren für eine Rückkehr des Klassenkampfes: So haben wir erst kürzlich beispielsweise Proteste gegen Rentenkürzungen und Einschnitte in der Arbeitslosenunterstützung sowie einen wilden Streik der Gepäckabfertiger im Flughafen in Tel Aviv erlebt.
Diese kleinen aber durchaus wichtigen Reaktionen zeigen, dass die israelischen Arbeiter keineswegs eine privilegierte Elite sind. Im Gegenteil, mehr und mehr bewegen sie sich auf das gleiche Level an Elend und Unsicherheit, in der palästinensische Arbeiterklasse steckt.
Und natürlich soll der unbarmherzige Terror von Gruppen wie der Hamas und dem islamischen Jihad dazu dienen, die Mehrheit der israelischen Arbeiter davon zu überzeugen, dass ihr "Schutz" nur durch die Identifikation mit den brutalen, paramilitärischen Polizeitruppen des israelischen Staates zu gewährleisten sei. Ebenso sollen die unterdrückten und ausgebeuteten Teile des palästinensischen Volkes durch den israelischen Staatsterror dazu gebracht werden, die PLO und die Islamisten als ihre Verteidiger anzuerkennen. Vergessen wir nicht, dass es auch Proteste arbeitsloser, palästinensischer Arbeiter gegen die gebrochenen Versprechen der Palästinenserführer gab.
Es wäre sicher töricht, das ganze Ausmaß von Furcht und Rachsucht zu unterschätzen, das durch die Spirale von Terror und Gegenterror in dieser Region hervorgebracht worden ist. Aber der einzige Weg, diese Spirale zu durchbrechen ist, die Lüge der "nationalen Solidarität" zu durchschauen und auf den Weg der Klassensolidarität zurückzukehren. Die Arbeiter in den höherentwickelten kapitalistischen Ländern, die im Großen und Ganzen weniger von Rassenspaltung vergiftet sind, haben eine grundlegende Antwort darauf zu geben, was in der Praxis Klassensolidarität bedeutet: Nämlich gegen die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen zum Einen Abwehrkämpfe zu entwickeln, zum Anderen die Türe aufzustoßen zum Massenstreik und zur revolutionären Offensive gegen den kapitalistischen Staat. Nur ein solches Fanal kann endgültig die Pogromstimmung verbannen und eine Perspektive für die Arbeiter eröffnen, denn sie sind es, die am härtesten von den Pogromen betroffen sind. Amos
Als vor einem Jahr der Irak-Krieg ausgelöst wurde, erhoben sich weltweit eine ganze Reihe von Stimmen, die von einem internationalistischen Standpunkt aus den Krieg anprangerten und klar und unzweideutig beide imperialistischen Seiten verwarfen. Wir haben in Weltrevolution Nr. 118 einen kurzen Überblick über einen Ausschnitt dieser internationalistischen Reaktionen in Deutschland gegeben. Neben der Verurteilung des Krieges vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus und der Entblößung der Politik des angeblichen "Friedenslagers" haben wir damals auf die unterschiedlichen Erklärungsansätze für die Wurzeln dieses Krieges hingewiesen. Jetzt, ein Jahr nach dem Krieg, wollen wir auf einige dieser Erklärungsansätze zurückkommen, denn aus unserer Sicht ist es die Pflicht der Revolutionäre, ihre jeweilige Analyse der Lage und die Perspektiven im Lichte der Wirklichkeit überprüfen. Warum wurde der Krieg geführt? Ein zentraler Erklärungsansatz einiger Gruppen war:
So schrieb der Frankfurter Proletarische Zirkel: "Imperialistische Kriege sind nicht einfach ein Systemfehler, ein zufällig auftretendes Ereignis, das sich aus widerstreitenden Interessen von Staaten und Konzernen und der Gier nach Öl entwickelt. Sie sind Ausdruck der Krise des kapitalistischen Weltsystems Ein erfolgversprechender Ausweg aus dieser ökonomischen Krise, wie sie momentan alle Industriestaaten erleben, liegt im Krieg. Dies ist der Weg, den momentan die USA wählen. Die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus macht die gewaltsame Zerstörung von Waren und Kapital, die Neuaufteilung von Märkten, Ressourcen und Einflusssphären - also Krieg zu einer zyklischen Notwendigkeit. Die "friedlichen" Wege der Kapitalmaximierung, wie sie uns durch Massenentlassungen, Radikalisierung der Ausbeutungsverhältnisse, Sozialabbau und feindliche Übernahmen beständig begegnen, reichen an dieser Stelle zu einer ausreichenden langfristigen Profitmaximierung nicht mehr aus." "Kein Krieg im Irak, kein Frieden mit dem imperialistischen System!" ([email protected] [1]) (Proletarischer Zirkel, Frankfurt/M). Wir wissen leider nicht, was die damaligen Mitglieder des Proletarischen Zirkels mittlerweile selbst dazu sagen, da sich der Zirkel aufgelöst hat. Auf der einen Seite hat der Krieg die Kassen von Rüstungsunternehmen und auch von am Wiederaufbau beteiligten Firmen klingeln lassen. Aber hat sich damit die amerikanische Wirtschaft insgesamt am Krieg gesundstoßen können? Kommt die Wirtschaft wieder ans Laufen? Nach US-Angaben beliefen sich die Kosten des Krieges in der "heißen" Phase der Kämpfe auf 70 Mrd. $ - wenn es überhaupt eine realistische Zahl dafür gibt. Hinzu kommen seitdem die Kosten für die Besatzungstruppen: 145.000 US-Soldaten verschlingen pro Woche ca. 1 Mrd. $, macht allein über 50 Mrd. $ pro Jahr - Ende offen, (wir erwähnen hier nicht die Kosten für britische, polnische, spanische koreanische, japanische usw. Truppen... deren Besatzungskosten die USA zum Teil mit finanzieren). Die Gesamtkosten des Krieges übersteigen bei weitem die Einnahmen der Rüstungskonzerne und der am Wiederaufbau beteiligten Firmen. Ist nicht die Aussage, der Krieg werde der Ankurbelung der Wirtschaft dienen, eine Milchmädchenrechnung, denn in Wahrheit bedeutet dieser Krieg für den amerikanischen Staat, für das amerikanische Gesamtkapital, einen enormen finanziellen Aderlass. Sowohl die unmittelbaren Kosten des Krieges als auch das gesamte Rüstungsprogramm, das unter Bush verabschiedet wurde, hat erheblich zum größten Haushaltsloch in der Geschichte der USA beigetragen. So betrug der Haushaltsüberschuss im letzten Amtsjahr Clintons noch 120 Mrd. Dollar (dank einer brutalen Sparpolitik des demokratischen Präsident zu Lasten der Arbeiter), mittlerweile muss nach 3 Jahren Bush-Aufrüstungsprogrammen mit über 500 Mrd Dollar Defizit im Haushalt der USA gerechnet werden (macht eine Ausgabensteigerung von fast 600 Mrd. $). Die Militärausgaben sollen 2005 um 7% auf fast 402 Mrd. Dollar zunehmen, dabei sind die Kosten für den Irak & Afghanistan-Einsatz noch nicht eingeschlossen. Allein 2003 gaben die USA für ihre 9000 Soldaten fast 10 Mrd. Dollar in Afghanistan aus (während das Land übrigens nur ca. 600 Millionen Dollar "Entwicklungshilfe" erhielt). Der Etat des Heimatschutzministeriums soll um 10% auf ca. 33,8 Mrd. Dollar steigen. Damit hätten sich die Verteidigungsausgaben unter Bush um ein Drittel erhöht. Wofür wurden diese 600 Mrd $ verwendet? Ein Teil vielleicht in zivile Konjunkturankurbelungsprogramme, (sicher nicht in Programme zur Bekämpfung der Armut), aber auf jeden Fall ist der Großteil in die Rüstung geflossen. Im Gegensatz zu der Position des Frankfurter Proletarischen Zirkels meint die IKS: "Die Kriege der Dekadenz machen, anders als die Kriege in der Aufstiegsperiode, ökonomisch keinen Sinn. Im Gegensatz zur Ansicht, Krieg sei "gut" für die Gesundheit der Wirtschaft, drückt der Krieg heute die unheilbare Erkrankung der Wirtschaft aus und verschlimmert diese. (...) Der Krieg ruiniert das Kapital - er ist sowohl ein Produkt seines Niedergangs als auch treibender Faktor bei dessen Beschleunigung. Die Entwicklung einer blutigen Kriegswirtschaft bietet keine Lösung der Krise des Kapitalismus (...). Die Kriegswirtschaft existiert nicht für sich selbst, sondern weil der Kapitalismus in der Dekadenz dazu gezwungen ist, einen Krieg nach dem anderen zu führen und zunehmend die gesamte Wirtschaft den Kriegsbedürfnissen unterzuordnen. Dies bewirkt einen gewaltigen Aderlass in der Wirtschaft, da Rüstungsausgaben letztendlich unfruchtbar sind (...) Der gegenwärtige Krieg am Golf und -allgemeiner - der ganze "Krieg gegen den Terrorismus" ist mit einem starken Anstieg der Rüstungsausgaben verknüpft, um die Wehretats des Rests der Welt in den Schatten zu stellen. Doch der Schaden, den dieses ungesunde Projekt für die US-Wirtschaft bewirken wird, ist unkalkulierbar."(aus Resolution des 15. Kongresses der IKS zur Internationalen Lage, der zur Zeit des Krieges stattfand: Punkt 20). Die Kriegsziele werden aus ökonomischer Sicht immer irrationaler. Denn durch den Krieg untergräbt der US-amerikanische Staat die Konkurrenzfähigkeit seiner Wirtschaft. Auch wenn einige Rüstungsfirmen massiv Geld einstreichen, verschuldet sich damit der US-Staat selbst astronomisch; das Geld, das in die Taschen der Rüstungskonzerne fließt, wird tatsächlich durch eine Verschuldung des Staates finanziert! Der US-Staat ist gezwungen, überall Geld zur Finanzierung des Krieges einzutreiben. Aber im Gegensatz zu 1991, als die Kriegskosten von 60 Mrd. $ noch von der Golfkriegsallianz gemeinsam aufgebracht wurden, müssen die USA heute die Lasten weitgehend alleine tragen. So blitzten die USA bei der Madrider Geberkonferenz, wo sie auf 36 Mrd $ für die nächsten vier Jahre hofften, ab. Sie brachten nur 13 Mrd $ zusammen, diese nicht mal als Zuschüsse sondern als Darlehen. Und von den Wiederaufbausummen, die vom US-Haushalt bereitgestellt wurden, ging der Großteil in die Finanzierung der US-Militärpräsenz und nicht in den eigentlichen Wiederaufbau (von dem Nachtragshaushalt 2003 der USA in Höhe von 80 Mrd $ wurden nur ca. 20 Mrd $ in Wiederaufbauprogramme gesteckt, den Löwenanteil schlucken die Besatzungskosten, das Verhältnis zwischen dem Militärischen und &Mac226;Zivilen' beträgt 3:1). Im dekadenten Kapitalismus dienen die Kriege nicht der unmittelbaren Ankurbelung der Wirtschaft. Es ist nicht die Wirtschaft, die das Mittel des Krieges wählt, sondern der Militarismus hat der Wirtschaft immer mehr seine Gesetze aufgezwungen. Ein weiterer Erklärungsansatz, der von vielen Gruppen in den Vordergrund gerückt wurde:
Nicht nur sei Bush - so Attac und andere linke Gruppierungen - eine Marionette der Ölindustrie. Vor allem Vizepräsident Cheney sei als Mann der Öl- bzw. Bauindustrie eine treibende Kraft beim Krieg gegen den Irak gewesen, der dem US-Staat seine Appetite auf die Ölkontrolle im Nahen Osten aufgezwungen habe. Einige Gruppen aus dem internationalistischen Lager hauen zwar nicht in diese plumpe Kerbe, legen aber die ganze Betonung auf die Bedeutung der Ölvorkommen und die Kontrolle über die Ölpreise. So erklärte schon Monate vor dem Krieg ein Vertreter von Aufbrechen in Berlin auf einer Diskussionsveranstaltung den Krieg folgendermaßen: "Es geht um gegensätzliche Interessen. Und zwar darum, wer die Hand auf dem Ölhahn hat. Öl ist nicht nur der letzte nicht synthetisch ersetzbare Rohstoff, sondern durch seine zentrale Rolle in der Energiegewinnung geradezu das Schmiermittel der kapitalistischen Wirtschaft. Insofern entspricht ein niedriger Rohölpreis den Akkumulationsbedingungen des Kapitals, um die Profitrate hoch und die Reproduktionskosten des Proletariats in den Industrieländern niedrig zu halten.(...) Wichtiger als ein kurzfristig niedriger Ölpreis (...) scheint in Washington dabei die langfristige und direkte Sicherung der mit Abstand zweitgrößten Erdölreserven der Welt erörtert zu werden. (es folgt ein ausführlicher Hinweis auf die Instabilität und Bedeutung Saudi-Arabiens) (...) Vor diesem Hintergrund rücken die Ölreserven des Irak zunehmend wieder in das Blickfeld der US-Administration, die ja geradezu als Lobby der amerikanischen Ölindustrie gilt." (Einladungsflugblatt zu einer Diskussionsveranstaltung von "Aufbrechen", Gruppe Internationale Sozialisten" im Nov. 2002). Kann der Krieg aus den "lokalen" Faktoren (Vorhandensein von Rohstoffen) und dem jeweiligen Stellenwerte dieser Rohstoffe (zentrales Schmiermittel usw.) in der Wirtschaft erklärt werden? Welche Verbindung gibt es zwischen dem Vorhandensein von Rohstoffen und der Entwicklung des Militarismus? Wenn es um den Beutezug der USA auf die Ölquellen geht, so fällt die Beute der USA bislang sehr mager aus. Denn auch ein Jahr nach dem Krieg ist die Ölförderung im Irak nicht richtig angelaufen. Im Januar 2004 lag die Ölproduktion bei 2,2 Mio. Barrel, davon werden 1,8 Mio. T Barrel exportiert. Vor dem Krieg lag die Kapazität bei 3,5 Mio Barrel. Die Hoffnung, dass die irakischen Ölquellen, deren Ausbeutung angeblich pro Jahr zwischen 25 und 50 Mrd. $ Dollar in die Kassen der Ölgesellschaften spülen sollten, hat sich bislang nicht umsetzen lassen. Um soviel Gelder einzunehmen, müsste die Ölförderung zumindest auf 7 Mio. Barrel erhöht werden. Immer wieder werden Ölpipelines durch Sabotageakte zerstört. Es werden noch Jahre vergehen, bevor die irakischen Ölförderanlagen wieder modernisiert sind; zudem ist völlig unklar, in welchem Maße die Ölrendite aus den irakischen Ölförderungen tatsächlich in US-Kassen fließen. Ein Jahr nach dem Irakkrieg befindet sich der Ölpreis auf einem ähnlichen Niveau wie vor dem Krieg. Die Öleinnahmen des Iraks reichen weder zur Ankurbelung der Wirtschaft des Landes - nicht einmal um nur irakische Ölgesellschaften wieder aufblühen zu lassen - noch um die Kriegskassen der USA ausreichend zu füllen. Hinzu kommt: Heute ist die Lage nicht vergleichbar mit der Situation nach dem 2. Weltkrieg, als im zertrümmerten Europa, Deutschland vor allem, der Marshallplan- mit Wiederaufbaugeldern eine zwanzigjährige Wiederaufbauperiode einleiten konnte. Darüber hinaus sind heute die USA dermaßen verschuldet, dass sie selbst Gelder betteln gehen müssen; ohne die Milliardenanlagen in den USA durch andere Staaten könnte die US-Wirtschaft nicht überleben. Weiter ist offensichtlich: Wenn US-Soldaten und die anderen Truppen der Kriegsallianz sowie irakische Polizei und andere staatliche Institutionen permanent zur Zielscheibe von Terrorangriffen geworden sind, bietet dies kein günstiges Umfeld für irgendwelche US-Aktivitäten. Man mag einwenden, ein Jahr ist für eine Bilanz zu kurz, man müsse das langfristig sehen. Das trifft sicherlich zu - aber auf ökonomischer Ebene ist die Anfangsbilanz für die USA verheerend. Von den großen Renditen aus dem Ölgeschäft keine Spur, nicht einmal ein Ansatz für eine mittelfristige Besserung. Wenn also die USA die gewaltigen Kosten für den Einsatz ihres Kriegsapparates nicht gescheut haben, obwohl sich daraus kein (kurzfristiger) ökonomischer Nutzen schlagen lässt, warum haben sie den Krieg geführt? Welche Schlüsselrolle spielt der Nahe Osten?
Nach dem 11. September haben die USA ihre globale Strategie auf eine höhere Ebene getragen. "Sofort wurde der "Krieg gegen den Terrorismus" als permanente und weltweite Militäroffensive angekündigt. Angesichts der wachsenden Herausforderung durch ihre imperialistischen Rivalen schlugen die USA eine Politik der massiveren und direkteren Militärinterventionen ein, mit dem strategischen Ziel der Umzingelung Europas und Russlands durch die Erlangung der Kontrolle über Zentralasien und Nahost." (Resolution zur internationalen Situation, ebenda, Punkt 6). Auf diesem Hintergrund der globalen geo-strategischen Strategie der USA, wo sie als einzig übrig gebliebene Supermacht der Erde jedem neuen Herausforderer ihrer Vormachtstellung mit größter Entschlossenheit und dem Einsatz aller möglichen Mittel entgegentreten müssen, und wo sie langfristig Europa und Russland einkreisen wollen, ist es für die USA unerlässlich, neben ihrer direkten militärischen Überlegenheit zusätzliche Erpressungsmittel in der Hand zu haben. Für die USA ist es von entscheidender Bedeutung, wenn sie die Abhängigkeit Japans und Europas von den Öllieferungen des Mittleren Ostens ausschlachten können und den Ölhahn nach Belieben zudrehen können, um Europa bzw. Japan entsprechend erpressen zu können. Auf dieser Ebene haben die USA einen wichtigen Punkt errungen. Denn wenn die USA nun den Irak militärisch besetzt halten, können die Europäer keinen Zugang zu irakischem Öl ohne die Zustimmung der USA finden; deshalb werden die meisten europäischen Staaten sowie Russland und Japan danach streben, die USA aus dem Irak zu verdrängen. Aber selbst der strategisch wichtige Punktgewinn für die USA, wodurch sie gegenüber Europa und Japan ein beträchtliches Faustpfand in der Hand haben, hat sich als doppelschneidiges Schwert erwiesen, denn die Spirale des Terrors und Chaos in der Region, den die USA mit dem Krieg weiter angefacht haben, kann nur dazu beitragen, den US-Einfluss in der Region noch weiter zu untergraben und den Gegnern der USA mehr Spielräume zu öffnen. Wenn die USA nun in einen zunehmenden Schlamassel geraten, und sie trotz der hohen, außer Kontrolle geratenen Kosten den Krieg auslösten, obwohl der ökonomische Gewinn in keinem Verhältnis zu den Kosten steht, die Ölfrage somit keine ausreichende Erklärung für den Krieg liefert, zeigt sich damit erneut, dass der Krieg sich immer mehr von einem Kosten-Nutzen-Kalkül gelöst hat und die militärischen Erfordernisse vorherrschend werden. Vielmehr ist der Krieg zur Überlebensform des Systems schlechthin geworden. "Die imperialistische Politik nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Welt-entwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag." (Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre). Auf andere Erklärungsansätze können wir aus Platzgründen an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Jedenfalls wäre es wichtig, wenn die Stimmen, die seinerzeit davon sprachen, dass es in Europa zu einer Blockbildung gegen die USA käme, die Wirklichkeit überprüfen, denn die Entwicklung seitdem hat gezeigt, dass Europa weder ein einheitliches Gebilde ist, noch dass sich ein Block Europa versus. USA herausbildet. Auch diejenigen müssen sich hinterfragen, die hinter dem Irak-Krieg die Verteidigung der Vormachtstellung des Dollars sahen und meinten, der Kriege werde u.a. deshalb geführt, weil der Öl-Handel weiterhin in Dollar betrieben werden müsse. Sie schulden sich eine Antwort auf die Frage, warum der Kurs des Dollars seit dem Krieg weiterhin gefallen ist, und der Euro trotz alledem immer neue Höchststände erklommen hat. Auch wenn die Wechselkurse durch verschiedene Faktoren bestimmt werden, ist - ein Jahr nach dem Krieg - keine stärkere Vormachtstellung des Dollars zu erkennen! Anstatt die Wirtschaft anzukurbeln, anstatt den Ölmultis extra-Profite zuzuschustern, hat sich nicht nur im Irak, sondern auch im gesamten Nahen Osten die Spirale der Gewalt, des Militarismus weiter zugespitzt. Diese Zuspitzung der Barbarei auf genau eingrenzbare ökonomische Kalküle zu reduzieren, hieße die Sackgasse des kapitalistischen Systems zu verharmlosen. Deshalb muss der Irak-Krieg Anlass sein, eine wirklich vertiefte Bilanz über die Aussichten des kapitalistischen Systems insgesamt zu ziehen. Aus Platzgründen sind wir nicht auf weitere Aspekte dieser Bilanz eingegangen, die sich für die Arbeit der Revolutionäre ergibt. März 04, Da
Am 31 Januar lud die IKS zu einer Diskussionsveranstaltung in Berlin zum Thema "Die kapitalistische Wirtschaftskrise: Triebkraft der Arbeiterkämpfe" ein. Dort trugen wir unsere Analyse vor, derzufolge die jüngsten Arbeiterkämpfe in Frankreich, Österreich, Italien, Großbritannien, Griechenland, Polen und den USA eine erste Wende im internationalen Klassenkampf seit 1989 bedeuten. Es zeichnet sich der Anfang vom Ende des Rückgangs der Kampfbereitschaft und des Klassenbewusstseins der großen Arbeitermassen ab, welcher Ende der 80er Jahre durch den angeblichen Sieg des Kapitalismus über die Idee des Sozialismus eingeleitet wurde. Wir führen diese neue, wenn auch zaghafte Vorwärtsbewegung des Proletariats in erster Linie auf die Zuspitzung der kapitalistischen Wirtschaftskrise zurück. Dies zwingt eine an mangelndem Selbstbewusstsein und Klassenidentität leidende, aber noch ungeschlagene Arbeiterklasse dazu, den Kampf wieder aufzunehmen und die eigenen Illusionen über den Kapitalismus allmählich aufzugeben. Diese Analyse der IKS geht davon aus, dass die jetzige Krise keine vorübergehende, rein zyklische Erscheinung ist, sondern Ausdruck des historischen Niedergangs dieses Gesellschaftssystems. Gerade darum kann es einem kämpfenden, und dadurch seine eigene Klassenidentität zurückerobernden Proletariat langfristig auch gelingen, eine kommunistische Perspektive wieder zu eröffnen - nicht zuletzt indem es begreift, dass mit dem Stalinismus nicht der Kommunismus, sondern ein Teil der bürgerlichen Welt unterging. Deshalb thematisierte unser Einleitungsreferat auch die Frage der Dekadenz des Kapitalismus. Daraus entwickelte sich eine interessante Diskussion, da mehrere Teilnehmer Einwände gegen diese Position der IKS vorbrachten. Zweck dieses Artikels ist es nicht, die Diskussion auf der Veranstaltung wiederzugeben. Wir wollen an dieser Stelle die Diskussionsteilnehmer (darunter Anhänger der jüngsten Gruppierung linkskommunistisch Interessierter in Berlin, die "Freunde der klassenlosen Gesellschaft" ausdrücklich dazu einladen, über einzelne Einwände hinaus ihre Position zur Theorie der Dekadenz schriftlich auszuformulieren. Sehr gerne würden wir auch die Seiten von Weltrevolution zu Verfügung stellen, um eine solche Debatte öffentlich fortzuführen. Die Wiedergabe und Ausbau unserer eigenen Argumentation auf der Veranstaltung soll an dieser Stelle dazu dienen, eine solche, auch schriftliche Debatte voranzubringen. Gegenüber unserem Einleitungsreferat wurde eingewendet, erstens dass die Frage der Dekadenz des Kapitalismus nicht relevant sei, um die heutige Krise zu beurteilen, und zweitens, dass die Wirtschaftskrise einen zyklischen, wiederkehrenden Charakter habe und als solches kein Faktor wäre, welcher zur Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins innerhalb des Proletariats wesentlich beitragen könnte. Vielmehr sei die Erfahrung der kapitalistischen Ausbeutung am eigenen Leibe ausschlaggebend für das Aufbegehren der Klasse gegen das System. Diese Einwände werfen die sehr grundsätzliche Frage auf, welchen Platz die Dekadenztheorie in dem marxistischen Verständnis der Entwicklung sowohl der Wirtschaftskrise wie des proletarischen Klassenbewusstseins einnimmt.
Um diese Fragen zu beantworten, kamen wir auf die berühmte Vorrede zur 1859 erschienenen Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" zurück (1). Dort, wo er sein erstes, noch vor dem ersten Band des Kapitals erschienenes, größeres Studium der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft vorstellt, dessen "Anatomie" in der "politischen Ökonomie" zu suchen sei, erläutert Marx "das allgemeine Resultat" seines Studiums, welches "einmal gewonnen, meinem Studium zum Leitfaden diente". Es folgen zwei "Leitfäden", welche aus unserer Sicht - ohne jeden Zweifel - einen entscheidenden Durchbruch, eine Art kopernikanische Wende in dem Begreifen der Menschheitsgeschichte bedeuten. Erstens: "Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." Zweitens: "Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um." Es handelt sich hierbei um Grundsätze der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung. Wie Engels 1883 am Grab von Karl Marx sich ausdrückte: "Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte." Es geht um die Frage, ob die Geschichte eine sinnlose Aneinanderreihung von Ereignissen und Ausschreitungen darstellt, welche höchstens für die beteiligten Menschen und Klassen selbst, nicht aber für die Menschheit insgesamt von Bedeutung sind. Oder ob diese Mühen und die Kämpfe miteinander zusammenhängen und eine Menschheitsgeschichte ergeben; ob darin eine - sicherlich nicht lineare - Entwicklung sich abzeichnet, ein Fortschritt hin zu einer Vermehrung der Kultur und des Bewusstseins. Unter &Mac226;Produktivkraft' versteht der Marxismus die - von vornherein gesellschaftliche - Arbeitskraft leibhaftiger Menschen, mit allem, was dazu gehört: Natur, Technik, Wissenschaft, Organisation. Eine gewisse Entwicklungsstufe dieser Produktivkräfte geht mit einer bestimmen Gesellschaftsweise einher. In Bezug auf die Urgesellschaft hat Lewis Morgan (der zu Lebzeiten von Marx und Engels Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete) darauf hingewiesen, dass die Fortschrittsstufen der Gesellschaft mit der Ausweitung deren Unterhaltsquellen einhergehen. Die drei von ihm ausgemachten Stufen der &Mac226;Wildheit' bringt er jeweils mit der Ausbildung der artikulierten Sprache, dem Gebrauch des Feuers und der Erfindung von Bogen und Pfeil in Zusammenhang; die drei Stufen der &Mac226;Barbarei' mit der Einführung der Töpferei, der Zähmung von Haustieren bzw. die Kultur von Nutzpflanzen, und mit dem Schmelzen des Eisenerzes. Mit der Entstehung der Klassengesellschaft findet der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Triebfeder der geschichtlichen Entwicklung seinen Ausdruck im Gegensatz und Kampf der gesellschaftlichen Klassen. Die Rebellion der Produktivkräfte gegen die zu Fesseln gewordenen Verhältnisse findet ihren höchsten Ausdruck im Klassenkampf. Marx spricht in derselben "Vorrede" von aufeinander folgenden, fortschrittlichen Gesellschaftsformationen. "In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden." Das bedeutet, dass in der Menschheitsgeschichte ein Fortschritt stattfindet, und dass die revolutionären Klassen, welche gegen die zu "Fesseln" der Produktivkräfte gewordenen Eigentumsverhältnisse kämpfen, bewusst oder unbewusst nicht nur für ihre eigenen Interessen, sondern für die Entwicklung der Menschheit streiten. Gerade der Marxismus hat den widersprüchlichen, oft paradox erscheinenden Lauf dieses Fortschritts in der Geschichte aufgezeigt. So stellte beispielsweise die Sklaverei gegenüber der klassenlosen Urgesellschaft einen Fortschritt dar. Sie entstand als die Produktion so weit entwickelt war, dass die menschliche Arbeitskraft mehr erzeugen konnte als zu ihrem Unterhalt nötig war. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte es lohnend werden, diese Arbeitskraft auszubeuten. Dies stellte gewissermaßen sogar für die Sklaven selbst zunächst einen Fortschritt dar. "Bisher hatte man mit den Kriegsgefangenen nichts anzufangen gewußt, sie also einfach erschlagen, noch früher hatte man sie verspeist. Aber auf der jetzt erreichten Stufe der "Wirtschaftslage" erhielten sie einen Wert: man ließ sie also leben und machte sich ihre Arbeit dienstbar", schreibt Engels in seinem Buch "Anti-Dühring". Er fügt hinzu: "Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. (...) In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus." (2) Doch die Sklaverei selbst erwies sich als unfähig, über einen bestimmten Punkt hinaus die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft weiterzuentwickeln. Einerseits bietet sie dem Produzenten keinerlei Anreize, um sich mit ihrer eigenen Produktion zu identifizieren. So können beispielsweise nur sehr grobe Arbeits-instrumente eingesetzt werden, welche die unachtsame Behandlung bzw. die mutwillige Zerstörungswut durch die gänzlich unfreien Produzenten auszuhalten imstande sind. Andererseits ist die Sklaverei auch durch das radikale Desinteresse der herrschenden Klasse selbst an der Produktion gekennzeichnet, welche als die Welt der Unfreiheit und der Unkultur verachtet wird. So erklärt sich, dass in der Antike ansatzweise bereits bekannte Techniken der Dampfkraft oder der Elektrizität lediglich zum Einsatz kamen, um im Kolosseum Käfige zu heben oder im Tempel Lichteffekte zu erzeugen. Obwohl der Untergang der antiken Welt einen gewaltigen Rückgang der Kultur mit sich brachte, so stellte dennoch die Leibeigenschaft des Mittelalters einen echten Fortschritt gegenüber der Sklaverei dar, da die Produzenten nunmehr teilweise für sich selbst arbeiten können. Die feudale Produktionsweise wiederum, mit ihrer lokalen, streng reglementierten, auf der Grundlage der Naturalwirtschaft basierten Gesellschaft, wird zu einer Fessel der Produktivkräfte, sobald die Entwicklung der Warenwirtschaft sich so weit durchsetzt, dass die Produktion auf der Grundlage der freien Lohnarbeit sich zu verallgemeinern beginnt.
In der oben zitierten "Vorrede" stellt Marx ausdrücklich klar, dass die moderne kapitalistische Produktionsweise keine Ausnahme darstellt gegenüber diesem Gesetz der Entwicklung mittels aufeinanderfolgender, jeweils eine aufsteigende und eine niedergehende Phase durchschreitender Formen der Klassengesellschaft. "Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." Was sind nun die "Produktivkräfte" und die "materiellen Bedingungen", der Überwindung dieser Gesellschaft, welche der Kapitalismus selbst hervorbringt? Und ab welchem Zeitpunkt sind diese Bedingungen ausreichend vorhanden? Auf unserer öffentlichen Veranstaltung wurde zum Beispiel argumentiert, dass die Pariser Kommune bewiesen habe, dass die erfolgreiche proletarische Revolution bereits im Frühkapitalismus möglich gewesen wäre. Für die IKS hat die Pariser Kommune bewiesen, dass 1871 eine lokale und kurzzeitige Machtergreifung des Proletariats, nicht aber der Übergang zum Sozialismus möglich war. Bereits 1850 hatte Marx geschrieben: "Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten." (3) Marx sagt in derselben Vorrede: "Eine Gesellschaft geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsverhältnisse treten nie an ihre Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind". In ihrer berühmten Polemik mit Bernstein - die 1899 geschriebene Broschüre "Sozialreform oder Revolution" - fasst Rosa Luxemburg diese Vorbedingungen zusammen, worauf sich der Sozialismus stützt: "vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet. Es ist der erste der genannten Grundpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus, den Bernstein beseitigt. Er behauptet nämlich, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht einem allgemeinen wirtschaftlichen Krach entgegen." (4) M.a.W. die Voraussetzungen des Sozialismus sind zunächst die volle Entwicklung der Industriegesellschaft und des Weltmarktes, aber auch des Weltproletariats d.h. die Entfaltung der Vergesellschaftung der Produktion sowie des revolutionären Subjektes. Das ist der Grund, weshalb die marxistische Bewegung in der aufsteigende Phase des Kapitalismus sich nicht gleichgültig verhielt gegenüber der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern beispielsweise die Vereinigung der USA (durch den Bürgerkrieg unter der Führung Präsident Lincolns), Deutschlands oder Italiens begrüßte. Aber zu den Voraussetzungen des Sozialismus gehört auch das Umschlagen der zyklischen Krise des aufstrebenden Kapitalismus in einen "allgemeinen wirtschaftlichen Krach", als Ausdruck des wachsenden Widerspruchs der materiellen Produktivkräfte mit den zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen. Die Lohnarbeit, Produktion für den Markt, der Nationalstaat stellen wesentliche Bestandteile dieses eisernen Korsetts dar, welches gesprengt werden muss, damit die Produktivkräfte und alle anderen Kräfte der Menschheit sich frei entfalten können. Chronische Überproduktion, permanente Massenarbeitslosigkeit, Allgegenwärtigkeit des imperialistischen Krieges gehören zu den Markenzeichen dieser Niedergangskrise; der 1. und 2. Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise ab 1929, der nukleare Wettlauf nach 1945, die permanente Überproduktionskrise seit Ende der 1960er Jahre, sowie der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 gehören zu den wichtigsten Meilensteinen ihrer Entwicklung.
Nachdem Marx in der Vorrede beschrieben hat, wie die Entwicklungsformen der Produktivkräfte auf einer bestimmten Höhe Fesseln derselben werden, stellt er fest: "Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um." Was das Verhältnis dieses objektiven Umschlags der Gesellschaft von ihrer aufsteigenden in ihrer niedergehenden Phase, zur subjektiven Bewusstseinsentwicklung betrifft, führt Marx aus. "Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern Muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären." Daraus schließen wir, dass eine allgemeine Entwicklung eines Bewusstseins der gesamten Arbeiterklasse über die Notwendigkeit, den Kapitalismus zu zerschlagen den Eintritt des Systems in seine Niedergangsphase zur Voraussetzung hat. Man weiß, dass in der Zeit der 2. Internationalen die Vorstellung sich breitmachte, dass die Krise des Kapitalismus quasi automatisch zum Sieg des Sozialismus muss. Als Reaktion auf diesen unmarxistischen Fatalismus, welcher den subjektiven Faktor - den Kampfeswille und das Klassenbewusstsein des Proletariats - verneint, haben unterschiedliche politische Strömung sich dazu hinreißen lassen, den umgekehrten Fehler zu begehen. Es handelt sich hierbei um einen ebenso unmarxistischen Voluntarismus, welcher die Bedeutung der objektiven Voraussetzungen der Revolution - Dekadenz und Wirtschaftskrise etwa - schmälert oder verneint. Der "Bordigismus" beispielsweise verneint die Dekadenz des Kapitalismus und fasst die heutigen Wirtschaftskrisen immer noch als zyklische Ereignisse wie im 19. Jahrhundert auf. Daraus ergibt sich aber das Problem, dass die zyklische Krise niemals einer revolutionären Bewußtseinsentwicklung der Klasse insgesamt den Weg bahnen wird. Weshalb sollten die noch so leidenden Arbeiter die Revolution machen, wenn sie annehmen müssen, dass die Krise wieder vorübergehen wird? So verfällt der "Bordigismus" einem Voluntarismus der Partei: Die Revolution soll dadurch siegen, dass eine furchtbar leidende, aber mehr oder minder unbewusste Klasse sich hinter die Klassenpartei stellt. Doch die russischen Arbeiter stellten sich 1917 nicht unbewußt hinter die Bolschewiki, sondern weil diese sich mittlerweile von der Auffassung der Marxisten selbst überzeugt hatten, dass der Weltkrieg den Niedergang des Kapitalismus und damit die Notwendigkeit des Sozialismus eingeläutet hatte. Einen anderen, diesmal rein voluntaristischen Ansatz dieser Art stellt die Gruppe &Mac226;Gegenstandpunkt' dar. Auch diese Denkrichtung hat mit der Dekadenztheorie von Marx nichts am Hut. Sie geht vom zyklischen Charakter der Krise aus und ist davon überzeugt, dass der Kapitalismus stets diese Krise auf Kosten der Arbeiterklasse überwinden kann. So sieht diese Gruppe die Sprungfeder des revolutionären Bewusstseins nicht in der zunehmenden Krisenhaftigkeit und Anarchie des Kapitalismus, sondern in einer -aus unserer Sicht - abstrakten, alltäglichen Erfahrung der Ausbeutung. Da aber die Ausbeutung seit Jahrtausenden, die spezifisch kapitalistische Ausbeutung seit Jahrhunderten besteht, ist kaum ersichtlich, weshalb das Proletariat plötzlich, ohne weitere Gründe, dagegen rebellieren sollte. So nimmt Gegenstandpunkt Zuflucht in einer vormarxistischen Auffassung und Praxis der reinen Aufklärung: die Arbeiter werden eine revolutionäre Einsicht entwickeln, nachdem sie von Gegenstandpunkt geschult worden sind. Es ist aus unserer Sicht unmarxistisch, die Frage der Ausbeutung und die der Krise in der Entwicklung des Klassenbewusstseins einander entgegenzustellen. Im Kapital Band 1 erklärt Marx gerade, wie die kapitalistische Ausbeutung selbst unvermeidlich, gesetzmäßig das Phänomen der "Überbevölkerung" - also Erwerbslosigkeit und absolute Verarmung - hervorbringt. Marx nennt diese Verelendung des Proletariats das "absolute Gesetz der kapitalistische Akkumulation". Das bedeutet, dass die kapitalistische Ausbeutung selbst die Krise hervorbringt, wie umgekehrt die Vertiefung der Krise zur Verschärfung der Ausbeutung führt. Die Vorstellung, dass die Auffassung von auf- und absteigendes Gesellschaftsformationen zum Fatalismus führt, ist irrig. Vielmehr ging der Fatalismus großer Teile der ihrem Ende zuneigenden 2. Internationale mit der Aufgabe der geschichtlichen Sichtweise des Marxismus einher. Bereits das Kommunistische Manifest hatte nämlich festgestellt, dass der Ausgang der Kämpfe einer revolutionären Epoche nicht von vornherein feststeht, sondern "jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen." (5) Im Verlauf der Diskussion auf unserer Berliner Veranstaltung wurde angedeutet, dass die marxistische Sicht des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Triebfeder des Fortschritts ein Überbleibsel des idealistischen Einflusses Hegels auf Marx sein könnte. Die Idee eines Gesamtplans der Geschichte setze schließlich eine Art &Mac226;Weltgeist' oder &Mac226;Gott' voraus, welche die Geschicke der Menschheit lenken. In Wahrheit aber glaubt der Marxismus keineswegs, dass der &Mac226;subjektive Faktor' in der Geschichte und insbesondere der Klassenkampf eine bloß passive Widerspiegelung einer von allein sich abspielenden Entwicklung darstellt. Vielmehr betont Marx die Rolle des Klassenkampfes selbst in der Entwicklung der Produktivkräfte. "Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf dem Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muss eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst." (6) Die siegreiche Revolution eines bewussten, selbsttätigen Proletariats - das ist heute die Voraussetzung der Aufrechterhaltung und Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft.
Fussnoten(1) Marx-Engels Werke (MEW), Bd 13, S. 9,10 (2) MEW Bd 20, S. 168 (3) MEW Bd 7, S. 440 (4) Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd 1/1, S. 375 (5) MEW Bd 4, S. 462 (6) Marx, Das Elend der Philosophie, 1847, MEW Bd 4, S. 181
202 Tote bis heute und mehr als 1500 Verletzte, vier zerstörte Züge, Leichen, die so zerfetzt waren, dass man sie nur noch mit Hilfe der DNS identifizieren konnte - das ist einstweilen die entsetzliche Bilanz des terroristischen Anschlags, des so genannten "Todeszuges", der den Morgen des 11. März in Madrid zerriss. Wir haben es mit einer Kriegshandlung zu tun wie am 11. September 2001 beim Angriff auf die Twin Towers in New York. Und einmal mehr befinden sich die Opfer v.a. unter der wehrlosen Zivilbevölkerung, insbesondere unter den Arbeitern: Arbeiter, die sich wie jeden Tag, wie überall in die überfüllten Vorortszüge drängen müssen, um von der Peripherie der großen Städte zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen; die Söhne und Töchter von Arbeitern, die wie jeden Tag, wie überall diese gleichen Züge benützen, um zur Schule oder zur Universität zu fahren. Genau die Umstände, die sie dazu zwingen, massenhaft in diesen Schlafstädten zu hausen und sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenpferchen zu lassen, um zur Arbeit zu fahren, hat sie zu leichten Opfern des Terrors gemacht - eines Terrors, der damit noch gewaltigere und makabrere Dimensionen erreicht hat. Wie der 11. September ist der 11. März ein wichtiges Datum in der Geschichte der terroristischen Massaker. Es ist nicht nur das größte Massaker, das die spanische Bevölkerung seit dem Bürgerkrieg von 1936-39 erlitten hat, sondern auch der mörderischste terroristische Anschlag in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Bourgeoisie vergießt heute zynisch ganze Ströme von Krokodilstränen über die Opfer, sie ruft in Spanien drei Tage Staatstrauer aus, sie überschwemmt die Medien während 24 Stunden am Tag mit Sonderberichten, sie akkumuliert Schweigeminuten, sie veranstaltet Demonstrationen gegen den Terrorismus usw. Wir sprechen der heuchlerischen Bourgeoisie und ihren Medien wie schon nach dem 11. September jedes Recht ab, wegen der ermordeten Arbeiter Trauer zu zeigen, denn "die herrschende Kapitalistenklasse ist schon verantwortlich für so viele Massaker und so viele Gemetzel: das schreckliche Abschlachten des 1. Weltkriegs, das noch größere Abschlachten des 2. Weltkriegs, als zum ersten Mal die Zivilbevölkerung zur Hauptzielscheibe wurde. Erinnern wir uns, zu was die herrschende Klasse fähig war: Sie hat London, Dresden, Hamburg, Hiroshima, Nagasaki bombardiert und Millionen Tote in den KZs der Nazis und im Gulag des Stalinismus hinterlassen. (...) Erinnern wir uns an die Hölle der Bombardierungen der Zivilbevölkerung und der flüchtenden irakischen Armee während des Golfkrieges 1991 und der Hunderttausenden von Toten. Erinnern wir uns an die alltäglichen und noch fortdauernden Massaker in Tschetschenien, die in Komplizenschaft mit den Demokratien des Westens verübt werden. Erinnern wir uns an die Komplizenschaft des belgischen, französischen und amerikanischen Staates während des Bürgerkriegs in Algerien, an die schrecklichen Pogrome in Ruanda. (...) Erinnern wir uns auch an die afghanische Bevölkerung, die heute durch amerikanische Bomben terrorisiert wird und die schon mehr als 20 Jahre an ununterbrochenem Krieg leidet (...) Dies sind nur einige Beispiele von vielen für das Wüten eines Kapitalismus, der immer mehr in einer unüberwindbaren Wirtschaftskrise versinkt und unwiderruflich im Niedergang steckt. Der Kapitalismus steckt in einer verzweifelten Lage." Seit wir diese Zeilen im Oktober 2001 in der Internationalen Revue Nr. 28 geschrieben haben, ist die geschilderte Barbarei nicht zurück gegangen, sondern vielmehr weiter angewachsen; neue grausige Marksteine sind in diese Liste einzutragen, namentlich der zweite Irakkrieg, die unaufhörlichen Massaker im Nahen Osten, die Tötungen vor kurzem in Haiti oder die terroristischen Anschläge in Bali, Casablanca, Moskau usw. Auf diese Liste gehört nun auch der Bahnhof von Atocha in Madrid. Die Anschläge vom 11. März sind nicht ein Angriff "auf die Zivilisation", sondern im Gegenteil der Ausdruck dessen, was diese "Zivilisation" der Bourgeoisie wirklich ist: ein Ausbeutungssystem, das aus jeder Pore Elend, Krieg und Zerstörung schwitzt. Ein System, das der Menschheit keine andere Perspektive anzubieten hat als die der Barbarei und der Vernichtung. Der Terrorismus ist nicht ein Nebenprodukt, kein uneheliches Kind des Kapitalismus, von dem er lieber nichts wissen will, sondern vielmehr das natürliche Erzeugnis des Kapitalismus, sein ganz eigenes Kind, wie es auch der imperialistische Krieg ist; und in dem Maße wie der Kapitalismus unaufhaltsam in der letzten Phase seiner Dekadenz - in derjenigen des Zerfalls - versinkt, wird der Terrorismus immer grausamer und irrationaler.
Eines der Merkmale der kapitalistischen Dekadenz ist, dass der imperialistische Krieg zur dauernden Lebensweise dieses Systems wird mit der Folge, dass "diese [kleinbürgerlichen] Klassen ihre Unabhängigkeit völlig verlieren und nur noch als Manövrier- und Unterstützungsmasse für die Auseinandersetzungen dienen, die die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse sowohl innerhalb als auch außerhalb der nationalen Grenzen austragen" (Internationale Revue Nr. 3, "Terror, Terrorismus und Klassengewalt", 1978). Von den 60er Jahren bis heute bestätigt die Entwicklung des Terrorismus voll und ganz den beschriebenen Charakter dieses Mittels, das von den verschiedenen Fraktionen der nationalen Bourgeoisie und von jedem imperialistischen Rivalen in seinem Kampf gegen die internen Herausforderer oder im globalen Maßstab eingesetzt wird. Der Terrorismus ist somit das gehätschelte Kind des Kapitalismus, das ständig von den einen oder den anderen mit Blut genährt wird. Terrorismus und imperialistische Auseinandersetzungen waren und sind bluttriefende Synonyme und werden es je länger je mehr sein. Im Laufe der 60er und 70er Jahre zögerte die Bourgeoisie keine Sekunde, sich der "selektiven" Ermordung von politischen Führern zu bedienen, um ihre "internen Affären" zu bereinigen. Erinnern wir uns daran, wie die Bombe, die Carrero Blanco (den spanischen Premierminister des franquistischen Regimes) in den Himmel und gleichzeitig die ETA auf die höchsten Gipfel des Terrorismus katapultierte, von der herrschenden Klasse benutzt wurde, um den Wechsel des politischen Regimes in Spanien voranzutreiben. Die Bourgeoisie zeigte auch keine Hemmungen, den Terrorismus als Mittel zur Destabilisierung des Nahen Ostens einzusetzen, als sie 1981 den ägyptischen Präsidenten Sadat oder 1995 den israelischen Yitzak Rabin ermordete. Wenn es darum geht, ihre Interessen gegen konkurrierenden nationale Fraktionen oder gegen andere Imperialisten zu verteidigen, hat die Bourgeoisie keine Skrupel, blindwütige Massaker unter der Zivilbevölkerung anzurichten. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Dies war 1980 in Italien der Fall, als ein Anschlag auf den Bahnhof von Bologna verübt wurde, bei dem 80 Menschen starben und der während langer Zeit den Roten Brigaden zugeschrieben wurde, in Tat und Wahrheit aber auf das Konto des italienischen Geheimdienstes und des Netzes Gladio ging, das die USA in ganz Europa aufgebaut hatten, um den Einfluss des russischen Imperialismus zurückzudrängen. Während dieser ganzen Zeit stand der Terrorismus immer mehr im Dienst der imperialistischen Auseinandersetzungen im Rahmen der Konfrontation der beiden Supermächte. Die Tendenz zum verallgemeinerten Chaos bestimmt die imperialistischen Auseinandersetzungen seit dem Ende der 80er Jahre, d.h. seit der Kapitalismus in seine Zerfallsphase eingetreten ist (1). Die Konstellation zwischen den beiden imperialistischen Blöcken, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet worden waren, wurde abgelöst durch das Gesetz des "Jeder-für-sich" (2). Der Terrorismus wird in diesem Zusammenhang immer mehr zu einer Waffe in den Händen der Staaten, und zwar gerade auch in den Kriegen selber, in denen die Armeen immer mehr auch terroristische Methoden anwenden wie die Bombardierung von Spitälern und Schulen z.B. im Irakkrieg vor kurzem. Der Zerfall des Kapitalismus drückt seinen Stempel auch den terroristischen Anschlägen auf: Die "Höllenmaschinen" zielen je länger je weniger auf "militärische oder politische Objekte" ab und greifen stattdessen direkt die wehrlose Zivilbevölkerung an. Die grässliche Reihe solcher Anschläge begann mit dem Bomben, die im September 1987 in den Straßen von Paris blindwütig töteten; sie erreichte eine Art Höhepunkt mit den beiden vollen Passagierflugzeugen, die in die Twin Towers rasten und sie zerstörten, in denen sich Tausende von Personen befanden; sie setzte sich fort mit den Toten von Bali, Casablanca, Moskau bis in die jüngste Vergangenheit, um nun die Arbeiter, die sich zusammengepfercht in den Vorortszügen befanden, im Bahnhof von Atocha, Madrid, zu treffen. Es wäre ein Illusion anzunehmen, dass diese Barbarei aufhören wird. Solange die Arbeiterklasse, die einzige gesellschaftliche Kraft, die angesichts der kapitalistischen Barbarei eine Alternative anzubieten hat, nicht ein für allemal mit diesem unmenschlichen Ausbeutungssystem Schluss macht, wird die Menschheit weiterhin und überall auf der Welt unter der ständigen Drohung neuer, immer brutalerer Anschläge und neuer, immer zerstörerischerer Kriege leben - und sterben. Mit dem Fortschreiten des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft tauchen ihre Nebenprodukte wie Ratten auf, nämlich die verantwortungslosesten und irrationalsten Fraktionen, aus denen sich alle terroristischen Banden rekrutieren, die kleinen Kriegsherren, die örtlichen Gangster usw., die nicht nur über unvergleichliche Zerstörungsmittel verfügen, sondern auch über zahlreiche "Paten", denen ihre Verbrechen nützen. Nach dem Anschlag auf das World Trade Centre in New York schrieben wir: "Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass heute Osama Bin Laden wirklich verantwortlich ist für die Angriffe auf das World Trade Centre, wie dies der US-Staat behauptet. Aber wenn diese Hypothese sich als richtig herausstellt, dann ist nur ein Kriegsherr der Kontrolle seiner alten Herren entwichen." (Internationale Revue Nr. 28). Dies ist ein Beispiel eines entscheidenden Merkmals in der Entwicklung hin zur Verallgemeinerung der Barbarei: Unabhängig davon, welcher imperialistischen Macht oder Fraktion der Bourgeoisie die terroristischen Machenschaften nützen, entrinnen diese immer mehr den vorgefassten Plänen derjenigen, die sie ins Leben gerufen haben. Wie beim Zauberlehrling wird die "Schöpfung" unkontrollierbar. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels können wir mangels wirklich konkreter Elemente und aufgrund des schwachen Vertrauens, das wir in die bürgerlichen Medien haben, nur unseren Rahmen der Analyse anwenden und gestützt auf unsere geschichtliche Erfahrung die Frage stellen: Wem nützt das Verbrechen?
Wie wir schon weiter oben festgestellt haben, sind der Terrorismus und die imperialistischen Zusammenstöße heute Blutsbrüder. Der Anschlag auf das World Trade Centre am 11. September 2001 war von weitreichendem Nutzen für den amerikanischen Imperialismus, der seine alten Verbündeten, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu Rivalen geworden waren (wie Frankreich und Deutschland), nötigen konnte, ihn in seinem militärischen Feldzug zur Besetzung Afghanistans zu unterstützen. Die Stimmung, die der 11. September hervorrief, erlaubte es der Bush-Administration weiter, den zweiten Golfkrieg durch eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung absegnen zu lassen. Aus diesem Grund ist es vollkommen berechtigt, sich die Frage zu stellen, ob der unglaubliche "Mangel an Voraussicht" bei den amerikanischen Geheimdiensten vor dem 11. September nicht damit zu tun hatte, dass man Al Kaida einfach "machen lassen" wollte (3). Was die Anschläge vom 11. März betrifft, ist es klar, dass sie überhaupt nicht den USA nützen. Das Gegenteil ist der Fall. Aznar unterstützte unerschütterlich die amerikanische Politik (er war Teil des "Trios der Azoren" - USA, Großbritannien und Spanien - der Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates, die sich zum Aufruf für den zweiten Golfkrieg zusammengefunden hatten), doch Zapatero, der ihn nach dem Wahlsieg des PSOE vom 14. März ablösen wird und der diesen Sieg den Attentaten von Atocha verdankt, hat schon bekannt gegeben, dass er die spanischen Truppen aus dem Irak abziehen werde. Dies ist eine Ohrfeige für die amerikanische Regierung und ein unbestreitbarer Sieg für das französisch-deutsche Tandem, das heute im Widerstand gegen die US-Diplomatie federführend ist. Der Misserfolg der amerikanischen Politik bedeutet aber keineswegs einen Sieg für die Arbeiterklasse, wie es nun gewisse Kreise darzustellen versuchen. In den Jahren 1982-1996 war der PSOE an der Regierung und bewies, dass er ein eifriger Verteidiger der kapitalistischen Interessen ist. Die Rückkehr des PSOE an die Regierung wird nicht das Ende der bürgerlichen Angriffe auf das Proletariat bedeuten. Auch der gegenwärtige diplomatische Erfolg von Chirac und Schröder ist derjenige von zwei weiteren treuen Vertretern des Kapitalismus, ein Erfolg also, der der Arbeiterklasse absolut nichts bringt. Im Gegenteil: Die Ereignisse in Madrid haben der Bourgeoisie insgesamt eine ideologische Kampagne erlaubt, die die Lüge verstärkt hat, wonach das beste Mittel gegen den Terrorismus die "Demokratie" sei. Die Wahlen seien eine Waffe im Kampf gegen die arbeiterfeindliche Politik und die Kriegstreiberei der Bourgeoisie; die Friedensdemonstrationen seien ein wirkliches Bollwerk gegen den Krieg. So erlitt die Arbeiterklasse nicht nur einen körperlichen Angriff mit all den Toten und Verletzten vom 11. März, sondern auch einen weitreichenden politischen Angriff. Noch einmal: Das Verbrechen diente der Bourgeoisie. Deshalb gibt es nur einen Ausweg aus der terroristischen Barbarei, diesem Ausdruck des imperialistischen Krieges und der Ausbeutung:
Mit Dutzenden von noch nicht identifizierten Leichen, mit all den Immigranten-Familien ohne legalen Aufenthalt (29 Tote und mehr als 200 Verletzte sind Immigranten), die es aus Angst davor, ausgeschafft zu werden, nicht wagen, ihre Verwandten in den Krankenhäusern und improvisierten Leichenhallen zu suchen, schafft die Bourgeoisie eine zusätzliche Katastrophenstimmung, um die Proletarier daran zu hindern, über die Ursachen und die Folgen des Attentats nachzudenken. Im ersten Moment nach den Anschlägen, bevor die staatlichen Rettungsdienste eintrafen, waren es die Opfer selber - die Arbeiter und die Kinder der Arbeiterklasse, die in den "Todeszügen" gereist waren oder die sich in den betroffenen Bahnhöfen befanden, die Bewohner der Quartiere Santa Eugenia und El Pozo -, die den Verwundeten erste Hilfe leisteten und die auf den Gleisen herumliegenden Toten mit Tüchern zudeckten. Sie waren von einem tiefen Solidaritätsgefühl getragen. Diese Solidarität brachten Tausende und Abertausende von Leuten zum Ausdruck mit Blutspenden, mit ihrem Angebot, in den Spitälern zu helfen, aber auch Feuerwehrleute, Sozialarbeiter, Spitalangestellte, die freiwillig über die bezahlte Arbeitszeit hinaus arbeiteten trotz dem schreienden Mangel an Mitteln, da der Staat auch und gerade im Gesundheitswesen und beim Katastrophenschutz spart. Wir Revolutionäre und alle Proletarier müssen unsere Solidarität mit den Opfern hinausschreien. Nur die Entwicklung der Solidarität, die die Arbeiterklasse als revolutionäre Klasse in sich trägt und die sich insbesondere in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus ausdrückt, wird die Grundlagen einer Gesellschaft herstellen, in der diese Verbrechen, diese Ausbeutung, diese abscheuliche Barbarei definitiv abgeschafft, überwunden werden. Die Empörung der Arbeiterklasse über den grauenhaften Anschlag, ihre natürliche Solidarität mit den Opfern wurden durch das Kapital manipuliert und auf seine Propaganda-Mühlen umgeleitet. Nach dem Blutbad rief die Bourgeoisie die Arbeiter am 12. März zur "Demonstration gegen den Terrorismus und für die Verfassung" auf; sie verlangte von ihnen, als spanische Bürger unter dem Schlachtruf "España unida jamás será vencida" (das vereinte Spanien wird nie besiegt werden) zusammenzurücken; sie forderte sie auf, am 14. März massenhaft wählen zu gehen, damit "sich diese Akte der Verwilderung nicht wiederholen". Die patriotische Stimmungsmache, die sowohl von der Rechten (Aznar sagte: "sie starben, weil sie Spanier waren") als auch von der Linken ("wenn Spanien nicht am Irakkrieg teilgenommen hätte, wären diese Anschläge nicht verübt worden") betrieben wurde, hatte einzig das Ziel, den Proletariern einzureden, das Interesse der Nation sei auch ihres. Das ist eine Lüge, eine zynische und schamlose Lüge! Eine Lüge, die darauf abzielt, die Reihen der Pazifisten aufzufüllen, die - wie wir in unserer Presse schon verschiedentlich hervorgehoben haben - den Krieg nicht verhindern, sondern vom wirklichen Kampf gegen den wirklichen Kriegstreiber - den Kapitalismus - ablenken. Der Kapitalismus hat der Menschheit keine andere Zukunft anzubieten als diejenige ihrer Vernichtung durch immer mörderischere Kriege, immer barbarischere Anschläge, Elend und Hunger. Die Losung, die die Kommunistische Internationale zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkündet hat, fasst treffend die Perspektive zusammen, die sich mit dem Eintritt des kapitalistischen Systems in seine niedergehende Phase eröffnet hat, und bleibt nach wie vor gültig: "das Zeitalter der Kriege und der Revolutionen", dessen Ausgang nur der Sieg entweder "des Sozialismus oder der Barbarei" sein kann. Der Kapitalismus muss untergehen, damit die Menschheit leben kann, und es gibt nur eine einzige gesellschaftliche Klasse, die die Rolle des Totengräbers des Kapitalismus übernehmen kann, das Proletariat. Wenn es der Weltarbeiterklasse nicht gelingt, ihre Unabhängigkeit als Klasse im Kampf zur Verteidigung zunächst ihrer eigenen Interessen, dann zur Überwindung dieser verfaulten Gesellschaft zu behaupten, wird die Menschheit keine andere Zukunft haben als die der Zerstörung auf dem Weg der Vervielfachung von Zusammenstößen zwischen bürgerlichen Banden und zwischen Staaten, die alle Mittel bis hin zu den unbeschreiblichsten einsetzen werden, unter denen die Waffe des Terrorismus zur alltäglichen Banalität verkommen wird. IKS, 19.03.04
Fussnoten
(1) Internationale Revue Nr. 13, "Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus" (2) Internationale Revue Nr. 31, "15. Kongress der IKS - Resolution über die internationale Situation" (3) Vgl. dazu unseren Artikel "Pearl Harbor 1941, Twin Towers 2001 - der Machiavellismus der herrschenden Klasse" in Internationale Revue Nr. 29
Auf dem Parteitag der SPD Mitte März 2004 übergab Bundeskanzler Schröder den Parteivorsitz der deutschen Sozialdemokratie an den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering. Doch bereits Anfang Februar, nach Bekanntgabe des beabsichtigten Rücktritts Schröders als Parteichef, war öffentlich vielfach vom "Anfang vom Ende" der Ära Schröder, von "Götterdämmerung" der Rot-Grünen Bundesregierung in Berlin die Rede. Von Seiten der Opposition wurde sofort der Ruf nach Neuwahlen angestimmt. Was bedeutet dieser Stabwechsel an der Spitze der erfahrensten und zuverlässigsten Partei des deutschen Kapitals? Was sagt er aus über das Kräfteverhältnis der Klassen sowie über die politische Orientierung der Bourgeoisie in Deutschland? Zunächst einmal ist es verfrüht, von dem Ende der Rot-Grünen Regierungskoalition zu sprechen oder Schröder selbst abzuschreiben. Schließlich bleibt der "Genosse der Bosse" als Bundeskanzler zunächst weiterhin unbestritten. Und sein Parteiamt hat er nicht an eine rivalisierende Fraktion innerhalb der SPD, sondern an seine eigene "rechte Hand" - den "stets loyalen Parteisoldaten Münte" - abgegeben, und zwar sozusagen von sich aus, ohne dass es irgend welche Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen gegeben hätte. Dennoch ist dieser Schritt politisch von Bedeutung. Fest steht jedenfalls, dass Schröder nicht ohne guten Grund eine solche Machtposition räumt. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass Schröder nach seinem Machtantritt 1998 seine Hauptaufmerksamkeit zunächst der Aufgabe schenkte, durch den Sturz Lafontaines, Kanzlerschaft und Parteivorsitz in einer, und zwar in seiner eigenen Hand zu vereinigen. Natürlich hängt dieser Rücktritt mit der Zuspitzung der weltweiten Wirtschaftskrise des Kapitalismus zusammen. Vor sechs Jahren, als Schröder Helmut Kohl als Bundeskanzler ablöste, versprach er, durch eine "modernere" und zugleich "gerechtere" Wirtschaftspolitik die lahmende Konjunktur anzukurbeln, die ausufernde Staatsverschuldung einzudämmen, v.a. aber die Massenarbeitslosigkeit zu reduzieren. Heute ist es nicht mehr zu übersehen, wie kläglich er mit diesem Vorhaben gescheitert ist. Allerdings: dieses Scheitern bildet zwar den Hintergrund, liefert aber nicht den eigentlichen Grund dafür, dass Schröder den Parteivorsitz weiterreicht. Schließlich wird gerade die Wirtschaftspolitik der jetzigen Bundesregierung, insbesondere die "Agenda 2010", geschlossen von der gesamten deutschen Bourgeoisie mitgetragen. Was den Ausschlag für diese Entscheidung an der SPD-Spitze gegeben hat, war vielmehr der Prozess der Desillusionierung, welchen die Verschärfung der Krise und der Angriffe gegen die Bevölkerung in den Reihen der Arbeiterklasse einzuleiten beginnt. Insbesondere die Illusion, dass eine linke Regierung für die arbeitende Bevölkerung das "kleinere Übel" darstellen könnte gegenüber der Regentschaft der konservativen Parteien, hat unter den Hammerschlägen der krisengeschüttelten Realität gelitten. Dies zeigt sich u.a. im historischen Umfragetiefststand der SPD sowie im Hamburger Wahldebakel. Da den linken Parteien des Kapitals - auch dann, wenn sie Regierungsverantwortung übernehmen - die spezifische, unverzichtbare Aufgabe zukommt, die Arbeiterklasse zu kontrollieren, muss diese Entwicklung die herrschende Klasse beunruhigen.
Hinzu kommt aber ein zweites Problem, worauf die Bourgeoisie reagieren muss, nämlich eine gewisse ideologische Desorientierung innerhalb der SPD, welche u.a. im andauernden Mitgliederschwund der Partei ihren Ausdruck findet. Es gehört zum politischen Selbstverständnis linker bürgerlicher Parteien, dass sie sich von ihren konservativen Partnern abheben: politisch durch eine energischere Propagierung offen staatskapitalistischer Maßnahmen sowie ideologisch durch eine ausgeprägtere "sozialstaatliche" Demagogie. In dieser Hinsicht ist die Lage der regierenden Sozialdemokratie in Deutschland eine andere als beispielsweise in Großbritannien. Dort löste "New Labour" eine Tory Party an der Regierung ab, welche bereits vorher, v.a. unter Margret Thatcher, eine ganz radikale "Sozialdemontage" betrieben hatte. So fiel es Tony Blair nicht schwer, durch geschickte Demagogie seine Fortsetzung der Thatcherpolitik als einen "gerechteren" und "ausgewogeneren" Kurs zu verkaufen. In Deutschland hingegen fiel der Abbau der Sozialleistungen unter der Regierung Kohl weniger radikal aus, da die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik bis 1989 im Vergleich zum britischen Konkurrenten noch relativ günstig war, und da nach 1989 die deutsche Wiedervereinigung zunächst politisch Tür und Tor öffnete für eine hemmungslose Verschuldungspolitik auf Kosten der Zukunft. So ergibt sich, dass heute in Deutschland nicht eine konservative, sondern eine sozialdemokratisch geführte Regierung diese nicht mehr aufschiebbare "Sozialdemontage" einleiten muss. So kommt es, dass im Fernsehen immer wieder verunsicherte SPD-Mitglieder zu Wort kommen, die zwar gegen die "Agenda" nichts einzuwenden haben, aber um so eindringlicher von der Parteiführung eine plausible ideologische Rechtfertigung dafür verlangen, damit man sich weiterhin von den rechten Parteien abgrenzen kann. Insofern spiegelt der Führungswechsel innerhalb der SPD die Abnutzung der typischen Illusionen der 90er Jahre wieder, als man halbwegs glaubwürdig noch über neue Wachstumschancen, Volksaktien und eine Internetrevolution schwafeln konnte. Andererseits darf man die politischen Schwierigkeiten der Bourgeoisie auf dieser Ebene auch nicht überschätzen. Keineswegs ist die Lage vergleichbar mit der Ende der 70er Jahre in England oder Anfang der 80er in der damaligen Bundesrepublik, als angesichts der Entwicklung der Kampfbereitschaft und des Klassenbewusstseins des Proletariats die bis dahin regierende Sozialdemokratie in die Opposition gehen musste, wollte sie ihre Glaubwürdigkeit und ihre Fähigkeit, die Arbeiterkämpfe zu sabotieren, intakt halten. Während damals der sozialdemokratische Kanzler Schmidt von seiner eigenen Partei öffentlich desavouiert wurde, gibt es heute noch keine öffentliche Infragestellung der eigenen Regierungstauglichkeit von Seiten der SPD. Der Rücktritt Schröders ist somit nicht nur ein passives Ergebnis der sozialpolitischen Entwicklung, sondern stellt bereits eine Antwort der herrschenden Klasse darauf dar. Da die Desillusionierung der Arbeiterklasse gegenüber der angeblich linken Reformalternative der letzten sechs Jahre sowie der wachsende Unmut gegenüber "2010" besonders eng mit dem Namen Schröder verknüpft ist, versucht die Bourgeoisie, durch eine gewisse, zur Schau gestellte Distanzierung der SPD von ihrem Kanzler, den Abwärtstrend der Sozialdemokratie einzudämmen. Kein Zufall also, dass der Parteitag, der Müntefering zum neuen Vorsitzenden kürte, sich besonders gewerkschaftsfreundlich zeigte und traditionelle sozialdemokratische Themen wie die Erbschafts- oder Vermögenssteuer bzw. die Ausbildungsplatzabgabe hervorzukramen begann. Es gilt also, die vielbeschworene "Seele" der Partei zu massieren und rechtzeitig zum "Superwahljahr" 2004, v.a. aber bis zum nächsten Bundestagswahltermin das Image der Partei wieder aufzupolieren und ihren Abwärtstrend auf Wahlebene aufzuhalten. Bis zur nächsten Bundestagswahl hat die Bourgeoisie noch Zeit genug um zu überlegen, welcher Partei sie den neuen Regierungsauftrag erteilen will. Momentan geht es der herrschenden Klasse um andere Ziele.
Erstens darum zu verhindern, dass die SPD durch ihre lange Regierungsbeteiligung in Zeiten der immer offeneren und brutaleren Wirtschaftskrise nicht zu viel Einfluss gegenüber den Arbeitern verliert. Zweitens soll durch eine allmähliche Eindämmung des Abwärtstrends bei den Wahlen der Einfluss der Sozialdemokratie innerhalb des Staatsapparates stabilisiert werden. Das ist wahrlich eine Herzensangelegenheit des deutschen Kapitals. Darüber hinaus soll dadurch v.a. für die nächsten Bundestagswahlen die "Spannung" aufrechterhalten werden, indem bis dahin der Stimmenabstand zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb bei den Wahlprognosen verkleinert wird. Denn nach wie vor - und erst recht angesichts der Brutalität der Angriffe von heute - bleibt der demokratische Zirkus eines der Hauptmittel der Herrschenden, um die Arbeiterklasse von ihrem eigenen Kampf abzuhalten. Drittens hat die deutsche Bourgeoisie - so wie die Lage sich gegenwärtig darstellt - ein Interesse daran, die SPD weiterhin regierungsfähig zu halten. Zugegeben: nach einer längeren Regierungszeit würde der Sozialdemokratie eine Erholungskur in der Opposition sicher gut tun. Zugegeben: die deutsche Bourgeoisie verfügt neben der SPD mit der Union und der FDP über zwei sehr erfahrene, kompakte und disziplinierte Staatsparteien, welchen ohne Bedenken Regierungsverantwortung übertragen werden können. Doch noch bleibt ungeklärt, mit welchem Kanzlerkandidat die Union antreten wird. Das Abschmettern des von der CSU befürworteten Kandidaten Schäuble zum Bundespräsidenten, durch die CDU, bestätigt, dass die CDU-Vorsitzende Merkel fest entschlossen ist, sich als Kanzler in spe durchzusetzen. Da Merkel anlässlich des letzten Irakkriegs gegenüber den USA eine weniger entschlossene Haltung als die Regierung Schröder vertrat und seitdem noch nicht von dieser Linie deutlich abgerückt ist, muss der deutsche Imperialismus weiter daran interessiert sein, sich die Möglichkeit der Fortsetzung der jetzigen Regierung noch offen zu halten. Denn obwohl Deutschland die Eroberung des Iraks durch Amerika vor einem Jahr nicht aufhalten konnte, ist durch die Schwierigkeiten der Besatzungsmacht und ihres Verbündeten dort seitdem das Pendel wiederum zugunsten Deutschlands ausgeschlagen. Wie sehr Deutschland - im Rahmen der Probleme der USA im Irak - von der Außenpolitik Schröders gegenwärtig profitiert, um seinen eigenen Einfluss in der islamischen Welt zu stärken, zeigte neulich beispielhaft die Rolle Berlins bei der Organisierung eines Gefangenenaustausches zwischen Israel und der Hisbollah im Nahen Osten. Und wie wenig die westeuropäischen Regierungen, welche "à la Merkel" die Politik der Teilnahme am Irakkrieg gutgeheißen haben, davon profitierten, zeigt das derzeitige Abrücken der neuen spanischen Regierung von der privilegierten Partnerschaft mit Washington. Die Fähigkeit Schröders, die strategischen Interessen des deutschen Imperialismus zu deuten und ihnen zu dienen, zeigt auch seine Intervention, um durch die Aufnahme der Firma Siemens ins Maut-Konsortium zunächst einmal das "Toll Collect" Projekt zu retten, welches nicht nur dem Eintreiben einer LKW-Maut, sondern darüber hinaus der Förderung einer eigenständigen europäischen Satellitentechnologie dient. Der Hintergrund des Personalwechsels an der Spitze der SPD beleuchtet somit die anhaltende Bedeutung der deutschen Sozialdemokratie als scharfer Waffe des Imperialismus und als erfahrener Gegner der Arbeiterklasse.
AF 21.04.2004
Seit Anfang April breitet sich der Krieg im Irak immer weiter aus. Die Ermordung von vier US-Beschäftigten der privaten Sicherheitsfirma Blackwater und die Verstümmelung ihrer Leichen symbolisierte den Beginn einer qualitativ neuen Phase des Konfliktes im Irak. Die Koalitionsarmeen, insbesondere die Armee der USA, haben es nunmehr mit einer bewaffneten Revolte der Sunniten und – dies ist ein neuer Schritt – der Schiiten zu tun, die sich immer mehr um den jungen religiösen Prediger Al-Sadr zusammenschließen. Die ‚Wall Street‘ fragte sich: ”Ist Al-Sadr der Dreh- und Angelpunkt einer neuen islamischen Front, in der sich Sunniten und Schiiten gegen die ausländischen Eindringlinge zusammenschließen?” Die Verstrickung der imperialistischen Politik der USA im Irak läuft Gefahr, eine Allianz von Gegnern zusammenzuschmieden, die tiefgreifende Folgen für die ganze Region haben wird und die vor einigen Monaten noch als völlig undenkbar erschien. Die Hoffnungen der USA, sich auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak zu stützen, um das Chaos einigermaßen einzudämmen und die Übergangsregierung zu kontrollieren, haben sich zerschlagen. Wenn nun die kriegerischen Zusammenstöße und das Chaos im ganzen Land immer mehr eskalieren, wird deutlich, dass die USA die Lage immer weniger im Griff haben, ja, dass die Dinge ihnen entgleiten.
Trotz der überwältigenden militärischen Überlegenheit der USA gegenüber dem Rest der Welt verfügen die USA nicht über die Mittel, ihre Gesetze im Irak durchzusetzen. Während die US-Führungsrolle auf der Welt überall geschwächt wird, wird dadurch gleichzeitig der Appetit der anderen Imperialisten angeregt. In der auseinanderbrechenden irakischen Nation sprießen bewaffnete Gruppen und Terrorbanden überall im Lande wie Pilze hervor. Diese bewaffneten Gruppen, die mehr oder weniger eigenmächtig agieren, verfolgen nur ein Ziel: die US-Besatzermacht zu vertreiben. Die Radikalisierung dieser Gruppen wird durch die Geiselnahmen von Zivilisten deutlich, denen gedroht wird, dass sie umgebracht werden, wenn die kriegführenden Staaten ihre Truppen nicht aus dem Irak abziehen. (...) Mehr noch, was die gesamten imperialistischen Spannungen und die Tendenz des Jeder für sich im Irak gut verdeutlicht, ist die Rolle von Muktar Al-Sadr. Dessen enge Verbindungen zum Iran sind gut bekannt. Sehr wahrscheinlich werden die gegenwärtigen Aufstände der Schiiten im Irak aktiv vom Iran unterstützt. Damit reagiert der Iran direkt auf den Druck, den die USA auf den Iran ausüben. Die Schwächung der USA ist so weit vorangeschritten, dass sie offiziell den Iran um Hilfe gebeten haben. Um das wirkliche Ausmaß der Zerbröckelung der US-Vormachtstellung zu ermessen, brauchen wir uns nur an die arroganten Bekundungen der USA zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns gegen den Irak vor einem Jahr zu erinnern. Am 9. April 2003 erklärte US-Vizepräsident Dick Cheney, dass die USA unter keinen Umständen der UNO die Kontrolle der Besatzung des Iraks überließen. ”Der Präsident hat deutlich wissen lassen, dass wir das nicht machen werden (...) Wir wollen lediglich, dass die UNO dort eine Hauptrolle spielt (...) Unser Ziel ist, dass wir so schnell wie möglich eine Übergangsregierung schaffen und deren Funktionsfähigkeit sicherstellen, die aus Irakern zusammengesetzt ist. Ihnen, nicht der UNO oder irgendeiner anderen ausländischen Gruppe soll die Regierungsgewalt übertragen werden.” Damals wurde der Irak von den USA neben Nordkorea, Syrien und dem Iran zur ”Achse des Bösen” oder den Schurkenstaaten gezählt. Diese Länder wurden öffentlich beschuldigt, Massenvernichtungswaffen zu besitzen und zu den Drahtziehern des Terrorismus zu gehören. Damit rückten sie ins Visier der möglichen militärischen Schläge der USA nach dem Irak-Krieg. Aber nur wenig später können wir sehen, was tatsächlich daraus geworden ist. Die USA müssen den Iran um Hilfe ersuchen. Kamal Charazi (iranischer Außenminister) sagte: ”Die USA haben den Iran um Hilfe gebeten, um zu versuchen, die Krise zu lösen und die wachsende Gewalt im Irak einzudämmen” (Meldung der AFP vom 6.4.2004). Der iranische Delegationschef in Bagdad wiederum erklärte: ”Wir sind hier, um uns ein klareres Bild von der Lage zu verschaffen und zu begreifen, was vor sich geht; keinesfalls wollen wir vermitteln.” Aus der Sicht der imperialistischen Banditen sind die Dinge klar. Alles hat seinen Preis. Und heute müssen die USA, weil sie in einer Schwächeposition sind, einen hohen Preis zahlen. Das zunehmende Chaos und die Gewalttaten im Irak lassen für die Zukunft nichts Gutes ahnen (...)
Für den US-Imperialismus scheint es im Irak keinen Ausweg zu geben. Eine Mehrheit der US-Bourgeoisie ist auch zu dieser Einschätzung gekommen. Deshalb unterstützt diese mit allen Kräften die Kandidatur des Demokraten John Kerry bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Um den Schaden im Irak zu begrenzen, ist die US-Bourgeoisie gezwungen, eine politische Lösung anzustreben (im Gegensatz zu ihren Zielen zu Beginn des Krieges). Sie muss sogar ihre imperialistischen Hauptrivalen im Rahmen der UNO Frankreich, Deutschland oder Russland mit ins Boot holen. Die Zeiten, als die USA lauthals verkündeten, dass sie in ihrem Kampf gegen die ”Achse des Bösen” und die ”Schurkenstaaten” niemand anderes brauchten, sind endgültig vorbei. Aber selbst wenn John Kerry der nächste US-Präsident würde, wäre damit überhaupt nichts gelöst (...) Die gegenwärtige Stellung der USA im Irak zwingt auch einen John Kerry die Notwendigkeit ins Auge zu fassen, die US-Truppen im Irak zu belassen. Die US-Bourgeoisie ist nicht dazu in der Lage, Mittel zu finden, um einer weiteren Abschwächung ihrer weltweiten Führungsposition zu begegnen (...)
Wie immer die nächsten US-Präsidentenwahlen ausgehen und wie umfangreich auch die Umorientierungen der kriegführenden Länder sein werden, wird die fortdauernde Schwächung der US-imperialistischen Position das Chaos im Irak und den weltweiten Zerfall der gesamten Gesellschaft nur zuspitzen. Soviel Verwirrung und solch ein Eingeständnis der Machtlosigkeit seitens der größten imperialistischen Weltmacht sprechen für sich. In den nächsten Monaten werden wir noch mehr Blutbäder erwarten können. Wenn jetzt Schiiten bewaffnet kämpfen, wird das die gesamte Region, vom Iran bis Saudi-Arabien, weiter destabilisieren, da diese Bevölkerungsgruppe dort zahlenmäßig stark vertreten ist. Da in Afghanistan die Karzai-Regierung und die US-Truppen nur die Hauptstadt Kabul und deren Umgebung kontrollieren, muss die US-Regierung gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn die Sharon-Regierung in Israel ihre bisherige Politik der gewaltsamen Eskalation fortsetzt. Das bisherige betretene Schweigen eines Großteils der US-Bourgeoisie in der UNO gegenüber der Kritik Deutschlands, Frankreichs und Russlands an der Politik Sharons, zeigt deutlich die Ziele dieser imperialistischen Mächte auf, die die Hauptkonkurrenten der USA sind. Diese Staaten sind einzig darauf erpicht, dass die USA sich so stark wie möglich im Irak festfahren, dass die USA in einer Gewaltspirale versinken, weil sie davon profitieren wollen, um an anderen Orten ihre Interessen durchzusetzen.
Die Hilflosigkeit der US-Bourgeoisie gegenüber dem irakischen Haifischbecken spiegelt das allgemeine Versinken der Gesellschaft in der kapitalistischen Barbarei wieder. Selbst die stärksten Bourgeoisien werden von diesem Prozess befallen, was sich auch auf der Ebene der Kriegsführung wiederspiegelt. Die Arbeiterklasse muss begreifen, dass diese, sich in Fäulnis befindende kapitalistische Gesellschaft nur noch solch eine Entwicklung wie die im Irak hervorbringen kann. Das trifft auf die ganze Welt und auch auf das Zentrum der Industriestaaten zu. Die Entwicklung im Irak verdeutlicht erneut, dass die Zukunft der Menschheit lautet: entweder Kommunismus oder Zerstörung jeglicher Zivilisationsformen auf dem Erdball. Tino (15.5.03).
(leicht gekürzter Artikel aus Révolution Internationale, Zeitung der IKS in Frankreich)
Anfang 2004 hat das Internationalen Büros für die revolutionäre Partei (IBRP) eine Reihe von öffentlichen Veranstaltungen in Berlin begonnen, deren Abhaltung wir begrüßen. Die erste Veranstaltung zum Thema Klassenkampf fand Mitte Februar 2004 statt. Die zweite zu den Ursachen des imperialistischen Krieges Mitte Mai. Im nachfolgenden Artikel berichten wir über die erste der beiden Veranstaltungen. In der nächsten Ausgabe von Weltrevolution werden wir auf die Debatte bei der zweiten Veranstaltung eingehen.
Der Titel der Februar-Veranstaltung lautete: "Streiks in Italien - internationale Perspektive der Klassenkämpfe". Die angekündigten Themen für die Diskussion waren einerseits - wie der Titel vermuten ließ - der Klassenkampf, andererseits aber auch der imperialistische Krieg ("die Neuformierung imperialistischer Blöcke nach dem Zerfall der alten Blöcke, vor allem der verstärkte Gegensatz zwischen den USA und Europa beim Kampf um strategische Positionen und um die Kontrolle der globalen Energievorräte und -Transportwege - Ursachen des Irakkriegs von 2003"). Die Veranstaltung wurde von verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen, die linkskommunistische Positionen vertreten oder sich dafür interessieren, besucht. Die IKS nahm an dieser Veranstaltung ebenfalls mit einer Delegation teil. Obwohl es das IBRP in letzter Zeit ablehnt, mit der IKS gemeinsame Veranstaltungen durchzuführen oder z.B. eine gemeinsame Stellungnahme zum Krieg im Irak zu veröffentlichen (1) [2], fand die Diskussion in einer brüderlichen Atmosphäre statt.
Ein Sympathisant des IBRP führte die Veranstaltung mit einem Referat zu den programmatischen Punkten und der Ge-schichte dieser Organisation ein. Er wies darauf hin, dass das IBRP heute aus Battaglia Comunista (Italien), der Communist Workers Organisation (Großbritannien), Internationalist Notes (Kanada) und Bilan et Perspectives (Frankreich) besteht und sich auf die Tradition der Italienischen Kommunistischen Linken um Bilan in den 1930er Jahren bezieht, wobei es auch Berührungspunkte zur KAPD in den 1920er Jahren gebe. Seit dem Anfang der 1950er Jahre bestehe die Kommunistische Linke im wesentlichen aus drei Strömungen, nämlich:
- Battaglia Comunista (bzw. eben später das IBRP)
- den Bordigisten
- der IKS (bzw. ihre Vorläuferorganisationen).
Der Genosse fasste auch einige programmatische Positionen des IBRP zum Imperialismus, zur Gewerkschaftsfrage und zum Verhältnis der revolutionären Partei zur Arbeiterklasse zusammen. Es ist hier nicht der Ort, diese Programmpunkte wieder-zugeben; statt dessen sei auf die Publikationen des IBRP verwiesen (2) [2].
Darauf folgte ein Referat des eingeladenen Vertreters des IBRP zu den angekündigten Themen: die imperialistischen Spannungen und die Streiks vom letzten Winter bei den Nahverkehrsbetrieben in verschiedenen italienischen Städten.
Schließlich begann die Diskussion, die zwar streckenweise ein etwas zurückhaltendes Frage-/Antwortspiel war, bei gewissen Themen aber interessante und teilweise kontroverse Punkte aufgriff, zu denen lebhaft argumentiert wurde. Nachstehend wollen wir auf einige dieser Auseinandersetzungen eingehen und dabei auch die im Einleitungsreferat des Genossen des IBRP vertretenen Positionen zusammenfassen, soweit dies für das Verständnis der Auseinandersetzung nötig ist.
Wie schon im Einladungsflugblatt angetönt, geht das IBRP von einer "Neuformierung imperialistischer Blöcke nach dem Zerfall der alten Blöcke" aus. In Europa sieht es einen Gegenpol zu den USA, und zwar mindestens von der Tendenz her einen sich bildenden imperialistischen Block. Der Euro als Währung sei ein Gegenprojekt zur Dominanz des US-Dollars. Gleichzeitig unterstrich der Vertreter des IBRP, dass es den USA mit dem Irakkrieg im wesentlichen um die Verteidigung der Rohstoffe und der Transportwege, kurz: um die Sicherung der Erdölrente, gegangen sei bzw. immer noch gehe.
Ein Genosse der Gruppe Internationaler SozialistInnen (GIS) (3) [2] stellte die Analyse des IBRP über die Blockbildung in Europa und über die ökonomischen Ursachen des Irakkrieges in Frage. Er wies darauf hin, dass Europa alles andere als ein homogener Block sei, was sich gerade darin zeige, dass jeder europäische Nationalstaat, EU hin oder her, im Irak versucht habe, sein eigenes Süppchen zu kochen, wobei die Bündnispartner auch ständig wieder wechselten. Was das Erdöl betrifft, so bestritt der Genosse der GIS, dass es im wirtschaftlichen Sinn für den Krieg im Irak entscheidend gewesen sei. Es habe zwar eine wichtige strategische Bedeutung, weil ohne Zugang zum Erdöl kein Krieg geführt werden könne. Dies sei aber nicht zu verwechseln mit vermeintlichen wirtschaftlichen Interessen, also der Suche nach unmittelbarem finanziellem Profit. Dieser sei nicht die wirkliche Ursache des US-amerikanischen Feldzugs gewesen. In der Tat zeigt die aktuelle Entwicklung im Irak, dass an eine profitable Ausbeutung des irakischen Erdöls je länger je weniger zu denken ist. Doch selbst wenn die Bush-Administration im militärischen Bereich nicht mit so großen Schwierigkeiten rechnete, so war auch ihr schon vor Beginn des Krieges klar, dass es jahrelange Investitionen erfordern würde, bis die irakische Erdölproduktion Gewinn brächte. Zudem unterlag die Förderung auch unter Saddam weitgehend einem amerikanischen Diktat: politisch durch die damals geltende Exportkontrolle unter Führung der UNO, militärisch durch die ständigen Bombardierungen der Erdölanlagen und wirtschaft-lich durch den Einfluss der großen amerikanischen Ölfirmen. Es brauchte also nicht die empirischen Beweise, die heute vorliegen, um festzustellen, dass es unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten für die USA keinen Sinn machte, im Irak zu intervenieren. Ausschlaggebend waren vielmehr die strategischen Überlegungen, die auf eine Einkreisung der potentiellen Herausforderer der USA, allen voran Deutschlands, abzielten.
Im zweiten Teil seines Referats kam der Genosse des IBRP am Beispiel von Italien auf die Basisgewerkschaften und ihre Rolle in den Streiks zu sprechen. Er unterstrich, dass Basisgewerkschaften grundsätzlich keinen anderen Charakter als die offiziellen Gewerkschaften haben und dass die Arbeiterklasse von diesen Organisationen nichts erwarten kann. Er verwies auch darauf, dass sich Battaglia Comunista und die IKS in den 80er Jahren, als sich die Cobas zunächst als Kampfkomitees formierten, gemeinsam gegen ihre Umwandlungen in Gewerkschaften wehrten.
Obwohl die Position des IBRP zur Gewerkschaftsfrage nicht immer so gradlinig war und ist, gab es bei dieser Veranstaltung aufgrund der Ausführungen des Genossen von Battaglia Comunista keinen Anlass zu Entgegnungen. Hingegen kritisierte die IKS in der Diskussion den Standpunkt des IBRP über die sogenannte Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Denn das IBRP legt - ähnlich wie viele Autonome - zur Erklärung der schwachen Kampfbereitschaft des Proletariats viel Gewicht auf den Umstand, dass seit den 1970er Jahren ein Großteil der traditionellen Industrie verschwunden ist und sich die Arbeitsplätze in den Dienstleistungssektor und in den IT-Bereich verlagert haben. Diese Entwicklung habe zu einer veränderten Zusammensetzung der Arbeiterklasse geführt und sei gemeinsam mit dem Zusammenbruch des Ostblocks die Ursache für die heutigen Schwächen der Arbeiterklasse, die sich nur zögerlich gegen die Angriffe der Bourgeoisie zur Wehr setzt.
Die IKS kritisierte diese Analyse als soziologisch und im Resultat fatalistisch. Der kapitalistische Produktionsprozess hat seit seinem Beginn die Zusammensetzung der Arbeiterklasse ständig verändert. Die Arbeiterklasse kann gegen diese Verände-rungen auch nichts ausrichten. Gerade zu Marx' Zeiten bestand das Proletariat noch zu einem großen Teil aus Hausangestell-ten, und nicht aus Industrieproletariern, ohne dass er daraus den Schluss gezogen hätte, dass die Bedingungen für die Ent-wicklung des Klassenbewusstseins deshalb erschwert wären. Wichtig ist für die Arbeiterklasse vielmehr, durch ihre Kämpfe ein günstiges Kräfteverhältnis gegenüber der Bourgeoisie zu entwickeln. Genau diese Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat unterlässt aber das IBRP, ja behauptet sogar, sie sei gar nicht möglich. Das IBRP kann und will keine Aussagen darüber machen, ob das Proletariat geschlagen oder ungeschlagen ist und die Bourgeoisie somit einen Weltkrieg auslösen kann oder eben nicht (4) [2]. Genau diese Einschätzung des historischen Kurses ist aber für Marxisten zent-ral. Erst in diesem Rahmen kann auch die Entwicklung des Klassenbewusstseins richtig eingeschätzt werden.
Die IKS leugnet nicht die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Proletariats, gerade was die Kampfbereitschaft und das Klassenbewusstsein betrifft. Grundsätzlich geht aber der historische Kurs immer noch (seit 1968) in Richtung Zunahme der Klas-senkonfrontationen, auch wenn diese Entwicklung nicht gradlinig verläuft und es 1989 einen herben Rückschlag gegeben hat. Gerade in der Zeit danach, in den 1990er Jahren bis heute, darf aber die unterirdische Reifung der Bewusstseins nicht außer acht gelassen werden, die sich im Auftauchen von Gruppen und Einzelnen ausdrückt, die internationalistische Positionen verteidigen und sich für den Linkskommunismus interessieren.
Die Delegation der IKS hat schließlich auch ein gewisses Staunen zum Ausdruck gebracht angesichts der Tatsache, dass einerseits auf der Einladung für die Diskussionsveranstaltung 'Einige Punkte zur Ausrichtung des IBRP' zusammengefasst werden, die die IKS ausnahmslos unterschreiben könnte, andererseits aber das IBRP eine gemeinsame Stellungnahme gegen den imperialistischen Krieg und den Pazifismus ablehnt mit der Begründung, unsere Positionen wären zu weit voneinander entfernt (5) [2]. Wir negieren nicht die Meinungsverschiedenheiten, die es zwischen unseren Organisationen gibt, betonen aber gerade gegenüber der Frage des imperialistischen Krieges die Gemeinsamkeiten innerhalb der Kommunistischen Linken. Es gibt ein proletarisches politisches Milieu, bestehend aus den Organisationen, die seit Jahrzehnten konsequent internationalis-tische Positionen verteidigen und sich auf das Erbe der linken Fraktionen der Komintern berufen. Diese Organisationen haben im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, Stalinisten und Trotzkisten in einem imperialistischen Krieg nie die eine oder die andere Seite unterstützt, sondern immer die Haltung Lenins und Luxemburgs vertreten: Gegen den imperialistischen Krieg! - Gegen jede nationale Bourgeoisie! - Für die proletarische Weltrevolution! Gerade in der gegenwärtigen Phase, in der der Kapitalismus in immer mehr Kriegen und Massakern versinkt, wäre es wichtig, dass sich die revolutionären Organisatio-nen gemeinsam zu Wort melden, wie sie es mitten im 1. Weltkrieg in Zimmerwald und Kienthal getan hatten.
Der Genosse von BC entgegnete, dass das IBRP die IKS schon früher als den idealistischen Flügel des revolutionären Lagers betrachtet habe. Seit den internationalen Konferenzen vor rund 25 Jahren (6) [2] hätten sich aber die Widersprüche zwischen ihrer Organisation und uns bestätigt. Das IBRP habe sich vom Begriff des proletarischen politischen Lagers verabschiedet, da es die anderen Organisationen für unfähig halte, einen Beitrag zum Aufbau der zukünftigen Partei zu bilden. Zwar stehe die IKS immer noch auf der richtigen Seite der Barrikade, habe aber mit den internen Problemen in den letzten Jahren gezeigt, dass sie einen solchen Beitrag nicht leisten könne, sondern vielmehr in einem Prozess der Fragmentierung begriffen sei. Auch der bordigistische Flügel des (ehemaligen) proletarischen Lagers mache einen solchen Prozess durch und sei heute politisch tot.
Abgesehen davon, dass wir diese Einschätzung nicht teilen, ist interessant, dass der Genosse von Battaglia Comunista über die IKS diese letzte Diagnose 'politisch tot' nicht zu stellen wagte. Zu offensichtlich ist die politische Präsenz unserer Organisation nicht nur in Deutschland, sondern auch international. Von einer Fragmentierung der IKS kann nicht im Ernst gesprochen werden. Ebenfalls wenig überzeugend sind die Argumente des IBRP zum Abschied der IKS vom proletarischen politischen Lager, denn die programmatischen Positionen der IKS haben sich seit den internationalen Konferenzen nicht verändert. Damals war es für BC und CWO noch möglich, mit uns und anderen Gruppierungen an einem Tisch zu sitzen. Der wahre Grund für das heute vertretene Sektierertum scheint ein Konkurrenzgefühl des IBRP gegenüber der IKS gerade angesichts des Auftauchens einer neuen Generation von Leuten zu sein, die sich für internationalistische Positionen interessieren. Konkurrenz ist aber die Funktionsweise der Krämer auf dem kapitalistischen Markt, die sich gegenseitig die Käufer abjagen wollen. Unter Revolutionären kann es nicht darum gehen, möglichst schnell und billig neue Mitglieder zu gewinnen, sondern die Klärung des Bewusstseins in der Ar-beiterklasse und insbesondere bei den fortgeschrittensten Elementen voranzutreiben, damit ein allfälliger Beitritt zu einer der bestehenden revolutionären Organisationen auf der Grundlage der größtmöglichen Klarheit der programmatischen Positionen stattfindet. Wir als IKS gehen nicht davon aus, dass die zukünftige Partei allein aus unserer Organisation hervorgeht und die anderen Gruppen des revolutionären Milieus verschwinden. Wir würden dies vielmehr für eine Schwäche halten und gehen umgekehrt davon aus, dass der Aufbau dieser Partei hoffentlich das Resultat eines Umgruppierungsprozesses im revolutionären Lager sein wird nach dem Vorbild von Umgruppierungen in früheren historischen Phasen, z.B. zwischen Lenins Bolschewiki und Trotzkis Zwischenbezirksorganisation im Jahre 1917 oder zwischen dem Spartakusbund und den Internationalen Kommunisten Deutschlands um die Jahreswende 1918/19 (unter dem Vorbehalt allerdings, dass die zukünftige revo-lutionäre Partei von Anfang an im Unterschied zu damals als eine internationale Partei entstehen muss).
In der Diskussion wurden - wie aufgezeigt - teilweise sehr unterschiedliche Positionen vertreten. Sie fand aber in einer Atmosphäre statt, die vom gegenseitigen Respekt und vom Bemühen um eine klare Argumentation geprägt war. Dies ist zu begrüßen, und die Haltung des Genossen von BC gegenüber der IKS-Delegation steht in angenehmem Widerspruch zur offiziell sektiererischen Haltung des IBRP gegenüber anderen Organisationen des revolutionären Milieus.
Diese Art von Debatte muss fortgesetzt werden, egal ob in Berlin, Mailand, Paris, New York oder anderen Städten. Wichtig ist dabei, dass jeder Opportunismus in programmatischen und organisatorischen Fragen (der Krämergeist) vermieden wird und die unterschiedlichen Positionen offen thematisiert und ausdiskutiert werden. Zuerst Klarheit - dann Umgruppierung.
T/C, 8.5.04
Adresse des IBRP: www.ibrp.org [3]
Fußnoten:
1) vgl. dazu die Artikel "Die Politik der IKS gegenüber dem politischen proletarischen Milieu" und "Das proletarische politische Milieu angesichts des Krieges" in Internationale Revue Nr. 32 bzw. 33< [2]
2) www.ibrp.org [3]< [2]
3) vgl. unsere Polemiken mit dieser Gruppe in der Weltrevolution, z.B. in Nr. 121< [2]
4) vgl. dazu "Die CWO und der historische Kurs: Ein Berg von Widersprüchen" in Internationale Revue Nr. 20 sowie "Das Konzept des historischen Kurses" in Internationale Revue Nr. 29 und 30< [2]
5) vgl. unsere Polemiken mit den verschiedenen Organisationen des revolutionäre Milieus, insbesondere mit dem IBRP, in Internationale Revue Nr. 24 und 25 zum Kosovokrieg sowie 32 und 33 zum Irakkrieg< [2]
6) Internationale Revue Nr. 4, Die Umgruppierung der Revolutionäre< [2]
Während durch die gegenwärtigen Enthüllungen über die systematische Folter und die Misshandlungen der Kriegsgefangenen im Irak vor allem das Ansehen der USA weiteren großen Schaden genommen hat, versuchen sich die Staaten Europas als Unschuldsengel und Friedensstifter hinzustellen.
Im gesamten Nahen und Mittleren Osten haben die angeblich so friedliebenden Staaten Europas emsig versucht, jeweils systematisch den Widerstand der Kriegsherren vor Ort gegen die USA zu fördern. Nur einige Beispiele:
Deutschland und Frankreich geben Arafat immer noch Rückendeckung gegenüber Israel. Die EU hofierte im April den libyschen Staatspräsidenten Gaddafi bei dessen Besuch in Brüssel. Die deutsche Bundesregierung empfing nicht nur den afghanischen Regierungschef Karsai, sondern auch afghanische Warlords. Der im Frühjahr vom deutschen Bundesnachrichtendienst eingefädelte Gefangenenaustausch zwischen Israel und palästinensischen Gefangenen (Hisbollah-Kämpfer eingeschlossen) belegt, welche intensiven Beziehungen Deutschland zu Terrorgruppen und den Palästinensern unterhält. Es ist auch bezeichnend, dass Mitte Mai die US-Sicherheitsberaterin C. Rice nach Berlin kommen musste, um dort den palästensischen Ministerpräsidenten zu treffen. Immer mehr steigt Deutschland zum mächtigen ‚Vermittler‘ im Nahen Osten auf. Deutschland-Frankreich und selbst Großbritannien pflegen privilegierte Beziehungen zu dem ‚Schurkenstaat‘ Iran.
Die deutsche Bundeswehr soll in Afghanistan nicht nur weiter in der Hauptstadt Kabul und in Kundus präsent sein, sondern auch darüber hinaus. Dass die Rivalen der USA keine Friedenstauben sind, zeigt die Modernisierungs- und Aufrüstungspolitik Deutschlands. So legte der Verteidigungsminister zum gleichen Zeitpunkt, als die jüngsten Haushaltslöcher bekannt wurden, seine Bestellliste allein für neuestes Fluggerät vor: Kampfflugzeug Eurofigher, der Transporthubschrauber NH90, der Kampfhubschrauber Tiger, das Tankflugzeug Airbus A 310MRTT. Die Beschaffungskosten belaufen sich auf ca. 27 Mrd. Euro!
Während sich die Rivalen der USA die Hände reiben und darüber freuen, dass das Ansehen der USA und auch GB’s durch die Veröffentlichung der Folterbilder weiter stark diskreditiert wird, sollen wir vergessen, dass auch die Staaten Europas eine lange Praxis und Unterstützung von Folter aufzuweisen haben. War es nicht der französische Innenminister, der im Algerienkrieg systematisch Folter anordnete? Dieser Innenminister wurde später Präsident und Sozialistenchef - sein Name: Mitterand. Wurde nicht in Deutschland eine neue Variante der Psychofolter vor knapp 30 Jahren eingeführt, die sog. Isolationshaft der Terroristen der RAF? Wie viele Regime, die Folter und Misshandlungen praktizierten und es immer noch tun (z.B. Argentinien, Chile, Türkei, Iran, usw.) erhielten und erhalten Zuwendungen und Hilfe durch europäische Staaten. Und war es nicht die SPD in Deutschland, die 1919 die Bluthunde der Freikorps auf die Spartakisten hetzte?
So sollte z.B. am 1. Mai das Bild vermittelt werden, mit der EU-Osterweiterung sei die alte Trennung Europas überwunden. Nunmehr wären die alten Feindesstaaten aus der Zeit des kalten Krieges im vereinten Europa zusammengerückt.
Dieser Selbstdarstellung der EU gehen viele politisierte Leute auf den Leim und glauben, die EU sei nicht nur ein Handelsblock mit gemeinsamen Außengrenzen, sondern sei mittlerweile als Handelsblock gar zum imperialistischen Rivalen der USA geworden.
Wir dürfen uns aber nicht täuschen lassen: Auch wenn die erweiterte EU jetzt mehr als 20 Staaten umfasst, die Zollschranken und andere Handelsbarrieren in diesen Staaten gefallen sind, so ist die EU kein imperialistischer Block und erst recht kein Hort von ”Friedensstiftern”.
Innerhalb der EU verfolgen alle Staaten ihre nationalen Interessen nicht weniger rücksichtslos als vorher. So haben im Frühjahr 2003 zahlreiche europäische Staaten (unter ihnen GB, Portugal, Spanien, Italien, Dänemark) den Krieg der USA gegen den Irak unterstützt. Der Grund ihrer damaligen Unterstützung des Krieges lag weniger in einer blinden Gefolgschaft gegenüber den USA als vielmehr in ihrer Ablehnung einer deutsch-französischen Vorherrschaft innerhalb der EU. Mittlerweile ist nach den Madrider Attentaten die neue sozialistische Regierung in Spanien von den USA abgerückt und hat eine Annäherung an Deutschland-Frankreich gesucht. Da aber die neue europäische Begeisterung in Madrid mehr Deutschland als Frankreich zu gelten scheint, befürwortet Paris derzeit eine französisch-britisch-spanische Zusammenarbeit, um einer drohenden Übermacht Deutschlands entgegenzutreten. Die polnische Regierung, die auch für die USA Partei ergriff und Truppen in den Irak entsandt hat, gerät durch die Umorientierung Spaniens stärker unter Druck. Da London sich mittlerweile nicht mehr auf Madrid und Warschau verlassen kann, um die neue europäische Verfassung in ihrer jetzigen Form zu behindern, sieht die Regierung Blair sich gezwungen, selbst Hand anzulegen, um diese Pläne zu sabotieren, indem ein Referendum über die europäische Verfassung abgehalten werden soll.
In der nächsten Zeit werden wir weitere Versuche vor allem seitens der deutsch-französischen Rivalen der USA sehen, die Staaten, die sich im Krieg gegen den Irak hinter die USA gestellt hatten, auf ihre Seite zu ziehen. Einer der unbestrittenen Vorteile der USA, die sie aus dem Irak-Krieg gezogen hatten, war die weitere Verlegung von US-Truppen nach Osteuropa. Vor allem nachdem mit der jüngsten EU-Osterweiterung viele der Staaten der EU beigetreten sind, in denen mittlerweile US-Truppen stationiert sind, wird der Kampf zwischen den USA und den führenden europäischen Großmächten um die Vorherrschaft und den Einfluss in diesen Ländern noch schärfere Formen annehmen. Dies gilt umso mehr für den Balkanraum, wo nach den jüngsten Pogromen im Kosovo die Gefahr eines neuen Flächenbrandes noch größer geworden ist. Die USA werden jedenfalls versuchen, in Osteuropa ihren Operationsspielraum noch zu vergrößern. Nachdem sie im Kaukasus und in zentralasiatischen Republiken nun auch in Osteuropa neue Militärbasen errichtet haben, verfügen sie über zahlreiche neue ”Basislager”, die sie gegen die Rivalen Deutschland-Frankreich auszuschlachten versuchen werden.
Aber die EU-Regierungen, die sich im Gegensatz zu den USA als große Verteidiger eines ”humanitären Vorgehens” herausputzen wollen, erweisen sich auch gegenüber der Arbeiterklasse als brutal und plündernd.
So hat die deutsche Regierung unter Rot-Grün eine Fortsetzung und Intensivierung ihrer Sparpolitik geplant, die dazu dient, die Kosten der Krisenbekämpfung und des wachsenden Militarismus auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuwälzen.
Die ganze Debatte um eine Aufgabe oder Lockerung des strikten Konsolidierungskurses, um durch zusätzliche Verschuldung mehr Mittel für Bildung und Forschung – salbungsvoll Sicherung unserer Zukunft genannt - locker zu machen, ist nichts als Sand in die Augen.
In Wirklichkeit kann die herrschende Klasse die Krise nicht lösen.
Die Folgen des Versuchs des Kapitals, auf Zeit zu spielen und durch eine Verschuldungspolitik die schlimmsten Auswirkungen der Krise aufzufangen, werden immer dramatischer. Die Verschuldung (ob privat oder staatlich) steigt unaufhörlich an, immer neue Haushaltslöcher werden ”entdeckt”. Seit den letzten 20 Jahren hat sich der Schuldenstand von ca. 200 Mrd. Euro staatlicher Schulden 1980 auf über 1.4 Billionen Euro erhöht, pro Sekunde steigen damit die Schulden um 2186 Euro. Außerdem kommt eine Auslandsverschuldung von ca. 460 Mrd. Euro sowie ca. 250 Mrd. Inlandsverschuldung bei Banken usw. hinzu. Die damit verbundene Zinslast – allein 2004 sind im Bundeshaushalt fast 49 Mrd. Euro Zinszahlungen vorgesehen – saugen der Wirtschaft Mittel für Investitionen ab. Zudem müssen 80 Mrd. Euro für die Rentenkasse, ca. 30 Mrd. Euro für die Nürnberger Agentur für Arbeit aufgebracht werden.
Jede weitere Kürzung der Kaufkraft durch Sparmaßnahmen – so sehr sie den Kapitalisten durch den Konkurrenzkampf aufgezwungen werden - lässt die Masseneinkommen noch mehr sinken. Die Folge: die Unternehmer bleiben auf ihren unverkauften Waren sitzen; es werden noch mehr Firmen schließen, noch mehr Beschäftigte in Arbeitslosigkeit entlassen, noch mehr Arbeitslose die Sozialkassen ‚belasten‘.
Und jeder weiterer, durch staatliche Verschuldung finanzierte Ankurbelungsversuch der Wirtschaft wird den Schuldenberg nur noch erhöhen. Deshalb wird die weitere Neuverschuldung nicht nur die Maastrichter Beschlüsse im dritten Jahr in Folge über Bord werfen, sondern die Probleme nur noch verschlimmern.
Welche Maßnahmen auch immer die Kapitalistenklasse ergreift, sie können damit die Kosten der Arbeitslosigkeit, die Unterhaltungskosten für das Millionenheer Sozialhilfeempfänger und Rentner nicht aus der Welt schaffen. Jede Kaufkraftreduzierung schlägt wie ein Bumerang auf das Beschäftigungsniveau zurück. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Deshalb wird die Arbeiterklasse von noch härteren Angriffen seitens des Kapitals konfrontiert werden.
Während die herrschende Klasse die Kosten der Krise immer brutaler auf die Arbeiterklasse abwälzen muss, wird die Arbeiterklasse früher oder später gezwungen sein, sich gegen diese massiven Angriffe zur Wehr zu setzen.
Auch hier bleibt die herrschende Klasse nicht tatenlos, denn die Demonstrationen, die der DGB am 3. April in Deutschland mit mehr als einer halben Million Teilnehmer abhielt, zeigt, dass die Gewerkschaften Dampf ablassen und jetzt Präsenz zeigen wollen, um zu verhindern, dass sich später Arbeiter selbständig organisieren. Insofern spüren wir eine kleine, aber wichtige Änderung im Vergleich zum November, als bei der großen Demonstration in Berlin gegen den Sozialabbau die Gewerkschaften nicht als Organisatoren auftraten und in den Betrieben kaum die Trommel für diese Demo rührten. Mittlerweile tun die Gewerkschaften so, als ob sie mehr Flagge zeigen würden, da die Unzufriedenheit in den Betrieben wächst. Während die Gewerkschaften somit früh in den Startlöchern stehen, konnte man auf den Demonstrationen auch deutlich erkennen, dass die große Masse der Teilnehmer sich noch leicht vor den Karren der Gewerkschaften spannen ließ. Nur eine noch sehr winzige Minderheit zeigt ihre Unzufriedenheit mit der gewerkschaftlichen Stillhaltepolitik. Das ist auch der Grund, weshalb die hier und da bereits vorhandene Wut der Arbeiter gegenüber den Kapitalisten sondern auch gegenüber den Gewerkschaften, Betriebsräten usw. sich derzeit nur sehr lokal begrenzt und sporadisch äußern kann, wie das Beispiel Ford-Köln veranschaulicht. Auch schafften es die Gewerkschaften, durch das Abhalten von separaten Demonstrationen des VdK die Rentner von den noch Beschäftigten oder Arbeitslosen zu trennen.
Aber die materielle Situation verschlechtert sich immer mehr, ob für Beschäftigte oder Nicht-Beschäftigte. Dies zwingt die Arbeiter zum Nachdenken und Handeln.
So ist es heute den Arbeitern nicht mehr möglich, ernsthaft über einen Widerstand gegen die Angriffe zu reden, wenn nicht das wirkliche Ausmaß zur Sprache kommt. Deshalb wird es immer zwingender, über die wirkliche Ausweglosigkeit der kapitalistischen Gesellschaft und über die Gründe für das immer tiefere Versinken in der Barbarei zu reden. Diese Diskussionen bergen das Potenzial einer Debatte über die Perspektiven der Überwindung dieser Gesellschaft und der Möglichkeit des Kommunismus (siehe dazu Artikel in Weltrevolution Nr. 124, S. 8).
Für die bewusstesten und kämpferischsten Teile der Arbeiterklasse muss dies heißen, die Widersprüche des Systems aufdecken, durch eine geduldige, ausdauernde Arbeit, für Klarheit eintreten und aufzeigen, dass es nur eine Lösung durch die Überwindung des Kapitalismus gibt. 18.05.04
Das Kalkül der Unternehmer scheint aufzugehen. Millionen Lohnabhängiger werden mit der Nachricht in den Urlaub geschickt, dass beim größten Industrieunternehmen Europas, im Mercedes-Stammwerk Stuttgart-Sindelfingen, demnächst bis fast eine halbe Milliarde Euro Produktionskosten zu Lasten der Beschäftigten “eingespart” werden soll. Wir sollen alle wissen, dass selbst dort, wo Unternehmen noch Gewinne erwirtschaften, die Beschäftigten durch die Drohung mit Produktionsauslagerungen und mit massivem Arbeitsplatzabbau im höchsten Grade erpressbar geworden sind. Wir sollen uns während der Ferienzeit damit abfinden, dass demnächst immer längere Arbeitszeiten für immer weniger Geld auf uns zukommen werden. Genau zu dem Zeitpunkt, wenn die Belegschaften in der großen Sommerpause auseinandergehen, und in der Vereinzelung das Gefühl der Ohnmacht besonders stark empfinden können, soll uns eingehämmert werden: Ein Dammbruch auf Kosten der Arbeiter und Angestellten ist erzielt worden, welche nicht allein die Daimler-Chrysler Belegschaft, sondern alle Lohnsklaven trifft.
In der Tat: Nachdem bereits, wenige Wochen zuvor, die Belegschaften der Siemenswerke in Bocholt und Kamp-Lintfort dazu erpresst wurden, die Wiedereinführung der 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich hinzunehmen; nachdem Bayern den Anfang gemacht hatte, um auch im öffentlichen Dienst die Arbeitszeiten ohne Ausgleich auszudehnen, wird von den Unternehmern je nach Lage die 40, die 42, ja sogar die 50 Stundenwoche lauthals von uns eingefordert. Bei Karstadt etwa heißt es: Entweder werden 42 Stunden ohne Lohnausgleich gearbeitet, oder 4000 Stellen werden gestrichen. In der Baubranche, bei MAN oder Bosch – von überall her werden nun ähnliche Forderungen laut.
Die Erfahrungen der vergangenen Wochen bestätigen somit, was immer mehr Lohnabhängige ohnehin zu ahnen begonnen haben: Dass die vielgelobte “Marktwirtschaft” (mit oder ohne das Prädikat “sozial”) nichts außer Verarmung, Unsicherheit und endloser Plackerei für uns bereit hält.
Doch neben dieser bitteren, aber notwendigen Erkenntnis gibt es andere Lehren aus den Auseinandersetzungen der letzten Wochen zu ziehen und anzueignen. Die Herrschenden wollen, dass wir aus dem Arbeitskampf bei Daimler-Chrysler die Schlussfolgerung ziehen, es lohne sich nicht sich zu wehren; die Logik des Standortes des kapitalistischen Wettbewerbs werde sich so oder so durchsetzen, man solle sich lieber gleich damit abfinden; die Ausbeuter und die Ausgebeuteten säßen letztendlich doch im selben Boot, wenn es darum gehe, “die Arbeitsplätze in Deutschland zu halten”.
Doch vom Standpunkt der arbeitenden Bevölkerung gibt es ganz andere Erkenntnisse aus dieser Auseinandersetzung zu gewinnen. Über 60.000 Daimler-Chrysler Beschäftigte in ganz Deutschland haben sich an den Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen der letzten Tage beteiligt. Arbeiter von Siemens, Porsche, Bosch und Alcatel haben sich an Demonstrationen in Sindelfingen beteiligt. Dieser Kampf hat gezeigt, dass die Arbeiter und Angestellten wieder begonnen haben, sich zur Wehr zu setzen. Wenn man sich vergegenwärtigt, welches Leid und welche Misere in den kommenden Jahren auf die Arbeiterschaft weltweit zukommen wird, wird man erkennen, dass das Wichtigste jetzt nicht die Tatsache ist, dass die Kapitalisten sich wieder mal durchgesetzt haben. Das Wichtigste ist, dass diesmal die Angriffe nicht widerspruchslos hingenommen wurden.
Das Allerwichtigste ist aber dies: als Daimler-Chrysler der Belegschaft in Sindelfingen, Untertürkheim und Mannheim damit drohte, die Produktion der neuen C-Klasse ab 2007 nach Bremen zu verlagern und die Wagen der neuen C-Klasse nicht mehr im Raum Stuttgart bauen zu lassen, wollte man damit die Arbeiter der verschiedenen Standorten bewusst gegeneinander ausspielen. Die Tatsache, dass die Beschäftigten in Bremen sich an den Protestaktionen gegen Lohnverzicht, Arbeitszeitverlängerung und Pausenstreichungen in Baden-Württemberg beteiligt haben, machte den Unternehmern einen Strich durch die Rechnung. Dies machte zumindest ansatzweise deutlich, dass unsere Antwort auf die Krise des Kapitalismus, nur in der Arbeitersolidarität liegen kann. Diese Solidarität ist die Kraft, welche unseren Abwehrkampf möglich und auch sinnvoll macht.
Die herrschende Klasse will uns den Eindruck vermitteln, als ob der Kampf bei Mercedes ein ohnmächtiger Schlag ins Wasser war, der sie völlig unbeeindruckt gelassen hat. Wenn man aber die Ereignisse der vergangenen Tage näher untersucht, wird man feststellen, dass alles darauf hinweist, dass die Machthaber durchaus besorgt sind angesichts der beginnenden Abwehr der Arbeiterklasse. Sie fürchten vor allem, dass die Besitzlosen erkennen werden, dass die Solidarität nicht nur die wirksamste Waffe ihrer eigenen Selbstverteidigung darstellt, sondern darüber hinaus das Grundprinzip einer alternativen, höheren Gesellschaftsordnung in sich trägt.
Es war alles andere als Zufall, dass der Rückkehr zur 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich bei Siemens im Ruhrgebiet unmittelbar die massive, öffentliche Herausforderung der Beschäftigten von Daimler-Chrysler folgte. Der Fall Siemens war als Lehrbeispiel dafür gedacht, dass die Arbeiter überall dort, wo es darum geht, Werksschließungen abzuwenden, sich nicht nur mit immer unzumutbareren und schlechter bezahlten, sondern auch noch mit immer längeren Arbeitszeiten abfinden müssen. Bei Mercedes in Stuttgart hingegen kann derzeit von Werksschließungen keine Rede sein. Die dortigen Standorte gelten – noch – als höchst leistungsfähig und gewinnbringend. Bei Mercedes gilt es, ein zweites Exempel zu statuieren. Hier lautet die Botschaft: die grenzenlose Ausdehnung der Ausbeutung gilt nicht nur dort, wo das Unternehmen oder das Werk mit dem Rücken zur Wand steht. Es hat überall zu gelten. Dafür hat man extra Daimler ausgesucht, wohl wissend, dass es sich dabei um das Flaggschiff der deutschen Industrie, um die größte Konzentration der Industriearbeiterschaft in Deutschland, mitten in Baden-Württemberg mit seinen vielen Hunderttausenden von Metallarbeitern handelt. So sollte die Botschaft der Kapitalisten klar und deutlich rüber kommen: Wenn selbst eine so starke und bekanntermaßen kampferprobte Belegschaft diese Angriffe nicht abwehren kann, müssen die übrigen Lohnabhängigen sich erst recht damit abfinden.
Die Unternehmer schließen sich nicht umsonst in ihren sogenannten Arbeitgeberverbänden zusammen. Sie tun es, um ihr Vorgehen gegen die Arbeiterklasse zu koordinieren. Darüber hinaus sind diese Zusammenschlüsse der Unternehmer mit dem gesamten Staatsapparat verschmolzen. Das bedeutet, dass die Vorgehensweise der Unternehmer in eine Gesamtstrategie eingebettet ist, welche von den Regierungen in Bund und Ländern – und somit auch von der Sozialdemokratie – geleitet wird. Dabei entsteht zwischen Regierung und Industrie eine Art Arbeitsteilung. Während in der ersten Hälfte der Legislaturperiode der Bundesregierung die meisten “Reformen” beschlossen und direkt vom Staat auf den Weg gebracht werden (dazu gehörten in den letzten beiden Jahren die unerhörtesten Angriffe auf die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung: die “Gesundheitsreform”, die “Hartz”-Gesetzgebung gegen die Erwerbslosen, die “Lockerung” des Kündigungsschutzes), so überlässt die SPD jetzt in der Zeit vor der Bundestagswahl hingegen den Unternehmern bei den Angriffen gerne den Vortritt in der Hoffnung, dass sich die Leute weiterhin mit dem Staat identifizieren, wählen gehen, und ihr Vertrauen in die Sozialdemokratie nicht ganz aufkündigen.
Man darf sich also nicht in die Irre führen lassen, wenn die SPD jetzt erklärt, ihre Sympathien lägen bei den Arbeitern von Daimler-Chrysler. In Wirklichkeit stehen die jetzigen Angriffe in den Unternehmen in direktem Zusammenhang mit den “Reformen” der Bundesregierung. Es war sogar wahrscheinlich kein Zufall, dass die publikumswirksame Verschickung der “Hartz-4”-Fragebögen an die Arbeitslosen zeitgleich mit der Durchsetzung der Angriffe bei Daimler-Chrysler geschah. Das Absenken des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau sowie die verschärfte Überwachung und das Aushorchen der Erwerbslosen dient eben nicht nur dazu, die kapitalistische Staatskasse auf Kosten der Ärmsten der Gesellschaft zu entlasten. Es dient eben so sehr der größeren Wirksamkeit sämtlicher Erpressungsmittel gegen die noch Beschäftigten. Sie sollen wissen: wenn sie nicht lautlos nachgeben, werden sie selbst in eine bodenlose Verarmung abstürzen.
Dass die Angriffe des Kapitals dennoch nicht unwidersprochen hingenommen werden, beweisen nicht nur die Proteste bei Daimler, sondern auch die Art und Weise, wie die Herrschenden darauf reagierten. Schnell wurde das Bestreben der Politiker, der Gewerkschaften und Betriebsräte, aber auch der Konzernleitung erkennbar, den Arbeitskampf bei Daimler möglichst rasch zu beenden. Die Strategie der Kapitalseite war ursprünglich darauf angelegt, die Standorte Stuttgart und Bremen gegeneinander auszuspielen. Zwar rechnete man mit dem Widerstand der selbstbewussten und unmittelbar betroffenen Belegschaften im Südwesten. Offensichtlich war man aber vom Elan überrascht, mit dem vor allem die Arbeiter am Standort Bremen sich beteiligt haben. Das längst tot gesagte Gespenst der Arbeitersolidarität drohte zurückzukehren. Angesichts dessen wurden die Vertreter des kapitalistischen “jeder gegen jeden” sichtlich nervös.
So haben Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien – einschließlich Westerwelles FDP, der selbsternannten Partei der Spitzenverdiener – den Vorstand von Daimler-Chrysler dazu gedrängt, seinerseits einen “Gehaltsverzicht” anzubieten. Eine solche Maßnahme ist natürlich nichts als Augenwischerei. Da der Vorstand sein Gehalt selber festlegt, hat er es jederzeit in der Hand, einen solchen “Verzicht” wieder auszugleichen. Außerdem haben die Arbeiter, die für die Erziehung ihrer Kinder oder für das Abbezahlen der eigenen Wohnung nicht mehr aufkommen können, herzlich wenig davon, wenn ein Jürgen Schrempp eventuell eine Million mehr oder weniger einheimst.
Interessanter ist es, der Frage nachzugehen, weshalb die politische Klasse diese Geste der Vorstandsmitglieder jetzt einfordert. Sie fordert sie ein, um die Ideologie der Sozialpartnerschaft zu stützen, welche durch das Austragen eines erbitterten Arbeitskampfes Kratzer abzubekommen drohte.
Deshalb hagelte es auch Kritik von Seiten der Politik am arroganten Auftreten des Daimler-Vorstands. Es zeigt sich hier die problematische Seite der jetzigen Situation, wo die Unternehmer als Angreifer das Zepter übernehmen und der Staat sich im Hintergrund als neutrale Instanz zu gebärden versucht. Einem Manager wie Schrempp oder Hubbert fehlt es am Fingerspitzengefühl eines erfahrenen Sozialdemokraten, wenn es darum geht, einerseits den Arbeitern demonstrativ eine Niederlage zuzufügen, andererseits aber die Arbeiterschaft nicht zu stark zu provozieren. Vor allem fürchten die Herrschenden, die Arbeiter könnten sich zu viele Gedanken machen über ihren Kampf sowie über die Perspektiven ihres Lebens im Kapitalismus. In diesem Zusammenhang ist die Kritik von Bundeskanzler Schröder bedeutsam: “Ich rate dazu, diese Dinge in den Betrieben zu regeln und möglichst wenig darüber zu reden.” (von uns unterstrichen).
Denn seitdem 1989 der Stalinismus – eine besonders leistungsschwache, starre, rückständige, staatlich überreglementierte Form des Kapitalismus – zusammenbrach, wird unaufhörlich behauptet, es gebe keine Perspektive des Sozialismus, keinen Klassenkampf und auch keine Arbeiterklasse mehr. Doch nichts ist geeigneter als die Entwicklung größerer Arbeiterkämpfe, um der Welt unter Beweis zu stellen, dass weder die Arbeiterklasse noch der Klassenkampf der Vergangenheit angehören.
Es geht nicht darum, die Kämpfe bei Daimler zu überschätzen. Diese Kämpfe reichten vorne und hinten nicht aus, um den kapitalistischen “Dammbruch” zu verhindern. Zum einen, weil die Auseinandersetzung im wesentlichen auf die Daimler-Beschäftigten beschränkt blieb. Alle Erfahrungen der Geschichte beweisen, nur eine Ausweitung der Kämpfe auf andere Teile der Arbeiterklasse ist in der Lage, selbst vorübergehend, die Herrschenden zum Nachgeben zu zwingen. Zum Anderen, weil diese Kämpfe zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise die gewerkschaftliche Kontrolle in Frage gestellt oder auch nur angezweifelt haben. Die IG Metall und der Betriebsrat vor Ort haben es wieder einmal meisterlich verstanden, genau das in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, was die Lage der Mercedes-Beschäftigten von der der anderen Lohnabhängigen unterscheidet: Die Profitabilität des “eigenen” Konzerns, die besonders starke Auslastung des “eigenen” Betriebs, die viel besungene Leistungsfähigkeit der baden-württembergischen Metaller. Somit wurde einer weitergehenden, aktiven Solidarität mit dem Rest der Arbeiterklasse ein Riegel vorgeschoben. Die Medien wiederum griffen dasselbe Thema dankbar vom anderen Ende her auf, indem sie Neid gegenüber den Daimler-Arbeitern schürten, die als besonders privilegiert dargestellt wurden. So fiel z.B. auf, dass die Medien täglich aus Sindelfingen berichteten (wo die Zebrastreifen aus Carrara-Marmor selten unerwähnt blieben), während die Lage in Bremen (wo das Element der Solidarität am Stärksten zum Vorschein gekommen war) ausgeblendet wurde.
Noch bevor die Konzernleitung mit der Forderung nach “Einsparungen” von einer halben Milliarde Euro an die Öffentlichkeit getreten war, hatte der Gesamtbetriebsrat von Daimler bereits ein eigenes Streichpaket mit einem Volumen von 180 Mio. Euro vorgeschlagen. Und nachdem der Vorstand der Augenwischerei der Eigenbeteiligung der Konzernspitze an den Streichungen zugestimmt hatte, präsentierten IG Metall und Betriebsrat ihre Zustimmung zu einem “Gesamtpaket”, welches den Wünschen des Konzerns im vollen Umfang entsprach, als einen Sieg der Arbeiter, welcher angeblich eine “Arbeitsplatzgarantie” eingebracht habe.
Nicht aus Bösartigkeit spalten die Gewerkschaften die Arbeiter und verteidigen die Interessen des “Standorts” auf Kosten der Beschäftigten, sondern weil sie selbst längst ein Teil des Kapitalismus und seiner Logik geworden sind. Dies bedeutet aber, dass die Arbeitersolidarität, die Ausdehnung des Kampfes nur durch die Arbeiter selbst erreicht werden kann. Dies verlangt wiederum souveräne Massenversammlungen und eine Kampfweise, die sich auf eine Ausweitung des Widerstandes durch das direkte Zusammenkommen verschiedener Teile der Beschäftigten und Erwerbslosen stützt. Dies kann nur unabhängig von und gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzt werden.
Von einer solchen, autonom geführten, auf aktive Solidarität ausgerichteten Kampfweise sind wir noch weit entfernt. Dennoch finden wir heute den Keim solcher künftiger Kämpfe bereits angelegt. So waren sich die Daimler-Beschäftigten durchaus bewusst, dass sie nicht nur für sich, sondern für die Interessen aller Beschäftigten gestritten haben. Unbestreitbar ist auch, dass ihr Kampf – aller Hetze über die angeblichen Privilegien der Sindelfinger zum Trotz – unter der arbeitenden Bevölkerung auf eine solche Sympathie gestoßen ist, welche in Deutschland seit Krupp Rheinhausen nicht mehr erlebt wurde.
Damals haben die “Kruppianer” zumindest ansatzweise die Frage der aktiven Ausdehnung des Kampfes auf andere Sektoren aufgeworfen sowie die Notwendigkeit der Infragestellung der gewerkschaftlichen Kontrolle über die Arbeiterkämpfe angedacht. Dass diese Fragen heute noch gar nicht gestellt werden, zeigt, wie sehr die Arbeiterklasse, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit in den letzten 15 Jahren an Boden verloren hat. Andererseits aber stellten Kämpfe wie bei Krupp oder die der englischen Bergarbeiter den Abschluss einer Serie von Arbeiterkämpfen dar, welche sich von 1968 bis 1989 erstreckten, um dann von einer langen Phase des Rückzugs abgelöst zu werden. Die gegenwärtigen Kämpfe hingegen – ob die im öffentlichen Dienst Frankreichs und Österreichs im vorigen Jahr oder jetzt bei Daimler – sind lediglich der Auftakt zur einer neuen Serie bedeutender sozialer Kämpfe. Diese Kämpfe werden sich viel langsamer und schwieriger entwickeln als in der Vergangenheit. Denn heute ist die Krise des Kapitalismus viel fortgeschrittener, die allgemeine Barbarei des Systems viel offensichtlicher, das drohende Unheil der Arbeitslosigkeit viel allgegenwärtiger geworden. Doch viel mehr als damals bei Krupp-Rheinhausen hängt heute die große Sympathie der lohnabhängigen Bevölkerung mit den kämpfenden Arbeitern mit der langsam aufdämmernden Erkenntnis über den Ernst der Lage zusammen. Die Herrschenden – auch ihre Gewerkschaften – sind emsig bestrebt, die jetzt durchgesetzten Arbeitszeitverlängerungen als vorübergehende Maßnahmen hinzustellen, um die Arbeitsplätze so lange zu erhalten, bis der jeweils eigene Standort “wieder konkurrenzfähig wird.” Doch die Arbeiter beginnen zu erahnen, dass es sich um mehr und um Grundsätzlicheres handelt. In der Tat! Es handelt sich heute darum, dass die Errungenschaften nicht nur von Jahrzehnten, sondern von zwei Jahrhunderten des Arbeiterkampfes über den Haufen geworfen werden sollen. Es geht darum, dass der Arbeitstag wie im Frühkapitalismus immer mehr ausgedehnt werden soll – wobei die Arbeitsbedingungen immer noch die des modernen Kapitalismus mit seiner höllischen Arbeitsintensität bleiben werden. Es geht darum, dass immer mehr die menschliche Arbeitskraft als Quelle des Reichtums der Gesellschaft geschunden und letztendlich zu Grunde gerichtet wird. Dies aber nicht wie im Frühkapitalismus als Ausdruck der Geburtswehen eines neuen Systems, sondern als Ausdruck eines heute maroden, den Fortschritt der Menschheit behindernden Kapitalismus. Langfristig geht das heutige, oft unbeholfene Herantasten an den Arbeiterkampf, an das Wiederbeleben der Solidarität einher mit einem tieferen Nachdenken. Dies kann und muss aber münden in die Infragestellung des barbarischen Systems, in die Perspektive eines höheren, sozialistischen Gesellschaftssystems. 22.07.04
Im ersten Teil des Artikels haben wir aufgezeigt, dass der Kommunismus nicht nur ein uralter Traum der Menschheit und schon gar nicht das Ergebnis des bloßen Willens der Menschen ist, sondern die einzige Gesellschaftsform, die die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft überwinden kann und deren materielle Grundlagen gerade durch diesen Kapitalismus gelegt wurden. Der Eintritt des Kapitalismus in den tödlichen Kreislauf von Krise - Krieg - Wiederaufbau, der mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zu Tage trat, beweist nicht nur, dass der Kommunismus eine materielle Möglichkeit geworden ist, sondern auch eine Notwendigkeit im Sinne des Fortschritts, aber auch des nackten Überlebens der Menschheit.
In diesem zweiten Teil werden wir die Auffassungen derer untersuchen, die zwar dazu bereit sind, die materielle Möglichkeit des Kommunismus zu akzeptieren, sich aber dann hinter dem Argument verstecken, die Natur des Menschen sei nicht für den Kommunismus gemacht, der Mensch zeichne sich in Folge seiner Veranlagung durch eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, Trieben, Bedürfnissen aus, die es ihm unmöglich machten, solch eine Gesellschaft aufzubauen.
Bevor wir diese Argumente näher untersuchen, müssen wir uns zunächst mit dieser berühmten “menschlichen Natur” befassen.
Diese “menschliche Natur” entspricht ein wenig dem “Stein der Weisen”, den die Alchimisten Jahrhunderte lang gesucht haben. Bislang haben alle Untersuchungen über die “gesellschaftlichen Invarianzen” (wie die Soziologen so gerne sagen), d.h. über jene Eigenschaften des menschlichen Verhaltens, die in allen Gesellschaftstypen die gleichen sind, vor allem bewiesen, wie stark die Psychologie und die menschlichen Verhaltensweisen sich unterscheiden und wie stark sie von dem gesellschaftlichen Rahmen abhängig sind, in dem sich die untersuchten Menschen entwickelt haben. Wenn man eine grundlegende Eigenschaft dieser berühmten “menschlichen Natur” nennen müsste, dann wäre es in Wirklichkeit die gewaltige Bedeutung des “Erworbenen”, “Erlernten” im Verhältnis zum “Angeborenen”, die entscheidende Rolle der Erziehung und damit der gesellschaftlichen Umwelt, in die jeder hineingeboren wird.
“Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister von der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.” (Marx, Das Kapital, Band 1).
Bienen haben die Fähigkeit, perfekte Waben zu bauen, weil sie genetisch dazu vorprogrammiert sind, genauso wie die Brieftauben, die aus einer Entfernung von 1000 km mit schlafwandlerischer Sicherheit zum heimatlichen Taubenschlag zurückfinden. Dagegen wird die Form des Gebäudes unseres Architekten weniger durch irgendeine genetische Erbmasse bestimmt als vielmehr durch eine Reihe von Elementen, die ihm die Gesellschaft übermittelt. Ob es die Art von Gebäude ist, für dessen Entwurf er beauftragt wurde, oder die verwendeten Werkzeuge und das eingesetzte Material, die Produktionstechniken der daran beteiligten Berufe, die wissenschaftlichen Kenntnisse, auf die er sich stützen kann, die handwerklichen Regeln, die ihn dabei leiten - immer ist es die gesellschaftliche Umwelt, die dies bestimmt.
Der Anteil des “Angeborenen”, der ihm dabei von seinen Eltern übertragen wird, ist mehr als gering. Im Gegenteil, erst musste der Architekt sich alles von der Gesellschaft aneignen, bevor er die Fähigkeit erwarb, ein Gebäude zu entwerfen und für dessen Verwirklichung zu sorgen. Der Anteil der Gesellschaft ist somit Ausschlag gebend.
Was für die Arbeitsprodukte zutrifft, gilt auch für das Verhalten. So wird der Diebstahl als ein Verbrechen betrachtet, d.h. als eine Funktionsstörung der Gesellschaft, die - falls sie die Regel wäre - für Letztere in einer Katastrophe enden würde. Ein Dieb, oder noch schlimmer, jemand, der Menschen mit dem Ziel bedroht oder tötet, sie zu bestehlen, ist ein Krimineller, einer, der einhellig als boshafter, schädlicher Mensch eingestuft wird, und der daran gehindert werden muss, seine Verbrechen auszuüben (es sei denn, er praktiziert sie innerhalb des Rahmens der bestehenden Gesetze; in diesem Falle würde er für die Fähigkeit, Profite auszupressen, als “genial” gerühmt). Aber würde es “Diebe”, “Entführer” oder “gemeine Schwerverbrecher”, Gesetze, Richter, Polizisten, Gefängnisse, Kriminalromane usw. geben, wenn es nichts zu stehlen gäbe, weil dank der Entwicklung der Produktivkräfte alle materiellen Güter jedem Menschen im Überfluss zur Verfügung stehen und jeder frei darüber entscheiden kann? Natürlich nicht! Man könnte eine ganze Reihe anderer Beispiele aufführen, um zu zeigen, wie stark das Verhalten, die Einstellungen, die Gefühle, die Beziehungen zwischen den Menschen durch die gesellschaftliche Umwelt bestimmt werden.
Kleingeister werden einwenden, dass bestimmte asoziale Verhaltensweisen darauf zurückzuführen sind, dass es im tiefsten Innern der “menschlichen Natur” einen Teil gesellschaftsfeindlichen Verhaltens, der Aggressivität gegen Mitmenschen, gar eine potenzielle Kriminalität gebe. Ihnen zufolge stehlen die Menschen oft nicht aus materieller Not, gebe es Verbrechen als Selbstzweck und bewiesen die Verbrechen der Nazis, dass im Menschen ein Hang zum Bösen existiere, der zum Ausdruck komme, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Aber was steckt wirklich hinter solchen Aussagen? Sie zeigen nur, dass es keine “menschliche Natur” gibt, die als solche “gut” oder “böse” ist, sondern nur eine Gattung Mensch, deren verschiedene Potenziale sich den Bedingungen entsprechend entfalten, in denen der Mensch lebt. Die Statistiken sind in dieser Hinsicht aufschlussreich: Verhält es sich nicht so, dass in Krisenzeiten Kriminalität und alle gefährlichen Verhaltensweisen zunehmen? Ist nicht das Aufkommen von asozialen Verhaltensweisen bei verschiedenen Individuen eher der Ausdruck der Unfähigkeit der Gesellschaft, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen?
Dieselben Kleingeister stützen ihre Ablehnung des Kommunismus auf folgendes Argument: ‚Ihr sprecht von einer Gesellschaft, die die menschlichen Bedürfnisse wirklich befriedigen würde, doch sind nicht gerade das Eigentum, die Macht über den Anderen grundlegende menschliche Bedürfnisse, die der Kommunismus, der so etwas gerade verhindern will, nicht befriedigen kann? Der Kommunismus ist unmöglich, weil der Mensch egoistisch ist.‘
In ihrer “Einführung in die Nationalökonomie” beschreibt Rosa Luxemburg das Entsetzen der englischen Bourgeoisie, als diese bei der Eroberung Indiens Völker entdeckte, die das Privateigentum nicht kannten. Sie tröstete sich damit zu sagen, dass es sich um “Wilde” handelte; doch wurde sie, die von klein auf gelernt hatte, dass das Privateigentum “natürlich” sei, in Verlegenheit gestürzt, als sie feststellte, dass gerade die Wilden demnach eine “künstliche” Lebensart besaßen. In der Tat war das “Bedürfnis” der Menschen nach Privateigentum so groß, dass sie Hunderttausende von Jahren ohne dieses ausgekommen sind. Und oft war es nur mit Hilfe von Massakern möglich, den Menschen - wie Rosa Luxemburg es im Falle Indiens beschreibt - das Privateigentum als “natürliches Bedürfnis” einzuhämmern. Das Gleiche trifft übrigens auch für den Handel zu, der angeblich die “einzige und natürliche” Form des Warenverkehrs ist und dessen Unkenntnis unter den Einheimischen die Kolonialherren in Rage versetzte; er ist untrennbar mit dem Privateigentum verbunden, tauchte mit ihm auf und wird auch mit ihm wieder verschwinden.
Eine andere Idee ist ebenfalls weit verbreitet: Wenn es nicht den Profit als Anreiz für die Produktion und deren Weiterentwicklung gäbe, wenn der Lohn für einen Arbeiter nicht der gerechte Ausgleich für die erbrachten Leistungen wäre, würde niemand mehr arbeiten und produzieren. In der Tat würde niemand mehr auf kapitalistische Weise produzieren, d.h. in einem System, das auf Profit und Lohnarbeit beruht, in dem die geringste Erfindung “rentabel” sein muss, wo die Arbeit aufgrund ihrer Dauer, ihrer Intensität, ihrer unmenschlichen Form zu einem Fluch für die Mehrheit der Proletarier geworden ist. Braucht dagegen der Forscher, der durch seine Forschungen an dem Fortschritt der Technik mitwirkt, einen “materiellen Anreiz”, um zu arbeiten? Im Allgemeinen wird er weniger gut bezahlt als ein leitender Angestellter, ein Manager, der zum Fortschritt keinen Deut beiträgt. Ist die Handarbeit möglicherweise unangenehm? Wie soll man den Begriff der “Liebe zur Arbeit” oder die Begeisterung für das Basteln und für viele andere Arten manueller Tätigkeiten verstehen, die oft sehr kostspielig sind? Im Wirklichkeit wird die Arbeit, wenn sie nicht entfremdet, absurd, erschöpfend ist, wenn ihre Produkte keine dem Arbeiter gegenüber feindlichen Kräfte sind, sondern Mittel, um die wirklichen Bedürfnisse der menschlichen Gemeinschaft zu befriedigen, zum ersten menschlichen Bedürfnis, zu einer der Hauptformen der Entfaltung der menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Im Kommunismus werden die Menschen mit Vergnügen produzieren.
Von der Tatsache, dass es heute Chefs und Vorgesetzte gibt, wird abgeleitet, dass die Menschen nicht ohne Autoritäten leben können.
Wir wollen hier nicht noch einmal aufgreifen, was der Marxismus schon seit langem zur Rolle der politischen Institutionen, zum Wesen der Staatsmacht gesagt hat und das darin zusammengefasst werden kann, dass die Existenz einer politischen Autorität, der Macht von Menschen über Menschen das Ergebnis der Existenz von Gegensätzen und Zusammenstößen zwischen Gruppen von Individuen in der Gesellschaft (den gesellschaftlichen Klassen) ist, die entgegengesetzte Interessen haben.
Eine Gesellschaft, in der die Menschen in Konkurrenz zueinander treten, in denen ihre Interessen zusammenstoßen, wo die produktive Arbeit ein Fluch ist, permanente Zwänge bestehen und die elementarsten Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen mit Füßen getreten werden - eine solche Gesellschaft “braucht” Chefs (genauso wie sie die Polizei und Religion benötigt). Doch vorausgesetzt, diese Gesellschaft wird eines Tages mit all ihren Perversionen abgeschafft, dann stellt sich die Frage, ob die Chefs und die Macht immer noch notwendig sind. ‚Ja‘, meint dazu erneut der Kleingeist, ‚der Mensch ist so veranlagt, dass er andere beherrschen muss oder selbst beherrscht werden will. In jeder Gesellschaft wird die Herrschaft einiger weniger fortbestehen‘. Es stimmt, dass der Sklave, der immer Ketten getragen hat, das Gefühl hat, nicht ohne sie auszukommen, um sich fortzubewegen, doch ein freier Mensch wird nie dieses Gefühl verspüren.
Das Bedürfnis der Menschen, Macht über andere auszuüben, ist lediglich das Pendant dessen, was man “Sklavenmentalität” nennt. Das Beispiel der Armee, wo der dumme und gehorsame Feldwebel nichts lieber tut, als selbst zu kommandieren, ist in dieser Hinsicht erhellend. Im Wirklichkeit verhält es sich nämlich so, dass Menschen, die Macht über andere ausüben möchten, tatsächlich wenig Macht über ihr eigenes Leben besitzen, ganz zu schweigen von der Macht über die Gesellschaft. Das Machtbedürfnis eines jeden Einzelnen spiegelt seine eigene reale Machtlosigkeit wider. In einer Gesellschaft, in der die Menschen keine machtlosen Sklaven sind, in der sie nicht von den Gesetzen der Natur abhängen, und auch nicht von denen der Wirtschaft, in der sie also “Herrscher ohne Sklaven” sind, werden sie diesen Ersatz für ihre eigene Machtlosigkeit, die Beherrschung anderer, nicht mehr brauchen.
Angeblich ist das “Jeder für sich” eine typische Eigenschaft des Menschen. In der Tat ist dies typisch für den Bourgeois, den “Selfmademan”. Es ist nur ein ideologischer Ausdruck der ökonomischen Wirklichkeit des Kapitalismus und hat überhaupt nichts mit dem “Wesen des Menschen” zu tun. Andernfalls müsste man behaupten, dass die “Natur des Menschen” sich seit dem primitiven Kommunismus, ja, selbst seit dem Feudalismus mit seinen dörflichen Gemeinschaften radikal gewandelt hat.
Tatsächlich trat der Individualismus massiv in Erscheinung, als die kleinen unabhängigen Grundbesitzer auf dem Lande auftauchten (Abschaffung der Leibeigenschaft) und sich in der Stadt weiterentwickelten. Als Großgrundbesitzer, die es vor allem geschafft haben, durch die Ruinierung ihrer Nachbarn zum Erfolg zu kommen, unterstützte die Bourgeoisie fanatisch diese Ideologie und stellte sie als “natürlich” dar. So behauptete sie ohne Skrupel, die von Darwin erarbeitete Evolutionstheorie sei eine Rechtfertigung “für den Kampf ums Überleben”, den Kampf eines “Jeden gegen Jeden”.
Doch mit dem Erscheinen des Proletariats, der assoziierten Klasse par excellence, wurde die bis dahin unangetastete Herrschaft des Individualismus in ihren Grundfesten erschüttert. Denn für die Arbeiterklasse ist die Solidarität an erster Stelle ein Mittel, um die Verteidigung ihrer materiellen Interessen sicherzustellen. Man kann also bereits hier dem Argument von der “egoistischen Natur” des Menschen entgegenhalten: Wenn der Mensch egoistisch ist, dann ist er auch intelligent genug zu wissen, dass sein einfacher Wunsch, seine Interessen wirksam zu verteidigen, ihn zur Verbrüderung und zur Solidarität mit seinen Schicksalsgenossen zwingt, sobald die gesellschaftlichen Umstände es zulassen.
Solidarität und Selbstlosigkeit sind grundlegende Bedürfnisse. Genauso wie der Mensch die Solidarität anderer braucht, so spürt er auch das Verlangen, selbst Solidarität gegenüber Mitmenschen zu praktizieren. Dies sieht man auch in unserer Gesellschaft sehr häufig, wenn auch in entstellter Form. Manch einer mag nun behaupten, die Selbstlosigkeit sei immer noch eine Form des Egoismus, denn derjenige, der sie praktiziert, täte dies an erster Stelle zu seinem eigenen Wohl. Das mag stimmen! Doch in diesem Fall handelt es sich nur eine andere Version der von den Kommunisten vertretenen Idee, dass es keinen grundlegenden Gegensatz zwischen dem individuellen und kollektiven Interesse gibt, im Gegenteil! In den Ausbeutungsgesellschaften, d.h. in den Gesellschaften, in denen es Privateigentum gibt, kommt dagegen der Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft zum Vorschein, und das ist nur allzu logisch. Denn wie könnte es eine Harmonie zwischen denen geben, die unterdrückt werden, und denen, die von dieser Unterdrückung leben und sie aufrechterhalten. In solchen Gesellschaften kann die Selbstlosigkeit nur in Form von Mildtätigkeiten, Almosen oder von Opfern zum Ausdruck kommen, d.h. in der Form der Verneinung seiner selbst oder anderer und nicht als Bestätigung, als gegenseitige Befruchtung.
Im Gegensatz zu den Behauptungen der Bourgeoisie ist der Kommunismus also nicht die Verneinung der Individualität. Es ist der Kapitalismus, der, indem er den Proletarier zu einem Anhängsel der Maschinen macht, eine wirkliche Negation des Menschen betreibt und sie in Gestalt einer verfaulten Gesellschaft, des Staatskapitalismus, auf die Spitze treibt. Erst in einer kommunistischen Gesellschaft, in der es keinen Staat – jenem Feind jeglicher Freiheit – mehr gibt, wird das “Reich der Freiheit” für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft gelten. Wenn der Mensch seine verschiedenen Fähigkeiten gesellschaftlich verwirklichen kann und der Antagonismus zwischen individuellen und kollektiven Interessen verschwunden ist, wird sich ein neues und gewaltiges Feld für die Entfaltung eines jeden Individuums eröffnen.
Der Kommunismus ist die typische Gesellschaft der Vielfalt, weil er es möglich macht, die Arbeitsteilung zu zerschlagen, die jedes Individuum in eine Rolle zwingt, die ihm ein ganzes Leben lang anhaftet, weil er diese trübselige, generalisierte Uniformität der kapitalistischen Gesellschaft überwindet. Jeder neue Fortschritt in der Wissenschaft oder der Technik wird im Kommunismus nicht mehr die Spezialisierung weiter vorantreiben, sondern das Feld für die verschiedensten Aktivitäten eröffnen, auf dem sich jeder Mensch entfalten kann. Wie Marx und Engels in der “Deutschen Ideologie” schrieben:
“Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden” (MEW Bd. 3, Deutsche Ideologie, S.33).
Ja, auch wenn das den Bourgeois, den Skeptikern und den Kleingeistern nicht gefällt, der Kommunismus wird für die Menschen gemacht, der Mensch ist für den Kommunismus geschaffen.
Nun bleibt noch ein letztes Argument übrig, das untersucht werden muss: ‚Gut, der Kommunismus mag notwendig und materiell möglich sein, und er mag durchaus erstrebenswert für den Menschen sein, allein das Ausmaß der Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft ist derart fortgeschritten, dass der Mensch nie die Kraft haben wird, solch eine gewaltige Umwälzung wie die kommunistische Revolution vorzunehmen.‘
Auf dieses Argument werden wir in einem weiteren Artikel antworten.
(aus Révolution Internationale, Nr. 62, 6/1979, Zeitung der IKS in Frankreich).
Diskussionsveranstaltung des Aufbaus zu den Gewerkschaften Den Bock zum Gärtner machen?
Ende Juni 2004 führte der Revolutionäre Aufbau in Zürich eine Veranstaltung zum Thema Gewerkschaften durch. Die Einladung zu diesem Treffen versprach eine Diskussion über interessante Fragen: “Immer häufiger rufen Gewerkschaften in der Schweiz zum Streik auf (...). Sind die Gewerkschaften nun revolutionär? Oder sind sie nur ein regulierendes Rad im kapitalistischen System? Welche Interessen verfolgen die Gewerkschaften? Welche Abhängigkeiten bestehen? (...) Was können wir uns von der Gewerkschaftsbewegung erhoffen und was nicht?”
Ende Juni 2004 führte der Revolutionäre Aufbau in Zürich eine Veranstaltung zum Thema Gewerkschaften durch. Die Einladung zu diesem Treffen versprach eine Diskussion über interessante Fragen: “Immer häufiger rufen Gewerkschaften in der Schweiz zum Streik auf (...). Sind die Gewerkschaften nun revolutionär? Oder sind sie nur ein regulierendes Rad im kapitalistischen System? Welche Interessen verfolgen die Gewerkschaften? Welche Abhängigkeiten bestehen? (...) Was können wir uns von der Gewerkschaftsbewegung erhoffen und was nicht?”
Wenn man diese Fragen beantworten will, muss man grundsätzlich über den Charakter der Gewerkschaften diskutieren. Dies ist für die Arbeiterklasse gerade in der heutigen Zeit von zentraler Bedeutung, da die kampfbereiten Arbeiter, ob sie wollen oder nicht, auf die Gewerkschaften stossen und die Illusionen über deren Charakter weit verbreitet sind. Die Entwicklung des Klassenkampfs hängt aber entscheidend von der Überwindung dieser Illusionen ab. Da die IKS davon ausging, dass diese Veranstaltung Leute anzieht, die an einer wirklichen Klärung der Fragen um die Gewerkschaften interessiert sind, beteiligte sie sich mit einer Delegation an der Diskussion.
Ein Funktionär der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), der im Namen des Aufbaus sprach, hielt ein kurzes Einleitungsreferat. Darin kam zwar zum Ausdruck, dass er ein kritisches Verhältnis zur Praxis der verschiedenen Gewerkschaften in der Schweiz hat. Aber die Einführung beschränkte sich auf die Darstellung einzelner gewerkschaftlicher Aktionen (namentlich der Maler und Gipser im Frühjahr 2004), des Arbeitsfriedens und der Funktionsweise des Gewerkschaftsapparates. Dabei erwähnte der Referent auch, dass die Gewerkschaften keine revolutionären Kämpfe führen, sondern Lösungen innerhalb des kapitalistischen Systems suchen würden. Wie man dies aus den Publikationen des Aufbaus gewöhnt ist, beschränkte sich auch hier die Stellungnahme dieser Gruppe zur Gewerkschaftsfrage auf eine Beschreibung gewisser Fakten; es gab keine Analyse über die materiellen und geschichtlichen Bedingungen der Gewerkschaften, geschweige denn über ihre Klassennatur.
Auch die Diskussion, die auf die Einführung folgte, verlief zunächst in diesen Bahnen: Lamento über die herrschenden Zustände und die nicht gerade kämpferischen Gewerkschaften, Lamento über die Gewerkschaftsbürokratie, alles auf dem Hintergrund und anhand der Beispiele der Streiks und anderer Aktionen der letzten 12 Monate (1).
Die Delegation der IKS stellte dann die Grundsatzfrage: Sind die Gewerkschaften überhaupt Organe der Arbeiterklasse, oder sind sie nicht vielmehr Organe des bürgerlichen Staates? Ist es Zufall, dass die Gewerkschaften systemerhaltend wirken, oder gehört dies zu ihrem Wesen? Interessanterweise widersprach niemand (nicht einmal der GBI-Funktionär) der IKS-Delegation, als sie behauptete, dass die Gewerkschaften, die ursprünglich im 19. Jahrhundert als Organe der Arbeiterklasse zur Erkämpfung von Reformen entstanden waren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts unwiderruflich in den bürgerlichen Staatsapparat integriert wurden. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine niedergehende Phase, d.h. spätestens mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, wurde der Kampf um Reformen illusorisch; die Arbeiterklasse konnte von nun an ihre Lebensbedingungen dauerhaft nur noch mit der proletarischen Weltrevolution verbessern. Die materielle Unmöglichkeit, Reformen zu erkämpfen, die nicht gleich wieder rückgängig gemacht werden, verwandelte die Gewerkschaften, die diese Reformfunktion hatten, notwendigerweise in Instrumente des Staatskapitalismus, der Bewahrung der herrschenden Ordnung, der Kanalisierung des Arbeiterwiderstands in Sackgassen. Die Gewerkschaften sind somit seit rund 100 Jahren zur Polizei in den Reihen der Arbeiterklasse geworden. Es ist also kein Zufall, wenn der Gewerkschaftsapparat heute als Teil der staatlichen Strukturen (z.B. im Parlament oder bei den paritätischen Kommissionen) erscheint. Dieser Schein entspricht der tatsächlichen Klassennatur der Gewerkschaften, und zwar nicht bloss der Gewerkschaftsbürokratie, sondern der Gewerkschaften insgesamt (2).
Es ist deshalb zwingend, dass die Gewerkschaften heutzutage nicht mehr die Interessen der Arbeiterklasse vertreten, sondern vielmehr ihr Todfeind sind. Die Revolution wird nicht in und mit den Gewerkschaften erkämpft, sondern ausserhalb und gegen sie. Wer die proletarische Revolution auf seine Fahnen geschrieben hat, muss deshalb die Arbeiter und Arbeiterinnen vor den Gewerkschaften warnen, und nicht kritisch von innen oder aussen diese Organe zu “verbessern” versuchen. Je “besser” sie sind, desto wirksamer für den kapitalistischen Staat.
Obwohl der IKS nicht grundsätzlich widersprochen wurde, meinten doch die meisten Teilnehmer, insbesondere auch einige junge Arbeiter und Lehrlinge, die sich in der “Gruppe Rote Autonome” (GRA) zusammengeschlossen haben, es gebe in der heutigen Realität keine Alternative zu den Gewerkschaften. In ihnen seien wenigstens die Arbeiter zu finden, und zwar gerade die kämpferischen unter ihnen.
Es trifft zwar zu, dass die Gewerkschaftsmitglieder Arbeiter sind. Richtig ist auch, dass die meisten Arbeiter, die heutzutage kämpfen wollen, zuerst auf die Gewerkschaften stossen und vielleicht nach einem ersten Kontakt mit ihnen sogar Mitglied werden wollen, wenn sie es nicht schon sind. Dies passierte im letzten Jahr beispielsweise nach dem Streik bei Orange in Lausanne, wo meist junge, nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen den Kampf führten und einige dann der Gewerkschaft beitraten. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Gewerkschaften als unausweichliches Schicksal akzeptieren und alle Erfahrungen und Enttäuschungen der Arbeiter in den vergangenen 100 Jahren selber noch einmal erleben müssen. Gerade in den Kämpfen nach 1968, die sich jeweils in Wellen auf zahlreiche Länder und Kontinente ausweiteten, zeigte sich, dass die Gewerkschaften die Kämpfe nicht antreiben und befruchten, sondern sie vielmehr bremsen und verzetteln. Immer wenn die Arbeiter selbstbestimmt für ihre Ziele kämpften, stiessen sie sofort auf den Widerstand der Gewerkschaften, die den Kampf offen oder versteckt sabotierten. Es ist gerade heute wichtig, sich an die Beispiele aus der Zeit zwischen 1968 und 1989 zu erinnern, wo die Arbeiter nicht nur diese Erfahrung machten, sondern sich je länger je mehr auch bewusst gegen die gewerkschaftliche Kontrolle zu wehren begannen. Die kämpferischsten Arbeiter in Rheinhausen im Ruhrgebiet, bei den Eisenbahnen in Frankreich und den Krankenhäusern in Italien fand man in den Streiks 1985-88 nicht bei den Gewerkschaften, sondern in den Vollversammlungen der Arbeiter, die die Streiks selber in die Hände nahmen, und wo gegen den Widerstand der Gewerkschaften entschieden wurde, Delegationen zu anderen Betrieben unabhängig von der Branche zu schicken und den Kampf unter der eigenen Kontrolle auszuweiten.
Das Prinzip der Selbstorganisation ist bei der Entwicklung des Klassenkampfes zentral. Wenn die Arbeiter den Kampf aufnehmen, dürfen sie die Initiative und die Kontrolle nie aus den Händen geben, insbesondere nicht den Gewerkschaften überlassen. Die Vollversammlungen entscheiden über die Forderungen sowie über Fortsetzung, Ausdehnung, und Abbruch des Streiks. Die Verhandlungen mit den Unternehmern und dem Staat können nicht an die Gewerkschaften delegiert werden, vielmehr müssen die von der Vollversammlung zu den Verhandlungen Delegierten ständig Rechenschaft über den Stand der Gespräche ablegen, bleiben jederzeit abwählbar und dürfen keine Beschlüsse hinter verschlossenen Türen, ohne Rücksprache mit den Versammlungen fassen. Die Stärke der kämpfenden Arbeiter ist ihre Einheit, nicht das Verhandlungsgeschick einzelner. Die Arbeiter der Lenin-Werft in Danzig haben es 1980 vorgemacht: Als die Regierung mit einer Delegation der Streikenden hinter geschlossener Tür verhandeln wollte, stellten die Arbeiter Mikrofone auf, so dass die ganze Versammlung die Gespräche über Lautsprecher mitverfolgen konnte.
Die Arbeiter sind also in den vergangenen Kämpfen nicht nur auf die Sabotagearbeit der Gewerkschaften gestossen, sondern haben auch die Mittel gefunden, mit denen sie den Kampf selber führen konnten: Vollversammlungen, Streikkomitees, Ausweitung des Kampfes mittels Delegationen, jederzeitige Abwählbarkeit der Verhandlungsdelegationen. In einer revolutionären Situation wie 1917-20 organisierte sich die kämpfende Arbeiterklasse in Räten, die eine Weiterentwicklung derselben Mittel im grossen Massstab und im Hinblick auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft sind.
Die Prinzipien der Selbstorganisierung, der Einheit der Arbeiterklasse, der gemeinsamen Interessen über alle beruflichen und nationalen Grenzen hinweg können und sollen die Revolutionäre überall, wo Arbeiter zusammenkommen und diskutieren, verteidigen: am Arbeitsplatz, auf Demonstrationen, in Streiks. Es gibt keinen Grund, deshalb einer Gewerkschaft beizutreten. Unabhängig und ausserhalb der Gewerkschaft zu kämpfen, heisst nicht, abseits zu stehen, sondern nach Kräften dort zu intervenieren, wo gekämpft wird oder Arbeiter sich treffen, um Fragen des Klassenkampfes zu klären.
Ein Mitglied der GRA erzählte in der Diskussion, dass sie versucht hätten, einen Streik am Arbeitsplatz zu organisieren. Es habe aber nicht funktioniert. Sie hätten nicht gewusst, wie es anzustellen sei.
Auch noch so kampfbereite Arbeiter müssen sich bewusst sein: Einen Streik kann man nicht einfach organisieren; vielmehr muss die entsprechende Unzufriedenheit bei den Arbeitern reifen. Dieser Prozess ist im wesentlichen spontan. Den Kommunisten kommt dabei die Aufgabe zu, die Entwicklung vorauszusehen und die Ziele zu propagieren, nicht aber, künstlich einen Streik anzuzetteln. Die Delegation der IKS verwies in der Diskussion über diesen Punkt auf Rosa Luxemburg, die 1906 aufgrund der Erfahrung der Kämpfe des Vorjahres in Russland in ihrer Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften geschrieben hatte: “Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, dass der Massenstreik nicht künstlich ‚gemacht’, nicht ins Blaue hinein ‚beschlossen’, nicht ‚propagiert’ wird, sondern dass er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.” Dies heisst aber nicht, dass die Revolutionäre einfach warten und zuschauen müssten. Vielmehr unterstrich Rosa Luxemburg die besondere Rolle der klassenbewussten Vorhut des Proletariats: “Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der ‚revolutionären Situation’ warten, darauf warten, dass jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muss, wie immer, der Entwicklung vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen. Dies vermag sie aber nicht dadurch, dass sie zur rechten und unrechten Zeit ins Blaue hinein plötzlich die ‚Losung’ zu einem Massenstreik ausgibt, sondern vor allem dadurch, dass sie den breitesten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht.” (3)
Die Revolutionäre sollen also nicht das betreiben, was Lenin “Nachtrabpolitik” nannte, d.h. der Masse hinterher traben, sondern der Bewegung vorauseilen, ihre Ziele propagieren und Prinzipien verteidigen.
Aus diesem Grund nahm die IKS-Delegation auch die Berichterstattung des Revolutionären Aufbaus über die verschiedenen Streiks in der Schweiz aufs Korn. In den Publikationen des Aufbaus erschöpfen sich die Artikel zur gesellschaftlichen Lage in einer Aufzählung von gewerkschaftlichen Aktionen in den einzelnen Betrieben und Branchen: Tamedia, Allpack, Zyliss, Isotech, Maler und Gipser etc. Diese Berichte sind eine Glorifizierung der Gewerkschaften. Ausser der “reaktionären christlichen Gewerkschaft” Syna wird keine kritisiert, geschweige denn, dass das Gewerkschaftswesen als solches in Frage gestellt würde. Verdient eigentlich der Aufbau das Attribut revolutionär? P/J, 12.07.04
1) Vgl. dazu den Artikel “Wie Niederlagen der Arbeiter als Siege verkauft werden” in Weltrevolution Nr. 124
2) Vgl. dazu unsere Broschüre “Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse”
3) Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften in Gesammelte Werke Bd. 3, S. 100 u. 146
Im Juli fand in Köln eine Diskussionsveranstaltung der IKS zur ‘neuen Weltunordnung’ statt. Wir veröffentlichen nachfolgend das Einleitungsreferat der IKS.
Das Thema unserer heutigen Veranstaltung ist das zunehmende Chaos in der Welt. Die Idee des zunehmenden Chaos als solche dürfte kaum kontrovers sein. Die Medien sind voller Nachrichten darüber: Terroranschläge, Geiselnahmen, Instabilität ganzer Regionen wie im Nahen Osten oder in Afrika. Unsere These lautet aber, dass die Zunahme des Chaos gegenwärtig die Haupttendenz in der modernen Gesellschaft ist; dass dieses Chaos heute eine neue Qualität erreicht; dass diese zunehmende Anarchie Ausdruck der Auflösung der niedergehenden kapitalistischen Gesellschaft ist. Es handelt sich aus unserer Sicht um eine wachsende Barbarei, welche die Gefahr in sich birgt, den Untergang der gesamten Menschheit herbeizuführen, falls es nicht rechtzeitig gelingt, eine neue, höhere, sozialistische Gesellschaftsordnung einzuführen.
Auch wenn Jeder mit eigenen Augen diese Anarchie beobachten kann, ist die IKS sich dessen bewusst, dass unsere These ‚eine neue Qualität des Chaos heute als Haupttendenz der Gesellschaft‘ durchaus keine gängige Meinung darstellt und als solche heute kontrovers diskutiert werden sollte.
Die Meinungsmacher der westlichen Demokratien geben natürlich zu, dass die Lage im Irak und in einigen anderen Teilen der Welt äußerst instabil ist, wie sie auch zugeben, dass eine Zunahme und Ausbreitung des internationalen Terrorismus auf der Tagesordnung steht. Aber im Unterschied zur Auffassung der IKS stellt die bürgerliche Staatsräson dieses Chaos lediglich als ein geographisch beschränktes Phänomen dar. Genauso sieht sie den Terrorismus ausschließlich als Ausdruck einer bestimmten Kultur in der heutigen Gesellschaft an, nämlich die des Islams. Also sei das Chaos nicht die Haupttendenz der heutigen Gesellschaft.
Die sich ausbreitende Anarchie wird vielmehr als Fremdkörper betrachtet, welche die an und für sich stabile Welt der westlichen Demokratien bedroht.
Gerne weist man darauf hin, dass die westlichen Staatschefs allen Gegensätzen zum Trotz vereint sind gegen die Instabilität und von dem gemeinsamen Willen beseelt sind, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. So weist man beispielsweise auf die große Zustimmung zur jüngsten UN-Resolution zur Einsetzung des neuen irakischen Regimes hin, welche sowohl von den Kriegsbefürwortern im Falle Iraks (USA, Großbritannien, Italien) als auch von den sog. Kriegsgegnern (Deutschland, Frankreich, Russland) mitgetragen wurde, um eine weitere Destabilisierung des Zweistromlandes zu verhindern. Oder aber: Man weist, wie der amerikanischen Präsident Bush es jüngst getan hat, darauf hin, dass beispielsweise ein Land wie Deutschland sich zwar militärisch nicht im Irak engagiert, dafür aber zur Entlastung der USA in Afghanistan beiträgt.
Wir hingegen wollen in unserer Einleitung aufzeigen, dass hinter dem zunehmenden Chaos, z.B. im Irak, oder den verschiedenen Terroranschlägen nicht allein lokale oder periphere Tendenzen am Werk sind, sondern die Haupttendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Wir wollen aufzeigen, dass die Alternative, vor der die Menschheit steht, die zwischen Sozialismus und Barbarei, wie es die Kommunistische Internationale 1919 bereits formuliert hat, noch nie so gültig war wie heute.
Wir wollen unsere These anhand von zwei aktuellen Beispielen konkretisieren: der Bürgerkrieg im und um den Irak und die Terroranschläge in Madrid
Im Frühjahr 2003 wurden die Armeen Saddam Husseins binnen weniger Wochen auf eindrucksvolle Weise durch die amerikanisch-britischen Invasionskräfte hinweggefegt. Heute aber, knapp ein Jahr später, hat sich dieser triumphale Siegeszug in sein Gegenteil verkehrt. Die amerikanische Führungsmacht sitzt im Irak heute sozusagen in der Falle. Spätestens seitdem zu Ostern dieses Jahres gleichzeitig in mehreren irakischen Städten Aufstände gegen die Besatzungsmächte ausbrachen, wurde offensichtlich, dass es den USA nicht gelingt, die Ordnung im Irak wiederherzustellen. Außerdem wird Washington so sehr durch die irakischen Wirren gebunden, dass es zur Zeit gar nicht mehr imstande ist, glaubwürdig andere Staaten, wie z.B. Iran, Syrien oder Nordkorea wirkungsvoll zu bedrohen und einzuschüchtern.
Das heißt, die Schwäche der USA im Irak hat weltweite Auswirkungen. Die USA sitzen insofern in der Klemme, als sie sich andererseits zur Zeit gar nicht aus dem Irak zurückziehen können. Denn ein solcher Rückzug würde nicht nur den zentrifugalen Kräften im Irak freien Lauf lassen, sondern darüber hinaus zu einem kaum wieder gut zu machenden Verlust an Glaubwürdigkeit der USA führen. Deshalb möchte der Herausforderer Bushs bei den Präsidentschaftswahlen, John Kerry, die amerikanischen Truppen ausdrücklich nicht aus dem Irak zurückziehen, sondern im Gegenteil ihre Anzahl verdoppeln.
Man sieht also, egal welche Politik die USA einschlagen, die Folgen werden verheerend und weltweit zu spüren sein.
Was die Lage im Irak betritt, haben wir bis jetzt lediglich Tatsachen wiedergegeben, die Jedem bekannt sein dürften. Die wirkliche Frage aber, die man beantworten muss, lautet:
Weshalb hat die amerikanische Okkupation des Iraks nicht zu einer Stabilisierung, sondern Destabilisierung geführt?
Darüber hinaus muss man hinterfragen, ob dieses Ergebnis der Stabilisierung ein lokales Ereignis darstellt oder das Produkt einer historischen Grundtendenz ist.
Wir wollen also die Ursachen des irakischen Chaos kurz unter die Lupe nehmen. Wir machen dabei eine erste Feststellung: Das erste Ergebnis des Irakkrieges von 2003 war der Zusammenbruch der Zentralmacht im Lande. Seitdem gibt es keine wirksame Zentralmacht im Irak mehr, sondern das Land löst sich auf in einer Reihe gegeneinander konkurrierenden ethnischen, religiösen und politischen Gruppierungen, die, wenn überhaupt, nur in ihrer Gegnerschaft zur USA eine Gemeinsamkeit finden. Diese Auflösung der Zentralgewalt liefert auch eine erste Haupterklärung dafür, weshalb Washington die Lage vor Ort nicht in Griff bekommen kann. Zugleich öffnet diese Zersplitterung die Einflussnahme der Nachbarstaaten Iraks Tür und Tor. So ist bekannt, dass die schiitischen Aufständischen im Süden des Landes vom Iran ermuntert werden; dass die baathistische Guerilla im sog. sunnitischen Dreieck vom syrischen Geheimdienst tatkräftig unterstützt werden, oder dass die wahabitischen Kämpfer vom Schlage der al-Qaida von Saudiarabien aus aktiv werden, ohne dass die USA all diese Einmischungen unterbinden können.
Wir haben es hiermit mit einer Grundtendenz des heutigen Kapitalismus zu tun, welche sich nicht allein durch lokale Bedingungen erklären lässt. Es handelt sich um das Phänomen der „failed states“, sprich: scheiternde, auseinanderbrechende Staatsgebilde. Dieses Phänomen hat bereits Ende der 80er Anfang der 90er Jahre beim Zusammenbruch der Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam eine zentrale Rolle gespielt. Damals führte die Schwächung der UdSSR zur Auflösung des Ostblocks, was wiederum zum Auseinanderbrechen der UdSSR selbst führte. Kurz darauf löste der Zerfall Jugoslawiens eine Reihe von Kriegen auf dem Balkan aus – die ersten Kriege in Europa seit 1945. Man sieht also: Das Phänomen der „failed states“ beschränkt sich keineswegs auf Länder wie Libanon in den 80er Jahren oder Afghanistan, Irak und Zaire heute, sondern stand im Mittelpunkt der welthistorischen Ereignisse, welche um 1989 herum die Phase des Zerfalls des Weltkapitalismus eingeleitet hat. Und dieses Phänomen äußerte sich auch in Europa, wie die Beispiele der UdSSR, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei zeigten. Das heißt: Dieses Problem, vor dem die USA im Irak stehen, ist eine globale Grundtendenz. Das Paradoxe dabei ist, dass dieses Auseinanderbrechen des Iraks absolut vorhersehbar war. Dies war auch der Grund, weshalb Bush sen. im 1. Irakkrieg seinen Marsch auf Bagdad stoppte und Saddam wohlweislich an der Macht ließ. Wenn die USA vor einem Jahr dennoch Saddams Sturz herbeiführten und damit das Risiko auf sich nahmen, das Land ins Chaos zu stürzen, dann weil die imperialistischen Spannungen zwischen den Großmächten selbst mächtig zugenommen haben. Der 1. Irakkrieg unter Bush sen. hatte als Hauptziel die Eindämmung der Tendenz des „Jeder für sich“ der imperialistischen Staaten, nachdem die imperialistischen Blöcke sich aufgelöst hatten.
Da dieser Versuch der gewaltsamen Unterordnung der anderen führenden Industriestaaten unter die Knute der USA scheiterte, mussten die USA eins draufsetzen, indem sie Saddam, der Verbündete Deutschlands, Frankreichs und Russlands, vom Sockel stürzten, um damit der Welt zu demonstrieren, was den Staaten blüht, die sich den USA widersetzen.
Natürlich ist dieses Phänomen der „failed states“ auch ein Produkt der Wirtschaftskrise - nach dem Motto: Wenn die Beute nicht mehr für alle reicht, dann fallen die Räuber gegenseitig über sich her. Doch nicht die alteingesessenen kapitalistischen Staaten, wie die USA oder Deutschland brechen auseinander, sondern die Staaten, die ohnehin jahrzehntelang durch nackte Gewalt zusammengehalten wurden. Gerade sie werden durch die zunehmende politische Instabilität in der Welt aus der Bahn geworfen.
Diese Attentate haben den Ausgang der Parlamentswahlen in Spanien entscheidend beeinflusst, indem sich der zuvor sicher erscheinende Sieg des pro-amerikanischen Aznar plötzlich in einen Sieg für den pro-europäischen Sozialisten Zapatero verwandelt hatte. Diese Anschläge haben somit nicht nur etliche Menschleben gekostet, sie haben auch das momentane Kräfteverhältnis innerhalb der EU durcheinander gewirbelt. Und obwohl die Sozialistische Partei in Spanien, obwohl die Achse der sog. Kriegsgegner in Europa die Hauptprofiteure der Anschläge waren, gibt es keine überzeugenden Hinweise darauf, dass diese Anschläge von eben diesen Nutznießern initiiert oder zugelassen wurden. Zum einen ist es sehr zweifelhaft, ob die europäischen Staaten heute logistisch und vor allem politisch in der Lage sind, solche Anschläge durchzuführen, welche die Interessen Washingtons unmittelbar angreifen, ohne dass die USA zuvor davon Wind bekommen. Zum anderen war der überraschende Wahlausgang mit seinem ebenso überraschenden Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak nicht allein das Ergebnis der Anschläge, sondern auch das Resultat der besonders plumpen und ungeschickten Vorgehensweise der Regierung Aznar in dieser Situation – etwas, was vorher nicht unbedingt absehbar war.
Das heisst: Die Nutznießer dieser Anschläge können sich nicht wirklich über ihren Erfolg freuen, insofern als diese Erfolge mehr oder weniger ein Zufallsprodukt waren. Denn dies bedeutet, dass das imperialistische Kräfteverhältnis in Europa heute oder morgen genauso leicht in eine andere Richtung, z.B. zugunsten der USA, umgeworfen werden könnte auf Grund erneuter, kaum absehbarer Ereignisse. Somit zeigt Madrid auf, wie sehr die Instabilität in der Welt bis in die Zentren des Weltkapitalismus vorgedrungen ist. Zwar werden die Großmächte weiterhin die Waffe des Terrorismus auch im interimperialistischen Kampf einsetzen, wie die USA dies am 11. September getan haben, indem sie diese Anschläge bewusst zugelassen haben, um ihre imperialistische Offensive in Afghanistan und Irak zu rechtfertigen. Doch die Anschläge von Madrid, wie anscheinend auch der im letzten Augenblick abgewendete Bombenanschlag in Amman, Jordanien, der mindestens 80.000 Opfer gekostet hätte, unterstreichen, dass auch das Phänomen des Terrorismus zunehmend außer Kontrolle gerät. Es wird immer mehr zu einem unkontrollierbaren Phänomen der Agonie eines zerfallenden Gesellschaftssystems.
Dieser Terrorismus ist nicht zuletzt das Ergebnis der Perspektivlosigkeit und Verzweiflung von immer mehr Menschen in der heutigen Welt, welche keinen Grund zum Leben sehen, und nur noch von Hass und der Sehnsucht erfüllt sind, zu sterben und möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen. Insofern versinnbildlicht das Phänomen der Selbstmordattentate die Sackgasse, in die der Kapitalismus die Menschheit geführt hat. Die Anzeichen mehren sich, dass sich heute eine Art internationaler Bürgerkrieg ausbreitet, an dem sich nicht nur die imperialistischen Staaten, sondern auch warlords aus den auseinanderbrechenden Staaten dieser Welt, aus Afghanistan, Irak, Libanon, Palästina usw., beteiligen, in dem zunehmend alle Mittel erlaubt sind. Besonders beängstigend erscheint auch die Tatsache, dass der Feind unsichtbar ist und willkürlich Jeden treffen könnte.
Das irrationale Phänomen der warlords ist an und für sich nicht neu. Es entwickelte sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in China. Damals war dieses blutige Auseinanderbrechen der herrschenden Klasse das Ergebnis der Pattsituation zwischen der aufsteigenden Bourgeoisie, welche nicht stark genug war, ihre revolutionären Ziele durchzusetzen, und einem Feudaladel, welcher der Gesellschaft keine Perspektive mehr bot, aber genügend Beharrungsvermögen besaß, um sich nicht aus dem Wege räumen zu lassen.
Heute ist der gesellschaftliche Zerrfall kein lokales Phänomen mehr, sondern global. Es ist das Ergebnis der historischen Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft: zwischen einer Bourgeoisie, deren Weg zum Weltkrieg durch die Arbeiterklasse versperrt ist, und einer Arbeiterklasse, die seit 1968 zwar ungeschlagen bleibt, aber bisher nicht in der Lage war, eine eigene revolutionäre Perspektive zu entwickeln. Dies bedeutet, dass die Entwicklung einer solchen revolutionären Perspektive der einzige Ausweg aus der Barbarei der heutigen Gesellschaft darstellt. In diesem Sinne möchten wir unser Referat mit folgendem Zitat Rosa Luxemburgs beenden: „Die geschichtliche Dialektik bewegt sich eben in Widersprüchen und setzt auf jede Notwendigkeit auch ihr Gegenteil in die Welt. Die bürgerliche Klassenherrschaft ist zweifellos eine historische Notwendigkeit, aber auch der Aufruhr der Arbeiterklasse gegen sie; das Kapital ist eine historische Notwendigkeit, aber auch sein Totengräber, der sozialistische Proletarier; die Weltherrschaft des Imperialismus ist eine historische Notwendigkeit, aber auch ihr Sturz durch die proletarische Internationale. Auf Schritt und Tritt gibt es zwei historische Notwendigkeiten, die zueinander in Widerstritt geraten, und die unsrige, die Notwendigkeit des Sozialismus, hat einen längeren Atem. Unsere Notwendigkeit tritt in ihr volles Recht, mit dem Moment, wo jene andere, die bürgerliche Klassenherrschaft, aufhört, Trägerin des geschichtlichen Fortschritts zu sein, wo sie zum Hemmschuh, zur Gefahr für die weitere Entwicklung der Gesellschaft wird.“ (aus: Krise der Sozialdemokratie)
Heutzutage werden sämtliche Angriffe gegen die Arbeiterklasse in Deutschland ohne Ausnahme – insbesondere die “Agenda 2010” der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung - damit gerechtfertigt, dass es notwendig sei, den “Reformstau” in der Bundesrepublik “aufzulösen”, damit der Standort wieder wettbewerbsfähig werde. Deutschland sei der neue “kranke Mann Europas” geworden. So gäbe es kein anderes Mittel als das Wiedererlangen der Konkurrenzfähigkeit, um die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Die Botschaft ist klar: Nicht der Kapitalismus als Wirtschaftsweise, als Gesellschaftssystem ist schuld an der chronischen Stagnation und am wachsenden Elend im führenden Industriestaat Europas, sondern das Fehlen einer zufriedenstellend kapitalistischen, sprich wettbewerbsorientierten Einstellung “der Deutschen” – und in erster Linie der deutschen Arbeiterschaft – zum Wirtschaftsleben. Zu hohe Arbeitskosten, zu großzügige Sozialleistungen, zu kurze Arbeitszeiten, zu viele Urlaubs- und Feiertage seien somit Schuld an den nicht abreißenden Meldungen von Werksschließungen und Massenentlassungen in Deutschland. Diese Argumentationslinie hat – vom Standpunkt des Kapitals – den großen Vorteil, dass sie nicht nur die täglich stattfindenden Angriffe gegen die Arbeiter rechtfertigt, und die Arbeiter selbst dafür verantwortlich macht, dass die Krise des Systems ihre Situation so brutal verschlechtert, sondern darüber hinaus sozusagen die Systemfrage von der Tagesordnung streicht. Da sie von vorn herein den Kapitalismus als einzig denkbares System voraussetzt, kann es nur noch darum gehen, wie man sich für den kapitalistischen Wettbewerb im “Zeitalter der Globalisierung” fit macht.
In der Zeit nach 1989, als infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus das Scheitern einer angeblichen Alternative zum Kapitalismus die Unmöglichkeit einer anderen als die bürgerliche Welt des Jeder gegen Jeden als eine Art Binsenwahrheit erscheinen ließ, war es für die Herrschenden noch verhältnismäßig unproblematisch, so zu argumentieren. Die Illusionen über eine neue Epoche des florierenden Kapitalismus “jenseits aller totalitären Ideologien” waren noch frisch. Die “humanitären” Rechtfertigungen der imperialistischen Kriegseinsätze auf dem Balkan sowie die Euphorie über die neuen Märkte im Osten oder im Bereich der Informationstechnologien verliehen der versprochenen neuen Weltordnung des Friedens und des Wohlstandes für alle noch eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Heutzutage hingegen werden an der “Standortdebatte” gewisse Korrekturen vorgenommen. Zum einem man hat an die “Spitze des Staates” einen Mann namens Horst Köhler als Staatspräsidenten geholt, der nicht nur ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann sein soll, sondern der es auch noch versteht, Optimismus zu verbreiten. Denn dieser Mann liebt nicht nur sein Vaterland, sondern glaubt auch noch an “die Ideen” seiner Landsleute, welche imstande seien, Deutschland an die Weltspitze der Wohlstandspyramide zurückzuführen. Leute vom Schlage des einstigen Chefs des Internationalen Währungsfonds hegen mittlerweile den Verdacht, dass das einseitige Jammern über die Misere des Standorts letzten Endes – da die Lage so oder so nicht besser wird – in eine Art Pessimismus gegenüber dem Kapitalismus insgesamt ausarten könnte. Bekanntermaßen wird ein solcher Pessimismus unter “Fachleuten” inzwischen dafür verantwortlich gemacht, dass die Leute angesichts drohender Einkommenseinbußen und Dauerarbeitslosigkeit den viel zitierten “Konsumstreik” angetreten sein sollen.
Doch neben dieser Art von Zweckoptimismus fällt in letzter Zeit außerdem auf, dass den Argumenten der Gewerkschaftslinken und der ihnen nahestehenden Wirtschaftsforschungsinstitute in der Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Von dieser Seite wird bestritten, dass Deutschland überhaupt an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. So brachte “Die Zeit” von 15. April einen Leitartikel mit der Schlagzeile “Der Mythos vom Abstieg”, welcher die starke Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik betonte, und deren wirtschaftliche Schwierigkeiten auf die Folgen der Wiedervereinigung und der Euro-Einführung zurückführte.
Auf den ersten Blick kann dieser Standpunkt arbeiterfreundlicher erscheinen als der andere. Denn er wird von Gewerkschaftsvertretern ins Feld geführt als Argument gegen bestimmte “Opfer”, welche die Unternehmer von den Lohnabhängigen einfordern, nach dem Motto: wenn die Behauptung, dass die deutsche Wirtschaft ihren Konkurrenten gegenüber im Nachteil sei, so nicht stimmt, dann müssen bestimmte Maßnahmen auch nicht hingenommen werden. Denn diese Maßnahmen wären aus dieser Sicht zum Wohle der Wirtschaft nicht notwendig, sondern seien eher Ausdruck der maßlosen Profitgier der Unternehmer.
Doch bei Lichte betrachtet erweist sich auch diese Betrachtungsweise als urkapitalistisch. Denn die Kehrseite des Arguments, dass Maßnahmen, welche zur Verteidigung der Wettbewerbsfähigkeit des Konzerns oder des Standortes nicht zwingend erforderlich sind, nicht hingenommen werden müssen, lautet, dass alles, was diesem Ziel wirklich dient, widerspruchslos hingenommen werden muss. Diese Logik kann man als die Quintessenz der gewerkschaftlichen Sichtweise bezeichnen.
Auch wenn die Gewerkschaften niemals revolutionäre Organe waren, so waren sie doch als Interessenvertreter der Arbeiter immer darauf aus, die Verbesserungen für ihre Mitglieder herauszuschlagen, welche mit dem Gedeihen des Unternehmens bzw. des Staates vereinbar sind. Seitdem der Kapitalismus Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch in eine Phase permanenter Krisenhaftigkeit eingetreten ist – die Niedergangsphase des Systems – verschwindet dieser wirtschaftliche Spielraum für systemverträgliche Reformen und damit auch die Existenzberechtigung der Gewerkschaften als Vertreter von Arbeiterinteressen. Doch die Gewerkschaften selbst verschwinden nicht, sondern übernehmen nunmehr eine neue Rolle, indem sie - mit einer “Arbeitersprache” verbrämt – für die Durchsetzung und Rechtfertigung der Angriffe sorgen, welche wirklich “notwendig” sind, um auf Kosten der Arbeiterklasse die Arbeitsplätze oder den Standort zu verteidigen.
Somit dient die Verbreitung solcher Argumente heute in erster Linie einer notwendig gewordenen Verstärkung der Präsenz der Gewerkschaften und ihrer Ideologie in den Reihen der Arbeiter, um die immer schärfer werdenden kapitalistischen Angriffe wirkungsvoller durchzusetzen.
Darüber hinaus dient die Verbreitung der gewerkschaftlichen und “linken” Argumente über die Vorteile des Standortes gerade heute der Erschwerung der Befassung von klassenbewussteren Arbeitern mit einer über den Kapitalismus hinausgehenden, kommunistischen Perspektive. Denn gerade die Einsicht, dass der Kapitalismus heute für seine Lohnsklaven außer ständigen Verschlechterungen nichts anzubieten hat, verleitet gerade politisch aktive, mit der Sache des Proletariats sich identifizierende Menschen dazu, das System insgesamt in frage zu stellen. Wie die “Antiglobalisierungsbewegung” dient auch der Hinweis von “Die Zeit” und anderer bürgerlicher Sprachrohre dazu, dass es dem System bzw. dem “eigenen” Standort gar nicht so schlecht gehe, dazu, Illusionen über die Möglichkeit von Reformen innerhalb des bestehenden Systems zu schüren.
Wir haben jetzt unsererseits vor, die Wettbewerbslage des deutschen Kapitals unter die Lupe zu nehmen, um aufzuzeigen, dass die Probleme des “Standortes” in Wirklichkeit entscheidende Hinweise auf die neue Phase des historischen Bankrotts des Kapitalismus liefern.
Die Argumente zugunsten der These von Deutschland als “der kranke Mann Europas” beziehen sich zu allererst darauf, dass die Bundesrepublik ab Mitte der 90er Jahre das niedrigste Wirtschaftswachstum der Europäischen Union aufzuweisen hat. Dies fällt um so mehr auf, da die alte Bundesrepublik vor 1989 - innerhalb einer Weltwirtschaft also, deren Wachstum seit dem 2. Weltkrieg ohnehin von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer schwächer wurde – immerhin eine überdurchschnittliche Wachstumsrate zustande brachte. Deshalb wurde die alte BRD neben Japan damals in der Welt noch als Wirtschaftsmodell hochgehalten. Die Dinge haben sich gewissermaßen ins Gegenteil verkehrt. Denn heute weist beispielsweise Großbritannien – das in den 70er Jahren als der “kranke Mann Europas” traurige Berühmtheit erlangte – kontinuierlich ein höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland auf. Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik im Verlauf der 90er Jahre immer mehr von ausländischen Investoren gemieden wurde, während die angelsächsischen Länder kräftig von ausländischen Investitionen profitieren konnten. So erregte im vorigen Jahr die Tatsache Aufsehen, dass das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens pro Einwohner erstmals seit Jahrzehnten das von Deutschland übertraf.
Das besonders niedrige Wachstumsniveau der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren ist unstrittig. Aber in wie fern lässt sich daraus auf einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit schließen? Die Stagnation der Wirtschaft ist eine allgemeine, sich regelmäßig verschärfende Tendenz des niedergehenden, an seiner eigenen Überproduktion erstickenden Kapitalismus. Muss man nicht die “deutsche Malaise” vielmehr als globalen Ausdruck der Systemkrise des Kapitalismus betrachten, auf den die Bundesrepublik als stark exportabhängige Industrienation besonders empfindlich reagiert?
Betrachten wir zunächst die Entwicklung des pro Kopf Bruttoinlandsproduktes innerhalb der Europäischen Union. Abgesehen von Luxemburg (das als kleines Land mit einem großen Finanzplatz die Leistungstabelle einsam anführt) liegen Dänemark und Irland mit circa 35.000 Euro jährlich vorn, während die großen Industrienationen Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien (in der Reihenfolge) ungefähr bei 25.000 Euro (Italien deutlich weniger) jährlich liegen. Nimmt man aber die alte Bundesrepublik – ohne die neuen Bundesländer – so liegt die Wirtschaftsleistung pro Einwohner mit Dänemark und Irland gleichauf. Mit anderen Worten: Das Zurückfallen Deutschlands gegenüber Großbritannien und anderen Nachbarländern ist nicht Ausdruck einer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit der traditionellen westdeutschen gewerblichen Produktion, sondern legt Zeugnis ab von dem Scheitern des “Aufbaus Ost”. Und tatsächlich – während in den alten wie in den neuen Bundesländern in den letzten 10 Jahren mehrere Millionen Industriearbeitsplätze verloren gegangen sind, sind neue Jobs, wenn überhaupt, fast ausschließlich “im Westen” entstanden.
Wir sehen also, dass an den Argumenten der Kritiker der relativen Leistungen des deutschen Standortes etwas dran ist, dass aber diese Argumente auch kritisch hinterfragt werden müssen. Kommen wir nun zu den Argumenten der Gewerkschaften und “linken” Wirtschaftsforscher. Sie weisen darauf hin, dass sich die deutschen Exporte in den letzten 10 Jahren beinahe verdoppelt haben, und damit viel rascher gestiegen sind als die der Eurozone insgesamt oder als die von Großbritannien, der USA oder Japans. Die Folge: Deutschland hat seine Stellung als “Exportweltmeister” aus der Zeit vor der Wiedervereinigung zurückerobert, bestreitet heute 10% des gesamten Welthandels. V.a. im Bereich der “Königsdisziplin” der kapitalistischen Wirtschaft – im Maschinenbau, der Produktion von Produktionsmittel – soll der Abstand der deutschen Industrie zu seinen Konkurrenten nicht schmaler, sondern größer geworden sein. Dazu “Die Zeit” von 15.04.2004: “Die Innovationsoffensive, die der Kanzler ankündigte, ist in vielen Firmen längst Realität. “Wir sind technologisch weltweit führend” sagt Olaf Wortmann vom Maschinenbauverband VDMA. Infolgedessen haben sich die Lohnstückkosten weit günstiger entwickelt als in fast allen Konkurrenzländern. “Die Wettbewerbsfähigkeit ist in Deutschland kein Problem mehr” sagt Harald Jörg, Volkswirt bei der Dresdner Bank.”.
Nun, auch diese Argumente sind größtenteils zutreffend. Es handelt sich auf beiden Seiten – auf Unternehmer- ebenso wie auf Gewerkschaftsseite – um Halbwahrheiten, welche bekanntlich die Wahrheit viel wirksamer entstellen als glatte Lügen. Die Unternehmer haben recht, dass die deutsche Wirtschaft noch radikaler stagniert als die ihrer Konkurrenten. Sie führen uns aber hinters Licht, wenn sie behaupten, diese “Krankheit” sei ein spezifisches Produkt lokaler, deutscher Bedingungen. Die bürgerliche Linke hat recht, wenn sie bestreitet, dass der Niedergang des einstigen “Wirtschaftsmodells” auf einen allgemeinen Verlust an Konkurrenzkraft zurückgeht. Doch auch die Linke führt den Zusammenbruch des deutschen Modells allein auf spezifische Bedingungen zurück: Die Kosten der Wiedervereinigung, die Folgen der Euroeinführung und die Auswirkungen einer “falschen, neoliberalen” Wirtschaftspolitik. Sie können und wollen nicht erklären, weshalb die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht mehr die für die Kapitalisten so erfreulichen Auswirkungen auf ihre Gewinnmargen hat sowie auf die Stabilität der sozialen Lage wie in den Nachkriegsjahrzehnten. Da der kapitalistische Wettbewerb angesichts einer immer allgemeiner werdenden Überproduktion stets brutaler und auch kostspieliger wird, steigen die Investitionsrisiken, fällt die durchschnittliche Profitrate.
Worauf ist also das immer schwächere Wirtschaftswachstum im einstigen “Wirtschaftswunderland” zurückzuführen? Hier sprechen die Statistiken eine deutliche Sprache. Während die deutschen Exporte steigen, wird seit Mitte der 90er Jahre eine Flaute der Binnennachfrage beklagt. Selbst die nach oben beschönigten, offiziellen bürgerlichen Statistiken z.B. der OECD weisen nach, dass in kaum einem anderen Industriestaat die Reallöhne sich – für die Arbeiter und Angestellte – so negativ entwickelt haben wie in Deutschland. Und angesichts von Werksschließungen, direkten Lohnkürzungen und brutalsten Kürzungen der Sozialleistungen (Gesundheitsreform, Hartzgesetze usw.) erscheint nichts sicherer als die Fortsetzung dieses Trends.
Es steht außer Frage: das Schrumpfen der Massenkaufkraft der arbeitenden Bevölkerung spielt die Hauptrolle bei der mittlerweile chronisch gewordenen Stagnation der deutschen Wirtschaft. Die bürgerliche Linke, die Gewerkschaften und die “Globalisierungskritiker” wollen daraus schließen, dass kräftige Lohnerhöhungen das Beste wären, um die kapitalistische Wirtschaft zu stützen. Doch sie glauben ihren eigenen Argumenten nicht. Denn überall, in den Konzernen wie in der Politik, sind die Gewerkschaften, sind die Linken emsig dabei, eigene “Sparvorschläge” zu entwickeln, um auf Kosten der Arbeiterklasse den “Standort” zu verteidigen.
Was ist also die Ursache dieses Verlustes an Massenkaufkraft der Bevölkerung, welche sich so negativ auf die Weltkonjunktur auswirkt? Auffallend ist, dass dieses Phänomen weltweit anzutreffen ist. Noch bedeutender aber ist die Tatsache, dass dieses Phänomen gerade heute sich besonders dort bemerkbar macht, wo der Lebensstandard des Proletariats im internationalen Vergleich bisher am höchsten war. Es handelt sich neben Deutschland um Länder wie Frankreich, Italien, aber auch die Schweiz. Ferner fällt auf, dass es gerade diese Länder sind, deren Wirtschaftswachstum neuerdings besonders schwach ausfällt. Deutschland, Frankreich und Italien sind beispielsweise auch diejenigen Länder, welche innerhalb der Europäischen Union am meisten gegen die einst in Maastricht beschlossenen Stabilitätskriterien verstoßen. Schließlich handelt es sich (außer bei der Schweiz) um Länder, wo die offizielle Arbeitslosenrate heute besonders hoch ist. Alles nur Zufall? Nein, kein Zufall. In Großbritannien oder den USA begann die radikale Demontage des “Sozialstaates” bereits in den 80er Jahren. Die führenden Bourgeoisien des westlichen Kontinentaleuropas betrieben diese Demontage weitaus langsamer. Einerseits, weil diese Länder sich noch auf traditionelle “Standortvorteile” stützen konnten, und andererseits, weil eine größere Vorsicht auch geboten erschien angesichts besonders großer Konzentrationen des Proletariats, welche zudem potenziell über eine besondere geschichtliche Kampferfahrung verfügen. Was die Wirtschaftsflaute dieser Länder zum Ausdruck bringt, ist v.a. die Tatsache, dass selbst die stärksten nationalen Kapitalien sich ein ausgedehntes Sozialsystem überhaupt nicht mehr leisten können, und dieses auch dann radikal abbauen müssen, wenn die Folge ein noch größeres und gefährlicheres Schrumpfen der Weltwirtschaft ist.
Die deutsche Wirtschaftsmisere ist somit in erster Linie Ausdruck einer historischen Wende in der Geschichte des Kapitalismus hin zu einer immer massiveren Verelendung der Arbeiter in den Kernländern des Weltsystems.
Heute ist es für die Herrschenden wirtschaftlich nicht mehr tragbar, Millionen Erwerbsloser zu unterstützen. Die Tatsache beispielsweise, dass ausländische Investoren in der Ära von Helmut Kohl einen großen Bogen um Deutschland gemacht haben, ist in erster Linie auf die dort noch bestehenden “zu hohen” Sozialleistungen zurückzuführen. Erst in Folge des unter Rot-Grün eingeleiteten, viel radikaleren “Sozialabbaus” wurde eine Trendwende erreicht. Dazu “Die Zeit”: “Seit 1998 verzeichnen die Statistiker einen kräftigen Zustrom ausländischen Kapitals nach Deutschland. Zuletzt konnte außer Frankreich kein Industrieland so viele Investitionen aus dem Rest der Welt anziehen.”
Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, auf die marxistische Sicht der Rolle der Erwerbslosigkeit im Kapitalismus zurückzukommen. In der vorkapitalistischen Klassengesellschaft wird die Mehrarbeit, von der die herrschenden Klassen leben, den Ausgebeuteten mit Gewalt aufgezwungen. Eine Besonderheit des Kapitalismus ist, dass die Mehrarbeit - sprich die Ausbeutungsverhältnisse - nicht mehr offen zu Tage liegt. Die Mehrarbeit, welche die Proletarier zugunsten des persönlichen Konsums der Kapitalisten v.a. aber zugunsten der Kapitalakkumulation leisten, wird nicht mehr mit Gewalt erzwungen, sondern aufgrund des wirtschaftlichen Mechanismus selbst den Ausgebeuteten aufgenötigt. Es ist vornehmlich die Arbeitslosigkeit, welche diesen Zwang ausübt. Somit bedarf die effizient von statten gehende kapitalistische Ausbeutung eines bestimmten Grades an Erwerbslosigkeit und an "pauperisierten" Menschen, um den Zwang zur Lohnarbeit sowie den auf die Löhne gerichteten Druck aufrecht zu erhalten. Marx nennt diese - für einen normal funktionierenden Kapitalismus erforderliche - Schicht des Proletariats die "industrielle Reservearmee". Die Wichtigkeit der Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus lässt sich übrigens auch durch die negativen Folgen belegen, welche auftreten, wenn dessen Entfaltung eingeschränkt wird. Dort wo, wie im Stalinismus oder im Faschismus - aus politischen und ideologischen Erwägungen, und im Hinblick auf die Kriegsmobilisierung - der Mechanismus der Reservearmee zu Gunsten einer staatlich gelenkten "Vollbeschäftigung" mehr oder weniger außer Kraft gesetzt wird, muss die kapitalistische Ausbeutung dann doch mit Gewaltmitteln durchgedrückt werden. Dies erweist sich auf Dauer jedoch als ein wenig wirksames Mittel der Mehrwertauspressung.
Die Arbeitslosigkeit kann also ein bestimmtes Niveau nicht unterschreiten, ohne dass das normale Funktionieren des kapitalistischen Arbeitsmarktes darunter leidet. Gibt es aber einen Pegelstand der Arbeitslosigkeit, welcher nach oben hin nicht überschritten werden darf, ohne das System zu gefährden?
Das gibt es. Allerdings ist diese Begrenzung keine starre, sondern bildet eine mehr politische als wirtschaftliche Größenordnung. Ein zu großes Arbeitslosenheer gefährdet nämlich die soziale Stabilität des Kapitalismus - den sog. "sozialen Frieden".
Da die herrschende Klasse sich dieser Gefahr wohl bewusst war, führte sie relativ früh - in Deutschland bereits unter Bismarck - die Arbeitslosenversicherung ein. Im niedergehenden Kapitalismus wurde dieses Versicherungssystem v.a. nach dem 2. Weltkrieg ausgebaut, um eine bereits geschlagene Arbeitergeneration ideologisch ideologisch fester an das System zu binden. In den Jahrzehnten nach 1968 wurde dieses System - der Entwicklung einer Massenerwerbslosigkeit zum Trotz - angesichts von einer neuen, ungeschlagenen Arbeitergeneration im Prinzip aufrecht erhalten. Zwar wurden immer wieder schmerzhafte Einschnitte in diesem "sozialen Netz" vorgenommen. Doch an das Prinzip der minimalen Absicherung wagte man sich noch nicht heran.
Zwar stimmt es, dass es sich um eine kapitalistische Versicherung wie jede andere handelt, für deren Kosten die Arbeiter selbst aufzukommen haben. Auf Dauer jedoch belastet dieses System die kapitalistische Wirtschaft immer mehr. Denn wenn die Massenarbeitslosigkeit wie heute zu einem Dauerphänomen wird, dann werden in den Reproduktionskosten der lebendigen Arbeitskräfte nicht nur die Kosten des Erhalts der beschäftigten Arbeiter und der Aufzucht einer neuen Arbeitergeneration, sondern nun auch die des Erhalts der Arbeitslosen eingeschlossen. Es entsteht folgendes Paradox: Die Arbeitslosigkeit, welcher im Kapitalismus die Funktion der Verbilligung der Arbeitskräfte zukommt, ist zu einem wichtigen Faktor deren Verteuerung geworden.
Wenn heute also in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien oder wie in der Schweiz die Leistungen des "Sozialstaates" und der Arbeitslosenversicherungen regelrecht demontiert werden, und wenn diese Demontage über ein brutales Abwürgen der Massenkaufkraft die wirtschaftliche Stagnation dieser Länder verstärkt, dann ist dies ein sicheres Anzeichen dafür, dass weltweit die Tage des "Wohlfahrtstaates" als Garant des "sozialen Friedens" gezählt sind.
Am 3. September 2004 wurde furchtbare Gewissheit, dass es in Beslan, einer kleinen Stadt im Kaukasus, bei dem Geiseldrama in einer Schule zur brutalen Ermordung von über 340 Menschen gekommen ist. Dass darunter über 150 Kinder waren, beweist, dass dieser Terrorakt von unglaublichem Menschenhass getragen, eine Zuspitzung der allgemeinen Gewaltspirale bedeutet. Nach der unmittelbaren Lähmung nach diesem schrecklichem Drama --solche Dramen werden leider zusehends eine Alltagserscheinung des Kapitalismus - drängen sich die ersten Fragen auf. Dieser Terrorakt der tschetschenischen Geiselnehmer ist eindeutig im Zusammenhang mit dem jahrelangen Tschetschenienkrieg zu sehen.
Der Krieg Russlands ist aufs Schärfste zu verurteilen. Doch auch die Seite der tschetschenischen Terroristen. Sie sind keine Freiheitskämpfer. Wer gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpft, wählt nicht die Methoden der Ausbeuter und Unterdrücker. Man wird selbst das, was man bekämpft. Es gibt zu zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Geschichte, die aufzeigen, dass eine siegreiche nationale Befreiungsbewegung den Menschen nicht die ersehnte "Freiheit" und den Wohlstand gebracht hat. Vielmehr ist die Zerstörung und die Armut durch die Jahre des Krieges noch größer geworden, wie z.B. in Vietnam. In Tschetschenien sieht es nicht anders aus.
Beslan veranschaulicht aber auch etwas anderes: die westlichen Demokratien zeigen ihre heuchlerische Lügenfratze. Stets wird in großen Reden die Bedeutung der Moral und der Menschenwürde beschworen. Die ganze Doppelmoral der herrschenden Klasse brachte Kanzler Schröder glanzvoll zur Geltung, als er einerseits das Geiseldrama als unmoralisch in Bausch und Bogen verurteilte, sich andererseits aber demonstrativ hinter Putin stellte, als er an den offensichtlich irregulären Wahlen in Tschetschenien nichts auszusetzen fand. Was verdeutlicht dies?
Dass es nur und ausschließlich die politischen Interessen der jeweils herrschenden Klasse sind, die bestimmen, ob etwas unmoralisch und verurteilbar ist, oder, ob "nichts Ungewöhnliches feststellbar" sei, wie Schröder sich gegenüber der russischen Handhabung des "tschetschenischen Problems" äußerte. Sprich, dass Deutschland, wie in diesem Fall, Russland geradezu ermuntert, seinen menschenverachtenden "Krieg gegen den Terrorismus" fortzusetzen. Beispielsweise deswegen, um die Opposition gegen den Irakkrieg der USA zu stärken; oder, weil Berlin eine russische Beherrschung des Kaukasus lieber ist als eine amerikanische; oder, weil Deutschland wie die USA auch kein Interesse an dem Zerfall des russischen Zentralstaates haben können, der dann ein noch größeres Chaos auslösen würde. Während zur Zeit des Irakkrieges die sog. Friedensbewegung Deutschland im Vergleich zu den USA als geradezu als Friedensengel und Hüter der Menschlichkeit darstellte, zeigt hier auch die demokratische Bundesrepublik ihr wahres Gesicht. Die Heuchelei der herrschenden Klasse hat nichts mit der wahren Trauer und Empörung der arbeitenden Bevölkerung zu tun. Und nur die Arbeiterklasse kann eine Welt ohne Terror, Krieg und Ausbeutung errichten.
17.09.04 Ariane
Wir veröffentlichen nachfolgend einen Brief der IKS zur Arbeit der bestehenden linkskommunistischen Gruppen gegenüber einem neuen Milieu von Sympathisanten des revolutionären Proletariats in Deutschland. Dieser Brief ist zuallererst an das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) gerichtet, das neben unserer eigenen Organisation die wichtigste international bestehende Gruppe ist, die das Erbe der Kommunistischen Linken vertritt. Aber der Brief richtet sich ebenso an eine Reihe von Gruppen und Diskussionszirkel in Deutschland selbst sowie an die Überreste der GIK in Österreich, denen wir eine Kopie des Briefes geschickt haben. Neben und über die oben erwähnten Gruppen hinaus möchte dieser Brief all diejenigen im deutschsprachigen Raum erreichen, die sich die Aufgabe stellen, die programmatischen und organisatorischen Errungenschaften der internationalistischen marxistischen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert anzueignen. Deshalb veröffentlichen wir diesen Brief in unserer Presse, um eine möglichst große Zahl von Genossen mit unserem Vorschlag zu erreichen.
Mit dem Brief wollen wir die Tatsache unterstreichen, dass die bestehenden linkskommunistischen Gruppen eine gemeinsame Verantwortung gegenüber einer neuen Generation von Revolutionären haben, die heute in Deutschland auftauchen. Diese Generation ist in erster Linie nicht das Ergebnis des Wirkens des linkskommunistischen Milieus, sondern sie ist der weitestgehende Ausdruck einer breiten unterirdischen Bewusstseinsreifung, die in der Arbeiterklasse insgesamt stattfindet. In den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum dieses politische Nachdenken insbesondere durch die Bildung von politischen Gruppierungen und Diskussionszirkeln konkretisiert, die sich damit befassen, sowohl authentische proletarische Positionen (über die bürgerliche Linke hinaus und gegen diese) als auch eine Intervention gegenüber der Arbeiterklasse zu entwickeln. Nichtsdestotrotz ist das Entstehen, die Entwicklung und vor allem die Zukunft dieser politischen Erscheinungen aus unserer Sicht untrennbar verbunden mit dem Wirken der bestehenden Organisationen der kommunistischen Linken wie der IKS und dem IBRP.
Erstens weil all diese Zirkel, Interventionsinitiativen und Diskussionsgruppen sich zu irgendeinem Zeitpunkt bei ihrer Suche nach proletarischen Klassenpositionen sich der Tradition der kommunistischen Linken als der einzig historischen Strömung zugewandt haben, die Schlussfolgenderungn aus den Klassenkämpfen des letzten Jahrhunderts gezogen hat, die sowohl konsequent internationalistisch als auch theoretisch kohärent sind. Auch wenn letzten Endes nicht alle diese Genossen notwendigerweise die Positionen der kommunistischen Linken übernehmen, haben sie alle erkannt, dass bei der Suche nach einer autonomen Antwort der Klasse gegenüber der Krise des kapitalistischen Systems dieses politische Erbe nicht ignoriert werden kann. In Wirklichkeit nämlich konnten in vielen Fällen viele dieser Genossen erst unter dem Einfluss der linkskommunistischen Gruppen - zuallererst dem der IKS, die als einziger Repräsentanten dieser Tradition in Deutschland lange etabliert ist - sich internationalistischen Positionen annähern.
Zweitens obwohl diese verschiedenen Gruppierungen und Initiativen ein Ausdruck und notwendiges Moment in dem Bewusstwerdungsprozess einer neuen Generation von Revolutionären sind, haben viele dieser neuen Genossen selbst schon erkannt, dass neben Klarheit Einheit eine Vorbedingung für einen erfolgreichen proletarischen Klassenkampf ist. Das heißt, dass das langfristige Ziel nicht die Verewigung und Multiplikation kleiner Gruppen und Kreise sein kann, sondern die Umgruppierung kommunistischer Kräfte. Für diese Genossen ist die Orientierung hin zu einer militanten Aktivität untrennbar verbunden mit einem Prozess, wo sie herausfinden müssen, welche der schon bestehenden historischen Gruppen die klarste Abgrenzung von der bürgerlichen Ideologie darstellt.
Deshalb meinen wir, dass die schon bestehenden revolutionären Organisationen die Verantwortung haben, den neu entstehenden Ausdrücken der Klasse bei dieser Aufgabe zu helfen, die gegenwärtig bestehenden internationalistischen Gruppen kennenzulernen, um besser zu begreifen, was sie gemeinsam haben und was sie unterscheidet. Wie sind der Auffassung, dass öffentliche Debatten das beste Mittel sind, um es diesen Genossen zu ermöglichen, eigenständig einzuschätzen, welche der bestehenden historischen Strömungen auf programmatischer und organisatorischer Ebene und hinsichtlich der Auffassungen von der Intervention gegenüber der Arbeiterklasse den kohärentesten, konsequentesten und entschlossensten Pol darstellt. Wir meinen, dass diese Aufgabe öffentlicher Klärung die gemeinsame Verantwortung der bestehenden proletarischen Organisationen und der neu entstehenden Gruppen und Elemente ist.
Dies ist übrigens keine ‚Entdeckung' der IKS: Alle großen Revolutionäre der Geschichte (Marx, Rosa Luxemburg, Lenin usw.), alle am meisten fortgeschrittenen und radikalsten Strömungen der Arbeiterbewegung, haben auf der Wichtigkeit öffentlicher Debatte und der öffentlichen Auseinandersetzung der Positionen bestanden. Gegenüber diesen Revolutionären und Strömungen war die Tendenz zur Flucht vor der offenen Debatte, der Praxis der ‚Geheimdiplomatie' und der ‚Einigungen im kleinen Kreis' das Kennzeichen der Strömungen, die von der Kleinbourgeoisie oder der Bourgeoisie geprägt waren wie die Anarchisten der geheimen Allianz Bakunins oder der Opportunisten à la Kautsky.
In der Geschichte der Arbeiterbewegung war es immer der Opportunismus, der aufgrund der Tendenz, proletarische Positionen mit denen anderer Klasse zu versöhnen, vor der öffentlichen Debatte geflüchtet ist. Der wahre Marxismus wiederum zeichnete sich nicht nur durch seinen radikalen Bruch mit dem Klassenfeind aus, sondern auch durch die tief verwurzelte Kohärenz seiner Positionen und der Konsequenz seiner Methode. Deshalb hat er nie öffentliche Debatten gefürchtet. Im Gegenteil, als der klarste Ausdruck der Klasse, die die Zukunft der Menschheit verkörpert, ist die marxistische Linke in ihrem Element, wenn immer es um Debatten geht. Der politische Kampf ist der Wesenskern seiner Existenz. Einer der grundlegenden Aspekte beim Kampf zwischen der marxistischen revolutionären Bewegung und dem Opportunismus ist der Gegensatz zwischen einer festen und leidenschaftlichen Überzeugung und einer lauen oder gar nicht vorhandenen Überzeugung. Weil sie zutiefst von ihren Positionen überzeugt sind, fürchten die revolutionären Marxixten nicht die Auseinandersetzung mit den Positionen anderer. Sie sind überzeugt, dass ihre Argumente am stärksten, entscheidendsten und .... überzeugendsten sind. Gerade weil es den opportunistischen Strömungen an Überzeugung mangelt, da ihre Positionen sich nicht auf feste Prinzipien stützen sondern auf ‚Gelegenheiten', die ihnen die Lage bietet, fürchten sie, ihre Positionen der Kritik der anderen Strömungen auszusetzen, und ziehen Ausweichmanöver und die ‚Geheimdiplomatie' vor.
Bis dato hat die IKS noch nicht auf unseren Vorschlag geantwortet, aber wenn es so tief von der Richtigkeit seiner Herangehensweise und Positionen überzeugt ist wie wir es sind, wird es keine Angst haben, sich diesem Test zu stellen, den solch eine Debatte bedeutet, und es wird auf unseren Vorschlag positiv antworten. Solch eine positive Antwort würde der Sache des Proletariats in einem der entscheidendsten Länder jeder zukünftigen Weltrevolution einen großen Dienst erweisen. IKS 17.09.04
Brief der IKS
An das Internationale Büro für die revolutionäre Partei (IBRP)
Kopie an: - Freunde der Klassenlosen Gesellschaft , - GIS, - Unabhängige Rätekommunisten, - Zirkel Bielefeld
- Zirkel Frankfurt, - Diskussionszirkel Rheinland , - R/Österreich
Werte Genossen!
Neulich hat das IBRP mehrere öffentliche Diskussionsveranstaltungen in Berlin abgehalten. Wie wir schon in unserer Presse gesagt haben, begrüßt die IKS die Durchführung solcher öffentlicher Diskussionsveranstaltungen, da damit in der größten deutschen Stadt die Positionen anderer internationaler Organisationen der Kommunistischen Linken Gehör finden können.
Wie alle Teilnehmer bemerkt haben, waren diese Treffen geprägt gewesen von einer Auseinandersetzung der Teilnehmer mit euren Positionen und denen der IKS. Ob man solch einen Zustand bedauert oder nicht, wir finden dies völlig normal, da es sich bei unseren beiden Organisationen um die größten Organisationen der Kommunistischen Linken handelt, und da diejenigen, die nach kommunistischer Klarheit suchen, sich irgendwann notwendigerweise gegenüber unseren jeweiligen Positionen positionieren müssen. Was die IKS angeht, bedauern wir diesen Zustand nicht. Im Gegenteil. Nur durch solch eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten können die neuen, suchenden Leute sich eigenständig mit Klarheit und Überzeugung entscheiden.
Bislang waren diese Auseinandersetzungen über unsere jeweiligen Positionen darauf zurückzuführen, dass die IKS Delegationen zu euren öffentlichen Veranstaltungen geschickt hat. Das große Interesse und die lebendige Beteiligung aller anderen Teilnehmer an der Debatte zwischen unseren beiden Organisationen bestätigen die politische Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung. Natürlich ermuntern wir euch so stark wie möglich, auch zu unseren öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in Deutschland, insbesondere in Köln, zu kommen, um damit die Möglichkeit einer Auseinandersetzung zwischen unseren jeweiligen Positionen zu vergrößern. Falls ihr zu unseren Treffen nach Köln kommt, werden unsere Genossen vor Ort euch selbstverständlich mit großem Vergnügen bei sich unterbringen und euch unsere Gastfreundschaft erweisen (bitte sagt uns einfach ein paar Wochen vorher Bescheid).
Dennoch erscheint uns solch ein Vorschlag immer noch als etwas, was hinter den Erfordernissen zurückbleibt, die sich durch das Auftauchen einer neuen Generation von Leuten in solch einem wichtigen Land wie Deutschland ergeben, und die auf sich auf die Kommunistische Linke orientieren. Deshalb schlagen wir euch die Organisierung von öffentlichen Debatten in Berlin und Köln vor (und gegebenenfalls später in anderen deutschen Städten). Bei diesen Diskussionsveranstaltungen können unsere beiden Organisationen ihre jeweiligen Positionen bezüglich einer vorher gemeinsam festgelegten Frage oder Thema darstellen. Wir denken, dass solch ein Rahmen (der keinesfalls die Möglichkeit ausschließt, dass unsere Organisationen jeweils weiterhin ihre eigenen Diskussionsveranstaltungen abhalten) der notwendigen Auseinandersetzung mit unseren Positionen nicht nur eine organisierte Form geben würde. In Anbetracht der suchenden Leute in Deutschland würde dies auch einen größeren Interessentenkreis ansprechen als die einfache Summe der Teilnehmer, die jeweils zu euren und unseren öffentlichen Diskussionsveranstaltungen kommen.
Schließlich meinen wir, dass selbst wenn es zur Gründung einer Sektion des IBRP in Deutschland kommen sollte - die eurer Presse zufolge scheinbar wahrscheinlich ist -, würden solche öffentlichen Debatten weiterhin notwendig sein, da die Anwesenheit von Mitgliedern des IBRP in Deutschland (genauso wie die Anwesenheit von IKS-Mitgliedern während der letzten Jahrzehnte) nicht die Fragen aus der Welt schaffen wird, die von einer Reihe von Leuten gestellt werden, die sich in Deutschland auf eine kommunistische Perspektive zubewegen.
In Erwartung euer Antwort schicken wir euch brüderliche kommunistische Grüße Die IKS 20.08.04
In letzter Zeit haben uns mehrere Sympathisanten angesprochen, um unsere Meinung zu Cajo Brendels Buch über Anton Pannekoek zu erfahren. Die deutsche Ausgabe dieses vor ca. 30 Jahren auf niederländisch geschriebenen Buches von Brendel ist 2001 im ¸a ira Verlag erschienen. Die Genossen, die uns darauf ansprachen, haben das Buch durchweg begrüßt und gelobt. Zum einen waren sie erfreut darüber, weil dadurch Pannekoeks Beitrag zum Marxismus einem breiteren deutschsprachigen Publikum wieder bekannt gemacht wird. Zum anderen waren sie daran interessiert, durch dieses Buch die Gedankenwelt Cajo Brendels näher kennenzulernen. Brendel gilt als der letzte Vertreter des sog. Rätekommunismus der Nachkriegsjahre in den Niederlanden. Diese politische Strömung, welche sich vornehmlich durch die Ablehnung einer spezifischen politischen Organisation der Revolutionäre auszeichnet, beruft sich gern auf Pannekoek als eine Art theoretischer Ziehvater.
Eine nützliche Einführung in das Werk Pannekoeks
Auch wir begrüßen das Erscheinen dieses Buches. Denn es bietet eine wertvolle Anregung, sich mit dem Lebenswerk eines der größten marxistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts zu befassen. Zwar gab es vor und nach dem 1. Weltkrieg eine besonders enge Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung der Revolutionäre in Deutschland und den Niederlanden. Pannekoek selbst lebte und wirkte einige Jahre lang in Deutschland. Er verfasste einige seiner wichtigsten Schriften ursprünglich auf Deutsch. Auch die meisten seiner anderen wichtigeren Schriften, mit Ausnahme seines Buches über die Arbeiterräte, sind ins Deutsche übersetzt worden. Doch die meisten dieser Ausgaben (von denen mehrere unter der Mitarbeit von Cajo Brendel erschienen) sind längst vergriffen und leider auch in Vergessenheit geraten. Brendels jetzt erschienenes Buch enthält eine nützliche Bibliographie der Bücher, Broschüren und Artikel Pannekoeks, von denen ein Teil durch öffentliche Bibliotheken angefordert oder auch im Internet abgerufen werden kann. Darüber hinaus fasst Brendel auch einige der Hauptideen in den Schriften Pannekoeks zusammen, welche dem Leser sonst unzugänglich geblieben wären, die des Holländischen nicht mächtig sind. So sind etwa die Kapitel Brendels "Betrachtungen über die Entstehung des Menschen und der Einfluß Josef Dietzgens", "Der Beitrag Pannekoeks zur Imperialismusdebatte" oder seine Beiträge zum Verständnis der Gewerkschaftsfrage unbedingt lesenswert. Auch die Ausführungen über die von Pannekoek angewandte wissenschaftliche Methode enthalten viel Wertvolles.
Pannekoek: Produkt und Vorkämpfer der organisierten Arbeiterbewegung
Keine Frage: Brendel kennt die Schriften sowie den Werdegang Pannekoeks wie kaum ein zweiter. Außerdem arbeitet er sehr gewissenhaft mit den vorhandenen Quellen. Und dennoch liefert Brendel teilweise ein sehr verzerrtes Bild des jahrzehntelangen Wirkens Anton Pannekoeks in der organisierten Arbeiterbewegung. Dies hängt mit der ahistorischen, unmarxistischen Sichtweise des "Rätekommunismus" zusammen. Die Folge: Pannekoek bleibt als Vorkämpfer der marxistischen Linken in einer Zeit des historischen Umbruchs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts außen vor. Pannekoek als Produkt der organisierten Arbeiterbewegung wird überhaupt nicht sichtbar. Statt dessen präsentiert uns Brendel einen Pannekoek, der angeblich jahrelang Mitarbeiter einer bürgerlichen Reformbewegung war. Schon im zweiten Absatz der Einleitung zu seinem Buch (S. 9) behauptet Brendel, dass die Sozialdemokratie, welcher sich Pannekoek Ende des 19. Jahrhunderts anschloss, von Anfang an kein Ausdruck der Arbeiterklasse war. "In Wahrheit aber war sie doch nur der radikalste Flügel der sich konsolidierenden Bourgeoisie", behauptet Brendel. Er erweckt den Eindruck, als ob Pannekoek schon immer der einsame, nicht organisiert arbeitende Theoretiker gewesen sei, der er gegen Ende seines Lebens unter dem Eindruck der historischen Niederlage der Arbeiterbewegung tatsächlich wurde. Er zeichnet ein Bild des großen Theoretikers, das ihn als isoliertes Individuum darstellt, welches allein, im stillen Kämmerlein, seinen Beitrag zum Marxismus geleistet hätte. Und zwar so gut, dass seine angebliche Mitarbeit in einer bürgerlichen Organisation diesem Beitrag offensichtlich nichts anhaben konnte. Es entsteht der Eindruck, als ob Pannekoek mit seiner theoretischen Weiterentwicklung sich immer mehr aus der organisierten Arbeiterbewegung zurückgezogen habe, als ob er erkannt habe, dass sie per se bürgerlich und die theoretische Arbeit das Werk von Einzelnen ist. Dies scheint offenbar die Meinung Brendels zu sein. Die Auffassung Pannekoeks war es jedenfalls nicht. In seinen in Amsterdam während der deutschen Besatzungszeit bei Kerzenschein niedergeschriebenen Erinnerungen ("Herinneringen uit de arbeidersbeweging") schildert er sein Mitwirken an der damaligen Arbeiterbewegung keineswegs als eine Irrfahrt ins Klassenlager der Bourgeoisie. Vielmehr vertrat er die Ansicht, welche er bereits im Verlauf des 1. Weltkriegs - angesichts des Überlaufens der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auf die Seite des Kapitals - dargelegt hat, dass die Massenorganisationen aus der Zeit der II. Internationale zunächst durchaus den Bedürfnissen eines bestimmten Zeitabschnitts des Arbeiterkampfes entsprachen. Die naive, ahistorische Annahme des späteren "Rätismus", die Kapitulation von Arbeiterorganisationen vor den Interessen des Kapitals sei Beweis genug dafür, dass diese Organisationen "schon immer" bürgerlich gewesen seien, teilte Pannekoek nicht. Kein Wunder, denn gerade Pannekoek lieferte eine der ersten und fundiertesten marxistischen Analysen des Opportunismus: das Phänomen der Anpassung proletarischer Organisationen an die Ideologie und an die Realität der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihren späteren Verrat vorbereitet. In "Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung" (1), einem Standardwerk zu diesem Thema, führt Pannekoek den Opportunismus auf die Auflösung der dialektischen Einheit zwischen dem Endziel und der Bewegung der Arbeiterklasse zurück. Dabei zeigt er die fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen dem offen reformistischen und dem anarchistischen Opportunismus innerhalb der damaligen Arbeiterbewegung auf. Beide wollen den Klassenkampf ohne die wissenschaftliche Waffe des Marxismus führen. Beide verherrlichen die individuelle Freiheit und fühlen sich abgestoßen durch das kollektive Wesen des Arbeiterkampfes. Beide bringen die Ungeduld und die schwankende Haltung des Kleinbürgertums zum Ausdruck. Somit hat Pannekoek bereits 1909 die tieferen Wurzeln des späteren Verrats sowohl der Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg als auch der CNT im Spanischen Bürgerkrieg aufgedeckt. Der spätere Rätekommunismus hingegen hat zwar die gesamte Sozialdemokratie vor 1914 (und damit auch ihren linken revolutionären Flügel) in Bausch und Bogen verurteilt, andererseits aber den Anarchismus als legitimen, wenn auch theoretisch schwachen Ausdruck des revolutionären Proletariats angesehen. Das kommt daher, dass dieser Rätismus vom Schlage eines Cajo Brendels selbst eine Spielart des Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung darstellt - und zwar eine Art "Zentrismus", d.h. eine schwankende Haltung zwischen Marxismus und Anarchismus.
Weit entfernt davon, abgeschieden von der Arbeiterbewegung seine Weltsicht auszuarbeiten, bildete sich der große Theoretiker Pannekoek in und durch die politischen Kämpfe der Arbeiterklasse heraus. Neben Rosa Luxemburg war er der leidenschaftlichste und tiefsinnigste Vertreter der Position der revolutionären Linken in der sog. Massenstreikdebatte, gegen das "Zentrum" um Kautsky, innerhalb der deutschen Arbeiterpartei. Zusammen mit Lenin, Trotzki und anderen Vertretern der internationalen Linken bezog Pannekoek Stellung gegen den um sich greifenden Opportunismus, welcher bestritt, dass die revolutionären Lehren aus dem Massenstreik von 1905 in Rußland allgemeine, weltweite Gültigkeit besaßen. Im Verlauf dieser Debatte war Pannekoek - wie Lenin später in "Staat und Revolution" anmerkte - der erste, der die von Marx und Engels aus der Erfahrung der Pariser Kommune gezogenen Lehren von der Notwendigkeit der vollständigen Zertrümmerung des bürgerlichen Staates wiederherstellte. Wenn Pannekoek in seiner 1912 in der "Neuen Zeit" erschienenen Polemik gegen Kautsky - "Massenaktion und Revolution" - gegen die Auffassung Stellung bezog, dass die Arbeiterpartei und ihre Kriegskasse bzw. die Gewerkschaftskasse reiner Selbstzweck seien, der sogar das Ausweichen vor dem Kampf rechtfertigen würde, tat er dies keineswegs aus Geringschätzung gegenüber dem Kampf um die Organisation und ihrer Finanzierung, sondern als ein Parteigenosse, welcher bereits in den Niederlanden die besonders verantwortliche Stellung des Schatzmeisters bekleidet hatte. "Die Organisation des Proletariats", schrieb er, "die wir als sein wichtigstes Machtmittel bezeichnen, ist nicht zu verwechseln mit der Form der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Verhältnissen einer noch festen bürgerlichen Ordnung äußert. Das Wesen dieser Organisation ist etwas Geistiges, ist die völlige Umwälzung des Charakters der Proletarier."(2)
Dieser Kampf gegen den Opportunismus vor 1914 gehört zu den größten Leistungen Pannekoeks. Er führte diesen Kampf als aktiver Bestandteil der organisierten Arbeiterbewegung in Holland, in Bremen, als Mitarbeiter der Parteischule in Deutschland, als Vordenker der linken Opposition innerhalb der 2. Internationale. Und im Rahmen dieses Kampfes entwickelte er seine Grundüberzeugungen über die marxistische Methode, vertiefte er sein Verständnis der proletarisch-materialistischen Auffassung, wobei er auf den großen Beitrag Dietzgens hinwies, und entwickelte Fragen der Philosophie sowie der Ethik weiter.
Der zweite große Kampf, welchen Pannekoek führte, war die Verteidigung des proletarischen Internationalismus im 1. Weltkrieg. In enger Zusammenarbeit mit den deutschen Spartakisten, den russischen Bolschewiki und anderen Internationalisten gehörte Pannekoek, wie sein nicht weniger berühmter niederländischer Mitstreiter Herman Gorter, zu den Wegbereitern der Oktoberrevolution in Russland, des Kampfes um die Rätemacht in Europa und der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationalen.
Doch der vielleicht wichtigste Beitrag Pannekoeks zum Marxismus war sein Mitwirken bei der Ausarbeitung der Konsequenzen des Eintritts des Kapitalismus in seine Niedergangsphase für die Kampfbedingungen des Proletariats. Indem er besonders klar erkannte, dass der Parlamentarismus sowie die Gewerkschaften keine Bühne des Klassenkampfes mehr sein konnten, wurde er einer der bedeutendsten Vordenker der Kommunistischen Linken. Aber auch diesen Beitrag leistete er nicht allein, sondern als Mitstreiter im Kampf der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) sowie der sich formierenden Tradition der "deutsch-holländischen Linken" gegen den wachsenden Opportunismus innerhalb der Kommunistischen Internationalen, vor allem innerhalb der russischen und der deutschen Partei.
Pannekoeks Regression zu einem sterilen Anti-Leninismus als Folge der Konterrevolution
Im Gegensatz hierzu gehören die späteren politischen Werke Pannekoeks wie "Lenin als Philosoph" (1938) oder "Die Arbeiterräte" (1946) trotz mancher Vorzüge theoretisch zu seinen schwächeren Leistungen. In den Augen von Cajo Brendel und anderer "Rätisten" hingegen stellen diese Werke die Krönung des Pannekoekschen Lebenswerks dar. Brendels Schilderung eines sich stets fortentwickelnden Pannekoeks, der sein Weltbild ununterbrochen perfektionierte und dessen Sicht gegen Ende seines Lebens immer klarer wird, bleibt nicht ohne Reiz. Brendel führt diese angebliche Vervollkommnung außerdem auf die stete Fortentwicklung des Arbeiterkampfes sowie des Kapitalismus zurück. "Dass die Ergebnisse seiner Analyse verschieden ausgefallen sind, je nach dem Zeitpunkt, zu dem er sie vornahm, liegt nicht an dieser Methode, auch nicht an ihm, der sich ihrer bediente, sondern an der Tatsache, dass der Kampf der Arbeiter so wie das kapitalistische System nun einmal durch eine große Dynamik gekennzeichnet sind." (S. 14) Hier erblickt man erneut die große Schwäche von Brendels Analyse. Erstens verläuft der Prozess der Höherentwicklung selten geradlinig. Zweitens zeichnete sich die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert nicht so sehr durch eine vorwärts gerichtete "Dynamik" als vielmehr durch einen Rückfall in die Barbarei aus. Drittens wurde die "Dynamik" des Klassenkampfes nach der Niederlage der proletarischen Revolution Anfang der 20er Jahre jahrzehntelang durch die längste Konterrevolution der Geschichte unterbrochen. All das hatte schwerwiegende Konsequenzen für die politische Entwicklung Pannekoeks. Zum einem ist es besonders schwer, in einer Zeit der allgemeinen Niederlage der Arbeiterklasse dem Druck der bürgerlichen Ideologie standzuhalten. Zum anderen löste Pannekoek in dieser Zeit der Niederlage tatsächlich allmählich seine Verbindung zur organisierten revolutionären Bewegung auf. Da aber die proletarische theoretische Arbeit, wie der Arbeiterkampf insgesamt, einen zutiefst kollektiven Charakter aufweisen, führte seine wachsende Isolierung zwangsläufig zu einem gewissen theoretischen Rückschritt Pannekoeks gegenüber bestimmten Fragen. Hier gibt es einige Parallelen zwischen Pannekoek und Amadeo Bordiga, dem Begründer der Tradition des "italienischen Linkskommunismus". Beide sind der Sache des Proletariats bis zu ihrem Lebensende treu geblieben. Beide betrieben ihre theoretische Arbeit im Verlauf der 30er und 40er Jahre in zunehmender Isolation. Beide vollzogen dabei in gewissen Fragen eine theoretische Regression, welche bei Bordiga mit einem sterilen Rückgriff auf eine Leninsche "Orthodoxie", bei Pannekoek mit einem ebenso sterilen "Anti-Leninismus" einhergingen.
Während Pannekoek zurecht in seiner Schrift "Lenin als Philosoph" darauf hinwies, dass Lenin in seinem 1908 verfassten Werk "Materialismus und Empiriokritizismus" den Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Materialismus ungenügend begriffen hatte, war es mehr als an den Haaren herbeigezogen, daraus schlusszufolgern, dass Lenin ein bürgerlicher Politiker gewesen sei, und dass die damals bevorstehende Revolution in Russland notwendigerweise eine bürgerliche Revolution werden müsse.
Cajo Brendel übernimmt natürlich dieses Argument. Schließlich handelt es sich bei der Ablehnung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution um die Frage, wo die "Rätekommunisten" sich am meisten berechtigt sehen, sich zumindest auf den späteren Pannekoek berufen zu können.
Doch gerade hier springt die Armseligkeit der Argumentationslinie sowohl von Brendel wie von Pannekoek von 1938 förmlich ins Auge. Denn das ungenügende Verständnis des proletarischen Materialismus war vor 1914 kein ausschließlich russisches Phänomen, sondern weit verbreitet innerhalb der damaligen II. Internationalen. Pannekoek selbst hat stets und zu Recht eine der Ursachen dieses Unvermögen in einer ungenügenden Würdigung der Bedeutung Hegels durch die damalige Arbeiterbewegung erblickt. Doch gerade Lenin hat sich am Vorabend der russischen Revolution vertieft mit Hegel befasst. Genau so wie Marx, bevor er den ersten Band des Kapitals schrieb, besann sich Lenin auf die Methode Hegels, bevor er Staat und Revolution verfasste. Sowohl "Das Kapital" wie "Staat und Revolution" stellen daher Musterbeispiele der Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode des Proletariats dar.
Das andere Hauptargument von "Lenin als Philosoph" war, dass es im Russland von 1917 noch bedeutende Überreste des Feudalismus bzw. der zersplitterten Kleinproduktion gab. Doch dies traf auch auf Deutschland zu, wo die Bourgeoisie bis November 1918 die Macht mit dem preußischen Militäradel teilen musste. Ja, im Grunde wurde die Macht der Krautjunker innerhalb des deutschen Militärs erst unter den Nationalsozialisten gebrochen.
Tatsächlich stellte die Annahme, dass man zuerst in jedem einzelnen Land die Aufgaben der bürgerlichen Revolution gewissermaßen zu Ende führen müsste, bevor man zur proletarischen Revolution übergehen könne, eine alte Konfusion innerhalb der Arbeiterbewegung vor 1917 dar. So stand es auch im alten Programm der Bolschewiki geschrieben, worauf sich die Mehrheit des Zentralkomitees der Partei nach dem Sturz des Zarenregimes im Februar 1917 berief, um die "Duldung" der linksbürgerlichen, "provisorischen" Regierung und die "kritische Unterstützung" der Fortsetzung des imperialistischen Krieges zu rechtfertigen.
Es waren Lenins berühmte "Aprilthesen" von 1917, die diese letztendlich nationale Sichtweise verwarfen. In ihnen wies Lenin nach, dass die proletarische Revolution nicht erst dann zur Notwendigkeit wird, wenn alle Aufgaben der bürgerlichen, "demokratischen" Revolution erledigt sind, sondern dann auf die geschichtliche Tagesordnung kommt, wenn die weltweiten Widersprüche des Kapitalismus einen bestimmten Reifegrad erreicht haben.
Dass Pannekoek diese Lehre später vergaß, kann nur im Zusammenhang mit der Enttäuschung und Konfusion auf Grund der Niederlage der Weltrevolution und des Absterbens der Revolution in der isolierten russischen Bastion verstanden werden. Schließlich war Pannekoek (wie auch Rosa Luxemburg bis zu ihrer Ermordung 1919) noch Anfang der 1920er Jahre ein zwar kritischer, aber stets leidenschaftlicher Befürworter der russischen Oktoberrevolution.
Dennoch muss man feststellen, dass Pannekoek sich selbst weniger klar als beispielsweise Lenin darüber war, dass die Oktoberrevolution in Russland nur als Auftakt, als Anstoß zur proletarischen Revolution in Europa verstanden werden konnte. Durch das Ausbleiben der Revolution in Westeuropa enttäuscht und entmutigt, überschätzte er maßlos die Rolle Russlands nicht nur in der Durchführung der Revolution, sondern noch mehr beim Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft. Während Lenin und Trotzki im proletarischen Russland v.a. eine ausgehungerte, ohne die Rettung durch eine baldige Weltrevolution hoffnungslos ausgelieferte Bastion sahen, setzte Pannekoek Anfang der 20er Jahre seine Hoffnungen umgekehrt auf die illusorische Perspektive, dass der Ausbau einer kommunistischen Wirtschaftsordnung im Osten die Klassenherrschaft der Bourgeoisie im Westen untergraben würde. In seiner ansonsten großartigen Schrift "Weltrevolution und kommunistische Taktik", welche eine erste bedeutende Kritik des wachsenden Opportunismus der Bolschewiki enthält, schreibt hierzu Pannekoek:
"Zur selben Zeit, als Westeuropa mühsam sich aus seiner bürgerlichen Vergangenheit emporringt, wirtschaftlich stagniert, blüht im Osten, in Russland, die Wirtschaft in der kommunistischen Ordnung empor. (...)
Inzwischen erhebt sich im Osten die Wirtschaft unbehindert im kräftigen Aufschwung, eröffnet neue Wege, sich stützend auf die höchste Naturwissenschaft - die der Westen nicht zu gebrauchen weiß - vereint mit der neuen Sozialwissenschaft, der neu gewonnenen Herrschaft der Menschheit über ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte. Und diese Kräfte, hundertfach gesteigert durch die neuen Energien, die aus der Freiheit und Gleichheit entsprießen, werden Russland zum Zentrum der neuen kommunistischen Weltordnung machen." (Hervorhebung durch die IKS).
Um diese völlig irreale, Russland-fixierte Sichtweise zu untermauern, welche die marxistischen Lehren über den internationalen Charakter der Revolution vergisst, unternimmt der Pannekoek von 1920 sogar einen Ausflug in die Natur. "Es besteht sogar ein dementsprechendes Gesetz in der organischen Natur, das als Gegenstück zu Darwins ‚das Überleben der Passendsten' mitunter als ‚survival of the unfitted', das ‚Überleben der Nichtangepassten' bezeichnet wird." (4)
Die Tatsache, dass Pannekoek seine ursprüngliche Unterstützung der russischen Revolution später revidierte und den Oktober 1917 im Nachhinein als bürgerliche Revolution bezeichnete, muss sicherlich als Reaktion auf die stalinistische Konterrevolution verstanden werden. Doch gewisse Wurzeln dieser Fehler waren bereits 1920 in der marxistisch unhaltbaren Erwartung angelegt, dass in der belagerten Festung Russland auf Dauer etwas anderes blühen könnte als Not und Niedergang. Die theoretischen Rückschritte, welche diese falsche Analyse mit sich brachte, waren gravierend. Zum einem wurde das Verständnis getrübt, welche alle echten Revolutionäre 1917 teilten, dass der Kapitalismus nunmehr ein niedergehendes Gesellschaftssystem geworden war, so dass allein die proletarische Revolution auf der Tagesordnung stand. Zum anderen öffnete die Infragestellung der proletarischen Oktoberrevolution Tür und Tor für die Idee, dass die gesamte Arbeiterbewegung, welche in den Jahrzehnten zuvor die Oktoberrevolution vorbereitet hatte, ebenfalls bürgerlich war. Diesen Weg, welchen Bilan, das Organ der italienischen Linken Anfang der 30er Jahre, als eine Art "proletarischen Nihilismus" bezeichnete, ging Pannekoek zwar nicht, aber seine späteren rätistischen Epigonen beschritten ihn ohne Bedenken.
Doch diese Schwächen schmälern die Bedeutung Pannekoeks und seine Relevanz für heute nicht grundlegend. Im zweiten, abschließenden Teil dieses Artikels werden wir nachweisen, welch tiefer Gegensatz zwischen Pannekoeks marxistischer Sicht der aktiven Rolle der Theorie und der revolutionären Begeisterung im Klassenkampf sowie dem platten, ökonomistischen Vulgärmaterialismus eines Cajo Brendels besteht. Urs
(1) Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung. Reprint Verlag. 1973.
(2) Massenaktion und Revolution. In "Die Massenstreikdebatte." Europäische Verlagsanstalt. 1970. S. 274.
(3) Lenin als Philosoph. Europäische Verlagsanstalt. 1969.
(4) Weltrevolution und kommunistische Taktik. 1920. Wiederveröffentlicht in Pannekoek, Gorter: Organisation und Taktik der proletarischen Revolution. Verlag Neue Kritik. 1969. S. 157f
Arbeitslose und Beschäftigte aller Länder:
Kämpft gegen die Logik des Kapitals!
Als 1989 die stalinistischen Regime Osteuropas fielen, brach damit einer der schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse zusammen. Der Stalinismus: Das war die Konterrevolution in Russland und weltweit, welche die Arbeiterklasse im Namen des Sozialismus ausbeutete und massakrierte, welche im Namen des proletarischen Internationalismus den Einflussbereich des "sowjetischen" Imperialismus ausdehnte. Mehr als jede andere Lüge, welche die Kapitalistenklasse je verbreitet hat, trug die Behauptung, dass der Stalinismus irgend etwas mit Sozialismus oder mit der Sache der Arbeiterklasse zu tun habe, entscheidend dazu bei, das Prinzip des Klassenkampfes und die Perspektive einer klassenlosen, wirklich menschlichen Gesellschaft zu diskreditieren.
Trotzdem war 1989 kein Sieg der Arbeiterklasse, sondern eine Sternstunde der Ideologie der herrschenden Klasse. Zwar hatten die Arbeiter Osteuropas sich Jahrzehnte lang immer wieder gegen den Stalinismus erhoben. Bereits in den Arbeitslagern Stalins gab es riesige Erhebungen der Strafgefangenen. 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1970 und 1980 in Polen usw. fanden Massenstreiks der Arbeiter statt. Doch 1989 spielte die arbeitende Bevölkerung als Klasse, als eigenständige gesellschaftliche Kraft, überhaupt keine Rolle. Leider war es nicht das Proletariat, welches seinem Todfeind den Todesstoß gab. Der Stalinismus brach zusammen, u.a. weil seine besonders starre, bürokratische, ineffiziente Form des Staatskapitalismus im internationalen Konkurrenzkampf unterlegen war.
Als im Herbst 1989 die Bevölkerung Leipzigs auf die Straße ging, waren natürlich viele Arbeiter darunter. Doch der Ruf, welcher auf diesen ersten "Montagsdemos erklang, lautete: "Wir sind das Volk". Das bedeutet, dass man sich nicht als Lohnabhängige wehrte, indem man die eigenen wirtschaftlichen, materiellen Interessen mit politischen Forderungen wie der Befreiung der politischen Gefangenen oder dem Sturz des Regimes verband - wie dies 1953 in der DDR zumindest anfangs der Fall gewesen war. Statt dessen demonstrierte man als Bürger der bestehenden Gesellschaft, die Dinge einfordern, die in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sind, und im "Westen" längst jedem Bettler, der auch Staatsbürger ist, zugestanden werden: Reisefreiheit, "freie Wahlen" und dergleichen mehr. Das waren Forderungen, womit auch die Bundesregierung in Bonn oder die Bildzeitung sich anfreunden konnten. Sie reagierten darauf mit dem Versprechen von Wohlstand für alle Staatsbürger: "Deutschland einig Vaterland". So war es nur folgerichtig, dass auf den darauf folgenden "Montagsdemos" aus dem "Wir sind das Volk" die Parole: "Wir sind ein Volk" erwuchs. Der Nationalismus ist einer der Grundideologien der kapitalistische Gesellschaft. Es lässt glauben, dass alle Staatsbürger eines Landes, egal welcher Klasse sie angehören, gemeinsame Interessen haben und zusammen eben "das Volk" bilden. Damals, 1989, gaukelte man der Bevölkerung der DDR vor, sie könnten dem Abwärtssog der kapitalistischen Krise entrinnen, welche damals bereits nicht nur die sog. Dritte Welt, sondern auch Osteuropa auf furchtbare Weise mit sich riss, indem sie sich nicht als Arbeiter, sondern als Deutsche wehren.
1989, mit dem Bankrott des Stalinismus, erhielt die Idee, dass der Kommunismus und der Gedanke des Klassenkampfes "tot" seien, enormen Auftrieb. Die Arbeiterklasse existierte zwar weiterhin. Die Ausbeutung der Lohnarbeit blieb die Grundlage der Gesellschaft. Und die Arbeiter sahen sich weiterhin mit Lohnabbau und sozialer Unsicherheit konfrontiert. Aber man fühlte sich subjektiv nicht mehr als Arbeiter. So wehrte man sich in den Jahren nach 1989 nur wenig gegen die Angriffe des Kapitals. Und wenn man es tat, dann mit dem Gefühl, sich nicht als Teil einer Klasse, sondern als Krankenschwester oder Bergarbeiter, als "Wessi" oder als "Ossi" zu wehren. Sozusagen als eine berufsmäßige und regionale "Lobby", wie andere Lobbys in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft auch. Neben dem Nationalismus ist die Demokratie die zweite Grundideologie des Kapitalismus. Soll heißen: wenn die Mehrheit der Einzelinteressen und Gruppenlobbys das Gefühl haben, sich nicht genügend Geltung verschaffen zu können, dürfen sie die Medienaufmerksamkeit auf sich ziehen und die Regierung abwählen. "Wir sind das Volk!"
Die Kapitalistenklasse hat mit Leibeskräften mitgewirkt bei dieser Auflösung der Arbeiterklasse ins Volk. Und sie hat sich riesig darüber gefreut. Denn das Proletariat ist nur so lange machtlos, wie es die eigene Identität vergisst oder verliert. Wehrt sich das Proletariat aber als Ganzes, realisiert es die Gemeinsamkeit der Interessen aller Lohnabhängigen, entwickelt es seine Solidarität im Kampf als Vorbote einer künftigen Gesellschaft, die nicht mehr auf Konkurrenz, sondern auf menschlicher Gemeinschaft ruht, dann kann es eine gewaltige Kraft werden.
Doch seit 1989 haben sich die Zeiten geändert. Die kapitalistische Wirtschaftskrise hat sich derart verschärft, dass sich selbst in den hochentwickelten westlichen Industriestaaten eine wirkliche Massenarmut ausbreitet. Der Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise beginnt sichtbar zu werden. Zur Zeit stehen zwei massive Angriffe im Mittelpunkt, welche sich gegen alle Lohnabhängigen richten. Der eine Angriff ist "Hartz", welcher die Erwerbslosen zum Paupers reduziert, und die Erpressbarkeit der Beschäftigten enorm erhöht. Der andere Angriff ist die Erpressung der Beschäftigten in den Großbetrieben der Metallindustrie, zunächst bei Siemens und Daimler, jetzt auch bei Opel und VW, um auf breitester Front immer längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich durchzusetzen und ähnliches durchzusetzen.
Diese Zuspitzung der Krise und die Massivität der Angriffe, welche sich gleichzeitig gegen alle Lohnabhängige richten, werden - über kurz oder lang -unweigerlich das Bewusstsein der Betroffenen wieder zum Leben erwecken, einer eigenen Klasse anzugehören, die mit dem Kapital in Feindschaft lebt, deren Lebensinteressen mit denen des Kapitals letztendlich unvereinbar sind. Der Kampf bei Daimler in diesem Sommer, wo die Arbeiter im Werk Bremen gegen ihre Kollegen in Stuttgart ausgespielt werden sollten, sich statt dessen aber mit diesen Kollegen solidarisierten, zeigt bereits das erste Aufkeimen eines solchen Klassenbewusstseins.
Um dies zu verhindern, versucht man jetzt, den Geist der Montagsdemos von 1989 wieder zu beleben. Wieder geistert die Parole "Wir sind das Volk" durch die Medien. Wieder soll sich das Prinzip des Klassenkampfes - Lohnarbeit gegen Kapital - in einen dumpfen, populistischen, nationalen und demokratischen Zusammenschluss der Ausbeuter mit den Ausgebeuteten auflösen.
Wir wissen: Die Forderungen der Montagsdemos von 2004 sind nicht mehr die von 1989. Die Forderung "Weg mit Hartz" ist eine wirkliche Klassenforderung, so fern sie jede Verschlechterung der Lebenslage der Lohnabhängigen ablehnt. Heute können die Herrschenden es nicht mehr verhindern, dass die Betroffenen sich gegen die Angriffe zu empören beginnen. Aber weitaus mehr als vor dieser Empörung fürchten sich die Herrschenden vor dem Klassenbewusstsein der Betroffenen. Empörung ohne Bewusstsein, ohne Verstand, lässt sich ohne weiteres missbrauchen. Die Arbeiter bei Daimler-Chrysler kämpften noch mit dem Bewusstsein, einen "Dammbruch" in der Frage der verlängerten Arbeitszeiten verhindern zu wollen und somit nicht nur für ihre eigenen Belange, sondern für die aller Arbeiter zu streiten. Mittels der Montagsdemos wird die berechtigte Empörung gegenüber der Hartz-Gesetzgebung missbraucht, und die gegenwärtigen, großen Schwierigkeiten der Erwerbslosen sich zu wehren, ausgenutzt, um Ressentiments zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, v.a. aber zwischen Ost und West zu schüren sowie um einen dumpfen Nationalismus zu verbreiten. Statt Klassenkampf rückt der Wahlkampf in den Vordergrund. "Das Volk" darf durch "Protestwahlverhalten" seinen Unmut artikulieren. Für wen es stimmt, spielt dabei keine Rolle. Denn darin sind sich alle Staatsparteien einig: Der Standort Deutschland muss fit gemacht werden für den sinnlosen, zerstörerischen kapitalistischen Konkurrenzkampf. Und das kann immer nur geschehen auf Kosten der Lohnsklaven.
Durch eine letzte, "nationale" Demo in Berlin - die auch noch am 2. Oktober, also am Vorabend des "Tages der deutschen Einheit" stattfinden soll - sollen die Proteste gegen Hartz wahrscheinlich zu Grabe getragen werden. Es wäre wünschenswert, wenn damit auch die Illusionen absterben würden, dass man als Teil "des Volkes", im Schulterschluss mit den Lokalpolitikern etwa, oder mit dem Wahlzettel in der Hand etwas für die Arbeiter erreichen werden.
Am selben Tag wie in Berlin findet in den Niederlanden ebenfalls eine Großdemo gegen die brutale Streichung der Arbeitslosenunterstützung statt. Zur selben Zeit werden die Beschäftigten von VW und Opel ebenso brutal erpresst. Die Probleme, aber auch die Interessen der Arbeiter, sind überall die gleichen. Diese Interessen lassen sich tatsächlich längst nicht mehr mit denen des Kapitals vereinbaren. Die Solidarität der Arbeiterklasse muss alle Lohnabhängigen, ob beschäftigt oder erwerbslos, erfassen. Die Solidarität der Arbeiterklasse ist international. Sie muss die ganze Menschheit erfassen, indem sie für die Zukunft der Menschheit einsteht. Nur der gemeinsame Kampf aller Arbeiter kann die herrschende Klasse das Fürchten lehren sowie eine neue, solidarische Perspektive für die Gesellschaft eröffnen. 17.09.04
"Nicht Einheit, sondern Klarheit über alles. Durch unerbittliche Aufdeckung und Austragung der Differenzen zur prinzipiellen und taktischen Einmütigkeit und damit zur Aktionsfähigkeit und damit zur Einheit, so geht der Weg..." (Liebknecht, Febr. 1916, Spartakusbrief, S. 112).
Vor einiger Zeit sind in Deutschland Gruppen aufgetaucht, die allesamt aus der kapitalistischen Linken stammen. Wir haben in unserer Presse regelmäßig über deren Positionen und Entwicklungen berichtet.
Ob die aus dem Trotzkismus hervorgegangenen Gruppen wie ‚Gruppe Internationale Sozialisten' (GIS), die ‚Initiative Linkskommunismus' (IniLK), die ‚Unabhängigen Rätekommunisten' (UK) oder die Leute um die Zeitung ‚Aufbrechen' (zuvor Proletarisches Komitee, mittlerweile sind einige ihrer Mitglieder in ‚Freunde der klassenlosen Gesellschaft' aktiv), die z.T. dem Maoismus entstammen. Sie alle haben schon vom Zeitpunkt ihrer Gründung an einige Positionen der Kommunistischen Linken übernommen.
Gegenüber dem Balkankrieg Ende der 90er Jahre oder gegenüber dem Afghanistan- und Irakkrieg bezogen diese Gruppen eine unzweideutige internationalistische Stellung und lehnten eine Unterstützung der jeweiligen Kriegsparteien ab. Während bis in die späten 1980er Jahre hinein in Deutschland nur ganz wenige Internationalisten zu vernehmen waren, da nahezu alle Gruppen nationale Befreiungsbewegungen und vor allem den bürgerlichen Antifaschismus unterstützten, und diese Leute oft internationalistische Gruppen wie die IKS an der Verteidigung des Internationalismus durch Androhung von Gewalt hindern wollten, spiegelt die Verwerfung des Antifaschismus und die Ablehnung der nationalen Befreiungsbewegungen eine wichtige Bewusstseinsentwicklung wider, wie überhaupt das Entstehen dieser Gruppen ein Zeichen einer unterirdischen Reifung in der Klasse darstellt. Zudem berufen sich all diese Gruppen auf den Kommunismus und widersetzen sich somit der Propaganda der herrschenden Klasse, die uns besonders seit 1989 einzutrichtern versucht, der Kommunismus sei tot. Wenn diese Gruppierungen, ungeachtet all der Differenzen untereinander, diese Positionen einnehmen, dann ist dies auch eine deutliche Bestätigung der Analyse und der Politik der Kommunistischen Linken.
Wie die Narben der Vergangenheit ablegen?
Nachdem diese Gruppen jedoch Positionen der Kommunistischen Linken entdeckt und teilweise übernommen haben, weil sie spüren, dass ihre althergebrachten linkskapitalistischen Positionen (wie der oben erwähnte bürgerliche Antifaschismus, die nationalen Befreiungsbewegungen, oder auch die parlamentarische Wahlbeteiligung) nichts mehr taugen, stehen sie vor der Frage, welche tiefgreifenden Konsequenzen sich eigentlich aus der Übernahme linkskommunistischer Positionen für sie ergeben. Denn die erste, oft schmerzvolle, manchmal gar widerwillige Berührung; dann Sympathie mit oder Übernahme von linkskommunistischen Positionen heißt für diese Gruppen noch lange nicht, dass sie auch mit den alten linkskapitalistischen Traditionen, Methoden und Verhaltensweisen gebrochen haben.
Das Merkmal linkskapitalistischer Politik ist nämlich nicht nur ein bestimmtes Programm, sondern auch und immer eine bestimmte Denkweise und Form des Herangehens. Mit der linkskapitalistischen Mentalität zu brechen ist oft sogar schwieriger als sich von einzelnen bürgerlichen politischen Positionen zu verabschieden.
Diese Schwierigkeit stellt sich insbesondere gegenüber der Frage der Intervention. Das ist auch naheliegend. Denn eine revolutionäre Organisation des Proletariats ist kein Selbstzweck, sondern existiert, um in der Klasse zu intervenieren. Nur darin findet sie ihre Daseinsberechtigung. Jedoch zeichnete sich die Kommunistische Linke von Anfang an durch das Verständnis aus, dass es in der "Epoche der Kriege und der Revolutionen" Organisationen gibt, welche im Namen der Arbeiterklasse, des Sozialismus, ja sogar des Marxismus sprechen, obwohl sie inzwischen Bestandteil des bürgerlichen Staates geworden sind. Das bedeutet, dass es nicht mehr ausreicht, wie in der Anfangszeit der Arbeiterbewegung, mit einem vagen Bekenntnis zum Sozialismus und Arbeiterwiderstand zu intervenieren, um tatsächlich auch der Sache des Proletariats dienen zu können. Seitdem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften mit dem 1. Weltkrieg ins Lager des Kapitals übergewechselt sind, werden - durch die Geschichte selbst - viel höhere Anforderungen gegenüber dem politischen Inhalt der Intervention der Revolutionäre gestellt. Eine der ersten großen Abwehrschlachten der Linkskommunisten Anfang der 20er Jahre gegen den wachsenden Opportunismus der Kommunistischen Internationale war dann auch ihr Widerstand gegen eine sich abzeichnende Neubewertung der Sozialdemokratie, welche nicht mehr als linker Flügel der Bourgeoisie, sondern als rechter Flügel der Arbeiterbewegung eingestuft werden sollte.
Bei den linksbürgerlichen Organisationen stellt sich die Frage der Intervention qualitativ anders dar. Da sie von ihrem Klassenwesen her die bestehende Gesellschaft nicht in Frage stellen, sehen sie ihre Aufgabe darin, die Arbeiter und ihre Kämpfe unter Kontrolle zu bringen, sie in bestimmte, mit der Staatsräson und der Lohnarbeit verträgliche Bahnen zu drängen. Darüber hinaus konkurrieren diese Gruppen untereinander um Einfluss gegenüber der Klasse. Denn je größer die Kontrollfunktion ist, die sie gegenüber der Arbeiterklasse ausüben können, desto interessanter werden sie als Mitarbeiter des Staates, sei es in den Gewerkschaften, sei es auf lokaler oder gar nationaler Ebene in den Parlamenten oder anderen Gremien.
Typisch für die neuformierten Gruppen, welche dem linksbürgerlichen Lager entstammen, und nunmehr Anschluss an die proletarische Bewegung suchen, ist, dass sie die Notwendigkeit der größtmöglichen politischen Klarheit in der Intervention stark unterschätzen. Anstatt ausreichend und kollektiv dafür zu sorgen, dass der Bruch mit dem Lager des Kapitals wirklich vollzogen wird, verwenden sie ihre Energie vor allem darauf, möglichst schnell "Einfluss" zu gewinnen.
So neigten die oben genannten Gruppen - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - dazu, sich zwar einige Positionen der Kommunistischen Linken zu eigen zu machen, aber in der Frage der Intervention die Suche nach "Einfluss" so zu stellen, wie sie es bisher von den Trotzkisten oder Maoisten gelernt haben. Denn bei den Linkskapitalisten wird Klärung, Debatte, politische und theoretische Bildung entweder als Mittel des Machtkampfes und der bürgerlichen Kontrolle missbraucht, oder aber als ein akademischer Zeitvertreib verachtet. Es hat den Anschein, als ob sich die obengenannten Gruppen nach dem Motto richten: Jetzt haben wir doch bessere, ja die richtigen Positionen, dann können unsere Hauptziele: die Intervention effizienter und unser Einfluss rasch größer werden.
So hat z.B. die Gruppe ‚Aufbrechen' kurz nach dem 11. September 2001, als die USA schon den Afghanistankrieg vorbereiteten und als es darum ging, eine in die Tiefe gehende Analyse der Ereignisse zu erstellen, ihre ganze Energie darauf verwendet, zusammen mit anderen (oft linkskapitalistisch angehauchten Leuten) einen Aufruf zum Wahlboykott gegenüber den lokalen Senatswahlen in Berlin herauszubringen. Anstatt zunächst die Weltlage gründlich zu analysieren, stürzte man sich in ein wildes Flugblattverteilen gegen die Wahlbeteiligung. Oder wie am 1. Mai 2002, wo ‚Aufbrechen' kurz davor war, einen gemeinsamen Aufruf mit stalinistischen Gruppen zu veröffentlichen. Die IKS hat damals den Opportunismus dieser Gruppe kritisiert. Die Genossen haben uns damals versprochen, auf unsere Kritik zu antworten. Dieses Versprechen wurde nie eingelöst. (Siehe Weltrevolution Nr. 112)
Die Frage der Intervention – eine bürgerliche und proletarische Methode prallen aufeinander
Lassen sich aber die Übernahme einzelner linkskommunistischer Positionen und die Fortsetzung einer im wesentlichen unveränderten Praxis vereinbaren? Nein!
Nach der ersten Berührung mit dem Linkskommunismus darf die Losung nicht lauten, "in der Praxis weiter so wie bisher", sondern sie muss lauten: Klärung als erste Bedingung einer wirklich proletarischen Intervention. Aus der Sicht linksbürgerlicher Gruppen wie beispielsweise der Trotzkisten sind sozialdemokratische und stalinistische Parteien und die Gewerkschaften ein Teil der Arbeiterbewegung. So lautet ihr Motto: "Einfluss gewinnen auf diesen Teil der Arbeiterbewegung" (ob durch Unterwanderung, alternative Gewerkschaften, Wahlunterstützung usw.) Sie richten ihre ganze Politik darauf aus, ihre Leute in solchen Organisationen zu plazieren und wirken zu lassen; dabei landen sie in Wirklichkeit im bürgerlichen Staatsapparat.
Es ist eine der dringendsten Aufgaben der Revolutionäre, jeweils zu klären, ob jemand ein Verbündeter, ein Freund oder ein Feind der Arbeiterklasse ist. Zu klären: Was sind proletarische Forderungen? Was ist das Klassenterrain, auf dem die Arbeiterklasse ihre Interessen durchsetzen kann? Was ist bürgerliches Terrain? Was sind bürgerliche Organisationen? An wen wenden wir uns? Was sind proletarische und was bürgerliche Organisationen? Anhand welcher Kriterien erkennt man, ob Organisationen, die sich Arbeiterorganisationen und marxistisch nennen, wirklich etwas mit der Arbeiterklasse zu tun haben? Nach der blutigen Erfahrung der Spartakisten in den revolutionären Kämpfen in Deutschland erkannte in den 20er Jahren auch die Kommunistische Linke in Italien und in Deutschland, dass die Demokratie, linke Parteien und der Antifaschismus nicht nur Gegner der Arbeiterklasse, sondern deren schlimmste Feinde sind. Nicht ohne Grund nannte Bordiga den Antifaschismus das schlimmste Produkt des Faschismus.
Die eigentliche Vorbedingung für eine wirkungsvolle Intervention ist die Schaffung von Klarheit. Während bei den linken Gruppen oft Streit darüber ausbricht, wo man interveniert, ob gegenüber den Studenten oder den Beschäftigten, ob gegenüber der antifaschistischen Bewegung, den Autonomen usw., spielen in diesen Kreisen Erwägungen prinzipieller Art natürlich keine Rolle. Vorkämpfer des Proletariats hingegen müssen wissen, dass eine inhaltlich falsche Intervention dem Klassenfeind in die Hände spielen kann. Eine wirkliche Weiterentwicklung und tatsächliche Loslösung von der bürgerlichen extremen Linken ist erst möglich, wenn die Frage der Intervention nicht mit einer bürgerlichen, sondern mit einer proletarischen Methode angegangen wird. Wir wollen dies anhand eines Beispiels verdeutlichen.
Das Beispiel der GIS: Ausweichen vor der Klärung
Die GIS hat mittlerweile zehn Ausgaben ihrer politischen Zeitschrift "Sozialismus oder Barbarei" herausgebracht. In jeder Nummer wird zu Fragen der Aktualität Stellung bezogen - meist mit einem Schwerpunkt "Anprangerung des Systems und seiner Verteidiger". Vor allem wird der Leser nach der Lektüre der zehn Ausgaben keinen einzigen Grundsatzartikel, keine Polemik, keine Debatte mit irgend einer politischen Richtung finden. Während es in den Reihen der GIS eine Vielzahl von Debatten (mit Spaltungen, Austritten und Ausschlüssen) gibt, vermittelt die GIS-Zeitschrift den Eindruck einer fertigen, homogenen, in ihrer Entwicklung abgeschlossenen Gruppe. Seit Beginn des Erscheinens der Zeitschrift liegt der Akzent auf der ‚Propaganda'. Es ist natürlich richtig, wenn die Genossen sich die Aufgabe stellen, die Zeitung hauptsächlich als Interventionsorgan gegenüber der Klasse zu benutzen. Aber das Ringen der Mitglieder solcher Gruppen um politische Klarheit ist ein Teil des Lebens der Arbeiterklasse. Die Veröffentlichung der Ergebnisse der internen Debatten solcher Gruppen, die Durchführung von schriftlichen Korrespondenzen und politischen Diskussionen mit anderen Gruppen, insbesondere mit den bestehenden Gruppen der Kommunistischen Linken, sowie die schriftliche Veröffentlichung auch dieser Debatten wäre ebenfalls eine wichtige Intervention gegenüber der Klasse. Und zwar eine besonders wichtige und potenziell sehr fruchtbare Intervention, sowohl für die Gruppen selbst, als auch für die politisch denkenden Teile der Klasse insgesamt. Ansonsten droht die Gefahr, dass man die erste Aufgabe, nämlich die programmatische Klärung, vernachlässigt. An einer Berichterstattung über die in den Reihen der GIS stattfindenden Diskussionen, über die Diskussionen mit anderen Gruppen fehlt es bislang. Warum hat die GIS bislang keine Zeile veröffentlicht über den Prozess des Nachdenkens und der Klärung in ihren eigenen Reihen? Nur indem man die Klärung in den Vordergrund stellt, kann man die Grundlage für die Intervention liefern. Aber diese Klärung muss durch und in der Zeitung vorangetrieben werden. Das erfordert, sich den Debatten mit anderen Gruppen zu stellen. Nur indem man sich äußert, kann man selbst mehr Klarheit entwickeln.
Der Schwerpunkt der Klärung ist nicht umzusetzen, wenn man keine wirkliche Debatte nach Innen und Außen anstrebt. Die Gruppen, die aus der bürgerlichen extremen Linken stammen, kannten natürlich keine Debattentradition in ihren Reihen. In einer proletarischen Organisation gehören Debatten und die verantwortungsvolle Wiedergabe solcher Debatten dagegen zu einem wesentlichen Bestandteil der Aktivitäten einer Gruppe. Wir wissen, dass man lernen muss, die Wichtigkeit von Debatten zu erkennen und auch über sie zu berichten. Deshalb ist der Bruch mit der linkskapitalistischen Vergangenheit untrennbar verbunden mit der Fähigkeit, sich der Aufgabe der inhaltlichen Klärung und der öffentlichen Auseinandersetzung damit in der Presse zu stellen. (1)
Erst wenn diese Scheu überwunden, die Fessel linkskapitalistischer Vergangenheit abgelegt werden kann, gelingt der Sprung ins Lager des Linkskommunismus. Die IKS betrachtet es als überlebenswichtig für sich selbst, sich mit allen Kräften der theoretischen Vertiefung und Klärung zu widmen, weil wir wissen, dass dies eine der Vorbedingungen für eine adäquate Intervention ist. "Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewahrt" (Rosa Luxemburg, 1916).
Keine Suche nach politischem Einfluss ohne politische Klarheit
Jedesmal wenn eine der oben genannten Gruppen das Licht der Welt erblickte, haben wir in unserer Presse neben der Begrüßung dieser internationalistischen Stimmen gegenüber den Gruppen direkt auf die Notwendigkeit der Fortsetzung der Klärung, der weiteren inhaltlichen Vertiefung bestanden. Als Reaktion auf diese Betonung der inhaltlich-programmatischen Klärung wurde die IKS häufig von Mitgliedern dieser Gruppen verpönt, die IKS sei eine Gruppe, die sich lieber an den Seitenrand, sozusagen auf den Balkon stelle, und von oben herab kommentiere und kritisiere, anstatt ein Teil der Bewegung zu sein und anstatt mitzumachen. So scheue die IKS vor dem Klassenkampf zurück und wolle nur reden und analysieren, anstatt zu intervenieren.
Wir wollen diesen Vorwurf vom Tisch räumen, dass Intervention und die Priorität der politischen Klärung sich gegenseitig im Wege stünden. Die IKS hat sowohl eine Analyse (von der wir wissen, dass sie auf verschiedenen Ebenen angefochten wird) zu bieten als auch eine Interventionsbilanz. Beispielsweise ist die IKS nach der Auslösung des jüngsten Irak-Krieges mit einem Flugblatt in 14 Ländern interveniert. Wir waren als einzige Organisation dazu in der Lage, in 13 Sprachen, in über 50 Städten, darunter in einigen der wichtigsten Industriemetropolen mit diesem Flugblatt zu intervenieren - neben unserer Presse, die wir auf Demonstrationen und Veranstaltungen verkauft haben. Auch bei den jüngsten Protestaktionen der Daimler-Chrysler-Beschäftigten stand die IKS nicht am Seitenrand, sondern hat - mit den geringen, uns zur Verfügung stehenden Mitteln - unter anderem ein Flugblatt an den wichtigsten deutschen Standorten von Daimler-Chrysler verteilt (Sindelfingen, Bremen, Düsseldorf sowie vor anderen Großbetrieben und vor Arbeitsämtern). Unsere Kritiker, die uns Passivität vorwerfen, mögen selbst über ihre Interventionen berichten und ihre Analyse der Ereignisse vorstellen. Wir jedenfalls berichten so gut es geht über unsere Intervention, ihre politische Ausrichtung und die Reaktionen der Arbeiterklasse. Wir betrachten es als unsere Pflicht, jeweils eine politische Bilanz derselben zu erstellen. Soweit zu dem Vorwurf, Intervention und der Schwerpunkt politische Klarheit behinderten sich gegenseitig.
Tatsächlich hat die Geschichte gezeigt, dass eine Organisation nur dann ihre Schlüsselrolle erfüllen kann, wenn sie in einem Lernprozess die Fähigkeit entwickelt hat, anhand einer korrekten Analyse zum richtigen Zeitpunkt den wesentlichen Anstoß in der Arbeiterklasse zu geben.
Und die Geschichte hat auch bewiesen, dass diejenigen Gruppen, die die programmatische Klärung - innerhalb der Gruppe und nach außen hin gegenüber dem bestehenden politisierten Milieu - als zentrale Achse ihrer Intervention betrachten, einen wertvollen Beitrag leisten können, sowohl zu ihrer eigenen politischen Entwicklung als auch zur Hebung des Klassenbewusstseins in einem größeren Rahmen. Weltrevolution
(1) Beispielsweise veröffentlichte die IKS in Weltrevolution Nr. 121 eine Kritik an der GIS und ihrer Einschätzung der Gewerkschaften und der Linken. Bis dato hat die GIS nicht darauf geantwortet. Die IKS schrieb ca. ein halbes Dutzend Polemiken zur Gruppe Aufbrechen - sie blieben alle unbeantwortet.
Beschuldigungen innerhalb der Schweizer Regierung wegen Uneinigkeiten in der EU-Politik füllen regelmässig die Zeilen der Presse. Bundespräsident Deiss rügt seinen Justizminister Blocher wegen mangelnder Loyalität. Dieser stellt scharfzüngig bei öffentlichen Auftritten die neu geplanten bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU zur Erweiterung des Personenfreizügigkeits-Abkommens und des Schengen/Dublin-Abkommens in Frage. Die Schweizerische Regierung scheint sich in den Haaren zu liegen. Ist dies belangloses bürgerliches "Polittheater" oder stecken hinter den Uneinigkeiten zur EU-Frage tatsächliche Probleme?
Zwischen den verschiedenen Teilen der Schweizerischen Bourgeoisie, von Links bis Rechts, und deren Regierungsvertretern herrscht natürlich allemal eine grundsätzliche Einigkeit über die Wahrnehmung der Interessen des nationalen Kapitals im Konkurrenzkampf gegenüber allen anderen Staaten. Am selben Strick ziehen sowohl die Sozialdemokratie, die rechtsbürgerliche SVP um Justizminister Blocher und alle anderen Parteien gegenüber der Arbeiterklasse - vor allem dann, wenn es darum geht, die Krise auf die Arbeiter abzuwälzen. Erinnert sei hier an die Rentenreform. Dennoch sind die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Querelen um die EU zwischen den Ministern nicht wie oftmals in der bürgerlichen Politik simple Ablenkungsmanöver. Mit der strittigen Frage "Europa" bricht regelmässig ein für den Schweizerischen Kapitalismus schon historisch gewordenes Problem auf: die drohende Bestrafung seitens der kapitalistischen Nachbarn und Konkurrenten für eine Politik des Sonderwegs der Schweiz. Die helvetischen Streitereien um die EU-Verträge sind heute mehr denn je Ausdruck dafür, dass der zerfallende Kapitalismus die herrschende Klasse mit neuen Problemen konfrontiert, bei denen sie ans Ende ihres althergebrachten Lateins zu geraten droht. Für die Schweizerische Bourgeoisie wird ihr Verhältnis zur EU vor allem auf wirtschaftlicher Ebene immer mehr zu einer heiklen Überlebensfrage.
Die EU-Verträge: Zweckbündnis aber Notwendigkeit für die Schweizer Wirtschaft
Die EU ist keineswegs von Einheit unter den Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Noch viel weniger ist die EU auf dem Wege einen neuen imperialistischen Block zu formieren, wie sie zur Zeit zwischen 1945 bis zum Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks 1989 bestanden.1 Ganz im Gegenteil: die EU selbst wird immer offensichtlicher ein Terrain imperialistischer Spannungen und Manöver, bei dem jedes Land vor allem aus einem Kalkül zur Realisierung seiner eigenen Vorteile und besseren Kontrolle der anderen europäischen Staaten teilnimmt. Angesichts der sich unbarmherzig verschärfenden internationalen Krise der kapitalistischen Wirtschaft jedoch sind die wirtschaftlichen Übereinkünfte unter den EU-Staaten zwar nur zeitweilige aber unabdingbare Zweckbündnisse, um gegenüber dem Druck der amerikanischen oder japanischen Wirtschaft noch einigermassen konkurrenzfähig zu bleiben. Ein anderes gemeinsames Kalkül der EU-Mitgliedsstaaten ist die Errichtung eines Bollwerks, um die Auswirkungen der Krise möglichst lange von Europa fern zu halten und auf Länder der kapitalistischen Peripherie abzuschieben. Ein "gemeinsames Projekt" des europäischen Kapitals, welches aber immer deutlicher zum Scheitern verurteilt ist. In diesem internationalen Rahmen, welcher durch einen verzweifelten Kampf des Kapitals gegen das ökonomische Desaster und das kriegerische Chaos gekennzeichnet ist, sind die zähen Verhandlungen um die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU alles andere als ein Ringen um endlose Profite in einem kapitalistischen Schlaraffenland, in dem es immerzu aufwärts geht. Zu solchen naiven Analysen greifen lediglich linke Antiglobalisierer, welche sich einen gerechten Kapitalismus des fairen Handels zum Ziel gesetzt haben. Sie sind vielmehr Ausdruck davon, dass die herrschende Klasse aller Länder immer mehr Schwierigkeiten hat, die Widersprüche ihres System unter Kontrolle zu behalten und unter dem Druck der Krise zu einer dauernden Gratwanderung zwischen Verteidigung der nationalen Interessen einerseits und Konzessionen andererseits gezwungen ist. Der Schweizerische Kapitalismus ist davon in einer besonderen Art und Weise betroffen, da er über eine ausgeprägte isolationistische Tradition verfügt, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem latenten Problem heranwuchs. Vom Kriegsgewinner USA wurde das Schweizerische Kapital für die sogenannte Neutralität, beziehungsweise die Händel mit beiden Kriegsfronten im Zweiten Weltkrieg, mit der Einfrierung Schweizer Gelder in den USA bestraft. Um die Interessen des nationalen Kapitals auf einem von zwei Blöcken kontrollierten Weltmarkt der Nachkriegszeit weiterhin verteidigen zu können, begann die Schweizer Bourgeoisie schon damals mit der althergebrachten Tradition der Isolation schrittweise zu brechen. Dies geschah zur Zeit des Wiederaufbaus der 50er Jahre jedoch vor allem unter dem Druck der imperialistischen Spannungen zwischen den Blöcken und weniger aus rein wirtschaftlichen Überlegungen. Die Schweizer Bourgeoisie musste sich aus der geografischen Lage im Herzen Europas heraus klar als Teil des westlichen Blocks engagieren, nicht auf dem Hintergrund einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise und einem imperialistischen Jeder gegen Jeden wie heute. Darüber kann auch das berühmte Schweizer Bankgeheimnis nicht hinwegtäuschen, welches viel weniger das Produkt einer erfolgreichen trotzigen Abgrenzung gegenüber den anderen Staaten des westlichen Blocks war, sondern von vielen Bourgeoisien anderer Länder unterstützt wurde, um, wie in Luxemburg, Bastionen für Fluchtgelder zu haben. Der Grossangriff auf das Bankgeheimnis begann dementsprechend auch nach dem Zusammenbruch der Blöcke 1989.
Der Zerfall vertieft die Widersprüche des Kapitalismus
Seit dem Ende des Wiederaufbaus Ende 60er Jahre ist der Kapitalismus erneut mit einer dauernden ökonomischen Krise konfrontiert. Diese fand ihren heftigsten Ausdruck im Zusammenbruch des Ostblocks, welche unter anderem ein Resultat des die Wirtschaft erdrückenden imperialistischen Wettrüstens war. Der Zusammenbruch des Ostblocks läutete auch definitiv eine neue Phase des Kapitalismus ein: den Zerfall des Kapitalismus. Nur wer die Augen vor der Realität vollkommen verschliesst, kann leugnen, dass die unkontrollierbaren zerstörerischen Kriege wie in Ex-Jugoslawien während der 90er Jahre und heute in Afghanistan und dem Irak die Wirtschaft aller beteiligten Staaten erdrosseln, keineswegs im Ganzen gesehen profitabel sind und einen irrationalen Charakter angenommen haben. Eine Situation, welche grundsätzlich schon seit dem Ersten Weltkrieg existiert, als der Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seine niedergehende Phase eintrat, und sich grundlegend von der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Der Zerfall des Kapitalismus jedoch, von dem wir seit Ende der 80er Jahre sprechen, zeichnet sich dadurch aus, dass das Kapital immer mehr die Kontrolle in einer Welt des Jeder gegen Jeden verliert. Die Bourgeoisien der führenden europäischen Länder versuchen heute darauf ähnlich zu reagieren wie schon der zerfallende Feudalismus ab dem 16. Jahrhundert auf den Zerfall mit der Bildung absolutistischer Staaten antwortete: mit einer verzweifelten Zentralisierung der Macht. Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Errichtung des Staatskapitalismus die Antwort des Kapitals auf die niedergehende Phase des Kapitalismus war, welche es dem Kapital ermöglichte, Weltkriege zu führen, die das System selbst aber ruinierten, so stossen die Versuche der Koordinierung und Zentralisierung der Wirtschaft auf EU-Ebene auf zunehmende Schwierigkeiten. Das Problem des gesättigten Weltmarktes kann auch mit einer Koordination einzelner Staaten nicht überwunden werden. Die EU mit ihren Wirtschaftsabkommen drückt damit nicht eine neue Perspektive des Wachstums oder der wirklichen Konkurrenzfähigkeit aus, sondern ist ein genauso verzweifelter Versuch, den Kopf noch so lange wie möglich über Wasser zu halten und ein Bollwerk gegen das Chaos zu errichten. Grundsätzlich bleibt im Kapitalismus die Konkurrenz zwischen den einzelnen Nationen als ehernes Gesetz bestehen. Die heutige Krise des Kapitalismus und das zunehmende Chaos in der Peripherie des Systems zwingt jedoch die entwickelten Industriestaaten zu wirtschaftlichen und polizeilichen Übereinkünften, um überhaupt bestehen zu können. All dies bedeutet aber keinesfalls eine "Globalisierung" oder die Entstehung eines "international geeinten Kapitals", sondern verhindert nur, dass die Verschärfung der Konkurrenz zu einem Auseinanderbrechen der Weltwirtschaft wie in den 1930er Jahren führt.
Eine Politik der politischen und wirtschaftlichen Isolation, wie sie noch von rückständigen Teilen der Schweizerischen Bourgeoisie wie der SVP vertreten wird, entspricht den Zwängen des krisengeschüttelten Kapitalismus nicht. Die Schweizerische Exportwirtschaft ist enorm vom deutschen Markt abhängig, der grössten ‚Volkswirtschaft' der EU. Allein schon diese Tatsache zwingt den schweizerischen Staatskapitalismus, mit der EU in Verträge einzutreten, um der nationalen Wirtschaft Leitplanken zu bieten. Zusammenschlüsse mit anderen europäischen Industriekonzernen wie die schwedisch-schweizerische ABB-Fusion waren schon in den 80er Jahren Anzeichen des Zwangs wirtschaftliche Allianzen einzugehen, um noch konkurrenzfähig zu bleiben.
Ein Problem des Zerfalls: Die fehlende Harmonie innerhalb der herrschenden Klasse
Die Schweizer Bourgeoisie hat auch erkannt, dass sie durch die fragilen Bedingungen des kapitalistischen Zerfalls immer mehr gezwungen ist, eine kohärente Aussenpolitik zu führen. Die verstärkte Integration desjenigen Teils der herrschenden Klasse rund um Blocher (den Justizminister), welcher sich noch in der Regierung an der Tradition der "absoluten Eigenständigkeit" festklammert, ist ein deutlicher Versuch einem weiteren Problem des kapitalistischen Zerfalls zu Leibe zu rücken: eine gewisse Tendenz hin zur Schwächung der Wirksamkeit der politischen Kontrolle des Staats. Die schweizerische Bourgeoisie hat vor einigen Monaten durch die Eingliederung Blochers in die Regierung bewusst den Versuch unternommen, einen ‚undisziplinierten Mitspieler' gerade in der Aussenpolitik, besser zu kontrollieren. Auch wenn der Staatskapitalismus die Kontrolle des Staates über alle Bereiche der Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkrieges notwendig machte, und dieser jahrzehntelang der herrschenden Klasse weltweit in jeder Nation eine Kontrolle über die eigene Nation garantierte, so nagt der Zerfall heute selbst in den Industriestaaten am Zusammenhalt und der Zielgerichtetheit des Staatskapitalismus. Diese Tendenz zeigt sich in der sog. Dritten Welt am deutlichsten, wo in Ländern wie Afghanistan, dem Sudan, Gebieten im Süden des ehemaligen Ostblocks oder afrikanischen Ländern der Staat die Kontrolle komplett verloren hat und Kriegsherren und deren Banden das Feld überlassen muss. Diese Situation ist zwar keineswegs mit derjenigen in den zentralen europäischen Ländern vergleichbar. Dennoch zeigt sich die Perspektivlosigkeit des zerfallenden Kapitalismus immer mehr auch bei der herrschenden Klasse in den zentralen Ländern selbst. Die fast schon berühmten Streitigkeiten innerhalb der französischen Bourgeoisie sowie das Phänomen des ‚politischen Populismus' sind Ausdrücke davon. Der Zerfall des Kapitalismus hat auch den Mythos einer herrschenden Klasse, welche immer alles fest im Griff hat, zu erschüttern begonnen. Wenn heute Uneinigkeiten zwischen Ministern der Schweizer Regierung über die Frage des Verhältnisses zur EU öffentlich mit Beschuldigungen ausgetragen werden, so wiederspiegelt dies die Schwierigkeiten für den Kapitalismus, auf die heutige Krise eine Lösung zu finden und innerhalb der herrschenden Klasse jederzeit die Disziplin zu garantieren. Schlussendlich sind die Widersprüche des eigenen kapitalistischen Systems stärker als der Wunsch der Bourgeoisie, dass auch in ihren Reihen alles reibungslos über die Bühne geht.
Nicht "Für oder Gegen" die EU
Wir haben zu Beginn des Artikels schon darauf hingewiesen, dass diese Streitigkeiten innerhalb der Schweizer Regierung nicht lediglich Scheinwidersprüche oder Ablenkungsmanöver gegenüber der Arbeiterklasse darstellen. Selbstverständlich jedoch versucht die Bourgeoisie aus der Not ihrer Schwierigkeiten eine Tugend zu machen und die Arbeiterklasse in eine politische Logik des "Für oder Gegen" die EU zu lotsen. Bei den Bestrebungen, die Arbeiterklasse ins Gefängnis einer Identifikation mit den Interessen des eigenen Kapitals zu sperren, sind sich Linke, Sozialdemokraten und auch Blochers SVP mehr als einig, auch wenn sie sich öffentlich einer falschen Haltung gegenüber der EU bezichtigen.
Für die Arbeiterklasse stellt sich nicht die Frage, welche Strategie des Schweizer Staates gegenüber der EU die vorteilhafteste sei, sondern wie sie ihre Interessen als Arbeiterklasse verteidigen und den Kapitalismus im gemeinsamen Kampf mit den Arbeitern aller andern Länder überwinden kann. 9. 9. 04
1 Wir möchten den Leser an dieser Stelle die Lektüre unseres Artikels "Europa: Wirtschaftsbündnis und Terrain imperialistischer Manöver" in der Internationale Revue Nr. 31 empfehlen.
Seit Jahren schon wachsen die Budgetdefizite der Industrieländer, ihre Verschuldung steigt ununterbrochen und verallgemeinert sich in kaum kontrollierbarer Weise. Auf der Tagesordnung stehen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates und massive Entlassungen in zahlreichen Regionen der Welt, während alle Ankündigungen eines "Wirtschaftsaufschwungs" leere Versprechen sind. In dieser Situation, in der sich die Zukunft in dunklen Farben abzeichnet, hört die Bourgeoisie aber nicht auf, uns das "Wirtschaftswunder China" anzupreisen. Angesehene Ökonomen rühmen China als Vorboten einer neuen Entwicklungsphase des Weltkapitalismus.
Der "Triumph der roten Kapitalisten" und der "Boom der chinesischen Wirtschaft wären demnach die Propheten einer neuen Entwicklungsphase des Kapitalismus.
Ein ungestümes Wachstum...
Das BIP-Wachstum Chinas hält zweifelsohne Rekorde: 7,8% im Jahr 2002, 9,1% im Jahr 2003 und zweistellige Voraussagen für 2004. Als China der Welthandelsorganisation WTO beitrat, befand sich der Welthandel in einer Flaute; der Handel zwischen China und dem Rest der asiatischen Welt nahm aber kräftigen Aufschwung. Und 2003, als der Welthandel nur um 4,5% zunahm, wuchs derjenige Asiens allein um 10 bis 12%, insbesondere auch derjenige Chinas, dessen Importe um 40% und die Exporte um 35% zunahmen. Von 1998 bis 2003 stiegen die Exporte um 122%, die "Hightech"-Produktion um 363%. 2003 wurde China zum internationalen Investitionsempfänger Nr. 1: mit 53,5 Milliarden Dollar an internationalen Investitionen übertraf es gar die USA. Es herrscht eine wilde Finanzspekulation im Land.
In nur zwei Jahren ist das Reich der Mitte zum Motor der Weltwirtschaft geworden. Gewissen Ökonomen zufolge wird es in 15 Jahren Japan und in 45 Jahren die Vereinigten Staaten eingeholt haben. Chinas BIP ist heute schon demjenigen Frankreichs oder Großbritanniens gleich.
Japan, die USA und Europa reißen sich um die Produkte "Made in China" und um die neuen Industrieregionen Chinas, die wie Pilze aus dem Boden schießen und Investitionen magnetisch anziehen. Und so beabsichtigt die Europäische Union ihre Partnerschaft mit China zu vertiefen und es zum wichtigsten Handelspartner zu machen. Die amerikanische Bourgeoisie investiert massiv und zunehmend in China mit dem doppelten Ziel, die chinesische Wirtschaftsentwicklung voranzutreiben und zu verhindern, dass die USA die Konkurrenzfähigkeit gegenüber China verlieren. Das Handelsdefizit Amerikas gegenüber Peking erreichte im Jahr 2003 130 Milliarden Dollar, was eine Folge der Überflutung des amerikanischen Marktes mit chinesischen Produkten ist.
... auf Sand gebaut
Auf den ersten Blick zeigt sich ein idyllisches Bild: ein ungestümes Wachstum, das spielend mit Krisen wie 1997 in Südostasien oder mit dem Platzen der Finanzblase der "New Economy" im Jahr 2001 fertig wird. In eben diesem Jahr tritt China der WTO bei.
Dieser Eintritt in die WTO ist aber kein wirklicher Umbruch der chinesischen Wirtschaft, sondern eine Etappe in ihrer Politik der Wirtschaftsliberalisierung, die Ende der 1970er Jahre ihren Anfang genommen hatte. Zuerst wurden dabei die Exportindustrien gefördert und dann weitere Industrien geschützt - die Automobil-, die Nahrungsmittel- und Konsumgüterindustrie. Später, im Verlauf der letzten zehn Jahre, führte China ein Zollregime ein, das die in der Küstenzone konzentrierte Exportindustrie bevorzugen sollte.
Aber die Zurschaustellung der Gewinne, die heute in der letzten großen Bastion des angeblichen "Kommunismus" gemacht werden, kann über die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus in seiner offenen Krise nicht hinwegtäuschen.
Bürgerliche Experten stellen sich die Frage: "Wie lange kann das noch so weitergehen?" Sie plädieren für eine Verlangsamung der Investitionen und stellen fast mit "Erleichterung" fest, dass die Investitionstätigkeit in fixes Kapital im Monat Mai und gemessen am Jahrestempo nur um 18% zugenommen hat (verglichen mit den 43% im ersten Trimester). Die galoppierende Inflation ist ein Zeichen dieser "Überhitzung", vor der sich die Ökonomen so sehr fürchten. Im April lag die Inflationsrate bei offiziell 3,8%, in Wirklichkeit aber bei über 7% - gemäß Wirtschaftsexperten, die die Verschwommenheit der offiziellen Statistiken in China kennen und deuten können. Im Lebensmittelsektor liegt sie bei 10%. Die größte Teuerung erfuhr aber der Rohstoffmarkt. Hier führten Tempo und Begierde der industriellen Nachfrage zu der seit 30 Jahren stärksten Preiserhöhung. Stahl, Aluminium, Zinn, Baumwolle und vor allem Erdöl nähren eine unkontrollierbare und explosive Spekulation.
Der chinesische Staat bemüht sich selbst, das Wirtschaftswachstum zu beschränken und verordnete Krediteinfrierungen und Preisblockaden für Konsumgüter, wo die Teuerung gegenwärtig 1% im Monat ausmacht. Für die chinesischen Behörden war es somit schon ein Erfolg, als sie das Wachstum für den Monat Juli auf 15,5% beschränken konnten.
Die drohenden Gefahren sind aber zahlreich. Die Immobilienblase verursacht den chinesischen Behörden Kopfschmerzen; der Bankensektor ist eigentlich beinahe bankrott: mindestens 50% der Guthaben sind unsicher. 60% der Investitionen fließen nicht in den Produktionszyklus, sondern werden in Hongkong oder in einem Steuerparadies angelegt, d.h. für Finanzspekulationen oder Geldwäscherei verwendet.
Die astronomischen Profite, die heute in China realisiert werden, sind in Wirklichkeit nur das Resultat einer zügellosen Spekulation, die nicht nur China, sondern die ganze Welt betrifft. Diese Profite sind keine Folge von wirklichem Warenverkauf und Aufwertung des produktiven Kapitals. Es wird immer schwieriger, für die den Weltmarkt überschwemmenden Waren Käufer zu finden - den Tiefpreisen zum Trotz. Die wirkliche Perspektive zeigt neue Verschärfungen der historischen Krise des Kapitalismus auf. Die Ereignisse in China haben nichts zu tun mit einer Entwicklung der Produktivkräfte, wie sie im 19. Jahrhundert stattfand. Die Wachstumsphasen von damals versprachen eine immer ungestümere Entwicklung der Produktivkräfte, heute jedoch zeugen sie von der eindeutigen Verschärfung der Widersprüche des Systems.
Das schreiende Elend der Bevölkerung und der Arbeiterklasse in China
Was der chinesischen Bevölkerung heute widerfährt, ist ein frappanter Ausdruck dieser Widersprüche. Die ärmsten 20% der Bevölkerung des Landes erhalten nur 6% des Einkommens der Gesamtbevölkerung. Man vergleiche diese Zahlen mit denjenigen Indiens oder Indonesiens (dieselben 20% erhalten hier 8% respektive 9% des Gesamteinkommens), beides Länder, die als extrem arm gelten.
Das berühmte Perlendelta mit seinen Reisfeldern in der Provinz Guangdong zwischen Shenzen und Kanton wurde in nur zehn Jahren zu einem der wichtigsten Fabrikationszentren der Welt. Hier betragen die Arbeiterlöhne bis zu 100 Euro im Monat, damit gehören die Arbeiter in dieser Region trotzdem noch zu Besserverdienenden im chinesischen Maßstab. Den Arbeitern werden zudem nur neun Ferientage im Jahr gewährt.
Die Arbeitslosigkeit hat in China extreme Ausmaße angenommen. Offiziell bei 4,7%, erreicht sie in gewissen Regionen bis zu 35%, so etwa in Liaoning. Ende 2003 zählte man 27 Millionen Proletarier, die aus bankrotten Staatsunternehmen entlassen worden sind. Millionen von Stellen wurden gestrichen und die sich deshalb vermehrenden Revolten wurden mit Knüppeln unter Kontrolle gebracht. Die Bilanz: Mindestens 150 Millionen Bauern sind in die Slums um die Großstädte geflüchtet und leben dort zusammengepfercht am Rande der städtischen Zentren Ostchinas, suchen Arbeit, wobei die Mehrzahl unter ihnen keine finden wird.
Das Bildungssystem ist vollkommen verwahrlost und die Gesundheitszustände sind erschreckend: keine Krankenversicherung, dafür Spitäler, die ihre Dienste nur gegen Bezahlung erbringen, damit sie überhaupt weiter existieren können; die Katastrophe ist absehbar. Mehr als 200 Millionen Chinesen leiden an Hepatitis B und/oder C, ein bis zwei Millionen von ihnen sind auch HIV-infiziert und in sechs Jahren werden es voraussichtlich 15 Millionen sein. 550 Millionen sind mit Tuberkulose infiziert, von ihnen sterben etwa 200'000 pro Jahr.
Auch die Ernährungslage ist gekennzeichnet von dem Chaos der zügellosen Wirtschaftspolitik Chinas. Die Getreidereserven sinken auf ein gefährlich tiefes Niveau und die Landwirtschaft ist völlig desorganisiert, während sich die ländlichen Gebiete entvölkern. Aufgrund der intensiven Bodennutzung sind 80 Mio. Hektar (von den 130 Mio. Hektar an kultivierbarem Land) von der Verwüstung bedroht. All dies nährt zukünftige Mangelerscheinungen mit dementsprechend katastrophalen Folgen.
Die Umwelt wird zerstört durch die enorme Menge an Kohlenverbrennung, sowie durch den Bau von riesigen Dämmen, die der immer mehr wachsenden Elektrizitätsnachfrage gerecht werden sollen. China ist jetzt schon das Land, in dem die zweitgrößte Menge an Gasen mit Treibhauseffekt ausgeschieden wird. Unter den 20 Städten der Welt mit der stärksten Luftverschmutzung sind deren 16 chinesische.
In China spielt sich eine wirkliche Katastrophe ab. Diese Katastrophe kann nicht in einen neuen Aufschwung mit einer langen Entwicklungsperiode für Produktivkräfte münden, sondern sie ist ganz einfach der Vorbote eines neuen wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine offene Krise hat uns die Bourgeoisie schon verschiedene Modelle angepriesen: zuerst Brasilien, dann Argentinien, aber auch die "neuen industrialisierten Länder" Asiens. Erst kürzlich hat sie uns das Wunder der "New Economy", durchs Internet zum Leben erweckt, in den leuchtendsten Farben vorgegaukelt. Das Verenden des chinesischen Drachens wird bald die Kehrseite dieser "Wunder" aufzeigen, die dunkle Realität eines bankrotten Kapitalismus.
ES (15. September)
Der sechstägige Streik bei Opel in Bochum, als Antwort auf drohende Massenentlassungen und mögliche Werksschließungen bei General Motors, war der längste und bedeutendste spontane, inoffizielle Streik in einem Großbetrieb in Deutschland seit den großen wilden Streiks Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in Westdeutschland.
Eine Woche lang schaute nicht nur die arbeitende Bevölkerung Deutschlands gespannt und mit großer Sympathie auf die Ereignisse in Bochum. Auch an den anderen Standorten von General Motors (GM) in Europa war unter den Belegschaften viel von Mitgefühl mit den Bochumer Kollegen und Bewunderung für deren Mut und Kampfeswille. Beispielsweise beim gewerkschaftlichen "Aktionstag" am 19. Oktober, wo die Arbeit kurzzeitig niedergelegt wurde. Den Grad der aufkeimenden Solidarität, welchen dieser Arbeitskampf erweckte, kann man daran messen, dass das Unternehmen während des Streiks nicht wagte, strafrechtlich gegen die Streikenden vorzugehen, obwohl - gerade im demokratischen Deutschland - normalerweise besonders rigoros gegen nicht-gewerkschaftliche, nicht im Rahmen von Tarifverhandlungen stattfindende Arbeiterkämpfe vorgegangen wird. Zwar baute die Werksleitung die übliche Drohkulisse auf, indem sie gegen die "Rädelsführer" hetzte, verlogene Gerüchte über zertrümmerte Autos und Produktionsteile in die Welt setzte, und mit der ganzen Härte des Strafgesetzes drohte, falls der Streik nicht sofort aufhöre. Doch hier hat die besitzende Klasse sehr gut verstanden, dass der Einsatz offener, staatlicher Repression eher dazu führen würde, die weitgehend noch passive Sympathie der anderen Arbeiter mit ihren kämpfenden Schwestern und Brüdern bei Opel in offene Empörung und aktive, eingreifende Solidarität zu verwandeln.
Bedeutung und Kontext des Kampfes bei Opel
Obwohl die IG Metall und der Betriebsrat von Opel Bochum den Streikabbruch damit rechtfertigten, dass die Arbeiter die Unternehmer zu Verhandlungen gezwungen hätten, und dass eine Standortgarantie abgegeben worden sei, ist die Hauptforderung der Streikenden aber, dass keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden dürfen, keineswegs erfüllt worden.
Die Bedeutung dieses Kampfes liegt aber darin, dass dadurch die Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse als eigenständige Kraft der heutigen Gesellschaft ins Bewusstsein gerufen wurde. Es war kein Zufall, dass die Auseinandersetzung bei Opel in den bürgerlichen Medien eine Debatte einerseits zwischen Soziologen, welche von einer "Rückkehr des Klassenkampfes im marxistischen Sinne" sprechen, und andererseits Ideologen der "alternativen Globalisierung" und der Bewegung des "Kampfes gegen die Arbeit", welche den Arbeiterkampf längst zu Grabe getragen haben wollen, ins Leben gerufen hatte. Solche "Diskussionen" dienen einmal dazu, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen, indem Theoretiker des Kleinbürgertums wie Robert Kurz von der Gruppe Krisis im Fernsehen zum besten geben dürfen, dass der Kampf bei Opel bestätigt haben soll, dass der Arbeiterkampf abgelöst worden sei durch ein klassenübergreifendes Ringen um das "Recht auf Faulheit". Sie dienen aber auch dazu, die herrschende Klasse insgesamt darauf einzustimmen, dass die Zeit (v.a. nach 1989), als es noch möglich war, die Realität des Klassenkampfes halbwegs glaubwürdig zu leugnen, sich langsam ihrem Ende zuneigt. Die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, zwischen Kapital und Lohnarbeit, v.a. aber der Abwehrkampf der Betroffenen, hat den Prozess der Wiedererlangung der Klassenidentität des Proletariats eingeleitet. Dies ist wiederum eine der Hauptvoraussetzungen für einen mächtigeren und bewussteren Verteidigungskampf der Lohnabhängigen.
Opel: Ein Anzeichen eines allgemeineren Wiedererwachens des Arbeiterkampfes
Wie jeder bedeutende Arbeiterkampf ist der Streik in Bochum kein Blitz aus heiterem Himmel gewesen. Er ist einer der wichtigen Ausdrücke einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Solche Kämpfe sind immer Teil einer internationalen Reihe von Arbeiterkämpfen. Heute beginnt das Proletariat, sich gegen die neue, qualitative Verschärfung der kapitalistischen Wirtschaftskrise und der Angriffe auf seine Lebensbedingungen zu wehren. Diese Wiederbelebung der Verteidigungskämpfe äußerte sich zunächst im Frühling 2003 mit den Streiks und Demonstrationen der Bediensteten des Öffentlichen Dienstes in Frankreich und Österreich gegen die dortigen "Rentenreformen", fand eine Fortsetzung beispielsweise in Italien durch die Proteste gegen Rentenkürzungen, gegen Entlassungen z.B. bei Fiat, oder die Streiks im öffentlichen Verkehr; in Großbritannien durch die Feuerwehrleute und Postbeschäftigten im Winter 2003; in den USA im Einzelhandel gegen massive Einschnitte bei den Renten und in der Gesundheitsfürsorge. Diese und andere Kämpfe, sowohl in den etablierten Industrieländern als auch in Ländern wie Polen, Argentinien oder China, betrafen die Gesamtheit der Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats. Mehr und mehr werden die Arbeiter aller Länder mit der Verlängerung der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit konfrontiert; mit einem verschärften Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft, welcher einher geht mit dem Abbau der Gesundheitsfürsorge; mit der drastischen Reduzierung der Reallöhne; mit dem Absturz der Arbeitslosen und der Rentner in bitterste Armut.
Besonders charakteristisch für die jetzige Lage ist, dass die Frage der Arbeitslosigkeit eine zentrale Rolle spielt. Massenentlassungen und Werksschließungen häufen sich. Die Angriffe gegen die Arbeitslosen werden stets brutaler. Die offene Erpressung der Belegschaften durch die Drohung mit Schließung, "Outsourcing" und Produktionsverlagerungen, um Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerungen und eine noch größere Flexibilität (sprich Maßlosigkeit) der Ausbeutung durchzusetzen, wird immer unverschämter. Dabei wird das Ausspielen der Belegschaften der verschiedenen Standorte gegeneinander in immer größerem Stil betrieben.
Diese wachsende Bedeutung der Arbeitslosigkeit hat einen ersten Niederschlag auf der Ebene des Kampfes gefunden. Am 2. Oktober 2004 demonstrierten in den Niederlanden und in Deutschland gleichzeitig 200.000 in Amsterdam und 45.000 Menschen in Berlin gegen die staatlichen Maßnahmen gegen die Erwerbslosen. Im September 2004 streikten und demonstrierten die Werftarbeiter von Puerto Real und San Fernando in Andalusien, Spanien, gegen Massenentlassungen.
Nicht weniger charakteristisch ist die nationale und internationale Gleichzeitigkeit der Angriffe, wie die Krise bei Opel und Karstadt im Oktober 2004 veranschaulichte.
Typisch für solche, sich ins Bewusstsein der gesamten Klasse einprägenden Arbeitskämpfe wie in Bochum ist aber auch, dass sie sozusagen angekündigt und vorbereitet werden durch andere, oft weniger spektakuläre Vorgeplänkel vor Ort. So gab es bereits vor vier Jahren eine spontane Arbeitsniederlegung bei Opel in Bochum als Antwort auf angedrohte Stellenstreichungen. Im Frühjahr 2004 kam es bei Ford in Köln ebenfalls zu einem spontanen Ausstand. Vor allem aber gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem jetzigen Streik in Bochum und den vor drei Monaten stattgefundenden Protesten bei Daimler-Chrysler. Die Mercedes-Arbeiter haben gewissermaßen die Klasse zum Kampf gerufen. Denn sie haben praktisch vorgelebt, dass man auch die Erpressungen der herrschenden Klasse nicht kampflos hinnehmen darf. Sie haben den Versuch der Ausspielung der Mercedesstandorte gegeneinander durch die Wiederbelebung der Klassensolidarität beantwortet. So gesehen haben die Opelaner in Bochum den Ehrenstab des mutigen Kampfes von den Mercedesbeschäftigten übernommen und weitergetragen.
Dieser direkte Zusammenhang zwischen Daimler und Opel, welchen die zum Aktionstag von Opel nach Bochum angereisten Arbeiter aus Stuttgart auch selbst ausgesprochen haben, erscheint uns wichtig. Dies um so mehr, als die verschiedenen Gruppen und Zirkel in Deutschland, welche sich für proletarische, "linkskommunistische" Positionen zu interessieren begonnen haben, und sich mehr oder weniger alle in die Intervention gegenüber den Montagsdemos stürzten, kaum Interesse am Kampf bei Mercedes gezeigt haben. Soviel wir wissen, haben sie sich weder der Erstellung einer Analyse dieser Bewegung gewidmet noch sind sie ihr gegenüber interveniert.
Wie der Kampf gespalten und sabotiert wurde
Dass die Arbeit nach sechs Tagen in Bochum wieder aufgenommen wurde, obwohl die Hauptforderung der Streikenden nicht erfüllt wurde, haben diverse "kritische Gewerkschaftler" mit dem Manöver der IG Metall- und Betriebsratsleitung während der Abstimmung vom 20. Oktober erklärt. Natürlich war die Formulierung der Alternative, worüber die Streikenden abzustimmen hatten - entweder Streikbruch und Verhandlungen oder Fortsetzung des Streiks ohne Verhandlungen - ein typisches Beispiel eines gewerkschaftlichen Manövers gegen die Arbeiter. Eine endlose Fortsetzung eines bereits isolierten Streiks wurde nämlich als einzige Alternative zum Streikabbruch hingestellt. Dabei wurden die entscheidenden Fragen ausgeblendet, nämlich: Erstens, wie kann man am wirksamsten den Forderungen der Arbeiter Nachdruck verleihen? Zweitens, wer soll verhandeln, die Gewerkschaften und der Betriebsrat oder die Vollversammlung bzw. die gewählten Delegierten der Arbeiter selbst?
Wir wollen aber zeigen, dass die "kritischen Gewerkschaftler" selbst an der Entstehung dieser falschen Alternative zwischen Nachgeben und langen, isolierten Streiks alles andere als unbeteiligt waren. Wir werden ferner zeigen, dass die Organisierung der Spaltung und der Niederlage des Kampfes schon längst vor dem 20. Oktober einsetzt hatte.
Als die Nachricht von den geplanten Entlassungen bei GM in Europa bekannt wurde, reagierten die Arbeiter aller Opelwerke mit Empörung und mit Arbeitsniederlegungen (die sog. Informationsveranstaltungen). Genau wie bei Mercedes im Sommer, wo gleichzeitig in Sindelfingen und in Bremen gestreikt wurde und damit unter Beweis gestellt wurde, dass die Belegschaften sich nicht gegeneinander ausspielen lassen wollten, haben zunächst die hauptsächlich betroffenen Werke Bochum und Rüsselsheim gemeinsam reagiert. Die IG Metall und der Betriebsrat haben in Bochum erst gar nicht versucht, den Kampfelan der Beschäftigten zu bremsen. Statt dessen haben sie zielstrebig und erfolgreich darauf hingearbeitet, dass in Rüsselsheim die Arbeit rasch wieder aufgenommen wurde. Das ist eine Tatsache, welche auch in den linksbürgerlichen Medien systematisch ausgeklammert wird. Sofern man überhaupt darauf eingeht, wird versucht, den Eindruck zu erwecken, dass diese Spaltung von den Arbeitern selbst, namentlich von denen in Rüsselsheim, ausgegangen sei.
Tatsache jedenfalls ist, dass die frühe Wiederaufnahme der Arbeit im Stammwerk bei Frankfurt von den Weiterstreikenden in Bochum als Entsolidarisierung empfunden wurde. Damit aber war der Spaltpilz, welchen die Bourgeoisie erfolglos gegenüber den Mercedesbeschäftigten durchzusetzen versuchte, im Falle von Opel bereits am zweiten Streiktag wirksam. Wie kam es dazu? Bereits einige Wochen vor der Bekanntgabe der 12.000 Stellenstreichungen in Europa hatte GM angekündigt, die Mittelklasseautos von Saab und Opel nur noch an einem Standort in Europa, entweder in Rüsselsheim oder in Trollhättan in Schweden bauen zu lassen und das andere Werk zu schließen. Als dann im Oktober der Sanierungsmasterplan-Europa aus dem Sack gelassen wurde, hieß es direkt, dass die Frage "Rüsselsheim oder Trollhättan?" im Rahmen eines Gesamtpakets mit verhandelt werden sollte. Bereits am ersten Streiktag machten Betriebsrat und IGM in Rüsselsheim unmissverständlich klar, dass sie keine weiteren gemeinsamen, solidarischen Aktionen mit den Bochumer Kollegen dulden würden, da dies nur dazu führen würde, dass der hessische Standort gegenüber dem schwedischen unterliegen würde. Hätten sich Gewerkschaften, Betriebsräte und SPD wirklich die Gemeinsamkeit der Interessen der verschiedenen Belegschaften zu Herzen genommen, wie sie es immer beteuerten, so hätten sie anlässlich des Aktionstags vom 19. Oktober nicht getrennte Demonstrationen an den verschiedenen Standorten, sondern eine gemeinsame Aktion organisieren können. Statt dessen haben sie die Bochumer und Rüsselsheimer stets auf Distanz zueinander gehalten, damit sie bloß nicht miteinander über die Gemeinsamkeit ihrer Interessen ins Gespräch kommen. Nicht mal eine kleine Delegation wurde von Rüsselsheim nach Bochum entsandt oder umgekehrt, um wenigstens eine Solidaritätsadresse zu überbringen. Statt dessen warnten die Betriebsräte in Rüsselsheim vor den "Hitzköpfen" im Revier, während ihre Gegenspieler in Bochum immer wieder sarkastische, indirekte Anspielungen über die "Solidarität" aus Rüsselsheim von sich gaben. Um das volle Ausmaß der gewerkschaftlichen Heuchelei bei diesem "europaweiten Solidaritätstag" zu erahnen, genügt es vielleicht, darauf hinzuweisen, wie die schwedischen Gewerkschaften auf einer Kundgebung einige Floskeln über die Solidarität mit den Opelanern daherfaselten, um anschließend triumphal zu verkünden, dass der schwedische Ministerpräsident Persson sich persönlich dafür einsetzen wolle, dass die Mittelklassewagen dort und nicht in Rüsselsheim gebaut werden.
Die Arbeiter vor falsche Alternativen gestellt
Und die Lage in Bochum, wo weitergestreikt wurde? Dort hielten sich die offiziellen Vertreter der IGM und des Betriebsrats in den ersten Tagen so sehr zurück, dass manche Medien behaupteten, sie hätten die Kontrolle der Lage verloren. Andere kritisierten, dass diese "Verantwortlichen" den gewerkschaftlichen Radikalen das Feld überlassen hätten. Wie wenig die Gewerkschaften in Wirklichkeit die Kontrolle verloren hatten, bewiesen sie nur wenige Tage später, als sie ziemlich mühelos für das Ende des Streiks sorgten. Doch, dass die Gewerkschaftsspitze in den ersten Tagen - und zwar absichtlich - den "Radikalen" das Feld überließ, entspricht weitestgehend den Tatsachen. Denn nachdem rasch klar wurde, dass die Bochumer mit ihrem Streik allein gelassen worden waren, plädierten diese Scheinradikalen als konsequenteste Vertreter der gewerkschaftlichen Ideologie für einen langen, ausharrenden Streik bis zum bitteren Ende. Als vor über einem Jahrhundert die kämpfenden Arbeiter zumeist nur Einzelkapitalisten gegenüberstanden, konnten sie tatsächlich oft auf eigene Faust durch langes Ausharren ihre Interessen durchsetzen. Doch seitdem aus Familienbetrieben Großunternehmen geworden sind, welche auf nationaler Ebene miteinander und mit dem Staat verschmolzen sind, müssen auch die Arbeiter als Klasse kämpfen, d.h. ihre Kämpfe ausdehnen und konzentrieren, um wirksamen Widerstand leisten zu können. Heute aber, wie bereits im 20. Jahrhundert, ist die gewerkschaftliche Ideologie des isolierten, voneinander getrennten Kampfes eine bürgerliche Sichtweise und Praxis geworden, ein Rezept für die Niederlage der Arbeiter. Mehr noch. Bei Opel in Bochum erwies es sich wieder einmal als ein Mittel der Spaltung der Streikenden. Denn während die Mehrheit der Arbeiter - die Sackgasse des isolierten Streiks bereits ahnend - für ein Ende des Kampfes stimmten, wollte eine kämpferische Minderheit in ihrer Verbitterung den Streik sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste fortführen. Teilweise warfen sie der Mehrheit der Arbeiter sogar Verrat an der gemeinsamen Sache vor. So war die Spaltung da, nicht nur zwischen Bochum und Rüsselsheim, sondern auch innerhalb der Bochumer Belegschaft.
Später haben die Vertreter des "Streiks bis zum bitteren Ende" - z.B. die Anhänger der stalinistischen MLPD - behauptet, der Streik in Bochum hätte nur wenige Tage länger dauern müssen, um die Kapitalisten zum völligen Nachgeben zu zwingen. Dabei weisen sie auf die Anfälligkeit der Kapitalseite in Folge der modernen "just in time" Produktion hin. Dieses Argument klingt wenig überzeugend in Anbetracht der weltweit vorherrschenden Überproduktion und der Überkapazitäten, nicht zuletzt in der Automobilbranche. Darüber hinaus geht es um weit mehr als nur darum, die Produktion stillzulegen. Es geht darum, ein für die Arbeiterklasse günstiges Kräfteverhältnis durch den branchenübergreifenden Zusammenschluss herzustellen.
Die Entwicklung einer eigenständigen Klassenperspektive
Dennoch stimmt es, dass die Bourgeoisie es nach einer Woche eilig hatte, den Streik in Bochum zu beenden. Nicht jedoch, weil die Produktion von GM weltweit zusammenzubrechen drohte. Hier kommen wir zum entscheidenden Punkt. Der Streik in Bochum hat in der Tat die Bourgeoisie beeindruckt, die Verteidiger des Systems nervös gemacht. Nicht jedoch in erster Linie wegen möglicher Auswirkungen auf die Produktion, sondern wegen der möglichen Auswirkung dieses Kampfes auf die anderen Arbeiter, auf die Bewusstseinsentwicklung der Klasse insgesamt. Sie fürchteten nicht mal in erster Linie die Ausdehnung des unmittelbaren Kampfes auf andere Bereiche der Arbeiterklasse. Denn dafür war die Lage wahrscheinlich noch nicht reif, die allgemeine Kampfkraft und v.a. der Bewusstseinsstand der breiten Masse noch nicht entwickelt genug. Was sie am meisten nervös gemacht hat, war der Ausdruck der Kampfkraft der Arbeiter in einer Situation der immer größeren Gleichzeitigkeit der Angriffe auf alle Arbeiter. So kamen die massiven Angriffe bei Karstadt unmittelbar vor, bei Volkswagen kurz nach der Auseinandersetzung bei Opel. Was die Herrschenden fürchten, ist, dass die Klasse, angespornt durch Kämpfe wie in Bochum, langsam aber sicher erkennt, dass die Arbeiter der verschiedensten Konzerne, Branchen oder Regionen als Arbeiter gemeinsame Interessen haben und eine lebendige Solidarität des Kampfes benötigen.
Der Kampf bei Opel stellte die Arbeiter bereits vor größere Herausforderungen als der bei Mercedes. Denn bei Opel war das Erpressungspotenzial, welches gegen die Arbeiter aufgefahren wurde - bis hin zur möglichen Schließung ganzer Werke - um einiges bedrohlicher. Die Arbeiter beantworteten die Herausforderung, zumindest in Bochum, mit einer gesteigerten Kampfbereitschaft, aber noch nicht mit einer Weiterentwicklung auf der Ebene des Klassenbewusstseins. Das ist nicht verwunderlich. Denn das, womit die Klasse sich heute konfrontiert sieht, ist der immer deutlicher werdende Bankrott einer gesamten Gesellschaftsformation, nämlich des Kapitalismus. Dass das Proletariat viele Anläufe benötigen wird, bevor es die ganze Tragweite des Problems auch nur zu erfassen beginnt; dass es vor der Größe der gestellten Aufgabe immer wieder zurückschrecken wird, liegt auf der Hand. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre heute, den Arbeitern bei diesem Ringen um eine Klassenperspektive beizustehen. Deshalb hat die IKS zum Aktionstag der Opelaner das auf der Nebenseite abgedruckte Flugblatt in Bochum und Rüsselsheim verteilt, welches sich nicht damit begnügt, das Proletariat zum Kampf aufzurufen, sondern dazu beitragen will, ein vertiefendes politisches Nachdenken anzuregen. 19.11.04
Der nachfolgende Artikel ist eine leicht gekürzte Fassung eines Flugsblatts, das die IKS während der Kämpfe bei Opel verteilt hat. (Vollständiges Flugblatt im PDF-Format siehe Archiv)
Wie kämpfen gegen Massenentlassungen? Wie kann man sich wirkungsvoll wehren, wenn der “eigene” Arbeitsplatz oder “Standort” nicht mehr als profitabel gilt? Verliert etwa die Waffe des Streiks dort an Wirksamkeit, wo der Kapitalist ohnehin daran denkt, das Werk zu schließen, oder wo ganze Firmen vor der Insolvenz stehen? Diese Fragen stellen sich heute ganz konkret nicht nur bei Opel, bei Karstadt oder VW, sondern überall dort, wo im Zuge der kapitalistischen Wirtschaftskrise Betriebe und Konzerne “saniert” oder gleich dichtgemacht werden. Und das geschieht heutzutage ziemlich überall. Nicht nur in Deutschland, sondern in Amerika und auch in China. Nicht nur in der Industrie, sondern auch in den Krankenhäusern oder in der öffentlichen Verwaltung.
Die Notwendigkeit des Kampfes – aber wie?
Noch Mitte der 80er Jahre gab es große Abwehrkämpfe gegen Massenentlassungen: bei Krupp Rheinhausen etwa oder der Kampf der britischen Bergarbeiter. Damals wurden ganze Industriebranchen wie die Montanindustrie oder der Schiffsbau demontiert.
Heute aber sind Arbeitslosigkeit und Betriebsschließungen allgegenwärtig. Dies hat zunächst zu einer weit verbreiteten Einschüchterung geführt. Stellenabbau wurde zumeist widerspruchslos hingenommen. Jedoch hat der Kampf bei Daimler-Chrysler in diesem Sommer Signalwirkung gehabt. Dort haben die Beschäftigten sich erstmals wieder gegenüber den Erpressungen der Firmenleitung spektakulär zur Wehr gesetzt. Durch die Solidaritätsaktionen v.a. im Werk Bremen mit den direkt Betroffenen in Sindelfingen haben sie gezeigt, dass sich die Arbeiter der verschiedenen Standorte nicht gegeneinander ausspielen lassen.
Und jetzt haben die Streikaktionen bei Opel v.a. in Bochum als eine erste Antwort auf angekündigte Stellenstreichungen erneut untermauert, dass wir auch Massenentlassungen nicht widerspruchslos hinnehmen dürfen.
Trotzdem muss die Frage nach den Möglichkeiten und der Zielsetzung des Kampfes unter solchen Bedingungen gestellt werden. Denn man weiß, dass der Kampf bei Daimler-Chrysler, ebenso wie damals bei Krupp oder der der britischen Bergarbeiter, jeweils in einer Niederlage endete. Und man erlebt immer wieder – so auch jetzt – wie die Gewerkschaften und die Betriebsräte - dort wo die Betroffenen sich wehren - ebenso dem Kampf das Wort reden, sogleich aber von vorn herein behaupten, dass es keine Alternative dazu gäbe, sich der Logik des Kapitals zu unterwerfen. Es gehe schließlich darum, sagen sie, das Schlimmste zu verhindern, die zur “Sanierung” des Konzerns unentbehrlichen Entlassungen möglichst “sozial” zu gestalten. So wurde der Abschluss bei Karstadt-Quelle, wo das direkte Streichen von 5.500 Stellen, das “Abstoßen” von 77 Warenhäusern, sowie horrende Reallohnkürzungen (“Sparvolumen” 760 Millionen bis 2007) vereinbart wurden, von ver.di als ein Sieg der Arbeiter gefeiert.
Seit mindestens zwei Jahrhunderten kämpfen Lohnarbeit und Kapital um Löhne und Arbeitsbedingungen, d.h. um den Grad der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Hätten die Ausgebeuteten sich nicht immer, von Generation zu Generation, zur Wehr gesetzt, wären die Arbeiterinnen und Arbeiter von heute nicht viel mehr als willenlose Sklaven, welche man nach Belieben ausquetschen oder auch zu Tode arbeiten lassen kann. Doch neben dieser Frage des Grades der Ausbeutung, welche sich auch für die Sklaven oder die Leibeigenen in früheren Zeiten stellte, stellt sich in der modernen Wirtschaftsweise ein zweites Problem ein, welches nur dort aufkommt, wo Marktwirtschaft und Lohnarbeit vorherrschen. Diese Frage lautet: Was tun, wie sich wehren, wenn der Besitzer der Produktionsmittel nicht mehr gewinnbringend die Arbeitskraft des Arbeiters ausbeuten kann? Diese Frage haben sich während der gesamten Geschichte des Kapitalismus schon immer die Arbeitslosen stellen müssen. Aber heute, wo die chronische Überproduktionskrise auf dem Weltmarkt, wo der Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise zunehmend sichtbar geworden ist, wird dies zu einer Überlebensfrage aller Lohnabhängigen.
Die Perspektive der Arbeiterklasse gegen die Perspektive des Kapitals
Die Unternehmer, die Politiker, aber auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte – all diejenigen also, welche an der Führung des einzelnen Betriebes, Konzerns oder des Staatswesen beteiligt sind – betrachten die Arbeiter und Angestellten als Teil des jeweiligen Unternehmens, welche auf Gedeih und Verderb mit den Interessen des “Arbeitgebers” verbunden sind. Aus dieser Sicht ist es natürlich immer schädlich, wenn die “Mitarbeiter” sich gegen die Profitinteressen des Unternehmens stellen. Denn das Unternehmen ist nur da, um Gewinn zu erwirtschaften. Und aus dieser Logik folgt, wie der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats von Opel, Klaus Franz, von vorn herein unmissverständlich klarstellte: “Wir wissen dass wir um betriebsbedingte Kündigungen nicht umhin kommen werden.” Das ist also die Logik des Kapitals. Aber es ist nicht die einzig mögliche Perspektive, von der aus man das Problem betrachten kann. Wenn man die Sache nicht mehr als das Problem von Opel oder von Karstadt, oder als das Problem des Standorts Deutschland, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem auffasst, ergeben sich völlig andere Perspektiven. Wenn man die Welt nicht vom Standpunkt eines einzelnen Betriebes oder Konzerns betrachtet, sondern vom Standpunkt der Gesellschaft, vom Standpunkt des Wohls der Menschen, dann erscheinen die Betroffenen nicht mehr etwa als Opel-Angehörige oder Karstadt-Mitarbeiter, sondern als Angehörige einer Gesellschaftsklasse der Lohnarbeiter, welche die Hauptopfer der kapitalistischen Krise sind. Aus dieser Perspektive wird dann deutlich, dass die Verkäuferin bei Karstadt in Herne, der Montagearbeiter bei Opel in Bochum, aber auch der Erwerbslose aus Ostdeutschland oder der rechtlose, fast schon versklavte, illegale Bauarbeiter aus der Ukraine, ein gemeinsames Schicksal und gemeinsame Interessen – nicht mit ihren Ausbeutern, sondern miteinander – teilen.
Die Kapitalseite weiß, dass es diese andere Perspektive gibt. Gerade diese andere Perspektive fürchtet sie. Die Machthaber wissen: Solange die Arbeiter bei Opel das Problem nur aus der Perspektive von VW oder Opel betrachten, werden sie schon “zur Vernunft kommen.” Wenn die Arbeiter aber ihre eigene Perspektive entdecken, die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen, ergeben sich ganz andere Perspektiven des Kampfes.
Die Sichtweise der gesamten Gesellschaft einnehmen
Deshalb wollen uns die Vertreter des Kapitals stets einreden, dass die von ihrem Wirtschaftssystem verursachten Katastrophen das Ergebnis der “Versäumnisse” und der “Besonderheiten” des jeweiligen Konzerns oder des Standorts seien. So wird behauptet, die Probleme bei Karstadt seien das Ergebnis einer fehlerhaften Verkaufsstrategie. Opel hingegen soll es versäumt haben, dem Beispiel der Konkurrenten wie Daimler-Chrysler oder Toyota zu folgen, welche mit neuen, attraktiven, häufig dieselbetriebenen Motoren Erfolge erzielen. Außerdem soll die Tatsache, dass 10.000 der 12.000 in Europa von General Motors zum Abschuss freigegebenen Stellen auf Deutschland fallen, ein Denkzettel sein, den die amerikanischen Machthaber Deutschland wegen dessen Irakpolitik verpassen! Als ob deutsche Konzerne, wie eben Karstadt-Quelle, nicht ebenso gnadenlos Arbeitsplätze in Deutschland abbauen! Als ob Daimler-Chrysler nicht erst vor wenigen Monaten ebenfalls seinen Beschäftigten die Pistole auf die Brust gesetzt hatte! Die Wirklichkeit selbst straft diese Darstellung Lügen. (...) Als am “schwarzen Donnerstag”, dem 14. Oktober, bekannt gegeben wurde, dass insgesamt 15.500 Jobs bei Karstadt-Quelle und bei Opel in den nächsten drei Jahren vernichtet werden sollen, beeilten sich die “Verhandlungspartner”, die Politiker und die “Kommentatoren”, haarscharf zwischen diesen beiden Fällen zu unterscheiden. Eigentlich würde man erwarten, dass dort, wo auf die Beschäftigten zweier Großkonzerne genau das gleiche schlimme Schicksale wartet, die Ähnlichkeit der Lage und der Interessen der betroffenen Lohnabhängigen im Vordergrund stehen würde. Doch genau das Gegenteil geschieht. Nachdem die zuständige Verhandlungsführerin von Verdi, Wiethold, am Donnerstagnachmittag beinahe frohlockend die “Rettung” des Karstadtkonzerns bekannt gegeben hatte, wurde sofort von den Medien verbreitet: Da die Zukunft von Karstadt nun gesichert sei, bleibe Opel allein als Sorgenkind zurück. Während also die Belegschaften der Warenhauskette sich “beruhigt” wieder ihrer Arbeit widmen sollen, seien es lediglich die Leute bei Opel, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen müssten.
Dabei unterscheiden sich die Situationen der Beschäftigten der beiden Firmen allein darin, dass das, was bei Karstadt-Quelle bereits traurige Gewissheit ist – Massenentlassungen, Teilschließungen, massivste Erpressung der gesamten Belegschaft – den Opelanern noch bevorsteht. Beide Belegschaften sollen Einschnitte mit einem Volumen von insgesamt 1,2 Milliarden Euro hinnehmen, sollen zum Teil um Brot und Arbeit gebracht werden, um die Profite (nicht die Arbeitsplätze!) zu retten.
Die Behauptung, die Lage der Karstadtbeschäftigten unterscheide sich grundlegend von der bei Opel, entbehrt jeder Grundlage. Für die Lohnabhängigen bei Karstadt jedenfalls ist gar nichts “gerettet” worden. Verdi spricht von einer “Sanierung, die den Namen verdient” und von einem “Erfolg der Arbeitnehmer”, weil eine “Arbeitsplatzgarantie” abgegeben worden ist, und weil der Tarifvertrag gerettet sei. So klingt es, wenn Niederlagen der Arbeiterklasse als Siege verkauft werden. Was haben Beschäftigungsgarantien, Tarifverträge und andere Versprechungen für einen Wert, wenn selbst Weltkonzerne um ihr Überleben kämpfen? In Wahrheit stecken die Opfer der “Sanierung” von Karstadt - nach wie vor - in genau derselben Lage wie die Arbeiter bei Opel, aber auch bei VW, Daimler-Chrysler, Siemens oder aber im öffentlichen Dienst.
Bei Karstadt-Quelle wurden die Verhandlungen auch deshalb so schnell “erfolgreich” beendet, weil bekannt war, dass am 14. Oktober General Motors seinen “Sanierungsplan” für Europa veröffentlichen wollte. Bisher gehörte es nämlich zu den ungeschriebenen Regeln der Herrschenden, niemals gleichzeitig mehrere große Bereiche der Arbeiterklasse massiv anzugreifen, um dem Gefühl der Arbeitersolidarität nicht ungewollten Vorschub zu leisten. Aber jetzt lässt die Verschärfung der Krise des Weltkapitalismus ein Nacheinander dieser Angriffe immer weniger zu. So kam es wenigstens darauf an dafür zu sorgen, dass an dem Tag, an dem die Hiobsbotschaft aus Detroit durchdrang, von einem “Erfolg” bei Karstadt gesprochen werden konnte.
Die Mittel des solidarischen Kampfes
Massenentlassungen, auch der Pleitegeier, bedeuten nicht, dass die Waffe des Streiks unbrauchbar wird. So waren die Arbeitsniederlegungen bei Mercedes und Opel ein wichtiges Signal, um die Opfer der kapitalistischen Krise zum Kampf aufzurufen.
Dennoch ist es leider schon so, dass in solch einer Lage der Streik als Mittel der Einschüchterung des Gegners viel von seiner Wirksamkeit verliert. Der Kampf der Arbeitslosen z.B. muss ohnehin ohne Streik auskommen. Aber auch dort, wo der Ausbeuter vor hat, sich der Dienste der von ihm Ausgebeuteten zu entledigen, büßt die Drohung mit Streik einen großen Teil ihres Schreckens ein.
Das Mittel, welches wir angesichts des jetzigen Standes der Angriffe des Kapitals benötigen, ist der Massenstreik aller Betroffenen. Eine solche Abwehraktion der gesamten Arbeiterklasse wäre imstande, den Lohnabhängigen das Selbstvertrauen zu geben, um der Arroganz der Herrschenden zu trotzen. Darüber hinaus können massive Mobilisierungen dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima zu verändern, indem die Notwendigkeit erkannt wird, die Bedürfnisse der Menschen zur Leitlinie gesellschaftlichen Handels zu machen. Diese Infragestellung des Kapitalismus wiederum würde die Entschlossenheit der Beschäftigten und Erwerbslosen steigern, ihre Interessen jetzt schon zu verteidigen.
Natürlich sind solche massiven, gemeinsamen, solidarischen Aktionen heute noch nicht durchführbar. Das bedeutet aber keineswegs, dass man jetzt nichts unternehmen und nichts erreichen kann. Doch ist es notwendig zu erkennen, dass der Streik nicht die einzige Waffe des Klassenkampfes ist. Alles, was heute schon das Erkennen der Gemeinsamkeit der Interessen aller Lohnabhängige fördert, und alles, was die Tradition der Arbeitersolidarität wiederbelebt, erschreckt die herrschende Klasse, macht sie in ihren Angriffen weniger forsch und selbstsicher, steigert die Bereitschaft des Gegners, hier und da tatsächliche Zugeständnisse, zumindest vorübergehend, zu gewähren.
1987 öffneten die von Werksschließungen bedrohten Beschäftigten bei Krupp in Rheinhausen ihre täglichen Vollversammlungen für die Bevölkerung, für die Beschäftigten anderer Betriebe ebenso wie für die Arbeitslosen. Gerade heute ist es überhaupt nicht einzusehen, weshalb die Betroffenen bei Opel und Karstadt, bei ‚Spar‘ und bei Siemens, nicht zusammen kommen, um gemeinsam über ihre Lage zu diskutieren. Während des Massenstreiks 1980 in Polen versammelten sich die Arbeiter einer ganzen Stadt auf dem Gelände des jeweils größten Betriebs. Dort haben sie gemeinsame Forderungen aufgestellt und den Kampf in die eigene Hand genommen.
Bereits der Kampf bei Mercedes hat unter Beweis gestellt, was nun die Angriffe bei Opel oder Karstadt bestätigen – das große Gefühl der Solidarität der arbeitenden Bevölkerung mit den Betroffenen. Unter solchen Bedingungen bieten Demonstrationen in Städten an einem zentralen Ort, der Bevölkerung, vor allem Beschäftigten aus anderen Betrieben und Arbeitslosen die Möglichkeit dazu zu stoßen und sich zu solidarisieren.
Der Kampf bei Mercedes hat außerdem gezeigt, dass die Arbeiter mehr und mehr begreifen, dass sie angesichts von Massenentlassungen sich nicht zwischen verschiedenen Standorte ausspielen lassen dürfen. Auch die Kapitalseite hat nun eingesehen, dass man nicht mehr so plump wie im Sommer zwischen Bremen und Stuttgart versuchen darf, den Spaltpilz zu säen. (...) Als Hauptergebnis der Sitzung des Gesamtbetriebsrats von Opel am selben Abend wurde verkündet, das Zusammenhalten der Belegschaften sei nun vorrangig. Jedoch was bedeutet es, wenn Sozialdemokraten und Gewerkschafter von Solidarität sprechen? Da diese Institutionen Bestandteile und Verteidiger der kapitalistischen Gesellschaft sind, bedeutet “Zusammenhalt” in ihrem Munde höchstens, dass gegeneinander konkurrierende Standorte versuchen werden, Preisabsprachen zu treffen. So gab der Gesamtbetriebsratsvorsitzende bekannt, dass er auch mit den schwedischen Kollegen darüber sprechen wollte, welche Angebote die jeweiligen Werke für die neu zu bauenden Modelle machen wollen. Im Klartext: Die Betriebsräte, wie die Gewerkschaften, sind selbst Teil des kapitalistischen Konkurrenzkampfes, welche die Arbeiterklasse auflösen und ihre Klassensolidarität bekämpfen wollen.
Der gemeinsame Kampf der Arbeiter kann somit nur von den Arbeitern selbst in Gang gesetzt und geführt werden.
Die Notwendigkeit der politischen Infragestellung des Kapitalismus.
In Anbetracht der Tiefe der Krise des heutigen Kapitalismus müssen die Arbeiter schließlich ihre Scheu davor ablegen, sich mit politischen Fragen zu befassen. Damit meinen wir nicht die bürgerliche Politik, sondern dass die Arbeiter sich befassen den Problemen der gesamten Gesellschaft und der Frage der Macht.
Die Massenentlassungen von heute konfrontieren uns mit der Realität dieser Gesellschaft, dass wir gar keine “Mitarbeiter” dieser oder jener Firma sind, sondern Ausbeutungsobjekte und Kostenfaktoren, welcher man sich nach Bedarf gnadenlos entledigt. Diese Angriffe machen deutlich, was es bedeutet, dass die Produktionsmittel gar nicht der Gesellschaft insgesamt gehören und gar nicht den Interessen der Gesellschaft dienen. Statt dessen gehören sie einer kleinen Minderheit. Vor allem sind sie blinden, immer zerstörerischer werdenden Gesetzen der Konkurrenz und des Marktes unterworfen, welche immer größere Teile der Menschheit ins Elend und unerträgliche Unsicherheit stürzen. Gesetze, welche die elementare menschliche Solidarität untergraben, ohne die es längerfristig gar keine Gesellschaft geben kann. Und die lohnabhängigen Arbeiter, die heute fast alles an Gütern und “Dienstleistungen” herstellen, was die Menschheit zum Leben braucht, beginnen langsam zu realisieren, dass sie unter dieser Gesellschaftsordnung nichts, aber gar nichts zu sagen haben.
Die Krise bei Karstadt oder Opel ist nicht das Ergebnis von Missmanagement, sondern Ausdruck einer jahrzehntelangen, chronischen, zerstörerischen Überproduktionskrise. Diese Krise bewirkt immer mehr das Schwinden der Massenkaufkraft der arbeitenden Bevölkerung. Dies wiederum trifft den Einzelhandel, den Automobilabsatz, kurzum, die gesamte Wirtschaft immer härter. Der verschärfte Konkurrenzkampf zwingt die Kapitalisten dazu, die Kosten zu senken, was die Massenkaufkraft nur weiter drosseln wird und die Krise weiter verschärft.
Innerhalb des Kapitalismus gibt es kein Entrinnen aus diesem Teufelskreis. 15.10.2004.
Die Ergebnisse der Präsidentenwahlen spiegeln die wachsenden Schwierigkeiten der amerikanischen herrschenden Klasse bei ihrer Fähigkeit, den Wahlzirkus zu manipulieren, wider. Diese Schwierigkeiten, die zum ersten Mal bei dem Debakel der Wahlen im Jahr 2000 auftauchten, traten dieses Jahr in zweierlei Hinsicht zum Vorschein. Erstens, die Bourgeoisie brauchte relativ lange, um sich darüber zu einigen, wie die politische Arbeitsteilung zwischen die Republikanern und den Demokraten ausgerichtet werden sollte - vielleicht zu lange. Die Tatsache, dass diese Einigung erst so spät in der Kampagne erzielt wurde, schwächte die Fähigkeit der Bourgeoisie, den Ausgang des Wahlergebnisses zu manipulieren. Zweitens, das Wachstum und der Zusammenhalt des christlichen, fundamentalistischen Flügels in Amerika, der wie jedes religiöse Eifern in der heutigen Zeit eine Reaktion auf das wachsende Chaos und die schwindende Hoffnung in die Zukunft darstellt, dem der gesellschaftliche Zerfall zugrunde liegt, brachte für die herrschende Klasse ernsthafte Schwierigkeiten mit sich. Dieser Teil der Wählerschaft erwies sich gegenüber der Medienmanipulation bei wesentlichen politischen Fragen der Wahlkampagne unzugänglich. Aufgrund der Zuspitzung des gesellschaftlichen Zerfalls steht auch die herrschende Klasse der USA, wie in anderen Nationen, beispielsweise Frankreich, vor wachsenden Schwierigkeiten bei der Steuerung des Wahlspektakels.
Wie wir früher in Internationalism (Zeitung der IKS in den USA) hervorgehoben haben, war Kerry als Kandidat kein Kriegsgegner. Er versprach lediglich, feinfühliger vorzugehen gegenüber der Frage, wie die USA Krieg führen, wie im Irak gewonnen, wie das amerikanische Militär aufgerüstet, vergrößert und die Waffensysteme modernisiert werden sollen. Das war kein politisches Programm einer Taube. Kerrys Programm deckt sich mit einer wachsenden Mehrheit innerhalb der Bourgeoisie, die das Ausmaß des Schlamassels im Irak erkennt. Die Weigerung der Bush-Administration, sich der Wirklichkeit zu stellen, untergrub ihre Glaubwürdigkeit und machte ein weiteres Verbleiben Bushs im Amt zunehmend unhaltbar. Aus der Perspektive der Bourgeoisie bot nur Kerry die Möglichkeit, die Bevölkerung zu überzeugen, weitere Kriege in der Zukunft zu akzeptieren.
Der Wahlzirkus
Die kapitalistische Propaganda, die mit jedem Wahlzirkus einhergeht, verbreitet immer die demokratischen Illusionen, den kapitalistischen politischen Schwindel, dass Freiheit für die Arbeiterklasse darin besteht, sich an der Wahl des jeweiligen Politikers, der an der Spitze der kapitalistischen Klassendiktatur stehen soll, beteiligen zu können. Diesmal war der Medienrummel überwältigend. Der Krieg im Irak, die nationale Sicherheit, Terrorismus, bürgerliche Freiheiten, chronische Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung, Sozialversicherung, Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehen, Umweltverschmutzung, wurden alle als brennende Wahlkampfthemen gehandelt, damit die Menschen wählen gehen.
Ungeachtet dieses Wahlspektakels ging es bei dieser Wahl, wie bei allen Wahlen im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz, nicht um das Aufeinanderprallen politischer Alternativen, die von verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie befürwortet wurden, sondern um Manipulationen und Verschleierungen. Sicherlich bestehen Differenzen innerhalb der Bourgeoisie, aber diese Streitigkeiten beschränken sich hauptsächlich auf taktische Fragen, wie man am besten eine gemeinsame strategische Herangehensweise im In- und Ausland umsetzen kann. Es lag von vorn herein fest, dass, wer immer der Sieger sein werde, die USA zu Hause eine Sparpolitik fortsetzen werden (womit die Arbeiterklasse die Hauptlast der Wirtschaftskrise aufgebürdet bekommt) und militärisches Eingreifen im Ausland (womit das Leben junger Männer und Frauen der Arbeiterklasse zum Schutz der amerikanischen imperialistischen Interessen geopfert wird). Der Stil, wie diese Politik umgesetzt wird, mag sich geringfügig unterscheiden, aber das Endergebnis - Sparpolitik und Krieg - wird das Gleiche sein.
Strategische, politische Erfordernisse für die Kapitalistenklasse
Auf der Ebene der politischen Strategie stand die herrschende Klasse dieses Jahr zwei politischen Haupterfordernissen gegenüber: Erstens, sie musste die Glaubwürdigkeit der demokratischen Ideologie, die bei dem Wahldebakel von 2000 einen schweren Schlag erlitten hatte, wiederbeleben und wiederherstellen. Zweitens, sie musste die kapitalistische politische Arbeitsteilung zwischen den größten politischen Parteien anpassen, um sicherzustellen, dass die formal an der Macht befindliche Mannschaft am besten dazu geeignet ist, die strategischen Erfordernisse zu erfüllen, die für die wirksame Verteidigung der Bedürfnisse der herrschenden Klasse in Zukunft notwendig sind.
Im Jahr 2000 wurde das Wahlergebnis erst nach 36 Tagen entschieden, nur nachdem eine kontroverse Entscheidung des obersten Gerichtshofs gefällt worden war. Dies wiederum untergrub das politische Vertrauen in den Gerichtshof und in die Bush-Administration. Zum ersten Mal gewann der Kandidat, welcher weniger Stimmen bekam, der aber aufgrund des Durcheinanders bei der Stimmenauszählung in Florida (der Staat, der von George Bushs Bruder regiert wird) eine Mehrheit der Wahlmänner hinter sich brachte. Dies erinnerte mehr an eine Bananenrepublik. Das Wahldebakel von 2000 spiegelte die Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls auf den Wahlprozess der herrschenden Klasse wider, wodurch es für die Bourgeoisie zunehmend schwieriger wird, ihr eigenes Wahlspektakel zu steuern.
Dieses Jahr musste die Bourgeoisie das Vertrauen in die Wahlen wiederherstellen. Dazu brauchte sie einen klaren Wahlsieger, um eine Wiederholung der Ärgernisse von vor vier Jahren zu vermeiden. Die Medien waren sehr erfolgreich bei ihrer Propaganda hinsichtlich der angeblichen Wichtigkeit der Stimmenabgabe eines jeden Wahlberechtigten. Schlussendlich beteiligten sich 120 Mio. Menschen, eine Rekordbeteiligung. Hätte Kerry den Staat Ohio für sich gewonnen, wäre er als Sieger der Gesamtwahlen hervorgegangen, womit die USA zum zweiten Mal einen Präsidenten an ihrer Spitze gehabt hätten, der stimmenmäßig unterlegen war (mit 3 Mio. Stimmen einen noch größeren Rückstand als Bush im Jahr 2000), was für die demokratische Ideologie verheerend gewesen wäre. Dies bewog Kerry, nicht darauf zu drängen, das durchaus anfechtbare, provisorische Wahlergebnis in Ohio überprüfen zu lassen, wofür genügend Gründe gesprochen hätten. Mit dieser Entscheidung handelte Kerry, aus der Sicht der Bourgeoisie, genauso verantwortlich wie seinerzeit Nixon, als dieser 1960 die Wahl Kennnedys nicht angefochten hatte, weil dies möglicherweise zu einer politischen Instabilität geführt hätte.
Die Anpassung der Arbeitsteilung
In Zeiten intensiven Klassenkampfes zieht es die Bourgeoisie oft vor, die Linke in der Opposition zu belassen. Heute jedoch besteht die Hauptsorge für die Bourgeoisie nicht darin, wie sie den Klassenkampf eindämmen kann, sondern vielmehr in der Verteidigung ihrer imperialistischen Interessen in einem dramatisch veränderten Umfeld nach dem Ende des Kalten Krieges. Während es eine allgemeine Übereinstimmung unter den herrschenden Fraktionen der amerikanischen Bourgeoisie hinsichtlich des strategischen Ziels gibt, die amerikanische Hegemonie aufrechtzuerhalten, und das Aufkommen eines neuen imperialistischen Rivalen zu verhindern, gibt es beträchtlichen Streit über die taktische Umsetzung dieser Strategie. Insbesondere hat sich dieser Streit im letzten Jahr um den Irak gedreht. Im Winter 2003 war die herrschende Klasse einig bei der Invasion des Iraks als einem Denkzettel gegenüber potenziellen Rivalen, als einer Verstärkung der direkten amerikanischen Präsenz in einer strategisch wichtigen Zone des imperialistischen Konkurrenzkampfes, und als eines Mittels, um Druck auf Europa auszuüben, in dem die USA immer mehr die Ölversorgung aus dem Mittleren Osten kontrollieren. Die Divergenzen innerhalb der US Bourgeoisie um den Irak tauchten erst nach dem kläglichen Scheitern der Besetzung des Iraks auf. Innerhalb der US Bourgeoisie gibt es drei Auffassungen zum Irak. 1.) Alles läuft gut, solange Amerika Durchhaltevermögen zeigt, diese wird von der Bush Administration vertreten. Sie scheint in vollkommenem Widerspruch zu der Wirklichkeit vor Ort zu stehen. 2.) Die Lage ist völlig verfahren, die USA sollten sich sofort zurückziehen. Diese extreme Position wird von wenigen Gruppierungen am linken und rechten Rand vertreten. 3.) Die Lage ist verfahren, und die USA müssen Schadensbegrenzung betreiben, um auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Diese Position wird zunehmend von den stärksten Fraktionen vertreten. Das vollkommene Scheitern der Propagandarechtfertigungen durch die Bush Administration für den Irakkrieg macht die herrschende Klasse besorgt, nicht weil sie gelogen hat, sondern weil die Entblößung derselben es zunehmend schwieriger macht, die Zustimmung des Volkes für künftige militärische Abenteuer, insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse, zu gewinnen. Bushs Unbeholfenheit verspielte das beträchtliche politische Kapital aus den Ereignissen des 11. September, welche der Bourgeoisie die Gelegenheit bot, den Patriotismus zur Manipulation der Bevölkerung einzusetzen.
Nachdem es ihr nicht gelungen ist, die politische Arbeitsteilung durch den Wahlzirkus neu auszurichten, wird die Bourgeoisie gezwungen sein zu versuchen, künftig aus einer schwierigen Lage das Beste zu machen. J. Grevin 05.11.2004
Aus Internationalism, Zeitung der IKS in den USA.
(Vollständiger Text auf unserer englischsprachigen Website).
Die Schweizer Bourgeoisie, vertreten durch die Gewerkschaften, kündigte während des Sommers einen heißen Herbst an. Grund waren die im Herbst anstehenden Lohnverhandlungen, worauf die Gewerkschaften frühzeitig die Werbetrommel für eine nationale Demonstration rührten.
Was ist aus dem heißen Herbst geworden? Und was bedeuten die Gründung der neuen Gewerkschaft Unia und die Mobilisierung gegen die Lohnverhandlungen für die Arbeiterklasse?
Heißer Herbst und Gründung der Unia
Die Gewerkschaften haben schon im Vorfeld, noch während der Sommerferien, einen heißen Herbst gegenüber den anstehenden Lohnverhandlungen angekündigt, nachdem mit Lohnkürzungen gedroht wurde.
In Basel wurde am 16. Oktober 2004 die neue interprofessionelle Gewerkschaft Unia mit rund 200'000 Mitgliedern gegründet. Sie ist ein Zusammenschluss der GBI (Gewerkschaft Bau & Industrie), dem SMUV (Schweizerischer Metall- und Uhren-Verband), dem VHTL (Verkauf, Handel, Transport und Lebensmittel), der 1996 gegründeten Dienstleistungsgewerkschaft unia und actions unia.
Schon im Vorfeld der Gründungsversammlung der neuen Unia rührten die Gewerkschaften, welche die neue Gewerkschaft bilden, wieder kräftig die Werbetrommel für den heißen Herbst, indem sie zur nationalen Demonstration vom 30. Oktober 04 in Bern aufriefen mit der Forderung: "Aufschwung für alle. Rauf mit unseren Löhnen!".
Die Gewerkschaften sagen, dass es mit der Schweizer Wirtschaft wieder aufwärts geht! Seit einem Jahr habe die Wirtschaftsleistung der Schweiz um 2 Prozent zugenommen. Die Banken würden Rekordgewinne machen, die Exporte würden anziehen und die Unternehmensprofite steigen. Demgegenüber seien die Reallöhne jedoch nur um 0.2 Prozent gestiegen.
Tatsache ist, dass die Straffung der Schweizer Wirtschaft weiter in vollem Gange ist. So wurde bei Alstom-Schweiz (tätig im Kraftwerkbau) der Stellenabbau von rund 650 Stellen und bei Swisscom (Telekommunikation) die Streichung von weiteren 390 Stellen angekündigt.
In weiteren Betrieben wie der Firma Esec in Cham ist ein Stellenabbau in Sicht.
Die Verfälschung der Krise durch die Gewerkschaften
Die nationale Kampagne und Mobilisierung der Arbeiter vom 30. Oktober 04 durch die Unia hatte zum Ziel, kurzfristig die Arbeiter von der Realität abzulenken, nämlich davon, dass die Wirtschaft in einer permanenten Überproduktionskrise steckt, wo sich die Lebensbedingungen der Arbeiter nur verschlechtern können.
Die sich verschärfende Krise äußert sich in der Schweiz darin, dass sie "über die letzten 30 Jahre hinweg von allen OECD-Staaten das geringste Wirtschaftswachstum und zwischen 1990 und 1999 eine dauerhafte Stagnation" verzeichnete (Politische Reformen für mehr Wachstum, in: NZZ vom 15./16.05.04).
Die Gewerkschaften, die die linke Fraktion der Bourgeoisie ausmachen, halten an ihrer gemäßigten neokeynesianischen Strategie fest. Sie geben vor, man könne die Löhne auf gleichem Niveau halten oder sogar erhöhen, um durch die Erhaltung, resp. die Erhöhung der Kaufkraft einen Aufschwung herbei zu zaubern und dadurch die Krise zu überwinden. Das ist Augenwischerei! Es wird uns weisgemacht, dass somit die Überproduktionskrise überwunden werden könnte. Das ist eine Verfälschung der Tatsachen!
Seit dem Ersten Weltkrieg befindet sich der Kapitalismus in einer Spirale, die man unterteilen kann in die Phasen von "Krise, Krieg, Wiederaufbau, Krise". Mit dem Ende der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg befindet sich der Kapitalismus wieder in einer offenen Überproduktionskrise. Das hat zur Folge, dass immer weniger Menschen immer mehr produzieren.
Aber welche Strategie steckt hinter diesem Schein-Optimismus der Gewerkschaften? Die Strategie der Gewerkschaften mit dieser Kampagne ist, sich politisch aufzuwerten, um den Anschein zu wecken, sich sowohl in schlechten wie in guten Zeiten für die Arbeiter einzusetzen.
Das Hauptziel der Bourgeoisie ist die Demoralisierung der Arbeiter in Kämpfen, die das Proletariat nur verlieren kann. Die linken Teile der Bourgeoisie geben vor, dass ein Ausweg aus der Krise möglich sei. Man müsse nur die Löhne genügend erhöhen, dann würde auch wieder mehr gekauft. Dabei verschweigen sie aber, dass dies nach der kapitalistischen Logik zum Verlust der Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen nationalen Kapitals führen würde. Die Gewerkschaften verlassen den Rahmen der bürgerlichen Nationalökonomie nicht und geben vor, dass es in diesem System eine Lösung gebe. Der Kapitalismus ist aber insgesamt in einer Sackgasse - es gibt keine Rettung für ihn, weder national noch international.
Unia: Was bedeutet die neue große Gewerkschaft?
Am 4. Oktober 2004 wurde mit großer Pressepräsenz die neue Gewerkschaft Unia gegründet. Die Gründung wurde als ein riesiges Medienspektakel inszeniert, die in beinahe allen bürgerlichen Medien ein zentrales Thema der letzten Monate war. Auf den Frontseiten lächelten uns die frischgebackenen, alten Gewerkschaftsfunktionäre entgegen.
Aber wieso dieses Medienspektakel? Das Ziel dieser neuen Gewerkschaft ist es, eine Organisation zu schaffen, die auch den tertiären Sektor umfasst. Mit der Verschärfung der Krise ergibt sich die Notwendigkeit für das Kapital, auch diesen Teil der Arbeiterklasse unter die Kontrolle der Gewerkschaften zu bringen.
Dies kann sie gut mit einer ehemaligen GBI, die den Ruf genießt, kämpferisch zu sein. Dies stimmt aber überhaupt nicht! Die GBI war eine Gewerkschaft, die viele Manöver gegen die Arbeiterklasse ausführte. Zum Beispiel die Abspaltung der Bauarbeiter von der restlichen Arbeiterklasse in der Rentenfrage. Obwohl das ganze Proletariat von den Rentenkürzungen betroffen ist, suggerierte die GBI, dass ein einzelner Sektor wie der Bausektor, Verbesserungen herausholen könne. Dass dieser so genannte Sieg eine Niederlage ist, haben wir ausführlich im Artikel, "Wie Niederlagen der Arbeiter als Siege verkauft werden" (Weltrevolution 124) dargelegt.
Diese Strategie der sektorialen Spaltung wird in der neuen Unia unter dem Deckmäntelchen einer vereinten Gewerkschaft weitergeführt.
Somit hat die Arbeiterklasse von der neuen Unia nichts zu erwarten, da ihre Kämpfe in der sich verschärfenden Krise weiterhin in sektoriale Sackgassen geführt werden.
Auf welche Fragen müssen wir Revolutionäre antworten?
Zuallererst müssen wir Revolutionäre klarstellen, dass es sich bei diesen Forderungen der Gewerkschaften um eine Verleugnung der wirklichen wirtschaftlichen Lage handelt. Es ist eine Lüge zu sagen, dass es ein bedeutendes Wirtschaftswachstum gibt. Und wenn man die oben beschriebene Situation der Schweizer Wirtschaft betrachtet, stehen diese Forderungen in einem Widerspruch zur tatsächlichen Situation.
Aber gehen wir nun davon aus, dass die Arbeiter tatenlos zusehen sollen? Nein! Wir Revolutionäre sagen nicht, dass das Proletariat alle Angriffe einfach hinnehmen soll.
Sie kann aber nur gegen die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen kämpfen, wenn sie unabhängig von den Gewerkschaften kämpft. Insbesondere muss sie erkennen, dass interkategorielle Gewerkschaften wie die Unia die Aufgabe haben, die Arbeiterklasse in Kategorien aufgeteilt dem Klassenfeind auszuliefern. Die Gründung der Unia und die darauf folgende Mobilisierung für die nationale Demonstration sind ein Angriff und keine Stärkung des Proletariats. Viele Arbeiter sind zur Demonstration gegangen, in der Hoffnung in einer stärkeren Gewerkschaft dem Klassenfeind gegenüber aufzutreten. Dieser Ausdruck von Unmut und Wut gegenüber der Sparpolitik der Bourgeoisie muss die Schranken der Gewerkschaften überwinden. Erst dann wird die Arbeiterklasse ihren Kampf ausweiten können, um ein günstigeres Kräfteverhältnis herzustellen.
Pepe 12.11.2004
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