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Internationale Revue - 1980s

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Internationale Revue - 1980

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Internationale Revue Nr. 5

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Die 80er Jahre: Jahre der Wahrheit

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Die Geschichte unterwirft sich nicht den Daten des Kalenders, und dennoch werden die Jahrzehnte in den Köpfen der Menschen oft mit bestimmten Zeitläuften der Geschichte verbunden. Wenn man von den 30er Jahren spricht, denkt man sofort an die große Krise, die den Kapitalismus vor 50 Jahren erschütterte; wenn man sich an die 40er Jahre erinnert, denkt man zunächst an den Krieg; an diesen Krieg, der Menschenleben in der Größenordnung eines Landes wie Ita­lien oder Frankreich vernichtet hat. Wel­ches Bild verbinden wir jetzt zu Beginn der 80er Jahre mit den 70er Jahren, und was wird das hervorstechende Merkmal der 80er Jahre sein?

Die Krise?

Die Krise hat den 70er Jahren ihren Stempel aufgedrückt und wird die 80er noch mehr kennzeichnen. Zwischen den 60er und den 70er Jahren gab es eine ganz reale Veränderung der Weltwirtschaftslage. Die 60er Jahre waren die letzten Jahre des Wiederaufbaus, die Jahre, in denen der letzte Glanz eines künstlichen „Wohlstands“ noch strahlte, welcher auf den flüchtigen Mechanismen des Wiederaufbaus des industriellen und wirtschaftlichen Potentials Europas und Japans beruhte, das im Krieg zerstört worden war. So­bald dieses Potential wiederhergestellt war, fand sich der Kapitalismus in der tödlichen Sackgasse wieder: die Sättigung der Märkte. Deshalb unterscheidet sich das jetzt abgeschlossene Jahrzehnt von dem vorangegangenen in wirtschaftlicher Hin­sicht: „Wohlstand“ in den 60er Jahren, Flau­te in den 70ern. Dagegen wird es zwischen den 70er und den 80er Jahren keinen so gearteten Unterschied geben, außer dass die ökonomische Stagnation sich noch verschärfen wird.

Das menschliche Elend und die Massaker?

Die vor uns stehenden Jahre kündigen sich als besonders „reichhaltig“ in dieser Hinsicht an: Nie zuvor hat es so viele Hungersnöte und so viele Völkermorde auf der ganzen Welt gegeben. Durch die vielen sog. „Befreiungen“ der Völker, durch die ihnen gewährten Hilfeleistungen (die im Allgemeinen auf die Lieferung von Mordinstrumenten hinauslaufen) werden die Großmächte sie bald von der Weltkarte radiert haben. Diese Apokalypse ist nicht neu. Im kommenden Jahrzehnt wird es mit der Vertiefung der Krise immer mehr Kambodschas geben, ungeachtet all der Petitionen und all der „humanitären Kampagnen“. Doch handelt es sich hier schlicht um ein noch fürchterlicheres Beispiel für die Schrecken, die seit dem II. Weltkrieg ununterbrochen erfolgt waren und die einen großen Teil der Menschheit in die totale Hölle gestürzt haben. In diesem Sinn kann man trotz der Tatsache, dass sich die Massaker noch vervielfachen werden, das kommende Jahrzehnt nicht als das Jahrzehnt der Völkermorde bezeichnen, unterscheidet es sich doch in dieser Hinsicht nicht von den vorherigen.

Jedoch beweisen die Ereignisse der letzten Zeit, dass sehr wichtige Veränderungen in der Tiefe der Gesellschaft he­ranreifen. Diese betreffen weniger die öko­nomische Infrastruktur oder das Ausmaß des Elends ihrer Mitglieder, als vielmehr die Daseins- und Handlungsweisen der grund­legenden Klassen der Gesellschaft: Bour­geoisie und Proletariat.

In einer gewissen Weise waren die 70er Jah­re die Jahre der Illusion. Selbst in den großen Metropolen des Kapitalismus wurden Bourgeoisie und Proletariat mit der nackten Reali­tät der Krise konfrontiert, häufig auf brutale Weise. Aber gleichzeitig hatten, vor allem in den am weitesten entwickelten Ländern, diese beiden Klassen, welche über das Schicksal der Welt entscheiden, die Tendenz gehabt, die Augen vor dieser Realität zu verschließen: die Bourgeoisie, weil ihr der Anblick ihres historischen Scheiterns un­erträglich ist, das Proletariat, teil­s weil es unter den von der herrschenden Klas­se verbreiteten Illusionen leidet, teils weil es ihm nicht leicht fällt, sich der ungeheuren histo­rischen Verantwortung bewusst zu werden und sie zu schultern, welche die Krise und das Verständnis ihrer Folgen der revolutionären Klasse aufbürdet. Angesichts der sich entwickelnden Krise hat sich die Bourgeoisie jahrelang an die Hoffnung geklammert, dass es ir­gendwelche Lösungen gibt. Und es trifft zu, dass seit 1967 noch jeder regelmäßig wiederkehrenden Krise (1967, 1970-71, 1974-75), die von einer chronischen Inflation begleitet wurde, ein „Aufschwung“ gefolgt war. Während des „Aufschwungs“ von 72-73 verzeichneten übrigens die west­lichen Länder (vor allem die USA) die höchsten Wachstumsraten seit dem Krieg. Obwohl es Wellen von galoppierender Inflation gab, war eine bestimmte deflationäre Regierungspolitik dabei erfolgreich, die Inflationsrate auf weniger als fünf Prozent zu halten; es genügte also, diesen Ländern nachzueifern, und alles ist gut. Natürlich war sich die Bourgeoisie bewusst, dass die „konjunkturbelebenden“ Programme nur die Inflation belebten und dass die „Konjunkturprogramme“ eine neue… Rezession hervorriefen. Doch selbst wenn die Dinge nicht wie geplant liefen, konnte sich die Bourgeoisie nicht von dem Gedanken lösen, dass, wenn sie einfach fortfährt, das tote Gewicht der Wirtschaft wegzuschneiden und Austerität sowie Arbeitslosigkeit durchzusetzen, eines Tages die Geschäfte zur Normalität zurückkehren würden.

Heute hat die Bourgeoisie diese Illusion aufgegeben. Nach dem Scheitern aller Heilmittel, die sie ihrer Wirtschaft verabreicht hat und die diese schließlich noch mehr vergiftet haben, hat die Bourgeoisie zwar halbherzig, aber schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass es keine Lösung für die Krise gibt. Sie stellt fest, dass sie sich in einer Sackgasse befindet und dass ihr nur noch die Flucht nach vorn übrigbleibt. Für die Bour­geoisie ist diese Flucht nach vorn der Krieg.

Dieser Marsch in den Krieg ist nichts Neues; in Wirklichkeit hat der Kapitalismus seit dem II. Weltkrieg nie abgerüstet (wie das nach Ende des I. Weltkrieges wenigstens teilweise der Fall gewesen war). Und seit dem Ende der Sechziger, als der Kapitalismus erneut eine Verschlechterung seiner Wirtschaftslage erlebt hatte, haben sich die imperia­listischen Spannungen unaufhörlich verschärft und die Rüstungsausgaben phänomenal er­höht. Heute wird in jeder Minute eine Million Dollar in die Herstellung von Mord- und Zerstörungsmitteln gepumpt. Bis jetzt hatte sich die Bourgeoisie noch halb unbewusst auf einen neuen Krieg zubewegt. Die objektiven Bedürfnisse ihrer Wirt­schaft haben sie in Richtung Krieg gedrängt, doch war sich die Bourgeoisie noch nicht  wirklich im Klaren, dass der Krieg in der Tat die einzige Perspektive ist, die ihr System der Menschheit anzubieten hat. Die Bourgeoisie ist sich nicht völlig der Tatsache bewusst, dass ihre Unfähigkeit, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, das einzige ernsthafte Hindernis bildet, das den Weg dahin verstellt.

Mit dem totalen Scheitern ihrer Ökonomie realisiert die Bourgeoisie heute langsam ihre wahre Lage und reagiert darauf. Auf der einen Seite bewaffnet sie sich bis an die Zähne. Überall werden die Verteidigungsausgaben in schwindelerregen­de Höhen getrieben. Die ohnehin fürchterlichen Waffen werden durch noch „effizientere“ (Backfire, Pershing 2, Neu­tronenbomben, usw.) ersetzt. Aber die Bourgeoisie handelt nicht nur auf militärischer Ebene. Wie wir in unserer Stellungnahme zu der Iran-USA-Krise (s. Weltrevolution Nr. 1) hingewiesen haben, hat die Bourgeoisie auch eine massive Kampagne unternommen, um eine Kriegspsychose zu entfesseln, mit der die Bevölkerung auf ihre mehr und mehr kriegerischen Absichten vor­bereitet werden soll. Weil ein Krieg denkbar ist und weil die Menschen nicht auf diese Perspektive vorbereitet sind, müssen alle Vorwände ausgenutzt werden, um eine „nationale Einheit, einen „Nationalstolz“ zu schaffen sowie die Öffentlichkeit von schäbigen Interessenskämpfen (gemeint ist der Klassenkampf) abzulenken und sie zum Altruismus des Patriotismus und der Verteidigung der Zivilisation gegen die bedrohlichen Kräfte der Barbarei wie den islamischen Fanatismus, die Geldgier der Araber, den Totalitarismus oder Imperialismus zu lenken. So lauten die Reden, die die herr­schende Klasse überall auf der Welt und immer häufiger hält.

Die Bourgeoisie ändert ihre Sprache gegenüber der Arbeiterklas­se. Solange eine Lösung der Krise möglich schien, hat sie die Ausgebeuteten mit illusorischen Versprechungen eingeschläfert: Akzeptiert heute die Austerität, und morgen wird alles besser. Die Linken waren mit dieser Art von Lüge sehr erfolgreich: Die Krise ist nicht das Ergebnis der unüberwindbaren Widersprüche der kapitalistischen Produk­tionsweise, sondern schlicht eine Frage des „schlechten Managements“ oder der „Habgie­r der Monopole“ und anderer „Multis“. Man brauche nur die Linke zu wählen, und alles würde anders werden! Heute hat die­se Sprache ihre Wirkung verloren. Wo die Linke an die Macht gelangt war, hat sie nichts Besseres als die Rechte vollbracht und war, vom Stand­punkt der Arbeiterklasse aus betrachtet, sogar noch schlechter. Da heute die Versprechungen einer „goldenen Zukunft“ niemanden mehr täu­schen können, hat die herrschende Klasse andere Register gezogen. Nun wird das Gegenteil heraus trompetet: Das Schlimmste steht uns noch bevor, und wir können nichts dagegen tun, „die anderen sind schuld“, es gibt keinen Ausweg. Dabei hofft die Bourgeoisie, die nationale Einheit herzustellen, die Churchill unter anderen Umständen erlangte, indem er der britischen Bevölkerung „Blut, Schweiß und Trä­nen“ versprach.

In dem Maße wie die Bourgeoisie ihre eigenen Illusionen verliert, ist sie gezwungen, der Arbeiterklasse gegenüber klar von der Zu­kunft zu reden, die sie ihr anzubieten hat. Wenn die Arbeiterklasse resigniert hätte und wie in den 30er Jahren demora­lisiert wäre, wäre diese Sprache wirksam: „Auch wenn es nun einmal keinen anderen Ausweg gibt, sollte man dennoch retten, was man retten kann: die ‚Demokratie‘, die ‚Er­de meiner Vorfahren‘, den ‚Lebensraum‘, für den Krieg und die damit verbunde­nen Opfer !“ So lautet das Echo, das die herrschende Klasse von uns hören möchte. Zu ihrem Leidwesen teilen die neuen Generationen von Arbeitern nicht die Resignation ihrer Vorgänger. Sobald die Krise die Arbeiter zu beeinträchtigen begann - noch bevor die Krise als solche erkannt wurde, mit Ausnahme einiger winziger Minderheiten von Re­volutionären, die die Lehren des Marxismus nicht vergessen hatten -, hat die Arbei­terklasse ihren Kampf aufgenommen. Ihre Kämpfe Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre zeigten mit ihrer großen Reichweite und militanten Entschlossenheit, dass die schreckliche Konterrevolution, die nach der Niederschlagung der revolutionären Welle nach dem I. Welt­krieg so stark auf der Gesellschaft gelastet hatte, zu Ende war. Es war nicht mehr die „Mitternacht des Jahrhunderts“. Der Kapitalismus musste erneut mit diesem Riesen rechnen, den er endgültig einge­schlafen glaubte: dem Proletariat. Zwar strotzte das Proletariat vor Kraft, allein es fehlte ihm an Erfahrung, und es lief in die Fallen, die die Bourgeoisie ihm stellte, nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte. Darauf bauend, dass sich ihre Wirtschaftskrise viel langsamer als in den 30er Jahren entwickelt, gelang es der Bourgeoisie, dem Proletariat ihre eigenen Illusionen über eine „Lösung“ der Krise aufzuschwatzen. Einige Jahre lang glaubte das Proletariat dem Schwindel der „linken Alterna­tive“, ob sie sich Labour-Regie­rung, Volksmacht, Programme Commun, Moncloa-Pakt, historischer Kompromiss oder ähnlich nannte. Indem sie eine Zeit lang den offenen Kampf aufgab, hat sich die Ar­beiterklasse in die Sackgassen der Wahlen und der Demokratie führen lassen und fast ohne Gegenwehr mit immer größeren Dosen der Austerität und Arbeitslosigkeit arrangiert. Aber was ihre erste Kampfwelle, die 1968 anfing, bereits andeutete, bestätigt sich auch heute: Die heuti­gen bürgerlichen Mystifikationen haben nicht die Kraft von einst. Durch ihren häufigen Gebrauch haben sich die Sprüche über die „Verteidigung des Vaterlandes“, der „Zivilisation“, der „Demokratie“, des „sozialistischen Vaterlandes“ verschlissen. Und die „nationalen Inte­ressen“, der „Terrorismus“ und anderes können diese nicht ersetzen. Wie unser Artikel „Unsere Intervention und ihre Kritiker“ (Siehe Internationale Revue Nr.20, engl., franz. und span. Ausgabe) hervorhebt, hat das Proletariat wieder zum Kampf zurückgefunden. So wurde die Linke, sofern sie in der Regierung war, gezwungen, in die Opposition zurückzukehren, um durch die Radikalisierung ihres Wortgeklingels ihre kapitalistische Aufgabe zu erfüllen.

Mit einer Krise, deren Auswirkungen von Tag zu Tag schwerer auf der Arbeiterklasse lasten, mit der Erfahrung einer ersten Welle von Kämpfen sowie der Kenntnis des Arsenals von Fallen, die die Bourgeoisie aufstellt, um diese Kämpfe zu ersticken, und schließlich mit dem zögerlichen, aber ganz realen Auftreten von revolutionären Minderheiten bekräftigt die Arbeiterklasse erneut ihre Macht und ihr enormes Kampfpotential. Wenn einerseits die Bourgeoisie der Menschheit keine andere Zukunft als den totalen Krieg anbieten kann, so zeigen andererseits die Kämpfe, die sich heute entwickeln, dass das Proletariat nicht willens ist, der Bourgeoisie freie Hand zu gewähren und dass es eine andere Zukunft anzubieten hat, eine Zukunft, in der es weder Krieg noch Ausbeutung geben wird: den Kommunismus.

In dem jetzt angebrochenen Jahrzehnt wird somit über diese Alternative entscheiden: Entweder setzt das Proletariat seine Offen­sive fort, fällt dem mörderischen Treiben des zugrundegehenden Kapitalismus in die Arme und sam­melt seine Kräfte für dessen Umsturz, oder es wird in die Falle laufen, sich erschöp­fen und von den Reden und der Unterdrüc­kung seitens der Bourgeoisie demoralisie­ren lassen; und dann wäre der Weg frei zu einem neuen Holocaust, der die ganze menschli­che Gesellschaft auszulöschen droht.

Wenn die 70er Jahre sowohl für die Bour­geoisie als auch für das Proletariat Jahre der Illusionen waren, so werden, weil sich in diesen Jahren die Wirklichkeit dieser Welt vollständig entblößen und die Zukunft der Menschheit mehr oder weniger entscheiden wird, die Achtziger Jahre der Wahrheit sein.

Der Historische Kurs

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1. Können und sollen die Revolutionäre Voraussagen treffen?

Das eigentliche Wesen jeglicher menschlicher Tätigkeit setzt Voraussicht, Vorhersage voraus. Marx schreibt z.B.: "Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister von der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut." (Marx; Das Kapital Band 1).
Jede Handlung des Menschen verläuft nach dieser Vorgehensweise. Der Mensch gebraucht ständig seine Gabe der Voraussicht. Nur durch die Umwandlung der auf eine Reihe von Experimenten gegründeten Hypothesen in Vorhersagen und durch die Konfrontation dieser Vorhersagen mit neuen Experimenten kann der Forscher diese Hypothesen für richtig (oder falsch) erklären und sein Verständnis fortentwickeln.
Indem es sich auf eine wissenschaftliche Untersuchungsweise der gesellschaftlichenen Wirklichkeit stützt, funktioniert das revolutionäre Denken auf dieselbe Weise, mit dem einzigen Unterschied, dass die Revolutionäre im Gegensatz zu den Forschern die Bedingungen neuer Experimente nicht im Labor schaffen können. Es ist die gesellschaftliche Praxis, die die von den Revolutionären vorgestellten Perspektiven bestätigt oder widerlegt und die Richtigkeit ihrer Theorie nachweist oder sie umstößt. Alle Aspekte der historischen Bewegung der Arbeiterklasse stützen sich auf Voraussagen; sie erlauben es, die Kampfformen jeder Epoche des Kapitalismus anzupassen. Vor allem das Projekt des Kommunismus beruht auf Voraussagen, insbesondere auf die Perspektive des Zusammenbruchs des Kapitalismus. Wie der Entwurf eines Architekten wird der Kommunismus zunächst - in groben Zügen natürlich - in den Köpfen der Menschen entworfen, bevor er in die Tat umgesetzt werden kann.
Im Gegensatz also zu Paul Mattick beispielsweise, der annahm, dass die Studie wirtschaftlicher Phänomene keine Voraussicht schafft, die für die Aktivität der Revolutionäre von Nutzen ist, ist die Ausarbeitung einer Perspektive - mit anderen Worten: die Voraussage - ein integraler und sehr wichtiger Bestandteil in den Aktivitäten der Revolutionäre.
Nachdem dies festgestellt ist, muss folgende Frage aufgeworfen werden: Auf welchem Gebiet können Revolutionäre das Mittel der Voraussage anwenden?
Auf langfristiger Ebene? Sicherlich; das Projekt des Kommunismus beruht auf nichts anderem.
Auf kurzfristiger Ebene? Natürlich; sie ist Teil der menschlichen Tätigkeit und somit der Revolutionäre.
Auf mittelfristiger Ebene? Da sie sich nicht auf Allgemeinheiten wie die langfristige Voraussage beschränken kann und über weniger Anhaltspunkte als die kurzfristige Vorhersage verfügt, ist sie zweifellos die schwierigste Art der Vorhersage, die das Proletariat treffen kann. Sie darf aber nicht vernachlässigt werden, weil sie direkt die Art und Weise des Kampfes in jedem Zeitraum des Kapitalismus bedingt.
Somit kann die Frage präziser gestellt werden: Kann und muss man im Rahmen der mittelfristigen Voraussage die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat antizipieren? Dies setzt voraus, dass man die Möglichkeit solch einer Entwicklung anerkennt und die ihr vorausgehende Frage beantwortet hat:

2. Gibt es verschiedene Perioden im Verlauf des Klassenkampfes?

Es mag seltsam erscheinen, solch eine grundlegende Frage zu stellen. In der Vergangenheit schien sie so selbstverständlich, dass die Revolutionäre kaum auf dem Gedanken kamen, sie überhaupt zu stellen. Sie fragten nicht, ob es so etwas wie einen Kurs im Klassenkampf gibt oder ob es möglich und notwendig ist, ihn zu untersuchen, sondern einfach: Wie verläuft der Kurs? Und die Debatten unter den Revolutionären beschäftigten sich genau mit dieser Frage. 1852 beschrieb Marx den besonders unsteten Kurs des Klassenkampfes der Arbeiter:
"Proletarische Revolutionen (...) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihren eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen (...), scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke." (Marx, 18. Brumaire).
Vor mehr als einem Jahrhundert schien die Frage geklärt zu sein. Aber heute müssen wir feststellen, dass die fürchterliche Konterrevolution, aus der wir gerade herauskommen, solch eine Verwirrung im revolutionären Milieu gestiftet hat (siehe z.E. den Brief von Fomento Obrero Revolucionario an Révolution Internationale), dass wir heute dieselbe Frage erneut stellen müssen.
Verwirrungen in diesem Bereich beruhen auf der Unkenntnis der Geschichte der Arbeiterbewegung (aber "Unkenntnis ist keine Entschuldigung", wie Marx sagte). Ein Studium der Geschichte der Arbeiterbewegung erlaubt uns, das zu bestätigen, was Marx über das Wechselspiel zwischen den Vorstößen der Arbeiterkämpfe (die oft sehr stürmisch und kraftvoll waren wie die Bewegungen zwischen 1848-49,1864-71,1917-23) und ihren Rückzügen (wie 1850,1872 und 1923) sagte, die das Verschwinden oder die Degenerierung der politischen Organisationen bewirkten, die die Klasse in den aufsteigenden Phasen ihres Kampfes abgesondert hatte (Bund der Kommunisten: 1847 gebildet,1852 ausgelöst; Internationale Arbeiterassoziation: gegründet 1864,aufgelöst 1876; Kommunistische Internationale: gegründet 1919, degeneriert Mitte der 20er Jahre; die Sozialistische Internationale folgte einem ähnlichen Weg, aber nicht auf so eindeutige Weise).
Dass wir heute noch Revolutionäre antreffen, die unfähig sind, das Wechselspiel zwischen Vorstoß und Rückzug des Klassenkampfes zu verstehen, liegt sehr wahrscheinlich an der außergewöhnlich langen, über ein Jahrhundert dauernden Konterrevolution, die der revolutionären Welle von 1917-23 folgte. Während dieser Konterrevolution befand sich die Arbeiterklasse überall in einer Position der extremen Schwäche. Eine vorbehaltlose Untersuchung der Geschichte der Arbeiterbewegung und der marxistischen Analysen hätte (auch wenn es natürlich viel bequemer ist, nicht zu studieren und Fragen zu stellen) es diesen Revolutionären ermöglicht, das Gewicht der Konterrevolution abzuschütteln. Es hätte ihnen auch erlaubt zu erfahren, dass Ausbrüche des Klassenkampfes stattfinden, wenn sich der Kapitalismus in der Krise befindet (Wirtschaftskrisen wie 1848 oder Kriege wie 1871,1905,1917), und zwar aufgrund:
- der Schwächung der herrschenden Klasse,
- der Notwendigkeit für die Arbeiter, der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen entgegenzutreten,
- der Entblößung der Widersprüche des Systems, was zur Hebung des Klassenbewusstseins führen kann.

3. Können wir Voraussagen über den historischen Kurs des Klassenkampfes machen?
Die Geschichte zeigt, dass Revolutionäre schwerwiegende Fehler in diesem Bereich begehen können. Zum Beispiel:
- die Willich/Schapper-Tendenz im Bund der Kommunisten, die das Zurückweichen des Klassenkampfes nach 1949 nicht begriff und die Organisation zu abenteuerlichen Aktionen drängte;
- die bakunistische Strömung in der Internationalen Arbeiterassoziation, die nach der Niederschlagung der Pariser Kommune von 1871 noch immer mit einer unmittelbaren Revolution rechnete und sich von der langfristigen Arbeit abwandte;
- die KAPD, die sich nicht des Rückzuges der Revolution Anfang der 20er Jahre bewusst war und sich später im Voluntarismus und sogar im Putschismus verlor;
- Trotzki, der 1936 erklärte, dass die "Revolution in Frankreich begonnen habe" und der 1938, auf dem Tiefpunkt der Welle, die Totgeburt der "IV. internationale" gründete.
Die Geschichte hat jedoch auch gezeigt, dass die Revolutionäre die Mittel besaßen, den Kurs korrekt zu analysieren und richtige Voraussagen über die Zukunft des Klassenkampfes zu treffen:
- Marx und Engels verstanden die Änderung der Perspektiven nach 1849 und 1871;
- die italienische Linke begriff den Rückzug der Weltrevolution nach 1921 und zog daraus die richtigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Aufgaben der Partei und der Bedeutung der Ereignisse in Spanien 1936.
Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass - als ein allgemeines Gesetz - diese richtigen Voraussagen nicht eine Angelegenheit des Zufalls waren, sondern auf ernsthaften Untersuchungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruhten - auf eine allgemeine Analyse des Kapitalismus, besonders der wirtschaftlichen Lage, aber auch des sozialen Kampfes in Hinblick sowohl auf die Kampfbereitschaft als auch auf das Bewusstsein. Auf diese Weise:
- begriffen Marx und Engels den Rückzug der Revolution Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts und, dass der Krise von 1847-48 eine Periode der wirtschaftlichen Erholung folgte;
- sahen Lenin und die Bolschewiki einen revolutionäre Aufschwung im Verlaufe des 1. Weltkrieges voraus, ausgehend von der Tatsache, dass der imperialistische Krieg eine Manifestation der Todeskrise des Kapitalismus war und das System in einen Zustand großer Schwäche stürzen würde.
Aber obgleich sie eine notwendige Voraussetzung für eine proletarische Erhebung darstellt, ist die Krise des Kapitalismus nicht ausreichend - im Gegensatz zu dem, was Trotzki nach der Krise von 1929 dachte. Ebenso ist die Kampfbereitschaft der Arbeiter kein ausreichender Beweis einer wirklichen und beständigen Auflehnung, wenn sie nicht von einer Tendenz begleitet wird, die mit den kapitalistischen Mystifikationen bricht. Dies wurde von der Minderheit der italienischen Fraktion verkannt, als sie in der Bewaffnung und Mobilisierung der spanischen Arbeiter im Juli 1936 den Anfang der Revolution sah, obwohl die spanischen Arbeiter tatsächlich durch den Antifaschismus politisch entwaffnet wurden und unfähig waren, den Kapitalismus wirklich anzugreifen.
Man kann somit feststellen, dass es den Revolutionären möglich ist, Voraussagen über die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat zu treffen und dass sie - weit davon entfernt, diese Aufgabe wie ein Glücksspiel anzugehen - Kriterien benutzen können, die auf der Erfahrung beruhen und die - obgleich nicht unfehlbar - verhindern, dass die Revolutionäre im Dunkeln tappen. Einige Revolutionäre erheben jedoch einen anderen Einwand: "Selbst wenn es möglich ist, Voraussagen über den historischen Kurs zu treffen, sind sie für den Klassenkampf völlig irrelevant und in keiner Weise Bedingung für die Aktivitäten der Kommunisten. All das sind intellektuelle Spekulationen ohne Einfluss auf die Praxis." Befassen wir uns nun mit diesem Argument.
4. Ist es notwendig, Voraussagen über den historischen Kurs zu machen?
Bei der Beantwortung dieser Frage könnte man fast sagen, dass die Tatsachen für sich selbst sprechen. Aber die Konterrevolution hat in einigen revolutionären Gruppen solche Verwüstungen angerichtet, dass diese entweder die Tatsachen völlig ignorieren oder unfähig sind, sie richtig zu deuten. Um uns selbst von der Notwendigkeit für die revolutionäre Organisation zu überzeugen, eine richtige Analyse der historischen Perspektive anzufertigen, genügt es, das tragische Schicksal der deutschen Linken in Erinnerung zu rufen. Diese war trotz des Werts ihrer programmatischen Positionen vollständig desorientiert, zerrüttet und endgültig zerstört durch ihre Irrtümer über den Kurs des Klassenkampfes. Wir sollten uns ebenfalls an das traurige Ende der Minderheit der italienischen Fraktion erinnern, die den antifaschistischen Milizen im spanischen Bürgerkrieg beitrat, sowie an das erbärmliche Schicksal der UNION COMMUNISTE, die eine Politik der "kritischen Unterstützung" gegenüber den Linkssozialisten der POUM betrieben, darauf hoffend, dass daraus eine kommunistische Avantgarde hervorgehen würde, die fähig ist, sich an die Spitze der "spanischen Revolution" zu stellen. Wir sehen, dass ein Verkennen des Problems des historischen Kurses eine katastrophale Wirkung auf die Revolutionäre haben kann.
Die Analyse des Kurses des Klassenkampfes bedingt unmittelbar die Organisation und Intervention der Revolutionäre. Wenn man den Strom hinauf schwimmt, schwimmt man in Ufernähe; wenn man den Fluss hinab schwimmt, schwimmt man in der Mitte. Ähnlich unterscheidet sich das Verhältnis der Revolutionäre zu ihrer Klasse gemäß dem Verlauf des Kampfes. Wenn die Klasse zur Revolution strebt, müssen die Revolutionäre sich an die Spitze der Bewegung stellen; falls die Klasse in den Abgrund der Konterrevolution stürzt, müssen sie gegen den- Strom ankämpfen.
Im ersten Fall müssen sie darauf achten, sich nicht von der Klasse zu trennen, jeden ihrer Schritte und alle ihre Kämpfe aufmerksam zu verfolgen, um deren Potential so weit wie möglich zu entfalten. Ohne jegliche Nachlässigkeit gegenüber der theoretischen Arbeit nimmt die Teilnahme an den Kämpfen ihrer Klasse einen privilegierten Platz ein. Auf organisatorischer Ebene verhalten sich die Revolutionäre offen und zuversichtlich den anderen Strömungen gegenüber, die aus der Klasse hervorkommen. Sie können auf eine positive Entwicklung dieser Strömungen sowie auf eine Annäherung der jeweiligen Positionen hoffen, ohne dabei die eigenen Prinzipien loszulassen. Der Aufgabe der Umgruppierung kann auf diese Weise ein Maximum an Aufmerksamkeit und Anstrengung entgegengebracht werden.
Ganz anders in der Periode des historischen Rückflusses. Dann kommt es vor allem darauf an, sicherzustellen, dass die Organisation dieser Rückentwicklung widersteht und ihre Prinzipien gegenüber dem verderblichen Einfluss der kapitalistischen Mystifikationen, die die ganze Klasse zu ertränken trachten, aufrechterhält. Eine weitere Aufgabe besteht darin, das zukünftige Wiederaufleben der Klasse vorzubereiten, indem sie den Hauptteil ihrer schwachen Kräfte der theoretischen Arbeit, die Bilanzierung der Erfahrungen aus den vergangenen Kämpfe, insbesondere die Ursache der Niederlage, zu widmen. Es ist klar, dass dies dazu führt, dass die Revolutionäre von der Klasse abgeschnitten werden. Aber dies müssen sie in Kauf nehmen, sofern sie festgestellt haben, dass die Bourgeoisie triumphiert hat und das Proletariat von seinem Klassenterrain gezerrt worden ist. Andernfalls riskieren sie, in dieselbe Richtung gezogen zu werden. Was die Frage der Umgruppierung der Revolutionäre angeht, so wäre es - ohne diesen Anstrengungen den Rücken zuzukehren - zwecklos, eine allzu optimistische Perspektive in Aussicht zu stellen. Tendenziell wird die Organisation sich in sich selbst zurückziehen und misstrauisch ihre eigenen Positionen überwachen; sie wird dazu neigen, die Meinungsverschiedenheiten aufrechtzuerhalten, die mangels Klassenerfahrungen nicht überwunden werden können.
Somit wird deutlich, dass die Analyse des historischen Kurses beträchtliche Auswirkungen auf die Handlungs- und Organisationsweise der Revolutionäre hat und dass dies nichts mit "akademischen Spekulationen" zu tun hat. So wie eine Armee zu jeder Zeit das genaue Kräfteverhältnis gegenüber dem Feind kennen muss, um zu beurteilen, ob sie angreifen kann oder sich geordnet zurückziehen muss, so benötigt auch die Arbeiterklasse eine richtige Einschätzung des Kräfteverhältnisses zu ihrem Feind, der Bourgeoisie. Und den Revolutionären - den fortgeschrittensten Elementen der Klasse - fällt die Aufgabe zu, der Klasse ein Höchstmaß an Orientierungspunkten für solch eine Einschätzung zu liefern. Darin besteht einer der wesentlichen Gründe für ihr Bestehen.
In der Vergangenheit haben die Revolutionäre stets mehr oder weniger erfolgreich Verantwortung getragen. Aber die Untersuchung des historischen Kurses erhält mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Phase der Dekadenz eine noch größere Bedeutung, da die Einsätze, die im Klassenkampf auf dem Spiel stehen, weitaus höher sind.
5. Die historische Alternative im Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz
In Übereinstimmung mit der Kommunistischen Internationale hat die IKS immer darauf bestanden, dass die Dekadenz des Kapitalismus die "Epoche der imperialistischen Kriege und der proletarischen Revolutionen" ist. Der Krieg ist keine Besonderheit des dekadenten Kapitalismus und auch keine Besonderheit des Kapitalismus im allgemeinen. Aber die Form und die Funktion des Krieges ändert sich, je nachdem ob das System fortschrittlich ist oder zu einer Fessel der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte geworden ist.
"In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus drückten Kriege (ob nationale, koloniale oder imperialistische Eroberungen) die aufstrebende Bewegung, die Reifung, Stärkung und Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems aus. Die kapitalistische Produktion fand im Krieg die Fortsetzung ihrer Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln. Jeder Krieg rechtfertigte sich und zahlte sich aus, indem er ein neues Feld für noch größere Expansionen öffnete, die kapitalistische Weiterentwicklung sicherte.
In der Epoche des dekadenten Kapitalismus drückt der Krieg genauso wie der Frieden diese Dekadenz aus und beschleunigt sie außerordentlich.
Es wäre falsch, den Krieg als etwas Negatives schlechthin zu betrachten, als Zerstörer und Fessel der gesellschaftlichen Entwicklung, dem Frieden entgegengesetzt, der als der normale, positive Weg einer ununterbrochenen Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft erscheint. Dies hieße, ein moralistisches Konzept in einen objektiven, ökonomisch bestimmten Verlauf einzuführen.
Der Krieg war ein unabdingbares Mittel, mit welchem der Kapitalismus sich unerschlossene Gebiete für die Entwicklung eröffnete, zu einer Zeit, als solche Gebiete noch existierten und nur mit Gewalt erschlossen werden konnten. Auf derselben Weise findet die kapitalistische Welt, nachdem historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft sind, im modernen imperialistischen Krieg den Ausdruck ihres Zusammenbruchs, der die Produktivkräfte nur noch tiefer in den Abgrund reißt und nur noch schneller Ruine auf Ruine häuft.
Im Kapitalismus gibt es keinen grundlegenden Widerspruch zwischen Krieg und Frieden, aber es gibt einen Unterschied zwischen der Phase des Aufstiegs und des Verfalls der kapitalistischen Gesellschaft und somit einen Unterschied im Wesen des Krieges (und im Verhältnis zwischen Krieg und Frieden) in den jeweiligen Phasen. Während der ersten Phase besitzt der Krieg die Funktion, eine Expansion des Marktes und damit der Produktionsmittel der Konsumgüter zu gewährleisten; dagegen ist während der zweiten Phase die Produktion hauptsächlich auf die Produktion von Zerstörungsmittel, d.h. auf den Krieg, ausgerichtet. Die Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft findet ihren treffendsten Ausdruck in der Tatsache, dass in der dekadenten Periode die wirtschaftlichen Aktivitäten hauptsächlich auf Krieg eingestellt sind, wohingegen in der aufsteigenden Phase die Kriege dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozess dienten.
Das bedeutet nicht, dass der Krieg zum Ziel der kapitalistischen Produktion geworden ist, da dies die Erzeugung von Mehrwert bleibt. Aber es bedeutet, dass der Krieg zur permanenten Lebensform des dekadenten Kapitalismus wird." (Bericht über die internationale Situation auf der Konferenz der Linkskommunisten Frankreichs im Juli 1945).
Wir können drei Schlussfolgerungen aus dieser Analyse über das Verhältnis zwischen dem dekadenten Kapitalismus und dem imperialistischen Krieg ziehen:
1. Seiner eigenen Dynamik überlassen, kann der Kapitalismus dem Krieg nicht entkommen; all das Geschwätz vom Frieden, all die "Völkerbünde" und "Vereinten Nationen", der gute Wille der "großen Persönlichkeiten" des Kapitals können nichts daran rütteln. Die "Friedensperioden" (d.h. Zeiten, in denen der Krieg nicht generalisiert ist) sind nur Augenblicke, in denen das Kapital seine Kräfte wiederherstellt für noch zerstörerische und barbarischere Konfrontationen.
2. Der imperialistische Krieg ist der bedeutendste Ausdruck des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise; er streicht die Notwendigkeit heraus, diese Produktionsform zu überwinden, bevor sie die Menschheit in den Abgrund der Zerstörung reißt. Das ist die wahre Bedeutung der von der Kommunistischen Internationalen zitierten Formel.
3. Im Gegensatz zu den Kriegen der aufsteigenden Phase, die nur beschränkte Gebiete des Erdballs in Mitleidenschaft zogen und nicht das gesamte gesellschaftliche Leben eines jeden Landes bestimmten, ist der imperialistische Krieg auf Weltebene ausgeweitet und ordnet die Gesamtheit der Gesellschaft seinen Bedürfnissen unter, vor allem die Klasse, die die Masse des gesellschaftlichen Reichtums produziert - das Proletariat.
Da es an ihr liegt, all den Kriegen ein Ende zu setzen, und sie die einzig mögliche Zukunft - den Sozialismus - in den Händen hält; da sie die Klasse ist, die an der vordersten Front der Opfer steht, die vom imperialistischen Krieg aufgenötigt werden; da sie, von jeglichem Eigentum ausgeschlossen, die einzige Klasse ist, die wirklich kein "Vaterland" hat ,die wahrhaft internationalistisch ist, hält die Arbeiterklasse das Schicksal der gesamten Menschheit in den Händen.
Um es direkter auszudrücken: die Fähigkeit des Proletariats, auf die historische Krise des Kapitalismus auf seinem eigenen Klassenterrain zu reagieren, wird darüber entscheiden, ob dieses System in der Lage sein wird, seine eigene Lösung der Krise durchzusetzen - den imperialistischen Krieg.
Seitdem der Kapitalismus in seine dekadente Phase eingetreten ist, sind die Konsequenzen für die Frage des historischen Kurses kaum mit denen des letzten Jahrhunderts zu vergleichen. Im 20. Jahrhundert bedeutet der Sieg des Kapitalismus eine namenlose Barbarei des imperialistischen Krieges und die drohende Auslöschung der menschlichen Rasse. Der Sieg des Proletariats dagegen macht ein Wiederaufleben der Gesellschaft möglich, das "Ende der Vorgeschichte der Menschheit und der Anfang ihrer wirklichen Geschichte". Das sind die Einsätze, die die Revolutionäre vor Augen haben müssen, wenn sie heute die Frage des historischen Kurses untersuchen. Aber dies trifft nicht auf alle Revolutionäre zu, insbesondere nicht auf jene, die sich weigern, von historischen Alternativen zu sprechen (oder, falls sie davon reden, nicht wissen, worüber sie sprechen) und jene, für die der imperialistische Krieg und die Auflehnung des Proletariats gleichzeitig oder gar aufeinanderfolgend auftreten.
6. Der Gegensatz und die gegenseitige Ausschließung der historischen Alternativen
Am Vorabend des II. Weltkrieges wurde innerhalb der italienischen Linken die These entwickelt, wonach der imperialistische Krieg nicht mehr das Produkt der Spaltung des Kapitalismus in sich unversöhnlich gegenüberstehenden Staaten und Mächten ist, die alle um die Weltherrschaft ringen. Es wurde behauptet, dass dieses System auf diese äußerste Maßnahme zurückgreift, um das Proletariat zu massakrieren und um den Aufschwung der Revolution zu bremsen. Die Linkskommunisten Frankreichs argumentierten gegen diese Behauptung auf folgende Weise:
"Die Ära der Kriege und der Revolutionen bedeutet nicht, dass die Entwicklung des Krieges nicht mit der Entwicklung der Revolution in Einklang steht. Obwohl sie ihren Ursprung in derselben historischen Situation, der permanenten Krise des kapitalistischen Systems, haben, unterscheiden sie sich dennoch in der Hauptsache und stehen in keinem direktem wechselseitigem Verhältnis. Während die Auslösung eines Krieges direkt revolutionäre Erschütterungen heraufbeschwören kann, ist die Revolution nie ein auslösender Faktor des imperialistischen Krieges.
Der imperialistische Krieg entwickelt sich nicht als Antwort auf die Erhebung der Revolution. Ganz im Gegenteil, erst das einer Revolution folgende Zurückweichen, die zeitweilige Verdrängung einer revolutionären Bedrohung ermöglicht es dem Kapitalismus, auf den Ausbruch eines Krieges hinzuarbeiten, der durch die Widersprüche und inneren Spannungen des kapitalistischen Systems hervorgerufen wird. " (ebenda).
In jüngerer Zeit sind auch andere Theorien aufgetaucht, denen zufolge mit der Entwicklung der Krise des Kapitalismus beide Pole des Widerspruchs gleichzeitig verstärkt werden: Krieg und Revolution schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern schreiten gleichzeitig und parallel voran, ohne dass man weiß, welches von beiden zuerst den Höhepunkt erreicht. Der Hauptfehler solch einer Auffassung besteht darin, dass sie den Faktor des Klassenkampfes im Leben der Gesellschaft vollständig außer Acht lässt. Dagegen basierte die von der italienischen Linken entwickelte Auffassung auf einer Überbewertung des Einflusses des Klassenkampfes. Ausgehend von dem Satz aus dem KOMMUNISTISCHEN MANIFEST, dass "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften.... die Geschichte von Klassenkämpfen (ist)", wandten sie ihn allzu mechanisch bei der Untersuchung des imperialistischen Krieges an und betrachteten den imperialistischen Krieg als eine Antwort auf den Klassenkampf. Sie begriffen nicht, dass der imperialistische Krieg ganz im Gegenteil nur dank der Abwesenheit des Klassenkampfes stattfinden kann. Wenn diese Auffassung auch falsch war, so ging sie jedoch von richtigen Voraussetzungen aus. Der Fehler lag in der Weise, in der diese Voraussetzungen angewendet wurden. Im Gegensatz dazu schiebt die These von der "Parallelität und Simultanität des Kurses zum Krieg und zur Revolution"  diese fundamentale marxistische Voraussetzung vollständig beiseite, denn sie geht davon aus, dass die beiden antagonistischen Klassen der Gesellschaft ihre jeweilige Antwort auf die Krise des Systems - der imperialistische Krieg für die einen, die Revolution für die anderen - vollkommen unabhängig voneinander, vom jeweiligen Kräfteverhältnis, von den Konfrontationen und Zusammenstößen zwischen beiden vorbereiten können. Wenn es nicht einmal zum Zwecke einer Bestimmung der allumfassenden historischen Alternative für das gesellschaftliche Leben angewendet werden kann, dann hat das Schema des KOMMUNISTISCHEN MANIFESTES keine Existenzberechtigung mehr; dann können wir den gesamten Marxismus ins Museum zu den anderen ausgemusterten Erfindungen der Menschheit stecken.
In Wirklichkeit hat die Geschichte eine solche Auffassung der "Parallelität" als falsch überführt. Im Gegensatz zum Proletariat, das keine entgegengesetzten Interessen in sich birgt, ist die Bourgeoisie eine Klasse, die durch die Gegensätze zwischen den ökonomischen Interessen ihrer verschiedenen Bereiche zutiefst gespalten ist. In einer Wirtschaft, in der die Ware unangefochten herrscht, ist der Wettbewerb zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse im allgemeinen unüberwindbar. Darin liegt der tiefere Grund für die politischen Krisen, von denen diese Klasse heimgesucht wird, als auch für die hitzigen Spannungen zwischen Ländern und Blöcken, die sich ständig verschärfen. Das höchste Maß an Einheit, das das Kapital erzielen kann, ist die Nation; es ist aber eines der Hauptmerkmale des kapitalistischen Staates, dass er den verschiedenen Sektoren des nationalen Kapitals diese Disziplin erst aufzwingen muss. Abgesehen davon kann man von einer gewissen "Solidarität" zwischen Staaten eines gleichen imperialistischen Blocks sprechen. Dies spiegelt die Tatsache wieder, dass ein nationales Kapital allein gegen alle überhaupt nichts ausrichten kann und gezwungen ist, einen Teil seiner Unabhängigkeit aufzugeben, um seine Gesamtinteressen zu wahren. Aber dies schließt nicht Rivalitäten zwischen Ländern desselben Blocks sowie die Tatsache aus, dass der Kapitalismus sich auf Weltebene nicht vereinigen kann (im Gegensatz zu Kautskys Theorie vom "Superimperialismus"). Die Blöcke bleiben weiterhin bestehen und die Gegensätze zwischen ihnen können sich nur verstärken.
Der einzige Augenblick, in dem die Bourgeoisie Einheit auf Weltebene erlangen und ihre imperialistischen Rivalitäten zum Schweigen bringen kann, tritt ein, wenn ihr Überleben von ihrem Todfeind, dem Proletariat, bedroht ist. Die Geschichte zeigt, dass sie in einem solchen Moment fähig ist, eine Solidarität zu offenbaren, an der es ihr sonst mangelt. Dies wurde veranschaulicht:
- 1871 in der Zusammenarbeit zwischen Preußen und der Versailler Regierung gegen die Pariser Kommune (Freilassung französischer Soldaten, die in der "Blutigen Woche" benötigt wurden);
- 1918, als die Entente ihre Solidarität gegenüber der deutschen Bourgeoisie ausdrückte, die von der proletarischen Revolution bedroht wurde  (Freilassung der deutschen Soldaten, die anschließend für das Massaker an den Spartakisten benötigt wurden).
Somit entwickelt sich der historische Kurs zum Krieg oder zur Revolution nicht auf parallele und unabhängige Weise, sondern auf antagonistische und sich wechselseitig beeinflussende Art . Mehr noch: der imperialistische Krieg und die Revolution schließen sich als Antworten zweier sich historisch gegenüberstehender Klassen nicht nur in der Zukunft der Gesellschaft aus, sondern auch in der täglichen Vorbereitung dieser beiden Alternativen.
Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges setzt für den Kapitalismus die Entwicklung einer Kriegswirtschaft voraus; es ist das Proletariat, das die schwerste Last tragen muss. Schon der Kampf der Arbeiter gegen die Austerität hält diese Vorbereitungen auf und bringt klar zum Ausdruck, dass die Klasse nicht bereit ist, die immer schlimmeren Opfer auf sich zu nehmen, die ihr die Bourgeoisie im imperialistischen Krieg abverlangt. So bedeutet der Klassenkampf - selbst wenn er für noch so beschränkte Ziele eintritt -, dass das Proletariat die Bande der Solidarität mit "seinem" nationalen Kapital durchreißt; eine Solidarität, die die Bourgeoisie während des Krieges so dringend fordert. Er drückt sich ebenso in einer Tendenz aus, die mit den bürgerlichen Idealen wie "Demokratie", Illegalität", "Vaterland", dem falschen "Sozialismus" bricht, für deren Verteidigung die Arbeiter dazu aufgerufen werden, sich und die Klassenbrüder zu massakrieren. Letztendlich ermöglicht der Klassenkampf dem Proletariat, seine Einheit zu schmieden; ein unersetzlicher Faktor, wenn die Klasse sich anschickt, auf internationaler Ebene den Showdown zwischen den imperialistischen Gangstern zu verhindern.
Als der Kapitalismus Mitte der 60er Jahre in die Phase der akuten Wirtschaftskrise eintrat, eröffnete sich erneut die von der Kommunistischen Internationalen umrissene Perspektive: "imperialistischer Krieg oder proletarische Revolution" als die jeweiligen Antworten der beiden Hauptgesellschaftsklassen auf die Krise. Aber das bedeutet nicht, dass sich die beiden Tendenzen gleichzeitig entwickeln können. Sie erscheinen in der Form einer Alternative, d.h. sie schließen sich gegenseitig aus:
- entweder setzt das Kapital seine Antwort durch, was bedeutet, dass es vorher den Widerstand der Arbeiter zerschlagen hat;
- oder das Proletariat kann seine Lösung durchsetzen, was selbstredend bedeutet , dass es ihm vorher gelungen ist, den mörderischen Klauen des Imperialismus Einhalt zu gebieten.
Das Wesen des gegenwärtigen Kurses - ob zum imperialistischen Krieg oder zum Klassenkrieg - drückt somit die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat aus. Wie es vor uns die meisten Revolutionäre - und vor allem Marx - bereits gemacht haben, müssen auch wir dieses Kräfteverhältnis untersuchen. Aber wir müssen über Kriterien verfügen, um solch eine Einschätzung vorzunehmen, und diese Kriterien sind nicht zwangsläufig mit denen der Vergangenheit identisch. Eine Definition solcher Kriterien setzt voraus, dass wir die Kriterien der Vergangenheit kennen, dass wir zwischen jenen, die heute noch gültig sind, und jenen, die angesichts der Entwicklung der historischen Lage ungültig geworden sind, zu unterscheiden wissen und dass wir schließlich eventuelle neue Kriterien in Betracht ziehen, die durch diese Entwicklung hervorgebracht werden. Wir können die Szenarien der Vergangenheit nicht mechanisch anwenden - obwohl wir von einer Untersuchung der Vergangenheit ausgehen müssen. Dies trifft insbesondere auf die Untersuchung der Bedingungen zu, die den Ausbruch der imperialistischen Kriege von 1914 und 1939 zuließen.
7. Die Bedingungen der imperialistischen Kriege von 1914 und 1939
"Die letzte und entscheidende Bedingung für den Ausbruch des imperialistischen Krieges ist die Einstellung des Klassenkampfes oder - genauer - die Zerstörung der Klassenmacht des Proletariats, die Entgleisung seiner Kämpfe (was die Bourgeoisie durch die Infiltrierung ihrer Agenten in die Klasse erreicht, die die Arbeiterkämpfe ihres revolutionären Inhalts berauben und sie zu Reformismus und Nationalismus führen). Dies darf nicht vom engen und beschränkten Standpunkt einer einzigen Nation aus gesehen werden, sondern geht nur auf internationaler Ebene.
Daher steht das teilweise Erstarken, das Wiederauftauchen von Kämpfen und Streikbewegungen in Russland (1913) in keiner Weise im Widerspruch zu unserer Behauptung. Bei näherer Betrachtung sehen wir, dass die Macht des internationalen Proletariats am Vorabend des Augusts 1914, seine Wahlsiege, die großen sozialdemokratischen Parteien und gewerkschaftlichen Massenorganisationen - der Ruhm und Stolz der II. Internationalen - nur eine Fassade waren, die unter ihrer Tünche einen ruinösen ideologischen Zustand verbarg. Die Arbeiterbewegung, die durch einen autoritären Opportunismus untergraben und verrottet war, sollte unter der ersten Sturmböe des Krieges wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
Die Realität kann nicht als chronologisches Photografieren der Ereignisse verstanden werden, sondern muss  in der  ihr zugrunde liegenden, inneren Bewegung erfasst werden, in den tiefgreifenden Veränderungen, die eintreten, bevor sie an der Oberfläche auftauchen und als Daten registriert werden. Man würde einen schwerwiegenden Fehler begehen, wenn man der chronologischen Ordnung der Geschichte treu bliebe und den Krieg von 1914-18 als die Ursache des Zusammenbruchs der II. Internationalen sähe. Wo doch in Wirklichkeit der Ausbruch des Krieges ein direktes Resultat des vorhergehenden opportunistischen Verfalls der Arbeiterbewegung war. Die Fanfaren des Internationalismus tönten draußen um so lauter, je mehr  im Innern die nationalistische Tendenz triumphierte. Der I. Weltkrieg hat nur die 'Verbürgerlichung' der Parteien der II. Internationalen in die Öffentlichkeit gerückt, die Ersetzung des ursprünglich revolutionären Programms durch die Ideologie des Klassenfeindes und ihre Verknüpfung mit den Interessen der nationalen Bourgeoisie.
Der innere Prozess der Zerstörung des Klassenbewusstseins fand seine Vervollständigung im Ausbruch des I. Weltkrieges, den er selbst zuließ.
Der Ausbruch des II. Weltkrieges unterlag denselben Bedingungen. Wir können zwischen drei notwendigen und aufeinanderfolgenden Etappen zwischen den beiden imperialistischen Kriegen unterscheiden.
Die erste wurde mit der Erschöpfung der großen revolutionären Welle nach 1917 abgeschlossen und von einer Reihe von Niederlagen besiegelt, von der Niederlage der Linken, ihrem Ausschluss aus der Kommunistischen Internationalen über den Triumpf des Zentrismus bis hin zur Anbindung der UdSSR an den Kapitalismus mittels der Theorie und Praxis des 'Sozialismus in einem Land'.
Die zweite Stufe war die Generaloffensive des internationalen Kapitalismus, die das Ziel verfolgte, durch die physische Niederschlagung des Proletariats und die Installierung des Hitlerschen Regimes als Europas Gendarm den sozialen Aufruhr in Deutschland zu ersticken, in jenem Zentrum also, wo die Entscheidung zwischen den historischen Alternativen des Kapitalismus und des Sozialismus ausgetragen wurde. Im Einklang mit dieser Etappe kam der endgültige Tod der Komintern und der Zusammenbruch der linken Opposition um Trotzki. Unfähig, die revolutionäre Energie zu sammeln, engagierte sich diese in der Koalition und Verschmelzung mit den opportunistischen Gruppen und Strömungen der Linkssozialisten für eine Orientierung auf die Praxis des Bluffs und Abenteuertums, indem sie die Gründung der 'IV. Internationalen' verkündete.
Die dritte Etappe war die vollständige Irreführung der Arbeiterbewegung in den 'demokratischen' Ländern. Hinter der Maske der Verteidigung der 'Freiheiten' und der 'Errungenschaften' der Arbeiter, die alle vom Faschismus bedroht seien, verbarg sich tatsächlich das Ziel, das Proletariat für die Verteidigung der Demokratie zu gewinnen, d.h. für die Verteidigung ihrer nationalen Bourgeoisie und ihres nationalen Kapitals. Der Antifaschismus war die Plattform, die moderne Ideologie des Kapitalismus, den jene Parteien, die das Proletariat verraten hatten, verwendeten, um ihre faule Ware der Landesverteidigung zu verpacken.
Während dieser dritten Etappe vollzog sich der endgültige Übergang der sog. kommunistischen Parteien in den Dienst ihrer jeweiligen Kapitale, die Zerstörung des Klassenbewusstseins durch die Vergiftung der Massen, ihre Einwilligung zum zukünftigen interimperialistischen Krieg mittels der Ideologie des Antifaschismus, ihre Mobilisierung für die 'Volksfront', die Verwässerung der Streiks von 1936,der 'antifaschistische' Krieg in Spanien. Zur gleichen Zeit wurde der Sieg des Staatskapitalismus in Russland mit seinen grausamen Auswüchsen gegen die leiseste Andeutung einer revolutionären Aktion, mit seinem Beitritt zum Völkerbund, seiner Integration in einen imperialistischen Block und der Errichtung einer Kriegswirtschaft als Vorbereitung auf den imperialistischen Krieg endgültig offenbar. Diese Periode war auch Zeuge der Liquidierung von zahlreichen revolutionären Gruppen und der Linkskommunisten, die aus der Krise der Komintern hervorgegangen waren und durch ihren Beitritt zur antifaschistischen Ideologie und Verteidigung des 'Arbeiterstaates' in Russland von den Mahlsteinen des Kapitalismus ergriffen wurden und für immer als Ausdruck des Lebens des Proletariats verlorengingen. Niemals zuvor hatte es in der Geschichte solch eine Kluft zwischen der Klasse und den Gruppen gegeben, die ihre Interessen und ihre Mission ausdrücken. Die Avantgarde befand sich in einem Zustand absoluter Isolation und war zahlenmäßig auf unbedeutende, kleine Inseln reduziert.
Die riesige revolutionäre Welle, die am Ende des I. imperialistischen Weltkrieges ausbrach, versetzte den internationalen Kapitalismus in solch einen Schrecken, dass er zuerst das Fundament des Proletariats zerrüttete, bevor er einen neuen imperialistischen Weltkrieg vom Zaun brach." (ebenda)
Diesen einleuchtenden Zeilen können wir folgende Elemente hinzufügen:
- Die opportunistische Entwicklung und der Verrat der Parteien der II .Internationalen wurde durch die Charakteristiken des Kapitalismus ermöglicht, der sich auf seinem Zenit befand. Der ökonomische Fortschritt, das offensichtliche Ausbleiben von größeren Erschütterungen, die Reformen, die der Kapitalismus der Arbeiterklasse zuzugestehen in der Lage war - all dies nährte die Idee von einer allmählichen, friedlichen und legalen Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in den Sozialismus;
- Eines der grundlegenden Elemente der Verwirrung des Proletariats zwischen den zwei Weltkriegen war die Existenz und die Politik der UdSSR, die entweder die Arbeiter von jeglicher sozialistischen Perspektive zurückschrecken ließ oder sie in die Klauen der Sozialdemokratie trieb. Oder sie verleitete jene, die in der UdSSR immer noch das "sozialistische Vaterland" sahen, dazu, ihre Kämpfe der Verteidigung der imperialistischen Interessen der UdSSR unterzuordnen.
8. Die Kriterien für eine Einschätzung des historischen Kurses
Aus der Analyse der Bedingungen, die den Ausbruch der beiden Weltkriege ermöglichten, kann man die folgenden allgemeinen Lehren ziehen:
* das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat kann nur auf Weltebene beurteilt werden und darf nicht auf Ausnahmefällen beruhen, die in zweitrangigen Gebieten auftreten; es ist wichtig, dass wir aus der Untersuchung der Situation in einigen großen Ländern auf die tatsächliche Natur des Kräfteverhältnisses schließen können;
* um den imperialistischen Krieg auslösen zu können, muss der Kapitalismus dem Proletariat zuvor eine schwere Niederlage zufügen, vor allem eine ideologische Niederlage, aber auch eine physische, sofern das Proletariat zuvor eine große Kampfbereitschaft gezeigt hatte (wie in Italien, Deutschland und Spanien zwischen den Kriegen);
* diese Niederlage darf die Klasse nicht nur zur Passivität verurteilen, sondern muss die Arbeiter auch dazu bringen, begeistert den bürgerlichen Idealen ("Demokratie", "Antifaschismus", "Sozialismus in einem Land") zuzustimmen. Die Unterstützung dieser Ideale setzt voraus:
a) dass sie einen Anschein von Wirklichkeit besitzen (die Möglichkeit einer unbeschränkten, problemlosen Entwicklung des Kapitalismus und der "Demokratie", der proletarische Ursprung des Regimes in der UdSSR);
b) dass sie auf die eine oder andere Weise mit der Verteidigung proletarischer Interessen verbunden ist;
c) dass diese Assoziation von Organisationen verteidigt wird, die das Vertrauen der Arbeiter genießen, was darauf zurückzuführen ist, dass sie in der Vergangenheit tatsächlich deren Interessen verteidigt haben. Mit anderen Worten: diese bürgerlichen Ideale müssen von ehemals proletarischen Organisationen, die die Klasse verraten haben, propagiert werden.
Dies sind in groben Zügen die Bedingungen, die in der Vergangenheit den Ausbruch von imperialistischen Kriegen begünstigten. Das soll nicht heißen, dass ein zukünftiger imperialistischer Krieg a priori gleiche Bedingungen zur Voraussetzung haben muss. Aber da die Bourgeoisie sich den Gefahren bewusst geworden ist, die mit einem vorzeitigen Ausbruch von Feindseligkeiten verbunden sind (trotz all der Vorbereitungen löste der II. Weltkrieg in Italien 1945 und in Deutschland 1944/45 Reaktionen der Arbeiter aus),wäre es ein Fehler anzunehmen, dass sich die Bourgeoisie selbst in eine Konfrontation stürzt; es sei denn, sie hat denselben Grad an Kontrolle erlangt wie 1939 oder zumindest wie 1914. Mit anderen Worten: bevor ein neuer imperialistischer Krieg möglich ist müssen die eben aufgezählten Bedingungen zumindest vorhanden sein, andernfalls müssen andere Bedingungen die fehlenden ersetzen.
9. Der Vergleich der gegenwärtigen Lage mit der von 1914 und 1939
In der Vergangenheit befand sich das Terrain, auf dem der historische Kurs entschieden wurde, in Europa, besonders in seinen drei mächtigsten Ländern: Deutschland, England und Frankreich sowie an untergeordneter Stelle Länder wie Spanien oder Italien. Heute ist die Lage teilweise ähnlich, insofern als Europa noch immer das Zentrum der Zusammenstöße ist. Jede Einschätzung des Kurses muss daher eine Untersuchung des Klassenkampfes auf diesen Kontinent miteinschließen, aber sie wäre unvollständig, wenn sie nicht die Lage in der UdSSR, den USA und China in Betracht zieht.
Wenn wir all diese Länder betrachten, können wir feststellen, dass das Proletariat seit Jahrzehnten nirgendwo eine physische Niederlage erlitten hat. Die letzte Niederlage dieser Art fand in einem solch unbedeutenden Land wie Chile statt.
Ebenso hat es in keinem dieser Länder eine ideologische Niederlage gegeben, die vergleichbar wäre mit dem, was 1914 geschah, als die Arbeiter sich begeistert hinter das nationale Kapital stellten:
- die alten Mystifikationen wie der "Antifaschismus" oder der "Sozialismus in einem Land" sind ausgewrungen, hauptsächlich aufgrund der Abwesenheit eines "faschistischen Schreckgespenstes" und der Bloßstellung der Wirklichkeit des "Sozialismus" in Russland etc.;
- der Glaube an einem permanenten, friedlichen Fortschritt des Kapitalismus wurde durch ein halbes Jahrhundert gesellschaftlicher Erschütterungen und der Barbarei ernsthaft erschüttert; die Illusionen, die sich während der Wiederaufbauperiode entwickelt hatten, sind heute durch die Krise untergraben;
- der Chauvinismus, selbst wenn er noch seinen Einfluss über eine gewisse Anzahl von Arbeitern aufrechterhalten hat, besitzt nicht mehr denselben Einfluß wie in der Vergangenheit:
a) seine Grundlagen waren von der Entwicklung des Kapitalismus selbst durchgeschüttelt worden, der täglich ein klein wenig mehr die nationalen Unterschiede und Eigenheiten abschafft;
b) mit Ausnahme der beiden Großmächte, der UdSSR und USA, hadert er mit der Notwendigkeit einer Mobilisierung der Bevölkerung nicht hinter einem Land, sondern hinter einem Block;
c) in dem Maße wie im Namen des "nationalen Interesses" immer mehr Opfer für die Überwindung der Krise von den Arbeitern abverlangt werden, werden die Arbeiter mehr und mehr in der Lage sein, dieses "nationale Interesse" als den direkten Feind ihrer Klasseninteressen zu erkennen. Gegenwärtig findet der Chauvinismus hinter der Maske der nationalen Unabhängigkeit nur noch in den rückständigen Ländern Widerhall:
- die Verteidigung der "Demokratie" und der "Zivilisation", die heute die Gestalt der "Menschenrechts"-Kampagne Carters annimmt und die sich vorgenommen hat, eine ideologische Einheit im gesamten westlichen Block zu erlangen, erzielt heute nur einen geringen Erfolg; sie mag die gewohnheitsmäßigen Petitionsunterzeichner des intellektuellen Milieus in Mitleidenschaft ziehen, aber sie hat nur einen kleinen Einfluss auf die neue Generation von Proletariern, die die Verbindung zwischen ihren eigenen Interessen und den "Menschenrechten" nicht erkennen, die selbst von ihren Promotern zynisch verhöhnt werden;
- die ehemaligen Arbeiterparteien - Sozialdemokraten und "Kommunisten" - haben schon viel zu lange ihre Klasse verraten, als dass sie fähig wären, denselben Einfluss auszuüben wie in der Vergangenheit. 60 Jahre lang waren die Sozialdemokraten loyale Manager des Kapitalismus gewesen. Ihre antiproletarische Rolle ist klar und von vielen Arbeitern erkannt. Schließlich haben diese Parteien heute in den meisten westeuropäischen Ländern die Aufgabe übernommen, Regierungen zu stellen, die ein Synonym für Austerität und antiproletarische Maßnahmen sind. Was die stalinistischen Parteien angeht, kann kaum behauptet werden, dass da, wo sie regieren, die Arbeiter ihnen Vertrauen schenken: sie sind bei den dortigen Arbeitern verhasst. In den Ländern, deren Mitgliedschaft im westlichen Block die stalinistischen Parteien in der Opposition hält, was ihnen die Erlangung eines gewissen Einflusses in der Klasse ermöglicht, kann dieser Einfluss nicht direkt für die Mobilisierung der Klasse hinter dem US-Block verwendet werden, wird er doch von den KPs als der "Hauptfeind" der Völker dargestellt. Um tatsächlich wirkungsvoll zu sein, muss der Verrat einer Arbeiterpartei noch einigermaßen frisch sein. Wie ein Zündholz kann sie nur einmal für eine massive Mobilisierung für den imperialistischen Krieg verwendet werden. Dies war der Fall bei den sozialdemokratischen Parteien, deren offener Verrat 1914 stattfand, und in geringerem Maß bei den "kommunistischen" Parteien, die die Arbeiterklasse während der 20er Jahre verraten haben, bevor sie in den 30er Jahren die Rolle des Einpeitschers für den Krieg spielten (die Lücke zwischen den beiden Daten wurde teilweise dadurch ausgefüllt, dass die KPs gerade als Reaktion auf den Verrat der Sozialdemokratie gebildet wurden).Gegenwärtig genießt die Bourgeoisie nicht mehr solch entscheidenden Vorteile. Die extreme Linke, vor allem die Trotzkisten, hat sicherlich genug schmutzige Arbeit getan, um ihren Anspruch auf die Nachfolgeschaft der Sozialdemokraten und Stalinisten anzumelden, aber sie leidet an zwei fundamentalen Handicaps: Einerseits ist ihr Einfluss weitaus geringer als der ihrer Vorgänger und andererseits wird sie, bevor dieser Einfluss wirklich anwachsen kann, sich längst als spezielles Werkzeug der linken Parteien entblößt haben.
Wie wir sehen, existiert heute keine der Bedingungen, die es in der Vergangenheit ermöglichten, das Proletariat in die imperialistischen Konflikte zu zwingen, und man kann sich nur schwer vorstellen, welche neuen Verschleierungen die alten, abgenutzten jetzt ersetzen könnten. Auf dieser Grundlage ruhte schon die Stellungnahme der Genossen von INTERNACIONALISMO, als sie Anfang 1968 sagten, dass das kommende Jahr im Hinblick auf den Klassenkampf gegen die erneut ausgebrochene Krise vielversprechend sei. Diese Analyse ermöglichte es REVOLUTION INTERNATIONALE 1968, vor dem heißen Herbst 1969, vor den Aufständen der polnischen Arbeiter und der ganzen Welle von Kämpfen, die bis 1974 anhielt, zu schreiben: "Der Kapitalismus verfügt über immer weniger Mystifikationen, die die Massen mobilisieren und sie in ein Massaker stürzen können (...) Unter diesen Bedingungen erscheint die Krise von ihren ersten Manifestationen an als das, was sie tatsächlich ist: Ihre ersten Symptome sind im Begriff, immer heftigere Reaktionen der Massen in allen Ländern hervorzurufen (...) Die wirkliche Bedeutung der Ereignisse vom Mai 1968 liegt darin, dass dies eine der ersten und wichtigsten Reaktionen der Arbeitermassen gegen eine weltweit sich ständig verschlechternde Wirtschaftslage war." (RI, alte Reihe, Nr. 2).
Diese Analyse, die in den klassischen Positionen des Marxismus (die unvermeidliche Krise und die Provokation von Klassenkonfrontationen durch die Krise) und in einer mehr als 50jährigen Erfahrung wurzelt, erlaubte unserer Strömung, das historische Wiedererstarken der Klasse ab 1968 sowie ihr neuerliches Wiederauftauchen nach ihrem Rückzug zwischen 1974 und 1978 vorherzusehen - während viele andere Gruppen nur von der Konterrevolution sprachen und nicht bemerkten, dass sich etwas getan hatte.
Aber es gibt noch Revolutionäre, die zehn Jahre nach '68 noch immer nicht dessen Bedeutung begriffen haben und einen Kurs zum III. imperialistischen Weltkrieg prognostizieren. Schauen wir uns einmal ihre Argumente an:
10. Argumente zugunsten der Idee eines Kurses zum III. Weltkrieg
a) Die gegenwärtige Existenz von lokalen interimperialistischen Konflikten
Einige Revolutionäre haben durchaus verstanden, dass die sog. nationalen Befreiungskämpfe ein Deckmantel für interimperialistische Konflikte sind (ein Mäntelchen, das so durchlässig ist, dass sogar eine so kurzsichtige Strömung wie die Bordigisten manchmal gezwungen ist, dies anzuerkennen). Die Tatsache, dass diese Konflikte schon seit Jahrzehnten andauern, hat sie - richtigerweise - nicht zu der Schlussfolgerung geführt, dass sie Anzeichen eines "revolutionären Aufschwungs" sind - wie die Trotzkisten meinen. Wir stimmen mit ihnen in diesem Punkt überein. Doch sie gehen weiter und kommen zu dem Schluss, dass die bloße Existenz solcher Konflikte und deren aktuelle Verschärfung bedeutet, dass die Klasse weltweit geschlagen ist und einen neuen imperialistischen Krieg nicht verhindern kann. Die Frage, die sie sich nicht stellen, enthüllt den Irrtum ihrer Auffassung: Warum ist die Vervielfachung und Verschärfung der lokalen Konflikte bisher noch nicht in einen allgemeinen Konflikt ausgeartet? Einige wie die CWO (Communist Workers Organisation) antworten darauf, weil die Krise noch nicht tief genug sei oder weil die militärischen und strategischen Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen seien. Die Geschichte selbst widerlegt solche Interpretationen:
- 1914, als der Konflikt mit Serbien in den Weltkrieg ausartete, waren die Krise und der Stand der Aufrüstung weniger vorangeschritten als heute;
- 1939, nach dem New Deal und der Wirtschaftspolitik der Nazis, die die Lage von 1929 wieder hergestellt hatten, war die Krise nicht brutaler als heute; auch waren zu dieser Zeit die Blöcke noch nicht vollständig gebildet, da sich die UdSSR praktisch noch an der Seite Deutschlands befand und die USA noch "neutral" waren.
Tatsächlich sind heute die Bedingungen für einen neuen imperialistischen Krieg mehr als reif. Das einzige "militärische" Element, das noch fehlt, ist der Beitritt des Proletariats .... und das ist keinesfalls das geringste.
b) Die neue Waffentechnik
Aus der Sicht mancher, die in die Fußstapfen jener treten, die einst sagten, dass der Krieg wegen des Giftgases oder der Luftwaffe unmöglich sei, verhindert die Existenz von Atomwaffen jede Zuflucht in einem neuen allgemeinen Krieg, weil dies die Gesellschaft mit der totalen Zerstörung bedrohen würde. Wir haben die pazifistischen Illusionen, die in dieser Auffassung enthalten sind, schon angeprangert. Andere meinen hingegen, dass die Entwicklung der Technologie es dem Proletariat unmöglich mache, in einen modernen Krieg einzugreifen, da vor allem hochkomplexe Waffensysteme verwendet werden, die eher von Spezialisten als von den Massen der einfachen Rekruten bedient würden. Somit hätte die Bourgeoisie, ohne jegliche Furcht vor einer Rebellion wie 1917-18,  die Hände frei, um einen Atomkrieg zu führen. Diese Analyse lässt außer Acht, dass:
- die Atomwaffen längst nicht die einzigen Waffen sind, die der Bourgeoisie zur Verfügung stehen. Die Ausgaben für die konventionelle Bewaffnung sind viel höher als für Atomwaffen;
- falls die Bourgeoisie zum Krieg schreitet, ihr Ziel nicht von vornherein darin liegt, soviel wie möglich zu zerstören. Es geht ihr darum, Märkte, Territorien und Reichtümer des Feindes an sich zu reißen. Daher hat sie kein Interesse an einem sofortigen Gebrauch ihrer Atomwaffen, auch wenn sie diese im äußersten Notfall benutzen würde. Sie sieht sich also dem Problem gegenüber, Soldaten für die Besetzung des eroberten Territoriums zu mobilisieren. Wie in der Vergangenheit kommt die Bourgeoisie nicht umhin, zig Millionen von Proletariern zu mobilisieren, wenn sie einen imperialistischen Krieg entfesseln will.
c) Der Krieg durch Zufall
In dem Verlauf der Ausweitung eines imperialistischen Konfliktes ist ein unfreiwilliges Element enthalten, das sich der Kontrolle einer jeden Regierung entzieht. Dies verleitet manche zu der Behauptung, dass der Kapitalismus, auf welchem Stand sich der Klassenkampf auch immer befindet, die Menschheit "durch Zufall" in einen allgemeinen Krieg stürzen könnte, nachdem er die Kontrolle über die Lage verloren habe. Es gibt selbstverständlich keine absolute Garantie dafür, dass der Kapitalismus uns so etwas nie bescheren würde, aber die Geschichte zeigt, dass dieses System sich umso weniger zu solcher Art von "natürlichem Streben" verleiten lässt, je mehr es sich vom Proletariat bedroht fühlt.
d) Die Mangelhaftigkeit der proletarischen Antwort
Einige Gruppen wie BATTAGLIA COMUNISTA meinen, dass die Antwort des Proletariats auf die Krise unzureichend sei, um ein Hindernis gegen den Kurs zum imperialistischen Krieg zu bilden. Sie meinen, dass der Kampf "revolutionärer Natur" sein müsse, wenn er diesem Kurs wirklich etwas entgegensetzen wolle. Dabei stützen sie sich auf die Tatsache, dass nur die Revolution dem imperialistischen Krieg 1917-18 ein Ende gesetzt hatte. Ihr Irrtum besteht in ihrem Versuch, ein damals richtiges Schema auf eine andere Situation zu übertragen. Ein proletarischer Aufschwung während eines oder gegen einen Krieg nimmt sofort die Form einer Revolution an:
- weil die Gesellschaft  in die extremste Form der Krise gestürzt ist, wobei sie von den Arbeitern die fürchterlichsten Opfer abverlangt;
- weil die Proletarier in Uniform schon bewaffnet sind;
- weil die Notstandsmaßnahmen (Todesstrafe etc.), die in Kraft sind, jede Konfrontation zwischen den Klassen frontal und gewalttätig werden lässt;
- weil der Kampf gegen den Krieg sofort die Form einer politischen Konfrontation mit dem kriegführenden Staat annimmt, ohne die Stufe der weniger frontalen, ökonomischen Kämpfe zu durchlaufen.
Ganz anders jedoch schaut es aus, wenn der Krieg noch nicht erklärt worden ist. Unter diesen Umständen reicht schon eine begrenzte Tendenz zum Kampf auf dem Klassenterrain aus, um die Kriegsmaschinerie zu blockieren, da:
- es sich zeigt, dass die Arbeiter sich nicht von den kapitalistischen Mystifikationen haben einfangen lassen;
- die Forderung nach noch größeren Opfern als jene, die bereits eine erste Reaktion der Arbeiter bewirkt haben, das Risiko in sich birgt, eine noch stärkere Reaktion zu provozieren.
So drohte Anfang des 20.Jahrhunderts oft ein imperialistischer Krieg, gab es viele Gelegenheiten, einen Weltkrieg auszulösen (der russisch-japanische Krieg, die französisch-deutschen Konflikte um Marokko, die Balkan-Konflikte, die Invasion Tripolis' durch Italien). Die Tatsache, dass diese Konflikte sich jedoch nicht ausweiteten, lag in nicht geringem Maße darin begründet, dass bis 1912 die Arbeiterklasse (mittels Massendemonstrationen) und die Internationale (Sonderanträge auf den Kongressen von 1907 und 1910, Sonderkongress über die Frage des Krieges 1912) sich selbst stets dann mobilisierten, sobald ein lokaler Konflikt aufflackerte. Erst als die Arbeiterklasse - betäubt von den Reden der Opportunisten - aufhörte, sich gegen die Kriegsdrohung (zwischen 1912 und 1914) zu mobilisieren, war der Kapitalismus imstande, einen imperialistischen Krieg vom Zaun zu brechen, indem er einen Zwischenfall benutzte (das Attentat in Sarajewo), der weitaus weniger ernst erschien als die vorhergehenden.
Heute braucht die Revolution nicht mehr an die Tür zu klopfen, um uns mitzuteilen, dass der Weg zum imperialistischen Krieg versperrt ist.
e) Der Krieg als eine notwendige Bedingung für die Revolution
Die Feststellung, dass bis heute die großen revolutionären Aufschwünge des Proletariats (Kommune 1871, Revolutionen von 1905 und 1917) aus Kriegen heraus entstanden, verleitete einige Strömungen wie die Linkskommunisten Frankreichs zu der Annahme, dass auch eine neue Revolution nur aus einem Krieg hervorgehen könne. Obwohl falsch, war solch ein Argument 1950 noch nachvollziehbar; heute daran festzuhalten verrät eine fetischistische Anhänglichkeit an die Schemata der Vergangenheit. Die Rolle der Revolutionäre besteht nicht darin, Katechismen zu rezitieren, die man aus den Geschichtsbüchern lernt, ganz nach der Auffassung, dass die Geschichte sich unverändert wiederholt. Im allgemeinen wiederholt sich die Geschichte nicht, und obwohl es notwendig ist, sie gut zu kennen, um die Gegenwart zu begreifen, ist eine Untersuchung dieser Gegenwart mit all ihren Besonderheiten noch wichtiger. Das Szenario einer Revolution, die nur aus dem imperialistischen Krieg hervorgeht, ist heute aus zweierlei Gründen falsch:
- Sie ignoriert die Möglichkeit eines revolutionären Aufflammens, das sich in einer Wirtschaftskrise entzündet (das war das Szenario, das Marx vor Augen hatte - wenn das die Fetischisten beruhigt).
- Sie rechnet mit einer Perspektive, die keineswegs unvermeidbar ist (wie der Ausgang des imperialistischen Krieges 1939-45 zeigte), und sie setzt einen Schritt voraus - den III. Weltkrieg -, der angesichts der heute bestehenden Zerstörungsmittel ein so großes Risiko enthält, dass der Menschheit ein für allemal die Möglichkeit geraubt wird, den Sozialismus zu errichten oder auch nur ihre Existenz zu sichern. Schließlich kann solch eine Analyse katastrophale Auswirkungen auf den Kampf haben.
11. Die Auswirkungen einer fehlerhaften Analyse des Kurses
Wie wir gesehen haben, hat eine fehlerhafte Analyse des historischen Kurses stets schwerwiegende Konsequenzen. Aber die Tragweite dieser Konsequenzen hängt davon ab, ob sich der Kurs zu einem Klassenkrieg oder zum imperialistischen Krieg neigt.
Sich zu irren, wenn die Welle des Klassenkampfes zurückflutet, kann für die Revolutionäre selbst katastrophal sein (s. KAPD), aber es hat nur eine geringe Wirkung auf die Klasse, da die Revolutionäre in solch einer Periode eh wenig Widerhall finden. Dagegen kann ein solcher Fehler tragische Konsequenzen für die gesamte Klasse haben, wenn Letztere in Bewegung geraten ist.  In solch einem Moment ein fatalistisches Verhalten an den Tag zu legen, statt die gesamte Klasse zum Kampf zu drängen, ihre Initiativen zu ermutigen, das Potential ihrer Kämpfe zu entwickeln, würde mithelfen, die Klasse zu demoralisieren, und wäre ein Hindernis der Bewegung.
Deshalb haben die Revolutionäre, falls es an entscheidenden Kriterien mangelt, die beweisen können, dass wir uns in einer Periode der Niederlage befinden, immer die positive Seite der historischen Alternative zu unterstreichen, haben sie ihre Aktivitäten an einen aufstrebenden Klassenkampf, nicht an eine Niederlage auszurichten. Der Fehler eines Arztes, der einen Kranken aufgibt, der noch eine geringe Überlebenschance besitzt, ist weitaus schlimmer als der Fehler eines Arztes, der mit allen Mitteln versucht, einen Kranken zu retten, der überhaupt keine Chance mehr hat.
Deshalb ist es nicht so sehr die Aufgabe der Revolutionäre, die mit einem Kurs zum Klassenkrieg rechnen, unwiderlegbare Beweise ihrer Analyse vorzulegen, sondern vielmehr die Aufgabe jener, die einen Kurs zum Krieg ankündigen.
Es ist vollkommen unverantwortlich, trotz unserer eigenen Unsicherheit der Arbeiterklasse zu sagen, dass die Perspektive für sie ein neuer imperialistischer Krieg ist, obwohl sie diesen Kurs möglicherweise noch abwenden könnte. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass ihre Kämpfe den Ausbruch eines neuen Holocausts verhindern können, besteht die Rolle der Revolutionäre darin, all ihre Kräfte auf diese Möglichkeit zu richten und die Kämpfe so gut wie möglich zu ermutigen, wobei sie das, was für die Klasse und für die Menschheit auf dem Spiel steht, klar hervorheben müssen.
Unsere Perspektive sieht nicht die Unvermeidbarkeit der Revolution voraus. Wir sind keine Scharlatane, und wir wissen im Gegensatz zu einigen fatalistischen Revolutionären nur allzu gut, dass die Revolution nicht "so sicher ist, als ob sie schon stattgefunden hätte". Aber wie auch immer die Kämpfe heute ausgehen werden, die die Bourgeoisie zu knebeln versucht, um der Arbeiterklasse eine Reihe von Teilniederlagen zuzufügen, die die endgültige Niederlage einleiten - der Kapitalismus ist hier und jetzt unfähig, seine eigene Antwort auf die Krise seiner Produktionsverhältnisse durchzusetzen, ohne direkt mit dem Proletariat zusammenzustoßen.
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir/5/1980_kurs [1]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [2]

Oktober 1917: Beginn der proletarischen Revolution (Teil 1)

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Die Bourgeoisie hat den 60. Jahrestag der proletarischen Oktoberrevolution 1917 auf ihre eigene Weise gefeiert:

- in Moskau mit den Paraden der ther­monuklearen Waffen und der neuesten Pan­zer, die an der Mumie Lenins und einem riesigen Porträt Breschnews vorbeifuhren;

- in den westlichen Ländern mit einer großangelegten Kampagne im Fernsehen und in den Zeitungen, die die „großen wirt­schaftlichen Erfolge“ der UdSSR sowie den „beispielhaften Mut ihres Volkes“ im Kampf gegen den Hitlerfaschis­mus lobte - verbunden natürlich mit den übli­chen Vorbehalten gegenüber dem Gulag usw.

- überall mit der Verzerrung der wah­ren Bedeutung der Oktoberrevolution und der Vorspiegelung des monströsen russi­schen Staates als deren wahrer Nachfol­ger. Was der Kapitalismus in Wirklichkeit gefeiert hat, ist nicht die Okto­berrevolution, sondern ihren Tod. Die großen Zeremonien und Feiern verfolgten das Ziel, das Gespenst eines neuen Okto­bers zu bannen.

Für das Proletariat jedoch und somit für die Revolutionäre erfordert die Erinne­rung an die Oktoberrevolution keine Ze­remonien. Sie brauchen sie nicht zu be­graben, denn sie ist immer noch leben­dig, zwar nicht als nostalgisches Bild der heldenhaften Vergangenheit, son­dern auf Grund der Erfahrung, die sie uns überliefert hat, sowie der Hoffnung, die sie für die zukünftigen Kämpfe der Arbeiterklasse darstellt.

Die „Huldigung“, die die Revolutionäre der Oktoberrevolution und ihren Protagonisten erweisen können, besteht nicht aus Gra­breden, sondern aus den Bemühungen, ihre Lehren zu begreifen, um die zukünf­tigen Kämpfe fruchtbar zu machen. Die Internationale Revue hat wie alle anderen Publikationen der IKS bereits ver­sucht, diese Arbeit zu beginnen,[1] [3] sie muss aber systematisch fortgeführt werden. Sie kann nur dann einen Sinn haben, wenn man den wirklichen Charakter der Oktoberre­volution begreift und wenn man sie als eine Erfahrung des Proletariats - die wichtigste bis jetzt - ver­steht und anerkennt und nicht als eine Erfahrung der Bourgeoisie auffasst, was die Meinung einiger Strömungen wie die der Rätekom­munisten ist. Andernfalls hätte Oktober 1917 keinen größeren Wert für die Klasse als 1789 oder Februar 1848 und wäre si­cherlich weniger wertvoll als die Pari­ser Kommune von 1871. Aus diesem Grunde ist die Vorbedingung für eine wirkliche Aneignung der Lehren der Oktoberrevolu­tion die Anerkennung und die Verteidi­gung ihres wahren proletarischen Charak­ters und der Partei, die ihre Vorhut war. Dies ist das Ziel dieses Artikels.

Die Infragestellung des proletarischen Charakters der Revolution  

Als die Revolution in Russland ausbrach, begrüßten sie die Revolutionäre einhellig als den ersten Schritt zur proletarischen Weltrevolution. Schon 1914 hatte Lenin diese Perspektive aufgezeigt. „In allen fortgeschrittenen Ländern stellt der Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung.“ Und während des Krieges präzisierte er diese Perspekti­ven mehr und mehr.

"Nicht unsere Ungeduld, unsere Wünsche, sondern die vom imperialistischen Krieg gegebenen Bedingungen haben die gesam­te Menschheit in eine Sackgasse geführt und vor das Dilemma gestellt: entweder lässt man weiterhin Millionen Menschen sterben und die ganze euro­päische Zivilisation ausrotten, oder die Macht wird in allen zivilisierten Ländern dem revolutionären Proletariat übergeben und die sozialistische Revo­lution wird vollendet. Dem russischen Proletariat wurde die große Ehre erwiesen, den Reigen der Revolutionen, die durch die objektiven Notwendigkeiten des imperialistischen Krieges hervorgerufen wurden, zu eröff­nen. Aber die Idee, das russische Pro­letariat sei von den Arbeitern anderer Länder als revolutionäres Proletariat auserwählt worden, ist uns vollkommen fremd (...) Nicht die besonderen Qualitä­ten, sondern die besonderen histori­schen Bedingungen haben es vielleicht für sehr kurze Zeit zur Vorhut des ge­samten revolutionären Proletariats ge­macht."

Genau die gleiche Perspektive wurde von den anderen Revolutionären dieser Zeit - Trotzki, Pannekoek, Gorter, Liebknecht, Rosa Luxemburg - geteilt. Keiner von ihnen vertrat die Auffassung, dass in Russland eine bürgerliche Revolution stattgefunden hat. Im Gegenteil, es war gerade ihr Kampf gegen diese Auffassung, der sie von den Menschewisten und den Zentristen á la Kautsky trennte. Überdies zeigte die Ge­schichte bald, dass solch eine Analyse jene, die sie vertraten, zwangsläufig in die Arme der Bourgeoisie und gegen die Arbeiterklasse führte. Tatsächlich wurde sie zur Position der bürgerlichen Linksextremisten bei ihrer Anprangerung des „Abenteurertums“ der Bolschewisten.

In der ganzen damaligen Arbeiterbewegung ging die Solidarität mit dem Kampf des russischen Proletariats nicht nur mit der Anerkennung des proletarischen Charakters der Oktoberre­volution, sondern auch mit dem Verständ­nis für die Notwendigkeit einher, den Inhalt der russischen Erfahrung über die ganze Welt zu verbreiten.

Erst nach den schrecklichen Nie­derlagen, welche das Proletariat in den 20er Jahren erlitt, und mit dem Auftreten einer Gesellschaft in Russland, die all ihre Hoffnungen zerschlug, begann eine gewisse Anzahl von Revolutionären - wie Otto Rühle - die Position aufzuge­ben, die 1917 einheitlich vertreten wurde. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Nationalsozialismus in Deutschland die Bevölkerung für einen neuen imperialisti­schen Krieg mobilisierte, als der Antifa­schismus die gleiche Arbeit in den Demo­kratien verrichtete und der „Sozialismus in einem Land“ - in Wirklichkeit einer der barbarischsten Formen des Kapitalismus - in Russland gestärkt war. Innerhalb bestimm­ter revolutionärer Strömungen, die dem Untergang der Kommunistischen Interna­tionale entkommen waren, begann man eine Theorie auszuarbeiten, die die Oktoberrevolution als bürgerliche Revolution von „besonderem Typus“ betrachtete.

1934 wurden die „Thesen über den Bolsche­wismus“ in den Organen der rätekommunis­tischen Bewegung (Rätekorrespondenz Nr.3 und Internationale Rätekorrespondenz) veröffentlicht. In diesem Text heißt es:

„8. Wirtschaftlich war der russischen Revo­lution die Aufgabe gestellt, erstens den versteckten Agrar-Feudalismus und die fortbestehende leibeigenschaftliche Bauernausbeutung zu beseitigen, die Landwirtschaft zu industrialisieren und unter die Bedingungen moderner Wa­renproduktion zu stellen, zweitens die unbegrenzte Schaffung einer Klasse tat­sächlich ‚freier Arbeiter‘ zu ermögli­chen und die industrielle Entwicklung von allen feudalen Fesseln zu befreien. Die wirtschaftlichen Aufgaben der russi­schen Revolution waren somit in ihren Grundzügen die Aufgaben der bürgerli­chen Revolution.

9. Politisch war der russischen Revolu­tion die Aufgabe gestellt, den abso­luten Staat zu zertrümmern, die Be­vorrechtigung des Feudaladels als des ersten Standes zu beseitigen, eine po­litische Verfassung und einen staat­lichen Verwaltungsapparat zu schaffen, die die Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben der Revolution politisch si­cherten. Die politischen Aufgaben der russischen Revolution waren also durch­aus entsprechend ihren wirtschaftli­chen Voraussetzungen die Aufgaben der bürgerlichen Revolution."

Hier finden wir fast Wort für Wort die Position der Menschewiki wieder, die zu den schlimmsten Feinden des Proletariats zählten. Der einzige bemerkenswerte Un­terschied war, dass die Menschewiki aus ihrer Analyse folgerten, es sei notwen­dig, die Macht den klassischen Parteien und Institutionen der Bourgeoisie (Kadetten, Provisorische Regierung, Nationalversammlung) zu über­geben, wohingegen die „Rätekommunisten“ argumentierten, die Durchführung der bürgerlichen Revolution sei die Aufgabe der „Bolschewiki“. Wie ist es zu erklären, dass einige Revolutionäre, die den Oktober 1917 als eine proletarische Revolution begrüßt hatten, schließlich zu der Analyse der Menschewiki gelangten?

In seinem 1938 veröffentlichten Buch „Lenin als Philosoph“ klärt Anton Pannekoek die­se Frage auf. Zu Lenins „Materialis­mus und Empiriokritizismus“ schreibt er:

„Es kommt manchmal vor, dass eine theo­retische Schrift nicht das unmittel­bare Milieu und die Absichten des Autors, sondern breitere und indirekte Einflüsse sowie allgemeine Ziele ersehen lässt. In dem Buch Lenins jedoch ist nichts dergleichen zu erkennen. Es ist mit all seinen Kräften eindeu­tig und ausschließlich auf das Bild der russischen Revolution gerichtet. Dieses Werk stimmt soweit mit dem bür­gerlichen Materialismus überein, dass man hätte voraussehen können, dass die russische Revolution auf die eine oder andere Weise zu einer Art auf einem Arbeiterkampf basierenden Kapi­talismus werden musste, hätte man es zu dieser Zeit in Westeuropa gekannt und richtig interpretiert." (eigene Übersetzung aus dem Französischen)

Kurzum, der „Schlüssel“ zum Wesen der Russischen Revolution, der weder im imperialistischen Krieg 1914 noch 1917 inmitten der großen Klassenkonfrontationen in Russland oder anderswo auf der Welt aufzufinden war, der sich auch nicht in den Protagonisten der Revolution und eben so wenig in deren Methoden oder Erklärungen und Aufrufen an das Proletariat aller Länder befand - die­ser „Schlüssel“ steckte in Wirklich­keit in einer philosophischen Arbeit, die 1908 veröffentlicht worden war, und die 1927 „zu spät“ in andere Sprachen übersetzt wurde. Denn: „Wenn die westli­chen Marxisten das Buch und die Ideen Lenins vor 1918 gekannt hätten, wären sie zweifellos zu einer lebendigeren Kritik seiner Taktik für die Weltrevolu­tion fähig gewesen.“ (idem) Tatsächlich lag der wirkliche Grund für diese späte Entdeckung nicht an dem Informationsmangel seitens der „westlichen Marxisten“ über bestimmte philosophische Auffassun­gen Lenins, sondern in der enormen Ver­wirrung, die die Konterrevolution unter den Revolutionären selbst gestiftet hat­te, unter jenen wenigen Militanten, die versucht hatten, die Prinzipien des Kommunismus inmitten dieses Sturmes aufrechtzuerhalten. Eine Verwirrung und Enttäuschung, die sie, wie wir später sehen werden, dazu führte, die marxisti­sche Methode aufzugeben, die es den Revolutionären einschließlich der Bolschewiki 1917 erlaubt hatte, das wahre Wesen der Revolution zu begreifen, die in Russland ausgebrochen war.

Marxismus und Fatalismus

Bei näherer Betrachtung der rätekommunis­tischen Thesen stellt man fest, dass es sich um eine neue Formulierung einer Idee handelt, die auch im bürgerlichen Lager in den 30er Jahren großen Erfolg hatte: die Idee, dass das Regime in Russland die notwendige Folge der Oktoberrevolution sei.

Die Stalinisten waren of­fensichtlich die größten Verteidiger die­ser Idee. Aus ihrer Sicht war Stalin der­jenige, der Lenins Arbeiten „genial fort­setzte“, der Mann, der die größte Ent­deckung unseres Zeitraums, die Theorie der Möglichkeit des Sieges des „Sozialis­mus in einem Land“[2] [4] gemacht und umgesetzt hatte. Doch selbst außerhalb des stalinistischen Milieus herrschte nahezu ein­mütige Übereinstimmung, dass Stalin tat­sächlich Lenins Nachfolger war, ja, dass der schreckenerregende Staatsapparat, der in Russland entstanden war, das rechtmäßige Erbe der Oktoberrevolution war. Die Anarchisten verkündeten lautstark, dass das barbarische Polizeiregime in Russland die unvermeidliche Folge der auto­ritären Auffassungen des Marxismus sei (allerdings zogen sie nicht in Betracht, dass der Eintritt der Anarchisten in eine antifaschistische bürgerliche Regierung die „unvermeidliche“ Folge ihrer antiautoritären Auffassung war). Demokraten aller Art verkündeten, dass die „Diktatur des Proletariats“ und die Ablehnung der parlamentarischen Institutionen die Wurzel allen Übels sei, das das „russische Volk“ befallen habe. Im allgemeinen warn­ten sie das Proletariat auf diese Weise: „Das ist das Ergebnis jeglicher Revolution, jeglichen Versuchs, den Kapitalismus zu zerstören: ein Regime, das noch schlimmer ist!"

Zweifelsohne verfolgte die rätekommunis­tische Auffassung nicht das Ziel, die Arbeiterklasse bei ihrem Versuch zu ent­mutigen, die Revolution durchzuführen, oder von ihrer theoretischen Waffe, dem Marxismus, abzubringen. Im Gegenteil: die Rätekommunisten unterzogen ihre früheren Positionen im Na­men des Marxismus und der kommunistischen Revolution einer Überprüfung.

Indem sie die Frage jedoch auf die Grund­frage reduzierten, dass, wenn die russische Revolution im Staatskapitalismus endete, dies daran lag, dass sie nichts anderes hätte hervorbringen können, übernahmen sie eine der grundlegenden Ideen der Bourgeoisie: Was in Russland geschah, musste zwangsläufig geschehen. Ent­weder war diese Bestätigung eine Tauto­logie - die augenblickliche Lage ist das Ergebnis verschiedener Faktoren, die sie bestimmt haben - oder es handelte sich um einen theoretischen Fehler, der den Marxismus auf einen vulgären Fata­lismus reduziert.

Für den Fatalismus steht alles, was pas­siert, schon im großen Schicksalsbuch festgeschrieben. Und selbst wenn der Fatalis­mus die Form des „gesunden Menschen­verstandes“ annimmt, gepaart mit dem philosophischen Wortgeklingel, das aus den Universitätsakademikern heraussprudelt, dient er stets dazu, die (mehr oder weniger erzwungene) Akzeptanz der herrschenden Ordnung zu predigen. Der Marxismus dagegen hat solch eine Unterwerfung unter die „Realität“ stets bekämpft. Selbstverständlich hat der Marxismus entgegen voluntaristischen und idealistischen Auffassungen bekräf­tigt, dass die Menschen ihre Geschichte "nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittel­bar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ machen. Aber Marx wies eindeutig darauf hin, dass „die Menschen ihre eigene Geschichte machen“ (Der 18. Brumaire des Louis Napoleon. Karl Marx, MEW 8, S. 115).

Was die Möglichkeit einer Revolution angeht, schrieb Marx: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte ent­wickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhält­nisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen der­selben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." (Marx, Vorwort zur "Kritik der Politischen Ökonomie").

Deshalb hat der Marxismus immer Stellung gegen den Anarchismus bezogen, für den alles zu jeder Zeit möglich ist, voraus­gesetzt die Menschen wollen es. In sei­ner Analyse der Niederschlagung der Pa­riser Kommune war beispielsweise Marx dazu in der Lage, auf die Unreife der materiellen Bedingungen, die der Kapita­lismus l871 entwickelt hatte, hinzuweisen. Jedoch wäre es falsch zu denken, dass alle Gesellschaftsereignisse direkt durch diese materiellen Bedingungen erklärt werden konnten. Insbesondere ist das Be­wusstsein, das die Menschen oder, genauer, die gesellschaftlichen Klassen, von diesen materiel­len Bedingungen haben, keine einfache Widerspiegelung dieser Bedingungen, sondern wird zu einem aktiven Faktor in der Umwandlung der materiellen Bedingungen:

"Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturge­setz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist (...) kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch weg dekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern." (Marx, ebenda ).

Historische Ereignisse sind nicht nur das Produkt der ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft, sondern auch der Gesamtheit der Faktoren des „Überbaus“, eines komplexen Zusammenwirkens dieser verschiedenen bestimmenden Elemente, wovon der Zufall, d.h. willkürliche und unvorhersehbare Ereignisse, eines ist. Deshalb kann man die Geschichte nicht als die Verwirklichung irgendeines „Schicksals“ betrachten, das ein für allemal festgesetzt ist, als den Verlauf eines Drehbuchs, das im Voraus geschrieben ist - für die einen vom „göttlichen Willen“, für die anderen von der Struktur und der Bewegung der Atome.

So wie nirgendwo geschrieben steht, dass die Werke Marxens dazu „vorgesehen“ waren, eine der barbarischsten Formen der kapitalistischen Ausbeutung zu rechtfertigen, so gab es kein „Schicksal“ für die russische Revolution, deren Existenz an dem, was aus der Revolution schließlich wurde, gemessen werden kann.

Natürlich weisen die Rätekommunisten den Vorwurf zu­rück, dass sie Fatalisten seien. Aus ihrer Sicht ist ihre Position marxistisch, da ihre Analyse auf der Entwicklung der Produktivkräfte basiert. Aber die Tatsa­che, dass sie nur das Problem und dann nur unter dem Gesichtspunkt Russlands betrachten (wo sogar für die Bourgeoisie die Oktoberrevolution ein Ereignis von weltweiter Bedeutung war), verrät eine besch­ränkte, eindimensionale Auffassung vom Marxismus, fast eine Karikatur desselben. Und mit dieser Karikatur geben sie vor, erklären zu können, warum der Staatskapita­lismus in Russland entstanden war: Wenn die Oktoberrevolution zum Kapitalismus führte, dann deshalb, weil sie selbst bürgerlich war. Mit anderen Worten: ihr war „vorherbestimmt“, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass sie erzielt hat... Und so sehen wir den guten, alten Fatalismus durch das Fenster wieder hereinkommen, nachdem er offiziell aus der Tür herausgejagt worden ist.

Tatsächlich leidet die rätekommunistische Betrachtungsweise nicht nur an einer guten Dosis Fatalismus. In ihrer äußersten Konsequenz führt sie zu einer völligen Aufgabe des Marxis­mus und jeglicher revolutionären Perspektive.

Die Folgen der rätekommunistischen Analyse

Obgleich nicht unbedingt für die Beweis­führung nötig, ist es dennoch notwendig, in Erinnerung zu rufen, dass Russland 1917 die fünftgrößte Industriemacht auf der Welt war. In dem Maße wie die Entwicklung des Kapitalismus in Russland zu einem Großteil die Stufe der Entwicklung des Handwerks und der Manufaktur übersprungen hatte, nahm der russische Kapitalismus die modernste und konzentrierteste Gestalt an (mit mehr als 40.000 Arbeitern war Putilow die größte Fabrik auf der Welt). Aus rätekommunistischer Sicht kann das bürgerliche Wesen der russischen Revolution an­hand lokaler Bedingungen erklärt werden. Dies traf teilweise auf die in der Tat bürgerlichen Revolutionen von 1640 in England und 1789 in Frankreich zu. Die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus ermöglichte es der Bourgeoisie, zu ver­schiedenen Zeiträumen und in verschiedenen Ländern an die Macht zu gelangen. Dies war auch möglich, weil die Nation der be­sondere geopolitische Rahmen des Kapitalis­mus war, ein Rahmen, über den der Kapita­lismus trotz aller Anstrengungen nie hinausgehen kann. Aber während es dem Kapita­lismus möglich war, sich auf Inseln innerhalb der autarken feudalistischen Gesell­schaft zu entwickeln, kann der Sozialismus nur auf Weltebene existieren, wo er alle Produktivkräfte und die von dem Kapitalis­mus geschaffenen Zirkulationsnetze verwen­det. Schon l847 antworteten Marx und Engels kategorisch auf die Frage: „Wird die Revolution in einem einzigen Lande allein stattfinden können?“ „Nein, die große Industrie hat schon dadurch, dass sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung mit einander ge­bracht, dass jedes einzelne Volk davon ab­hängig ist, was bei einem anderen geschieht (...) Die kommunistische Revolution wird da­her keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern (...)gleichzeitig vor sich gehende Revolution seinm (…) Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben.“ (Engels, Grundsätze des Kommunismus, l847, MEW 4, S.37)

Das, was von den Revolutionären schon 1847 begriffen wurde, musste nach der Zeit der größten Expansion des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Grundlage jeglicher proletarischer Perspektive zur Zeit des Ersten Weltkrieges werden.

Der Krieg bewies, dass der Kapitalismus seine fortschrittliche Aufgabe, die Entwicklung der Produktiv­kräfte im Weltmaßstab, durchgeführt hat­te, dass er in der Epoche seines histori­schen Niedergangs eingetreten war und dass eine bürgerliche Revo­lution zwangsläufig nicht mehr stattfinden konnte. Die einzige Revolution auf der Tagesord­nung der Geschichte war die proletari­sche Revolution auf der ganzen Welt, Russland eingeschlossen. Diese Analyse wurde nicht nur von Lenin vorgebracht, dessen Geist mit „vulgärmaterialisti­scher Philosophie“ durchdrungen war, dem nachgesagt wird, er wolle die weltkommu­nistische Bewegung in einen Apparat zur Verteidigung des russischen Staatskapi­talismus umwandeln. Sie wurde auch von einer Reihe von Revolutionären vertreten, die manche Leute dem „bürgerlichen“ Lenin gegenüberzustellen versucht haben und deren proletarischen Positionen oder Erkenntnisse über die Ereignisse in Russland von den Rätekommunisten nie in Frage gestellt worden sind, wie z.B. Rosa Luxemburg. Sie schrieb zu jener Zeit: „Dieser Verlauf ist aber für jeden denkenden Beobachter auch ein schlagender Beweis gegen die doktrinäre Theorie, die Kautsky mit der Partei der Regierungssozialisten teilt, wo­nach Russland als wirtschaftlich zu­rückgebliebenes, vorwiegend agrarisches Land für die soziale Revolution und für eine Diktatur des Proletariats noch nicht reif wäre. Diese Theorie, die in Russland nur eine bürgerliche Revolution für angängig hält - aus welcher Auffassung sich dann auch die Taktik der Koalition der Sozialisten in Russland mit dem bürgerlichen Liberalismus ergibt - ist zugleich diejenige des opportunistischen Flügels in der russischen Arbeiterbewegung, der so genannten Menschewiki unter der bewährten Führung Axelrods und Dans. Beide, die russischen wie die deutschen Opportunisten, treffen in dieser grundsätzlichen Auffassung der russischen Revolution, aus der sich die Stellungnahme zu den Detailfragen der Taktik von selbst ergibt, vollkommen mit den deutschen Regierungssozialisten zusammen: Nach der Meinung aller drei hätte die russische Revolution bei jenem Stadium halt machen sollen, das sich die Kriegführung des deutschen Imperialismus nach der Mythologie der deutschen Sozialdemokratie zur edlen Aufgabe stellte: beim Sturz des Zarismus. Wenn sie darüber hinausgegangen ist, wenn sie sich die Diktatur des Proletariats zur Aufgabe gestellt hat, so ist das nach jener Doktrin ein einfacher Fehler des radikalen Flügels der russischen Arbeiterbewegung, der Bolschewiki gewesen, und alle Unbilden, die der Revolution in ihrem weiteren Verlauf zugestoßen sind, alle Wirren, denen sie zum Opfer gefallen, stellen sich eben als ein einfaches Ergebnis dieses verhängnisvollen Fehlers dar. Theoretisch läuft diese Doktrin, die vom Stampfschen ‚Vor­wärts‘ wie von Kautsky gleichermaßen als Frucht ‚marxistischen Denkens‘ empfohlen wird, auf die originelle ‚marxistische‘ Entdeckung hinaus, dass die sozialistische Umwälzung eine na­tionale, sozusagen häusliche Angele­genheit jedes modernen Staates für sich sei. In dem blauen Dunst des abstrakten Schemas weiß ein Kautsky natürlich sehr eingehend die weltwirtschaft­lichen Verknüpfungen des Kapi­talismus auszumalen, die aus allen modernen Ländern einen zusammenhän­genden Organismus machen. Russlands Revolution - eine Frucht der internationalen Entwicklung und Agrar­frage - unmöglich in den Schranken der bürgerlichen Gesellschaft zu lö­sen.

Praktisch hat diese Doktrin die Ten­denz, die Verantwortlichkeit des in­ternationalen, in erster Linie des deutschen Proletariats für die Ge­schicke der russischen Revolution abzuwälzen, die internationalen Zu­sammenhänge dieser Revolution zu leugnen. Nicht Russlands Unreife, sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der his­torischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Re­volution erwiesen. Dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren ist die erste Aufgabe einer kriti­schen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen Ereignissen abhängig.“ (Rosa Luxemburg, Zur Russi­schen Revolution, Gesammelte Werke, Bd.4, S.332 bis 334).

So formulierte eine der größten marxis­tischen Theoretikerinnen damals das Problem, gegen die Trugschlüsse Kautskys, der Menschewiki und... der Rätekommunisten. Rosa Luxemburg machte nicht nur den My­thos der „Unreife Russlands“ zunichte, sondern sie lieferte auch den Schlüssel zu dem, was die Rätekommunisten nie zu verstehen imstande waren: die Ursachen der Degeneration der Russischen Revolu­tion, die im wesentlichen im Scheitern „der Weltrevolution lagen, von der das Schick­sal der Revolution in Russland völlig abhing“.

In der Tat, indem sie die Ursachen der Entwicklung der Revolution und die des kapitalistischen Regimes, in dem sie endete, allein in Russland suchten, wan­dten sich die Rätekommunisten von den objektiven Grundlagen des Internationa­lismus ab.

Und selbst wenn ihr eigener Internatio­nalismus nicht in Frage gestellt werden kann, kann er sich letztendlich nur auf eine Art moralischen Imperativ stützen. Wenn man ihre Untersuchung zu ihrer lo­gischen Schlussfolgerung weiterführt, ge­langt man zu der Idee, dass, die Revolution, hätte sie in einem fortgeschrittenen Land stattgefunden (Deutschland z.B.), nicht das gleiche Los erfahren hätte wie die Russische Revolution, selbst wenn sie isoliert geblieben wäre. Mit anderen Worten, in diesen Ländern hätte sie die Wiedereinrichtung des Kapitalismus vermeiden können, was bedeutet, dass ein Sieg über­ den Kapitalismus, der Sieg des So­zialismus in einem Land möglich ist. So wie der Rätekommunismus von dem Stalinismus die Idee der Kontinuität zwischen Le­nin und Stalin ausleiht, zwischen dem Charakter der Oktoberrevolution und dem Wesen des Regimes, das sich in Russland unter Stalin etablierte, so neigen die Rätekom­munisten dazu, Elemente einer der wichtigsten Mythen des Stalinismus zu übernehmen, den „natio­nalen Sozialismus“. So übernimmt die „marxistische“ Analyse der Rätekommunisten nicht nur die Thesen Kautskys und der Menschewiki, sondern kann auch nicht umhin, mit den stalinistischen Theorien zu flirten.

Aber dies ist nicht der einzige Weg, auf dem die rätekommunistische Analyse zu einer Ablehnung des Marxismus führt. Einer der Gründe, warum sie die russische Revolution als eine bürgerliche Revolution betrachten, ist die Natur der ökonomischen Maßnahmen, die von Anfang an von der neuen Macht ergriffen wurden. Die Rätekommunis­ten behaupten zu Recht, dass die Verstaat­lichungen und die Landaufteilung rein bür­gerliche Maßnahmen sind. Aber dann über­heben sie sich und erklären: „Man kann sehen, dass es sich um eine bürgerliche Revolution handelt, da sie Maßnahmen dieser Art durchführte.“ Und gegenüber solchen Maßnahmen schlagen sie eine wahr­haft „sozialistische“ Politik vor: „Die Übernahme der Betriebe und die Organisa­tion der Wirtschaft durch die Arbeiter­klasse und ihre Klassenorganisationen, die Arbeiterräte.“ (Thesen über den Bol­schewismus, Nr.49). Dies seien die Maßnahmen, die die russische Revolution ergriffen hätte, wenn sie wirklich „pro­letarisch“ gewesen wäre. Aber für die Rätekommunisten „konnte der bürgerliche Charakter der bolschewistischen Revolu­tion ...) nicht deutlicher aufgezeigt wer­den als in diesem Ruf nach der Produk­tionskontrolle.“ (idem, Nr.47)

Hier stellen die Rätekommunisten ihre Analyse nicht auf die Grundlage Kauts­kys oder Stalins, sondern Proudhons und der Anarchisten. Einmal mehr strei­chen sie eine der Grundlagen des Marxis­mus. Für den Marxismus ist eine der grundlegenden Unterschiede zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution die Tatsache, dass die erste am Ende eines ganzen Prozesses von wirt­schaftlichen Umwälzungen zwischen dem Feudalismus und dem Kapitalismus statt­fand. Dieser Prozess fand seine Krönung im politischen Bereich. Die proletari­sche Revolution dagegen ist zwangsläufig der Ausgangspunkt für die wirtschaftliche Umwälzung vom Kapitalismus zum Kommunismus. Dieser Unterschied ist mit der Tatsache verbunden, dass im Gegen­satz zu den vorherigen Umwälzungen der Übergang zum Kommunismus kein Wechsel in der Art des Eigentums, sondern die Abschaffung allen Eigentums überhaupt ist; er ist nicht die Institutionalisierung von neuen Ausbeutungsverhältnissen, sondern die Abschaffung aller Ausbeutung. Deswegen ist im Gegensatz zu allen vorherigen Revolutionen das Ziel der proletarischen Revolution nicht die Einrich­tung einer neuen Form von Klassenherrschaft, sondern die Abschaffung aller Klassen; die proletarische Revolution ist nicht das Werk einer ausbeutenden Klasse, sondern zum ersten Mal in der Geschichte das Werk einer ausgebeuteten Klasse. Die kapitalistischen Produktions­verhältnisse entwickelten sich innerhalb der feudalen Gesellschaft, während der Adel noch den Staatsapparat kontrollier­te. Die feudale Macht mag ein Hindernis für die Entwicklung des Kapitalismus ge­wesen sein, aber der Kapitalismus war imstande, sich daran anzupassen, solange das Kapital nicht bis zu dem Punkt entwickelt war, an dem die feudale Ordnung gestürzt werden musste. Die bürgerliche Revolution folgte in einer fast „mechanischen" Konsequenz auf die Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaft, und ihre Aufgabe bestand in der Zerstörung der letzten Hindernisse für die Expansion des Kapitals. Im Gegensatz dazu können sich die gesellschaftlichen Beziehungen im Kommunismus in keiner Weise auf kleinen In­seln innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln, wo die bürgerli­che Klasse immer noch die Kontrolle über den Staat ausübt. Erst nach der Zerstö­rung des bürgerlichen Staates und nach der politischen Machtübernahme durch die Arbeiterklasse auf Weltebene können die Produktionsverhältnisse umgewälzt werden.

Im Gegensatz zu den vorherigen Übergangs­perioden wird der Übergang vom Kapitalis­mus zum Kommunismus nicht das Ergeb­nis eines objektiven, vom Willen des Men­schen unabhängigen Prozesses sein; er wird von der bewussten Aktion einer Klasse abhängen, die ihre politische Macht zur schrittweisen Auslöschung der verschiede­nen Aspekte der kapitalistischen Gesell­schaft benutzen wird: des Privateigentums, des Marktes, der Lohnarbeit, des Wertge­setzes usw. Aber solch eine Wirtschafts­politik kann erst ihre Wirkung entfalten, nachdem das Proletariat die Bourgeoisie militärisch besiegt hat. Solange dies nicht endgültig erreicht ist, werden die Anforderungen des Weltbürgerkrieges über dem Bedürfnis nach einer Umwandlung der Produktionsverhältnisse auch dort vorherrschen, wo das Proletariat schon die Macht ergriffen hat. Und dies trifft zu, wie auch immer die wirtschaftliche Entwicklung solch eines Gebietes vorangeschritten sein mag. In Russland sind die von der neuen Macht ergriffenen Maßnahmen - unge­achtet der begangenen Fehler, die tatsächlich begangen wurden und die uns wertvolle Lehren erteilen können - nicht das Kriterium für das Verständnis des Klassencharakters der Oktoberrevolution, ebenso wenig wie es die ökonomischen Maß­nahmen waren, die der Pariser Kommune ihren proletarischen Charakter verliehen haben. Und soweit wir wissen, haben weder die Rätekommunisten noch die Anarchosyndikalisten jemals den proletarischen Cha­rakter der Kommune bezweifelt. Niemandem fiel es ein, die Verkürzung des Ar­beitstages, die Aufhebung der Nachtarbeit für die Bäckergesellen, die Mietstundungen oder das Leihhaus vom Mont-de-Piete als „sozialistische“ Maßnahmen zu verstehen. Die Größe der Kommune war, dass zum ersten Mal in seiner Geschichte das Proletariat einen nationa­len Krieg gegen eine ausländische Macht in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie umgewandelt hat: dass die Zerstörung des kapitalistischen Staates verkündet und verwirklicht und durch die Diktatur des Proletariats ersetzt wur­de, d.h. gewählte und abrufbare Delegier­te in allen Bereichen, Löhne für Beamte, die dem durchschnittlichen Arbeiterlohn entsprachen, Ersetzung des stehenden Heeres durch die ständige Bewaffnung der Ar­beiter und die internationalistische Proklamation der Weltkommune. Es waren diese wesentlichen politischen Maßnah­men, die aus der Pariser Kommune den ersten internationalen Versuch des Pro­letariats gemacht haben, die Revolution durchzuführen. Und aus diesem Grunde ist die Erfahrung der Kommune eine unschätzbare Fundgrube für den revolu­tionären Kampf von Generationen von Ar­beitern aller Länder. Der Oktober 1917 nahm die Hauptthemen der Kommune wieder auf und verallgemeinerte sie, und es war si­cherlich kein Zufall, dass Lenin Staat und Revolution am Vorabend der Oktober­revolution schrieb, in dem er eine detail­lierte Untersuchung der Kommune vornahm. Daher kann man die Klassennatur der Oktoberrevolution nicht durch die Analyse eines jeden Details dessen, was die Re­volution im wirtschaftlichen Bereich gemacht oder nicht gemacht hat, erfassen.

Dies kann nur verstanden werden, indem man die politischen Charakteristiken der Revolution - die Zerstörung des bürgerlichen Staates, die Machtüber­nahme durch die Arbeiterklasse, die in Arbeiterräten organisiert war, die allgemeine Bewaffnung des Proletariats – und die Triebkraft untersucht, die die neue Macht der internationalen Bewegung des Proletariats verlieh: die rücksichtlose Brandmarkung des imperialistischen Krieges, der Auf­ruf zur Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie, der Aufruf für die Zerstö­rung aller bürgerlichen Staaten und für die Machtübernahme durch die Arbeiterräte in allen Ländern.

Dass er das Primat der politischen Probleme in der ersten Phase der proletarischen Revolution nie begriffen hat, hat den Anarchosyndikalismus dazu geführt, die proletarische Revolution zu verraten, indem er diese in die Sackgasse der Selbstverwaltung und der „Kollektive“ geführt hatte, während derer er selbst Minister in der bürgerlichen Regierung der spanischen Republik stellte. Sein ganzer Standpunkt - und auch der Rätekommunisten, soweit sie mit dem Anarchosyndikalismus übereinstimmen - wendet sich von jeder sozialistischen Revolution ab, weil er diese nicht nur innerhalb eines Landes lokalisiert, sondern gar auf eine Region oder auf isolierte Fabriken begrenzt und die sozialistische Produktion, die per Definition nur auf internationaler Ebene existieren kann, auf eine einheimische Angelegenheit reduziert.

Trotz vieler wertvoller Kritiken, die von der Arbeiteropposition 1921 formuliert wurden, insbesondere ihre Anprangerung der staatlichen Bürokratisierung und der erdrückenden Ordnung innerhalb der Partei, war die Plattform der Gruppe insofern grundlegend irrig, als sie das Problem der Entwicklung der Revolution auf eine Frage der Ökonomie, auf ein direktes Management der Produktion durch die Arbeiter reduzierte. Somit schenkten sie vorbehaltlos der Idee Glauben, dass es möglich sei, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen, dass der Sozialismus in Russland, auf sich allein gestellt, Fort­schritte hätte machen können, selbst wenn die internationale Revolution eine Reihe von Niederlagen erlitten hätte.[3] [5]

Welche Fehler Lenin auch immer gemacht haben mag, er griff zu Recht die kleinbür­gerlichen und die anarchosyndikalistischen Aspekte der Arbeiteropposition an. Es ist kein Zufall, dass die theoreti­sche Führerin der Arbeiteropposition, Kollontai, sich später auf Stalins Seite gegen die Linksopposition schlug, um die Theo­rie des Sozialismus in einem Land zu ver­teidigen. So schlossen sich die Anhänger des „So­zialismus in einer Fabrik“ den Anhängern des „Sozialismus in einem Land“ und den Theoretikern der „unreifen objektiven Bedingungen“ in Russland an. Und Kautsky, Stalin und die „Genossen Minister“ der CNT waren keine gute Gesellschaft für die Rätekommunisten.

Tatsächlich ist der einzige Weg für den Rätekommunismus, seine Analyse der Oktoberrevolution mit dem Internationalismus zu vereinbaren - und bestimmte Strömungen haben dies schon getan -, die Behauptung, dass die objektiven Bedingungen für die proletarische Revolution 1917 nicht nur in Russland, sondern auch auf Weltebene unreif waren. Aber das hieße, die Ana­lyse der Menschewiki oder Kautskys zu übernehmen, nur um drei Punkte der rechten Sozialdemokraten aufzunehmen, die ihn benutzten, um die proletarische Revolution in Deutschland niederzumetzeln. Es kommt nicht darauf an, zu behaupten, dass alle, die zu solchen Schlussfolgerun­gen kommen, in die Fußstapfen Noskes treten werden. Es ist durchaus möglich, sich an einem proleta­rischen Kampf zu beteiligen, selbst wenn man ihn für verfrüht und verzweifelt hält - so wie es Marx im Falle der Pariser Kommune tat. Aber solche Analysen proletarischer Elemente führen zu Schlussfolgerungen, die bis ins kleinste ebenso katastrophal sind wie jene der „traditionellen“ Rätekommunisten.

Wir wollen diese Analyse hier nicht wi­derlegen, da es uns über den Rahmen die­ses Artikels hinausführen würde.[4] [6] Wir werden uns auf einige Bemerkungen dazu beschränken.

An erster Stelle führt solch eine Auffas­sung zur Zurückweisung der Idee, dass sich der Kapitalismus seit dem I. Welt­krieg in seiner dekadenten Phase befindet, und diese Idee war die Schlüsselfrage beim Bruch der Revolutionäre mit der II. Internationalen. Die „rätekommunisti­sche“ Auffassung unterminiert die ganzen theoretischen Grundlagen der Kommunistischen Internationalen, aus der an er­ster Stelle die Rätekommunisten selbst hervorgegangen sind. Sie führt somit zu einer Ablehnung aller Errungenschaften der Arbeiterbewegung während des I. Welt­krieges und der revolutionären Welle von 1917-23. Andernfalls ist es notwendig, die kommunistischen Positionen auf voll­kommen andere Grundlagen zu stellen, ins­besondere die Positionen, welche die kommunistische Linke gegen die Kommunis­tische Internationale vertrat:

- Ablehnung des Parlamentarismus, selbst seiner „revolutionären“ Verwendung,

- Ablehnung der Gewerkschaften,

- Ablehnung der Massenpartei,

- Verweigerung der Unterstützung von na­tionalen Befreiungskämpfen oder „fortschrittlichen“ Fraktionen der Bourgeoisie.

Wenn man die Idee der Dekadenz des Kapitalismus verwirft, kommt man zwangsläufig zur Schlussfolgerung, dass die ganze Politik der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert und die meisten Analysen von Marx und Engels falsch waren. Von solch einem Standpunkt aus betrachtet, begingen der Bund der Kommunisten, die Erste und Zweite Internationale große Fehler, als sie den Aufbau von Gewerkschaften, den Kampf für das allgemeine Wahlrecht und bestimmte nationale Befreiungskämpfe unterstützten. Und schließlich muss man zugeben, dass, von der allgemeinen theoretischen Basis abgesehen, Proudhon und Bakunin gegenüber Marx und En­gels Recht hatten. Und da es von einem marxistischen Standpunkt aus schwierig ist, eine theoretische Betrachtungsweise von ihren politischen Folgen zu trennen, wäre es nur allzu logisch, den letzten Schritt zu tun und den Marxismus zugunsten des Anarchismus zu verwerfen. Wenn die Rätekommunisten, die die Oktoberrevolution als bürgerlich bezeichnen, da die objek­tiven Bedingungen auf Weltebene 1917 nicht reif gewesen seien, nur den Mut hätten, diesen letzten Schritt zu tun, und sich offen als Anarchisten erklären! Dann hätten sie nur noch ein letztes Problem zu lösen: Wie ist ihre Analyse mit einem theoretischen Standpunkt zu vereinbaren, der die Notwendigkeit einer objektiven Basis für den Sozialismus ablehnt und für den die Revolution zu jedem Zeit­punkt möglich ist?

Die Verwerfung der Idee, dass der Kapi­talismus 1914 in seine dekadente Phase eingetreten ist, hat noch andere Folgen:

- Entweder muss die Periode der kapita­listischen Dekadenz noch kommen, ob­gleich man sich angesichts der Katas­trophen, die die Gesellschaft in den letzten 60 Jahren erschüttert haben, nur schwer vorstellen kann, wie die wirkliche Dekadenz des Kapitalismus aussieht und wie die Gesellschaft diese über­leben kann.

- Oder der Kapitalismus wird im Gegen­satz zu den vorherigen Gesellschaften nie eine Phase der Dekadenz durchlaufen. Dann muss man die Schlussfolgerungen da­raus ziehen; entweder gibt man jede Perspektive des Sozialismus für immer und ewig auf, oder man stellt seine Perspek­tive für den Sozialismus auf etwas anderes als auf die objektiven Notwendigkeiten einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Das bedeu­tet, den Marxismus aufzugeben, aus dem Sozialismus einen „moralischen Impera­tiv“ zu machen - und somit schließt man sich dem Anarchismus an. Im Laufe ihrer Geschichte wurde die Arbei­terklasse mit drei Hauptgegnern konfron­tiert: dem Anarchismus im vorigen Jahrhun­dert, der reformistischen Sozialdemokra­tie zu Beginn dieses Jahrhunderts und dem Stalinismus zwischen den zwei Weltkriegen. Diese Strömungen haben sich in einem alles übertreffenden Moment der Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse zusammengerottet: im spanischen Bürgerkrieg 1936-38. Man muss anerkennen, dass dem Rätekommunismus, auch wenn er eine der „gesündesten“ Reaktionen gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale war und es ihm gelungen war, in den schlimmsten Augenblicken der Konterrevolution Klassenpositionen aufrecht­zuerhalten, die rare Großtat gelun­gen war, viele der fundamentalen Analysen dieser drei Strömungen zu übernehmen, selbst wenn sein Standpunkt nicht zur Auf­gabe jeder revolutionären Perspektive ge­führt hat, wie dies für einige seiner besten Elemente der Fall war.

Dies sind einige der Folgen bei einer Ablehnung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution von 1917.

F.M.

[1] [7] „Die Epigonen des Rätekommunismus“, Intern. Revue (engl./franz. Nr. 2;); „Die Degeneration der Russischen Revolution“, Intern. Revue (Deutsch) Nr. 2; „Die Lehren der Kronstädter Ereignisse“, Intern. Revue Nr. 3; „Plattform der IKS“, Intern. Revue Nr. 5 (engl./franz); „Die Kommunistische Linke in Russland“, Intern. Revue Nr. 9/10; „Texte zur Übergangsperiode“, Intern. Revue Nr. 11 (engl./franz.); „Beiträge zur Rolle des Staates in der Übergangsperiode“, Intern. Revue Nr. 6 (engl./franz.).

[2] [8] Vorwort zu „Ausgewählte Werke Lenins“ vom Institut für Marxismus-Leninismus ZK der KPDSU).

[3] [9] „Degeneration der Russischen Revolution“, Internationale Revue Nr. 2; „Die Kommunistische Linke in Russland“, Intern. Revue Nr. 9/10.

[4] [10] Siehe „Die Dekadenz des Kapitalismus“ und andere Texte der IKS. 

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [11]

Internationale Revue - 1981

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Internationale Revue Nr. 6

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Die internationale Dimension der Kämpfe in Polen

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1. In der INTERNATIONALEN REVUE Nr. 5  haben wir die vor uns liegenden 80er Jahre als die „Jahre der Wahrheit“ bezeichnet, in denen über die historische Alternative, die von der Krise des Kapitalismus präsentiert wird, entschieden werden würde, nämlich zwischen einem Weltkrieg oder der proletarischen Revolution.
Das erste Jahr dieses Jahrzehnts hat diese Perspektive deutlicher denn je bestätigt.  Nachdem das erste Halbjahr ungeachtet wichtiger sozialer Bewegungen wie die Kämpfe in der britischen Stahlindustrie durch eine beträchtliche Zuspitzung der interimperialistischen Spannungen nach der Invasion in Afghanistan gekennzeichnet war, zeichnet sich das zweite Halbjahr durch eine bisher unerreichte Verschärfung des Arbeiterkampfes aus. In Polen erreichten die Kämpfe seit dem Wiedererstarken der Weltarbeiterklasse 1968 das höchste Niveau.
Sechs  Monate lang schien die Bourgeoisie freie Hand zu haben, um ihre kriegerischen Kampagnen durchzuführen und um einen dritten Weltkrieg vorzubereiten. Heute dagegen sind die Sorgen, die heute die herrschende Klasse aller Länder angesichts der Arbeiterkämpfe in Polen beherrschen, und die Einheit, die sie bewiesen hat, um diese Arbeiterkämpfe zum Schweigen zu bringen, eine weitere Veranschaulichung der Tatsache, dass das Proletariat die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die den Kapitalismus daran hindern kann, erneut einen Krieg als „Lösung“ für seine Krise durchzusetzen.
2.  Es ist noch nicht die Zeit, eine endgültige Bilanz der proletarischen Kämpfe in Polen zu ziehen, da die Bewegung immer noch im Gange ist und das Potential der gegenwärtigen Lage noch nicht erschöpft ist. Doch fünf Monate nach dem Beginn der Kämpfe können wir bereits eine Reihe von wichtigen Lehren ziehen. Ferner ist es wichtig zu begreifen, wie es heute um Polen bestellt ist.
Für den Moment möchten wir zwei Punkte unterstreichen:
- die enorme Bedeutung dieser Bewegung und der beträchtliche Schritt nach vorn, den sie für das Proletariat eines jeden Landes darstellt;
- die Tatsache, dass die Kämpfe in Polen und die Lehren aus den Kämpfen nur in einem internationalen Zusammenhang verstanden werden können.
3.  Überall hat die Bourgeoisie und ihre Lakaien in der Presse versucht zu zeigen, dass die Kämpfe in Polen allein durch die besonderen Bedingungen in Polen oder allenfalls durch die spezifischen Bedingungen in Osteuropa erklärt werden können. In Moskau lautet der Vers, daß, wenn es in Polen "Probleme" gebe (was sie in der Tat nicht mehr leugnen können), sie das Resultat der "Fehler" der alten Führung seien. Jedenfalls haben sie nichts mit der Situation in Rußland zu tun! In Paris, Bonn, London und Washington lautet die favorisierte Erklärung, daß die Arbeiter in Osteuropa unzufrieden seien, weil sie der Warteschlangen vor den Geschäften überdrüssig seien sowie "Freiheit" und Demokratie wie im Westen wünschten. Im Westen hätten die Arbeiter natürlich überhaupt keinen Grund, um sich zu beschweren! Dass die Arbeiter in Polen sich den Auswirkungen derselben Krise widersetzen und gegen dieselbe Ausbeutung kämpfen wie die Arbeiter im Westen und überall... was für ein absurder Gedanke!
Wenn Ereignisse in einem Teil der Welt uns eine Ahnung vom kommenden Alptraum der Bourgeoisie - den generalisierten proletarischen Kampf gegen den Kapitalismus - verschaffen, dann heißt es, daß dies alles nur eine "Ausnahme" sei! Die Bourgeoisie versucht fieberhaft herauszufinden, was diesen besonderen Fall von den Bedingungen anderswo unterscheidet. Es ist schon richtig, daß sie diese Unterschiede nicht einmal erfinden muss: Die Bedingungen sind in keinem Land der Welt identisch. Es trifft zu, daß bestimmte Charakteristiken der Bewegung in Polen das Produkt der spezifischen ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen wie auch der besonderen historischen Faktoren sind. Auch ist die Bewegung in Polen das Produkt des allgemeinen Rahmens, der von den Bedingungen in den osteuropäischen Ländern und im russischen Block vorgegeben wird. Doch gleichzeitig müssen die Revolutionäre und die Arbeiterklasse klar verstehen, daß diese besonderen Merkmale eine rein nebensächliche Bedeutung haben und selbst nur von einem Standpunkt aus begriffen werden können, der die gesamte kapitalistische Welt im Blick hat - auch wenn es notwendig ist, das unterschiedliche Entwicklungstempo der Krise in den verschiedenen Ländern zu berücksichtigen.
4.  Der allgemeine Rahmen, in dem sich die Ereignisse in Polen entfaltet haben, setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen:
a) aus dem weltweiten und allgemeinen Charakter der Wirtschaftskrise;
b) aus der unerbittlichen Vertiefung der Krise und den immer unerträglicheren Opfern, die sie den Ausgebeuteten abverlangt;
c) aus dem historischen Wiederaufleben des proletarischen Kampfes seit Ende der 60er Jahre;
d) aus der Art der Probleme und der Schwierigkeiten, vor denen die Arbeiterklasse steht, und der Bedürfnisse, die sich für das Proletariat aus der Erfahrung ergeben haben:
- die Konfrontation mit den Gewerkschaften;
- die Selbstorganisation der Klasse in ihrem Kampf (die Bedeutung der Vollversammlungen);
- die Ausweitung des Kampfes durch den Massenstreik.
e) aus den Mitteln, die von der Bourgeoisie verwendet werden, um den proletarischen Kampf zu brechen und der Klasse die ökonomischen und militärischen Bedürfnisse des nationalen Kapitals aufzuzwingen:
- die immer systematischere Anwendung der staatliche Repression;
- der Gebrauch eines ganzen Arsenals von Mystifikationen, die das Ziel verfolgen, entweder den Ausbruch von Klassenkämpfen zu verhindern oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, sie in Sackgassen zu leiten.
Die verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Länder teilen sich heute im allgemeinen die Arbeit auf: Zur Zeit erleben wir allgemein die Rechte an der Regierung und die Linke in der Opposition.
5.  Die besonderen Bedingungen, die eine Rolle bei der Entwicklung der Ereignisse in Polen spielten, rühren erstens aus der Mitgliedschaft Polens im Ostblock und zweitens aus den spezifischen Besonderheiten des Landes her.
Die Lage in Polen kennzeichnet sich wie auch in allen anderen Ostblockländern aus:
a) durch das ungeheure Ausmaß der Krise, die heute Millionen von Proletariern in eine Armut stürzt, die an Hunger grenzt;
b) durch die große Starrheit der Institutionen, die praktisch keinen Spielraum für das Entstehen politischer Oppositionskräfte innerhalb der Bourgeoisie zulässt, Kräfte, die als Auffangbecken dienen könnten: in Russland und seinen Satelliten droht jede Protestbewegung zu einem Brennspiegel der massiven Unzufriedenheit zu werden, die im Proletariat siedet. Diese Unzufriedenheit hat sich in einer Bevölkerung aufgebaut, die seit Jahrzehnten die furchtbarste Konterrevolution hat erleiden müssen. Die Intensität dieser Konterrevolution entsprach dem Ausmaß der beeindruckenden Klassenbewegung, die es zu zerschlagen galt, die Russische Revolution von 1917;
c) durch die große Bedeutung des Polizeiterrors als praktisch einziges Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung.
Darüber hinaus unterscheidet sich Polen:
- durch die mehr als hundert Jahre währende nationale Unterdrückung vor allem durch Russland, die heute noch unter anderen Formen fortgesetzt wird, was dem Nationalismus ein großes Gewicht unter den Mystifikationen verleiht, die innerhalb der Arbeiterklasse wirksam sind;
- durch die Bedeutung der Katholizismus, der seit Jahrhunderten als ein Ausdruck des Widerstands gegen diese Unterdrückung und als ein Symbol der nationalen Identität Polens (das das einzige römisch-katholische Land innerhalb der slawischen Welt ist) betrachtet wird. Ein Gutteil des Widerstandes gegen den Stalinismus in den vergangenen dreißig Jahren ist von der Katholischen Kirche kanalisiert worden.
6.  Die Besonderheiten der Situation in Polen können einige der Mystifikationen erklären, die in die Köpfe des Proletariats einzupflanzen der Kapitalismus in der Lage ist :
- die demokratischen Illusionen, die ein direktes Produkt des totalitären Charakters der Regimes in Osteuropa sind;
- nationalistische und religiöse Mystifikationen, die größtenteils das Produkt der Geschichte der polnischen Nation sind.
Im Grunde sind die Aspekte der Arbeiterbewegung in Polen, die man den spezifisch polnischen Bedingungen zurechnen kann, genau jene, die auch die Schwächen der Bewegung ausmachen.
Der fortdauernde Einfluß bürgerlicher Ideen und das Gewicht der Vergangenheit, das auf das Proletariat lastet, ergeben sich in hohem Maße aus diesen nationalen Besonderheiten, da sie ein klarer Ausdruck einer in Nationen, Klassen und vielen anderen Kategorien gespaltenen Welt ist. Vor allem sind sie ein Ausdruck jener Klasse, die nur überleben kann, indem sie diese Spaltungen fortsetzt - die Bourgeoisie.
Im Gegensatz dazu drückte sich die wahre Stärke des Proletariats in Polen nicht in irgendwelchen spezifischen Charakteristiken der Kämpfe dort aus. Die Stärke des Proletariats ist das Produkt von allem, was seine Klassenautonomie, sein Bruch mit der Atomisierung und den Spaltungen der Vergangenheit ausdrückt, was die allgemeinen Zwischenetappen und das Endziel der Bewegung zum Ausdruck bringt, alle lokalen und verinnerlichten Formen der Entfremdung verneint und es wagt, sich der einzig möglichen Zukunft für die gesamte Menschheit zuzuwenden: dem Kommunismus, der durch die Schaffung einer menschlichen Gemeinschaft alle zwischenmenschlichen Antagonismen abschaffen wird.
In diesem Zusammenhang bestand das wichtigste Ergebnis der besonderen Bedingungen in Polen darin, daß sie erlaubten, daß all die fundamentalen und allgemeinen Charakteristiken des proletarischen Kampfes in der gegenwärtigen Epoche unübersehbar in Erscheinung traten, während sie gleichzeitig die klassischen Bedingungen für eine Krise innerhalb der herrschenden Klasse generierten. In Polen wurde die Zukunft des Klassenkampfes mit einer Klarheit veranschaulicht, die bisweilen am Rande einer Karikatur schien.
Das extreme Ausmaß der wirtschaftlichen Lage, die Brutalität der Angriffe gegen die Arbeiterklasse, Massenstreiks, die politischen Erschütterungen der Bourgeoisie... nichts von dem ist spezifisch polnisch. Sie sind "spezifische" Charakteristiken der heutigen Epoche und betreffen die gesamte Gesellschaft.
7.  Die katastrophale Lage der Wirtschaft der Ostblockländer und insbesondere Polens kann nur innerhalb des Rahmens der allgemeinen Krise des Kapitalismus verstanden werden (dies wird selbst jenen Kretins sowohl im Osten auch im Westen bewusst, die sich Ökonomen nennen). Darüber hinaus illustrieren viele Aspekte der Lage im Ostblock die Richtung, in der sich mehr und mehr alle Länder bewegen, die großen Industrieländer eingeschlossen, die bislang mehr oder weniger ausgespart blieben. Der immer unerträglichere Zustand der Elends des polnischen Proletariats heute deutet an, was immer größere Teile des Proletariats der großen Industrieländer erwartet. Auch wenn kurzfristig die Verelendung der Arbeiterklasse eine andere Form annimmt (Niedriglöhne  und Unterversorgung im Osten, Arbeitslosigkeit im Westen), je nachdem ob das Regime in der Lage ist, ganze Sektoren der Arbeiterklasse ins Elend zu werfen, oder ob es aufgrund der Gefahr, daß dies zu einem weiteren wirtschaftliche Kollaps  und zu einem Verlust der Kontrolle über die Arbeiter führt, sobald diese aus den Industriekasernen geschmissen wurden, daran gehindert wird.
So wie die Aushöhlung der Bedingungen der Arbeiterklasse in Polen (insbesondere durch einen starken Preisanstieg für Nahrungsmittel) ein entscheidender Faktor war, um das Proletariat zur Revolte zu treiben, trotz eines Ausmaßes des Polizeiterrors, der mit dem Ausnahmezustand im Krieg vergleichbar ist, so wird letztendlich die Verschlimmerung der Bedingungen für das Proletariat in anderen Ländern das selbige dazu zwingen, das Joch der Repression und der bürgerlichen Mystifikationen abzuschütteln.
8.  Indem die völlige und offensichtliche Integration der Gewerkschaften in den Staatsapparat, typisch für stalinistische Regimes, die polnischen Arbeiter dazu veranlaßt hat, die Notwendigkeit einzusehen, diese Organisationen abzulehnen, haben sie den Arbeitern in anderen Ländern, wo die Gewerkschaften ihren kapitalistischen Charakter noch nicht so deutlich enthüllt haben, den Weg gewiesen. Doch die Bewegung in Polen ging über die bloße Anprangerung der offiziellen Gewerkschaften hinaus. Sie tendierte zunehmend dazu, auch über die "freien" Gewerkschaften hinauszugehen, jener Idee, die auf die polnischen Arbeiter eine Anziehungskraft ausübte, weil sie die Notwendigkeit für Organisationen sahen, die unabhängig vom Staat und in der Lage waren, sie gegen den unvermeidlichen Gegenangriff durch die Bourgeoisie zu verteidigen. In nur wenigen Monaten zeigte die lebendige Erfahrung der Arbeiter in Polen die Unmöglichkeit für die Arbeiterklasse im dekadenten Kapitalismus, permanente, gewerkschaftsartige Organisationen zu schaffen, ohne dass diese zu einem Hindernis für den Kampf zu werden. Auch hier hat das Proletariat in Polen dem Rest der Arbeiterklasse den Weg gewiesen, die im Gegenzug in ihren Kämpfen gegen das Kapital gezwungen wird, sich dem verführerischen Charme aller Arten von "radikalem", "militantem" oder "Basis"-Gewerkschaftstum zu widersetzen.
9.  Polen ist eine weitere Illustration der Tatsache, daß in Zeiten einer akuten gesellschaftlichen Krise der Verlauf der Geschichte sich beschleunigt. Was die Notwendigkeit anbelangte, die Gewerkschaften zu entlarven, so haben die polnischen Arbeiter in einigen wenigen Wochen einen Weg zurückgelegt, für den das Proletariat anderer Länder einen Zeitraum von mehreren Generationen benötigt hatte. Jedoch beschränkt sich diese Beschleunigung nicht auf die Gewerkschaftsfrage. Auch in zwei anderen Fragen - die Selbstorganisationn der Arbeiter und die Verallgemeinerung des Kampfes (beides selbstverständlich mit der Gewerkschaftsfrage verknüpft) - ist die Arbeiterklasse in Polen nun die Avantgarde des Weltproletariats.
Auch hier haben die "Besonderheiten" der Lage in Polen und Osteuropa (die lediglich die allgemeinen Charakteristiken des dekadenten Kapitalismus in einer etwas fortgeschritteneren Form als anderswo sind) die polnischen Arbeiter gezwungen, Wege zu erkundschaften, auf denen nun das Proletariat der gesamten Welt folgen muss.
So drängten der gewohnheitsmäßige Gebrauch einer Propaganda, die auf einer massiven und systematischen Verzerrung der Realität basierte, wie auch die totalitäre Kontrolle des Staates über jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens die polnischen Arbeiter dazu, einen Grad an Selbstorganisation zu entwickeln, der einen immensen Schritt nach vorn im Vergleich zu den bisherigen Kämpfen darstellt. Die erfolgreiche Verwendung moderner Technik (z.B. Lautsprecher, die mit den Verhandlungssälen verbunden waren, und Kassettenrekorder, die es allen Arbeitern erlaubten, die Diskussionen in der Zentralversammlung zu verfolgen), um die Kontrolle der Zentralversammlungen über die von ihnen selbst geschaffenen Organisation zu erleichtern und um es allen Arbeitern zu erlauben, sich an ihrem eigenen Kampf zu beteiligen, ist ein Beispiel, dem die Arbeiter aller Länder folgen sollten.
Gleichfalls hat das Proletariat in Polen angesichts eines Staates, der einen starke Hang hat zur blutigen Repression hat, der durch Terror und eine extreme Atomisierung der Individuen regiert, und trotz der Versuche der Regierung, die Bewegung zu spalten, es verstanden, jene Waffe wirkungsvoll zu verwenden, die so wichtig ist für Kämpfe in der heutigen Zeit und die allein der Repression und der Atomisierung Einhalt gebieten kann: den Massenstreik, die Generalisierung der Kämpfe. Die Fähigkeit der polnischen Arbeiterklasse, sich massiv mobilisieren, nicht nur um spezifische Forderungen zu vertreten, sondern auch aus Solidarität mit dem Kampf anderer Bereiche der Klasse, ist ein Ausdruck des wahren Wesens der Arbeiterklasse - jener Klasse, die die Saat des Kommunismus in sich trägt und die überall auf der Welt diese Einheit zeigen muss, um den Herausforderungen ihre historischen Aufgabe gerecht zu werden.
10.  Nicht nur wegen der Kämpfe des Proletariats kündigen die Ereignisse in Polen an, was zunehmend zur allgemeinen Lage in allen Industrieländern werden wird. Die inneren Erschütterungen der Bourgeoisie, die wir heute in Polen sehen können, einschließlich ihrer überspitzten Aspekte, sind ein Anzeichen für unter der Oberfläche ablaufende Entwicklungen in der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. Seit August sind die herrschenden Kreise in Polen von einer echten Panik erfasst. In den vergangenen fünf Monaten löst ein Minister den anderen ab. Dies ging gar so weit, dass ein Ministerium einem Katholiken anvertraut worden war! Aber diese Erschütterungen treten am stärksten in der wichtigsten Kraft innerhalb der herrschenden Klasse, der Partei, auf. Gegenwärtig vermittelt die polnische Arbeiterpartei den Eindruck eines gewaltigen Rummelplatzes, auf dem die verschiedenen Cliquen sich gegenseitig um die Wette in die Beine schießen, Rechnungen miteinander begleichen, persönlich Rache nehmen und die Interessen des nationalen Kapitals ihren persönlichen Interessen unterordnen. In der Bürokratie folgt eine Säuberungen der anderen. Das oberste Organ, das Politbüro, ist aus den Fugen geraten. Der Mann, der „mit den Arbeiten reden konnte“, Gierek, hat das gleiche Schicksal wie Gomulka 1971 erlitten. Er ist sogar aus dem Zentralkomitee der Partei gefegt worden, und dies gegen alle Parteiregularien. Überall sind so viel Sündenböcke gefunden worden, daß die alte, diskreditierte Garde gerufen werden mußte, um sie zu ersetzen - zum Beispiel der bösartige Antisemit Moczar. Selbst die Parteibasis, die normalerweise unterwürfig ist, ist von diesen Erschütterungen erfasst worden. Mehr als die Hälfte der Arbeiter-Mitglieder haben die offiziellen Gewerkschaften (diese „gesunden Kräfte“, wie die PRAWDA sie nennt) verlassen; um sich den unabhängigen Gewerkschaften anzuschließen. Es gab sogar Koordinationsansätze zwischen Parteisektionen auf Graswurzelebene, außerhalb der offiziellen Strukturen; mit diesen Bemühungen einher ging das Anprangern der "Führungsbürokratie“.
Diese Panik, die die Partei ergriffen hat, spiegelt die Sackgasse wider, in der sich die polnische Bourgeoisie befindet. Angesichts des Wutausbruchs der Arbeiter war sie gezwungen, das Auftreten und die Entwicklung von oppositionellen Kräften - den unabhängigen Gewerkschaften - zu gestatten. Die Funktion dieser Gewerkschaften entsprach der Linken in der Opposition in den meisten westlichen Ländern. Sie haben die gleiche "radikale Arbeitersprache", deren Funktion es ist, die Kampfbereitschaft der Arbeiter aus der Spur zu bringen, und die gleiche grundlegende Solidarität mit dem „nationalen Kapital“. Doch ein stalinistisches Regime kann nicht die Existenz solcher oppositioneller Kräfte tolerieren, ohne sich ernsthaft zu selbst zu gefährden; dies ist heute so wahr wie gestern. Die traditionelle Zerbrechlichkeit und Starrheit dieser Regimes sind nicht durch den Ausbruch von Arbeiterkämpfen weggezaubert worden. Ganz im Gegenteil! Das Regime ist gezwungen, einen Fremdkörper in seinem Eingeweide zu tolerieren, den es für sein Überleben braucht. Jedoch ist dieser Körper schwerlich in der Lage, seine Funktion zu erfüllen, und wird vom Organismus des Regimes mit all seinen Fasern abgelehnt. So wird das Regime heute von den größten Erschütterungen seit seinem Bestehen heimgesucht.
Antagonismen innerhalb einer herrschenden Klasse eines Landes sind nichts Neues. Diese sehr realen Antagonismen werden gegenwärtig im Westen dazu benutzt, um die Arbeiterklasse zu desorientieren, mit einer rechten Regierung, die immer schärfere Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse ergreift, und einer Linken, die diese lautstark anprangert, um sie für die Arbeiterklasse akzeptabler zu machen. In „normalen“ Zeiten sind diese Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse einerseits zwar eine Schwäche vor allem im internationalen Wettbewerb, andererseits aber auch ein Faktor, der die Bourgeois gegenüber der Arbeiterklasse stärkt, vorausgesetzt, daß sie korrekt als eine Quelle der Mystifikation benutzt werden. Wenn diese Spaltungen und die Macht der Arbeiterklasse eine bestimmte Stufe erreicht haben, wenden sie sich gegen die herrschende Klasse selbst. Wenn die Bourgeoisie weiterhin unfähig ist, für die Akzeptanz eine der falschen Alternativen, die sie anbietet, unter den Arbeitern zu sorgen, dann wird der offene Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse zum Beweis dafür, dass sie nicht mehr in der Lage ist, die Gesellschaft zu regieren. Diese Antagonismen hören dann auf, ein Faktor zu sein, der das Proletariat lähmt, und werden zu einer Stimulanz für die Entwicklung des Klassenkampfes.
So erlaubte das Zögern der Führung, ehe sie (Ende August), vor der Registrierung ihrer Statuten, die schließlich Ende Oktober stattfand, im Prinzip unabhängige Gewerkschaften akzeptierte, der Bourgeoisie, den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter zu schwächen, indem sie deren Aufmerksamkeit auf diese Frage lenkte. Doch die Verhaftung zweier Mitglieder von SOLIDARNOSC (Ende November) endete in einem demütigenden Rückzug des Regimes, selbst in solch einer heiklen Frage wie die Kontrolle der Repressionskräfte, weil diesmal der Staat mit der Gefahr einer neuen allgemeinen Streikwelle konfrontiert war.
Das Beispiel der Erschütterungen der polnischen Bourgeoisie läßt uns erahnen, wie eine herrschende Klasse aussieht, wenn sie durch den Klassenkampf in die Enge getrieben wird. In den letzten Jahren hat es an politischen Krisen nicht gefehlt (wie in Portugal 1974-75), aber bislang war das Proletariat nirgendwo ein so bedeutsamer Faktor in den inneren Erschütterungen der Bourgeoisie gewesen. Politische Krisen innerhalb der herrschenden Klasse, die direkt durch den Klassenkampf hervorgerufen werden - dies ist ein weiteres Phänomen, das in der Zukunft noch viel häufiger auftreten wird!
11.  Das Ausmaß der Krise der polnischen Bourgeoisie zeigt sich nicht nur in der Zerbrechlichkeit des Regimes, sondern auch und auf fundamentalere Weise in der Kraft der Arbeiterbewegung in Polen, die fünf Monate lang das Land heimsuchte und die Aufmerksamkeit Europas und der gesamten Welt auf sich zog.
Wir haben bereits die Aufmerksamkeit auf die Stärke dieser Bewegung gelenkt - auf ihre Fähigkeit, aus einem gewerkschaftlichen Rahmen auszubrechen, über alternative Gewerkschaften hinauszugehen, Formen einer wirklichen Arbeiterselbstorganisation zu entwickeln und erfolgreich sowie wirkungsvoll den Kampf zu generalisieren.
Doch die Stärke der Bewegung zeigt sich auch in ihrer Dauer: fünf Monate einer mehr oder weniger permanenten Mobilisierung, der pausenlosen Diskussionen und Reflexionen über die Probleme, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist.
In diesen fünf Monaten ist die Bewegung, weit davon entfernt, auszuklingen, stärker geworden. Anfangs noch eine simple Reaktion auf den Anstieg der Fleischpreise, wurde der Kampf zu einer Reihe von Kraftproben mit dem Staat und kulminierte in der Mobilisierung jenes Sektors der Arbeiterklasse, dessen Gewicht entscheidend ist - das heißt die Arbeiter aus der Hauptstadt -, um die Behörden zur Kapitulation zu zwingen und die inhaftierten Arbeiter zu entlassen.
In diesen fünf Monaten hat der Kampf eine zunehmend politische Bedeutung erlangt: Wirtschaftliche Forderungen sind im Umfang und in der Tiefe gewachsen, während politische Forderungen zunehmend radikal wurden. Zunächst reflektierten die politischen Forderungen der Arbeiter noch den Einfluss der bürgerlichen Ideologie, zum Beispiel in der Forderung nach freien Gewerkschaften oder nach Fernsehsendezeit für die Kirche. Doch die späteren Forderungen nach Kontrolle und Einschränkung des Repressionsapparates können natürlich von keiner Regierung in der Welt geduldet werden, da sie auf eine Forderung nach einer Doppelherrschaft hinauslaufen.
In diesen fünf Monaten haben Figuren wie Walesa, die zunächst "radikal" und "extremistisch" zu sein schienen, die Rolle der Feuerwehr angenommen, die von den Behörden von einem Brandherd zum nächsten geschickt wurde, wohingegen die kleine Minderheit, die gegen die Akzeptanz des Übereinkommens von Danzig gestritten hatte, nun zur großen Mehrheit geworden ist, auf die nicht mehr gesetzt werden konnte, wenn es darum ging, all die Kurons und Walesas zusammen zu unterstützen. Zwar konnten die "Führer" ihre Popularität bewahren, aber die Dynamik der Bewegung ging nicht in Richtung einer Stärkung ihrer Autorität, sondern hin zu einer wachsenden Infragestellung des "verantwortungsvollen" Verhaltens, das sie den Arbeiterversammlung anzunehmen rieten. Diese Arbeitervollversammlungen lassen sich nicht mehr in wenigen Minuten von der „Notwendigkeit des Kompromisses“ überzeugen, wie sie es noch am 30.8. in Danzig getan hatten. Stattdessen stellen sie sich stundenlang taub gegenüber all den Sirenenrufen des "Realitätssinns", wie in der Fabrik "Huta Warszawa" am 27. November.
Dies waren fünf Monate schließlich, in denen das Proletariat gegenüber all den stümperhaften und inkohärenten Reaktionen der Bourgeoisie die Initiative behalten hat.
12.  Es gibt jene, die viel Aufhebens um die - realen - Schwächen der Arbeiterbewegung in Polen machen, wie die demokratischen und neu-gewerkschaftlichen Illusionen, der Einfluß der Religion und des Nationalismus, und daraus schließen, daß der Bewegung kein großer Tiefgang und keine große Bedeutung beigemessen werden könne. Es ist klar: wenn man darauf wartet, bis die Arbeiterklasse, wann und wo immer sie zu kämpfen anfängt, völlig mit den Mystifikationen gebrochen hat, die der Kapitalismus der Gesellschaft seit Jahrhunderten aufgezwungen hat, und eine klare Vision der Endziele des Kampfes hat und wie man sie erreicht - wenn man, mit anderen Worten, solange wartet, bis die Arbeiterklasse ein kommunistisches Bewußtsein besitzt , dann kann man kaum begreifen, was in Polen und anderswo bis zum Triumph der Revolution geschieht. Das Problem mit dieser Sichtweise, die im allgemeinen einen sehr "radikalen" Zungenschlag hat, ist, dass abgesehen davon, daß sie auch eine Ungeduld und Skepsis zum Ausdruck bringt, die typisch ist für das Kleinbürgertum, sie die lebende Bewegung der Klasse völlig auf den Kopf stellt.
Die proletarische Bewegung ist ein schmerzhafter Prozeß der Loslösung vom Griff der kapitalistischen Herrschaft, unter der sie zur Welt kam. Wie Revolutionäre und besonders Marx häufig betont haben, bleiben die Mäntel der alten Welt am Leib hängen, und erst nach einem harten Kampf und etlichen Versuchen beginnen sie abzufallen, um den wahren Charakter der Bewegung darunter zu enthüllen. Die Katheder-"Revolutionäre" bringen den Beginn mit dem Ende einer Bewegung durcheinander. Sie wollen ankommen, bevor sie losgegangen sind. Sie haben ein Foto gemacht und verwechseln das Bild mit dem Modell, beschuldigen Letzteres, nicht vom Fleck zu kommen. Im Falle Polens sehen sie - statt die Geschwindigkeit zu erkennen, mit der die Bewegung von einer Stufe zur nächsten voranschreitet, die Überwindung von Furcht und Vereinzelung, die zunehmende Solidarität und Selbstorganisation, den Ausbruch von Massenstreiks - nur den Nationalismus und die Religion, zu deren Überwindung die Erfahrung der Arbeiter noch nicht ausreicht. Statt die Dynamik zu sehen, die die Arbeiter dazu brachte, die gewerkschaftliche Organisationsform abzulehnen und darüber hinaus zu gehen, erblicken sie nur die noch verbleibenden gewerkschaftlichen Illusionen. Statt die beträchtliche Wegstrecke zu sehen, die die  Bewegung zurückgelegt hat, schauen sie nur, wie weit sie noch zu gehen hat, und lassen die Köpfe hängen.
Revolutionäre verbergen vor ihrer Klasse niemals, wie lang und beschwerlich der vor uns liegende Weg ist. Sie schauen nicht immer auf die "angenehmen Seiten". Doch weil es die Rolle der Revolutionäre ist, den Klassenkampf zu stimulieren und einen realen Beitrag zum Wachstum des Bewusstseins des Proletariats über seine Macht zu leisten, gucken sie auch nicht immer auf die "unangenehmen Seiten".
Jene Leute, die die Errungenschaften der polnischen Arbeitern schmälern wollen, hätten auch im März 1871 gesagt: "Oh, die Pariser Arbeiter sind alles Nationalisten!" oder im Januar 1905: "Nun gut, alles, was die russischen Arbeiter tun, ist, irgendwelchen Heiligenbildern hinterherzulaufen!"... und die beiden wichtigsten revolutionären Erfahrungen vor 1917 wäre an ihnen vorbeigegangen.
13.  Eine andere Art, die Bedeutung der gegenwärtigen Bewegung in Polen zu unterschätzen, besteht darin zu behaupten, dass sie hinter den Kämpfen von 1970 und 1976 zurückgeblieben sei, weil sie nicht zu einer gewaltsamen Konfrontation mit den staatlichen Repression geführt hatte. Diese Auffassung lässt außer Acht, dass:
- die Anzahl der Arbeiter, die in einem Kampf getötet wurden, noch nie ein Maß für ihre Stärke war;
- nicht der Brand einiger Parteigebäude 1970 und 1976 die Bourgeoisie zum Rückzug veranlasst hatte, sondern die Gefahr einer Generalisierung der Bewegung, insbesondere nach den Massakern;
- die Bourgeoisie 1980 bislang keine blutigen Unterdrückungsmaßnahmen angewendet hat, weil dies das beste Mittel wäre, die Aufwärtskurve der Bewegung zu beschleunigen;
- die Arbeiter auf Grundlage der Erfahrungen aus der Vergangenheit wussten, dass ihre wirkliche Stärke nicht in sporadischen Zusammenstößen mit der Polizei, sondern in der Organisation und Ausdehnung der Streikbewegung lag;
- die bewaffnete Erhebung, die eine unerlässliche Stufe für das Proletariat auf seinem Weg zur Machtergreifung und Emanzipation ist, etwas völlig anderes ist als die Ausschreitungen, die stets Bestandteil seines Kampfes gegen die Ausbeutung gewesen waren.
Ausschreitungen wie die von 1970 und 1976 in Gdansk, Gdynia und Radom sind eine elementare Reaktion der Arbeiterklasse. Sie sind sporadisch und verhältnismäßig unorganisiert. Sie sind ein Ausdruck der Wut oder der Verzweiflung. Auf militärischer Ebene endeten sie stets in Niederlagen, selbst wenn sie vorübergehend die Bourgeoisie zum Rückzug zwingen konnten. Der Aufstand jedoch tritt auf dem Höhepunkt eines revolutionären Prozesses wie 1917 ein. Er ist eine  überlegte, durchdachte, organisierte und bewusste Handlung durch die Arbeiterklasse.  Weil seine Zielsetzung die Machtübernahme ist, zielt er nicht darauf ab, die Bourgeoisie zum Rückzug zu zwingen oder Zugeständnisse zu erlangen, sondern die Bourgeoisie und den gesamten Apparat der bürgerlichen Macht und Repression militärisch zu schlagen und vollständig zu zerstören. Doch der Aufstand ist mehr als nur ein militärisches oder technisches Problem; er ist ein politisches Problem: seine maßgeblichen Waffen sind die Organisation und das Bewusstsein des Proletariats. Daher ist, wie auch immer es oberflächlich erscheint und wie lang auch immer der Weg ist, ehe dieser Punkt erreicht ist, das Proletariat in Polen heute dem Aufstand näher als 1970 oder 1976, weil es organisierter, erfahrener und bewusster ist.
14.  Die These, dass die Kämpfe 1980 weniger wichtig seien als jene von 1970, schien im Juli oder zu Beginn der Bewegung noch zutreffend, war aber fünf Monate später völlig unhaltbar. Ob man die gegenwärtige Bewegung nun anhand ihrer Dauer, ihrer Forderungen, ihres Umfangs, ihrer Organisation, ihrer Dynamik oder anhand der Zugeständnisse durch die Bourgeoisie und des Ausmaßes ihrer politischen Krise beurteilt, es ist unschwer zu erkennen, dass die Bewegung weitaus machtvoller ist als 1970.
Der Unterschied zwischen den beiden Bewegungen lässt sich mit der Erfahrung erklären, die die polnischen Arbeiter seit 1970 dazugewonnen haben. Jedoch ist dies nur eine Teilerklärung und für sich genommen unzureichend. In der Tat kann man die Größe der heutigen Bewegung nur innerhalb des Kontextes des historischen Wiederauflebens des Weltproletariats seit Ende der Sechziger und durch die Berücksichtigung der verschiedenen Phasen dieses Wiedererwachens verstanden werden.
Der polnische Winter 1970 war Teil der ersten Welle von Kämpfen - einer Welle, die den Beginn des historischen Wiederauflebens markierte und von Mai '68 in Frankreich bis zu den Streiks in Großbritannien 1973-74 dauerte, einschließlich des "heißen Herbstes" 1969 in Italien, der "Cordobazo" in Argentinien, der wilden Streiks in Deutschland im gleichen Jahr und vieler anderer Kämpfe, die alle Industrieländer betrafen. In einer Zeit entstehend, als die Auswirkungen der Krise gerade erst um sich griffen (obwohl in Polen die Lage bereits damals katastrophal war), überraschte diese Offensive der Arbeiterklasse die Bourgeoisie (so wie sie das Proletariat selbst überraschte). Die Bourgeoisie war mithin mehr oder weniger überall zeitweilig entwaffnet. Doch die Bourgeoisie erholte sich sehr schnell; dank aller Arten von Mystifikationen gelang es ihr, die zweite Welle von Kämpfen bis 1978 hinauszuzögern. Diese zweite Welle wurden von den US-amerikanischen Bergarbeitern 1978, den französischen Stahlarbeitern Anfang 1979, den Rotterdamer Hafenarbeitern im Herbst '79, den britischen Stahlarbeitern Anfang 1980 und den brasilianischen Metallarbeiter angeführt. Die gegenwärtige Bewegung des polnischen Proletariats gehört zu dieser zweiten Welle von Kämpfen.
Diese Bewegungen unterschieden sich von Anfang an durch:
-  eine weitaus katstrophalere Krisenentwicklung des Kapitalismus;
-  durch die Tatsache, dass die Bourgeoisie besser vorbereitet war, um auf den Klassenkampf zu antworten;
-  die größere Erfahrung der Arbeiterklasse, besonders bezüglich des Problems der Gewerkschaften. Ein Beweis für diesen Zugewinn an Erfahrung wurde in letzten paar Jahren durch die ausdrückliche Anprangerung der Gewerkschaften durch bedeutsame Minderheiten von Arbeitern wie auch durch die Klärung von Klassenpositionen in dieser Frage durch einige revolutionäre Gruppen demonstriert.
Unter diesen Umständen hat die zweite Welle von Kämpfen weitaus größere Proportionen angenommen als die vorherige Welle, trotz aller Fallen, die von einer vorgewarnten Bourgeoisie gelegt wurden. Dies wird durch die Arbeiterkämpfe in Polen bestätigt.
15.  Der beispiellose Umfang der Kämpfe in Polen, der Ernst der politischen Krise der Bourgeoisie und die Tiefe der Weltwirtschaftskrise könnten zu der Annahme verleiten, dass in Polen eine revolutionäre Situation eingetreten sei. Dies ist keineswegs der Fall.
Lenin definierte die revolutionäre Krise durch die Tatsache, dass "jene, die oben sind, nicht mehr so regieren können wie früher, und jene, die unten sind, nicht mehr so leben können wie früher".  Auf den ersten Blick ist dies die Lage in Polen. Jedoch wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der historischen Erfahrungen, die von der Bourgeoisie gesammelt wurden, besonders im Oktober 1917, eine Illusion zu glauben, die Bourgeoisie würde es zulassen, dass ihre schwächsten Glieder allein dem Proletariat gegenübertreten. So wie wir sahen, wie die Weisen vom westlichen Block ihre Geschenke zur Krippe der neugeborenen "Demokratie" in Spanien 1976 brachten, um sie vor dem damals kämpferischsten Teil des Weltproletariats zu schützen, so sehen wir heute, dass "die da oben" nicht nur in Warschau sitzen, sondern auch und vor allem in Moskau sowie in anderen bedeutenden Hauptstädten. Diese Einheit, die von der Bourgeoisie vor allem im Rahmen ihres Blocks gegenüber der Bedrohung durch das Proletariat demonstriert wird, zeigt, dass eine revolutionäre Periode solange nicht wirklich denkbar ist, bis das Proletariat am Rande eines offenen Klassenkriegs in all jenen Ländern steht, die imstande sind, anderen Sektionen der Bourgeoisie  zu helfen, falls sie Probleme haben.
Diese internationale Reife der Bewegung ist auch auf einer anderen Ebene eine unerlässliche Vorbedingung für die Eröffnung einer revolutionären Periode. Sie allein kann es dem Proletariat in Polen ermöglichen, vollständig mit dem Nationalismus zu brechen, der noch ihren Blick verdunkelt und sie davon abhält, jenen Grad an Bewusstsein zu erlangen, ohne dem eine Revolution ein Unding ist.
Schließlich wird solch eine Bewusstseinsstufe zwangsläufig durch das Auftreten von kommunistischen politischen Organisationen innerhalb der Klasse ausgedrückt. Die fürchterliche Konterrevolution in Russland und in den Ostblockländern hatte zur völligen Liquidierung aller politischen Strömungen des Proletariats in diesen Ländern geführt. Erst wenn das Proletariat beginnt, sich vom Griff der Konterrevolution zu lösen, wie es heute im Begriff ist, wird es in der Lage sein, diese Organisationen neu zu bilden.
Auch wenn die Zeit für einen Aufstand in Polen noch nicht reif ist, so hat sich dennoch ein erster Durchbruch in den Ostblockländern eröffnet, nach einem halben Jahrhundert der Konterrevolution. Der Prozess, der zur Rekonstituierung revolutionärer, politischer Organisationen führen wird,  hat bereits begonnen.
16.  Wie die Ursachen und die Eigenschaften der gegenwärtigen Bewegung in Polen nur innerhalb eines internationalen Rahmens verstanden werden können, so können auch die Perspektiven für die Zukunft nur in diesem Rahmen entworfen werden.
Noch ehe sie sich auf der Ebene des Klassenkampfes herausstellte, ist die internationale Dimension der Ereignisse in Polen durch die derzeitigen Manöver der Bourgeoisie aller Großmächte demonstriert worden. Die Bourgeoisien dieser Länder betonten entweder ihre Besorgnis über die "Bedrohung des Sozialismus" in Polen oder sagten, dass sie darauf "vorbereitet sind, auf das Vorgehen der polnischen Behörden in den verschiedenen Gebieten, wo es erforderlich ist, einzugehen" (Giscard d'Estaing beim Empfang von Jagielski am 21. November), und warnten die UdSSR vor jeglicher Intervention in Polen.
Die Besorgnis der Bourgeoisie aller Länder ist real und fundiert. Denn während sie Ereignisse dieser Art dulden kann, sofern sie sich in zweitrangigen Ländern abspielen (so wie sie zulassen kann, dass die Krise die peripheren Ländern dezimiert), wäre eine ähnliche Situation in einer der wichtigsten kapitalistischen Metropolen wie Russland, Frankreich, Großbritannien oder Deutschland unerträglich für die Bourgeoisie. Polen ist wie eine brennende Lunte, die zu einer Explosion führen könnte, die ganz Osteuropas, einschließlich Russlands, in Mitleidenschaft ziehen und ebenso jene westeuropäischen Länder in Brand setzen könnte, die am stärksten von der Krise betroffen sind. Deshalb hat die Weltbourgeoisie die Regie bei der Entwicklung in Polen übernommen.
Für diese Operation haben sich die beiden Blöcke die Arbeit aufgeteilt:
- dem Westen fällt die Verantwortung zu, der ponischen Wirtschaft Beistand zu leisten, die sich am Rande des Bankrotts befindet: Es gibt keine Möglichkeit einer Rückzahlung der Anleihen, die sich auf 20 Milliarden Dollar belaufen und von den USA, Frankreich und Deutschland gewährt wurden. Jeder weiß, dass diese Kredite niemals zurückgezahlt werden und dass ihr Zweck es ist, die polnischen Arbeiter im Winter mit Nahrungsmittel zu versorgen und so weitere Revolten zu vermeiden.
- Russlands Rolle ist es, heute Drohungen auszustoßen und später der polnischen Bourgeoisie militärischen, "brüderlichen Beistand" zu gewähren, wenn die Dinge sich nicht von selbst erledigen.
Ungeachtet der Warnungen seitens des Westens gegen jegliches “Abenteuer“ der UdSSR und der russischen Anprangerung der"Intrigen des amerikanischen Imperialismus und seiner Marionetten in Bonn" gibt es eine grundlegende Solidarität zwischen den beiden Blöcken, deren gemeinsames Bestreben es ist, das Proletariat in Polen so schnell wie möglich  zum Schweigen zu bringen.
Die russischen, tschechischen und ostdeutschen Tiraden sind ein klassisches Beispiel für den Gebrauch der Propagandawaffe. Sie verraten eine gewisse Angst, dass der Westen den finanziellen Zugriff, den er auf Polen und die anderen osteuropäischen Länder hat, zu seinem Gunsten nutzen wird. Doch ihre Hauptfunktion ist es, den Arbeitern in Polen zu drohen und das Terrain für eine mögliche Intervention zu bereiten, auch wenn diese “Lösung“ nur als letzte Zuflucht (d.h. wenn der polnische Staat zusammenbricht) betrachtet wird, weil die Furcht bleibt, dass solch eine Aktion eine soziale Explosion in ganz Osteuropa entzünden könnte.
Was die Warnungen des Westens angeht, gehören sie teilweise zwar zur klassischen anti-russischen Propaganda, aber sie haben auch eine andere Bedeutung - was bei früheren Warnungen dieser Art nicht der Fall war, z.B. bezüglich der Lage im Persischen Golf oder als Antwort auf die Invasion in Afghanistan. Polen ist ein integraler Bestandteil des Ostblocks, und eine Intervention, wie massiv auch immer (und jede Intervention würde ebenfalls Fronteinheiten aus Ostdeutschland miteinbeziehen), würde nicht zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Blöcken führen. In der Tat hat NATO-Generalsekretär Luns unmissverständlich erklärt, dass seine Organisation im Falle einer russischen Invasion nichts unternehmen werde. Im Grunde genommen ist der Adressat dieser wiederholten Warnungen nicht die russische Regierung, obwohl es zutrifft, dass sie in gewissem Maße ein Versuch sind, einer Bourgeoisie, die weniger raffiniert und  erfahren ist wie die westliche herrschende Klasse, davon abzuraten, sich auf solch ein "Abenteuer" einzulassen, das unvorhersehbare soziale Konsequenzen nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen haben könnte.Diese Warnungen sind im Kern eine ideologische Barriere, die auf das westliche Proletariat abzielt. Sie sind ein Versuch, die wirkliche Bedeutung einer russischen Intervention in Polen vorzuenthalten - die Tatsache zu verbergen, dass, wenn sie stattfindet, sie eine Polizeioperation des Kapitalismus in seiner Gesamtheit gegen die internationale Arbeiterklasse ist. Die westliche Bourgeoisie würde eine Invasion als neues Beispiel der "sowjetischen Barbarei und des sowjetischen Totaalitarismus" gegen die "Menschenrechte" präsentieren. Die Bourgeoisie würde versuchen, die Wut und die Empörung, die solch eine Intervention unter westlichen Arbeitern hervorrufen würde, gegen die “bösen Russen“ zu lenken. Sie würde diese Wut benutzen, um im "demokratischen" Lager "Solidarität" zwischen sämtlichen Gesellschaftsklassen zu schaffen, und dies alles, um zu verhindern, dass das Proletariat seine Klassensolidarität ausspielt, indem es den Kampf gegen den wahren Feind aufnimmt: das Kapital.
Trotz ihres dramatischen Tonfalls sind die westlichen Warnungen kein Hinweis auf eine weitere Verschärfung der Spannungen zwischen den beiden imperialitischen Blöcken. Um absolute Klarheit zu schaffen und die guten Absichten der USA zu zeigen, entsandte Reagan seinen eigenen, persönlichen Gesandten Percy Ende November nach Moskau, um den Führern des Ostblocks mitzuteilen, dass sein Land bereit sei, die SALT-Verhandlungen in einem mpositiveren Sinne neu zu prüfen. In Wirklichkeit hat der Kampf der polnischen Arbeiter die Ost-West-Beziehungen ungeachtet einiger oberflächlicher Erscheinungen wieder auf Temperatur gebracht, nachdem sie nach der Invasion Afghanistans vor einem Jahr merklich abgekühlt waren.
Wir sehen also einmal mehr eine Veranschaulichung der Tatsache, dass das Proletariat die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die im Stande ist, den Kapitalismus durch ihren Kampf daran zu hindern, einen neuen, dritten imperialistischen Weltkrieg auszulösen.
17.  Die Ereignisse in Polen werfen ein Schlaglicht auf die beiden großen Gefahren‚ die das Proletariat bedrohen:
- die Kapitulation vor der Bourgeoisie: die Arbeiter lassen es zu, eingeschüchtert zu werden, Walesas Argumente über die "nationalen Interessen" zu akzeptieren und den fürchterlichen Opfern zuzustimmen, derer es bedarf, um die Wirtschaft zu kurieren (wenn auch nur  zeitweilig), ohne in irgendeiner Weise von der stetig wachsenden Repression ausgespart zu bleiben;
- die blutige, physische Niederschlagung: die Truppen des Warschauer Paktes (denn die polnischen Polizei- und Armeekräfte wären weder ausreichend noch verlässlich genug) würden „dem Sozialismus und den Arbeitern in Polen (d.h. dem Kapitalismus und der Bourgeoisie) brüderliche Hilfe" zuteil werden lassen.
Gegen diese beiden Bedrohungen kann das Proletariat in Polen nur:
- mobilisiert bleiben gegen die Versuche der Bourgeoisie, die Lage zu "normalisieren"; die Solidarität und Einheit bewahren, die bis jetzt seine Stärke gewesen war; den Vorteil dieser Mobilisierung für sich nutzen, nicht indem man sich sofort in eine entscheidende militärische Konfrontation stürzt, die voreilig wäre, solange die Arbeiter der anderen osteuropäischen Länder noch nicht ihren Kampfgeist gezeigt haben, sondern indem es seine Versuche der Selbstorganisation fortsetzt; die Erfahrungen seines Kampfes aufnimmt; die größtmögliche Zahl an politischen Lehren aus dem Kampf zieht; die Kämpfe von Morgen vorbereitet und weiterkommt mit der Aufgabe, revolutionäre politische Organisationen zu bilden;
- einen Appell an die Arbeiter in Russland und den Satellitenländer richten, da nur deren Kampf den mörderischen Bestrebungen der Bourgeoisie Einhalt gebieten und den Arbeitern in Polen ermöglichen kann, die Manöver solch falscher Freunde wie Walesa, die den Weg für die „Normalisierung“ unter Kania vorbereiten, zunichtezumachen.
Das Proletariat in Polen ist nicht allein. Überall auf der Welt entstehen die Bedingungen, die seine Klassenbrüder in den anderen Ländern antreiben werden, sich seinem Kampf anzuschließen. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre, aller bewussten Proletarier, der Solidarität der Bourgeoisie aller Länder bei ihrem Versuch, die polnischen Arbeiter zum Schweigen zu bringen, die Solidarität der Weltarbeiterklasse entgegenzusetzen.
Das Proletariat muss genau das tun, was die Bourgeoisie verzweifelt zu verhindern versucht: die Schlachten in Polen dürfen nicht isoliert und ohne Zukunft bleiben, sondern müssen im Gegenteil die Vorboten eines neuen Sprungs im Kampfgeist und Bewusstsein der Arbeiter aller Länder sein.
Wenn die Bewegung in Polen eine gewisse Ebene erreicht hat, dann ist dies keinesfalls ein Zeichen ihrer Schwäche. Im Gegenteil, diese Ebene ist bereits sehr hoch gelegen; in diesem Sinne hat die Arbeiterklasse in Polen bereits auf die Notwendigkeit für das Weltproletariat geantwortet, die Kriegsgefahr zurückzudrängen, indem "sie ihren Kampf auf ein höheres Niveau bringt", wie die IKS in ihrer Stellungnahme zur Invasion der Sowjetunion in Afghanistan (20. Januar 1980) gesagt hatte. Und außerdem wird die Bewegung in Polen nur dann dazu verurteilt sein, auf dieser Ebene zu verharren, wenn sie isoliert bleibt. Jedoch es gibt keinen Grund, warum sie zu solch einer Isolation verurteilt sein sollte. Daher können wir, Rosa Luxemburg mit ihrer Äußerung zur Russischen Revolution 1918 paraphrasierend, nur hoffnungsvoll sagen: „In Polen konnte das Problem nur gestellt werden; es liegt am Weltproletariat, es zu lösen.“

IKS, 4.12.80
Quell-URL: https://de.internationalism.org/rint6/polen1 [12]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Vor 30 Jahren Massenstreiks in Polen [13]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [14]

Historische Ereignisse: 

  • 1980 Massenstreiks in Polen [15]

OKtober 1917: Anfang der proletarischen Revolution (Teil 2)

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Im ersten Teil dieses Artikels versuchten wir aufzuzeigen, dass der Charakter der Russischen Revolution nicht durch die besonderen Eigenschaften Russlands zur Zeit der Revolution bestimmt wur­de, sondern durch die allgemeine Entwicklung des Weltkapitalismus, dessen Eintritt in die Epoche seines historischen Verfalls durch den imperialistischen Krieg von 1914 markiert wurde. Die objektiven Bedingungen für die proletarische Revolution bestanden international, und die Russische Revolution konnte nur ein Teil dieser Weltrevolution sein. Somit lehnten wir die Theorie der "Rätekommunisten" ab, aus deren Sicht die Russische Re­volution eine "bürgerliche" Revolution war. Wir haben aufgezeigt, dass solch eine Analyse zu folgendem führt:
- entweder zur Auffassung der Menschewiki und Kautskys, die zu einem Verrat an der Arbeiterklasse führen
- oder zur stalinistischen Theorie der Mög­lichkeit des "Sozialis­mus in einem Land"
- oder zur anarchistischen Auffassung, die den Sozialismus mit der Arbeiterselbstverwaltung in einzelnen Unterneh­men gleichsetzt,
- oder zur Auffassung der rechten Sozialdemo­kraten, für die die proletarische Revolu­tion 1917 in keinem Land auf der Tages­ord­nung stand.                         -
Schließlich haben wir aufgezeigt, wie ihre Analyse die Rätekom­munisten zu einer Ab­kehr vom Marxismus verleitet, obgleich sie selbst davon überzeugt sind, dass ihre Analyse auf dem Mar­xismus beruht.
Im Grunde sind die Verirrungen des Rätekommunismus ein elementarer Ausdruck des schrecklichen Gewichts, das auf all den proletarischen Strömungen der Klasse lastete und das von der längsten Periode der Konterrevo­lution ausging, die die Arbeiterklasse jemals durchlebt hat. Mit dem riesigen Staatsap­parat konfrontiert, der sich in Russland nach der Degeneration der Re­volution entwickelt hatte, und - im Gegensatz zu den Stalinisten und Trotzkisten - dazu gezwungen, das konterrevolutionäre Wesen dieses Staates zu brandmarken, hatten die verschiedenen Strö­mungen der kommunistischen Linken große Schwierigkeiten, die Ursprünge und Ursachen der Niederlage der Arbeiterklasse in Russland zu begrei­fen. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass die Rätekommunisten die einzigen gewesen waren, die sich in dieser schwierigen Lage verirrt hätten. Wenn man einmal vom Trotzkismus und dessen Theorie des "Bonapartismus" zur Erklärung des stalinistischen Phänomens und gleichzeitig zur Rechtfertigung der fortdauernden Verteidigung der UdSSR absieht, muss man feststellen, dass auch die anderen Strömun­gen der Linkskommunisten sehr konfus in dieser Frage waren. So leistete zwar die Italienische Linke durch ihre Publikation BILAN viele wichtige Beiträge zu einem besseren Verständnis des nachrevolutionären Russland und blieb dennoch lange Zeit in der Auffas­sung von Russland als  einem „entarteten Arbeiterstaat" gefan­gen. Eine der größten Konfusionen in der linkskom­munistischen Bewegung kam jedoch mit dem Erscheinen der bordigistiscben Theorie der "Doppel­revolution" auf, die eine teilweise Rückkehr zu den Absurditäten der Rätekommunisten darstellte.


Die heilige Dualität gemäß der bordigistischen Doktrin


„So lautet die marxistische Erklärung der 'Degenerierung der UdSSR': die Okto­berrevolution, in der das kom­munisti­sche Proletariat die Macht ergriff, konnte nur die Überbleibsel des Feudalismus zertrümmern, die eine Barriere der kapitalistischen Entwicklung der Produk­tivkräfte waren. Politische Diktatur des Proletariats mit einer kapitalistischen Ökonomie: das beschreibt Russland zur Zeit der NEP. Mit der Unter­stützung der Weltrevolution hätte die bolschewistische Partei die merkantile Wirt­schaft verdrängen und danach den So­zialismus einfüh­ren können. Isoliert an der Spitze einer eindrucksvollen kapitalistischen Ma­schinerie, allein auf weiter Flur, wurde die bolschewistische Partei gezwungen, sich der merkantilen Maschinerie unterzuordnen, und wurde zu einem Rädchen im Getriebe der kapitalis­tischen Akkumulation". (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 57, S. 39)[2]
Man erkennt auf den ersten Blick, was die "bordigistische" Auf­fassung von der "rätekommunistischen" unterscheidet. Für Letztgenannte sind die wirtschaftlichen und politischen Aspekte der Revolu­tion eng miteinander verbunden: Die Installation des Kapitalismus zeich­net sich durch die Machtübernahme durch eine Partei aus, die der Rätekommunismus als bürgerlich bezeichnet. Für Erstgenannte hingegen sind die beiden Aspekte völlig unterschiedlich: Die Bordigisten erkennen den prole­tarischen Charakters des Oktobers auf po­liti­scher Ebene an, aber sie stimmen mit den Rätekommunisten überein, wenn sie behaupten, dass es sich auf wirtschaftli­cher Ebene um eine bürgerliche Revolution handelte. Darüber hinaus könnte man eine ganze Reihe von Zitaten finden, die die Kon­vergenz der beiden Analysen demonstrieren, obgleich sich die Bordigisten stets sehr verächtlich über die Räte­kommunisten äußern. Zum Beispiel:                
"Wenn man überhaupt von einem 'Wendepunkt'  im April 1917 reden kann, dann muss man dabei verstehen, dass dieser mit dem Prozess, der ein fortgeschrittenes kapitalistisches Land zur kommunistischen Revolution führt,  nichts zu tun hat; er markiert nicht mehr als den entscheidenden Augenblick einer bürgerlichen und Volksrevolution in einem feudalen Land, das sich im fortgeschrittenen Stadium des Verfalls befindet." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 39, S. 21)
Man glaubt Pannekoek zu lesen! Und in der Tat erweist sich die bordigistische Auf­fassung der "Doppelrevolution" als prinzipiell doppel­deu­tig. Ihre Vertreter sind gezwungen, sich von einem Artikel zum anderen zu wi­dersprechen, wenn nicht gar von einem Satz zum anderen. So stammt das obige Zitat aus einem Artikel mit dem Titel:  "Die Aprilthesen des Jahres 1917: Programm der proletarischen Revolu­tion in Russland." In dem gleichen Artikel liest man in dem Kom­mentar zur gleichen These:
"Lenin fügt hier kein Adjektiv dem Wort Revolu­tion bei, aber wir können dies ohne Zö­gern tun  (...) es handelt sich stets um eine bürgerliche und demokrati­sche Revolution, um eine antifeudalistische Revolution und nicht um eine sozialistische". (S.24)
In einem anderen Artikel, genannt "Der Marxis­mus und Russland'' (S. 85 der deutschen Auf­lage) , kann man lesen: "Für uns war die Oktoberrevolution sozialistisch". Wir können also klar und eindeutig die bordigistische Auffassung in folgenden Worten zusammenfassen: Die Oktoberrevolution war eine nichtprole­tarische prole­tarische Revolution, eine nichtsozialistische sozialistische Revolu­tion. Welche trübe Klarheit!
Doch die Widersprüchlichkeit und Inkohärenz, die diese Konzeption Bordigas und seiner Epigonen auszeichnen, stört Letztere nicht so sehr; sie sind daran gewöhnt. Dahingegen fällt es ihnen wirklich schwer zu ertragen, dass sie eine Interpretation der Oktoberrevolution vorstellen, die in direk­tem Widerspruch zu jener Lenins steht. Denn ge­mäß des bordigistischen Credos hat Lenin nur zwei Fehler in seinem Leben begangen (und dies waren "kleine", "taktische" Fehler: in den Fragen der "Einheitsfront" und des "revolutionären Parlamenta­rismus".
"Im April 1917 ging es nur darum, die so­zialen Kräfte der antiza­ristischen Revo­lution zu gewinnen, nicht um mehr zu machen, als man sich 1905 vorgenommen hatte, sondern um die Tatsache zu berichtigen, dass bisher weniger erreicht worden war; das Programm der kapitalistischen Revolution unter der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauern musste erst noch verwirklicht werden." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 39, S. 25)
Für Lenin dagegen kann "diese ganze Revolution über­haupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proleta­rischen Re­volutionen, die durch den impe­rialistischen Krieg hervorgerufen werden." (Vorwort zu "Staat und Revolution") Für Lenin kam es somit darauf an, 1917 „mehr zu tun“  als 1905, deren Zielsetzungen er bescheidener de­finiert hatte:
"Ein solcher Sieg wird aus unserer bürger­lichen Revolution noch keineswegs eine so­zialistische machen; die demokratische Um­wälzung wird über den Rahmen der bürgerli­chen gesellschaftlich ökonomischen Ver­hältnisse nicht unmittelbar hinausgehen; aber nichtsdestoweniger wird die Bedeutung eines solchen Sieges für die künftige Ent­wicklung sowohl Russlands als auch der gan­zen Welt gigantisch sein." ("Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution", in Ausge­wählte Werke, Band I, S. 567).
Man könnte noch viele andere Beispiele bringen, in denen die bordigistischen Schriften das Gegenteil der Leninschen Auffassun­gen behaupten. Wir wollen uns hier mit einer weiteren zufrieden geben:
"So darf die Partei des Proletariats den Sowjet nicht ablehnen, diese aus der bürgerlichen russischen Revolution entstan­dene historische Form (...) Sie (die Sowjets) drücken aus, was Lenin als demokratische Diktatur definiert hatte (...) Die  besondere Form der antifeudalen russischen Revolution kann nicht eine parlamentarische Versammlung wie in Frankreich sein, sondern ein andersartiges Or­gan, das sich allein auf die Klasse der Arbeiter in den Städten und auf dem Lande stützt." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 39, S. 28)
Für Lenin dagegen:
"Nur muss eine praktische Form gefunden werden, die das Proleta­riat in den Stand setzt, seine Herrschaft zu verwirklichen. Diese Form ist das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats! Das war bisher Latein für die Massen. Mit der Ausbreitung des Sowjetsys­tems in der ganzen Welt ist dieses Latein in alle modernen Spra­chen übersetzt worden: die praktische Form der Diktatur ist durch die Arbeitermassen gefunden." (Rede bei der Eröffnung des Kon­gresses, 2. März,S.469, Bd. 28)
"... die Form der Diktatur des Proletariats, die schon praktisch ausgearbeitet ist, d.h. die Sowjetmacht in Russland, das Rätesystem in Deutschland (...) und andere analoge Sowjet-Institutionen in ande­ren Ländern." ("Thesen und Referat über die bürgerlich Demokratie und die Diktatur des Proletariats", in: Ausgewählte Werke, Bd. 3, S. 17l).
Wir haben dem Leser die verschiedenen Zitate nicht aufgeführt, um uns hinter der  Autorität Lenins zu verstecken, sondern um aufzuzeigen, dass der von den Bordigisten im Namen  der Treue gegenüber den Positionen Lenins vorgebrachte Unfug mit den Auffassungen Lenins absolut nichts zu tun hat, auch wenn Lenin Fehler gemacht hat, auch wenn seine Auffassung über den Oktober 1917 in mancherlei Hinsicht zweideutig war.


Widerlegung der "Doppelrevolution"


Wir werden hier nicht das im vorausgegangenen Artikel Gesagte wiederholen, in dem wir gezeigt haben, dass in Russland wie im Rest der Welt 1917 die bürgerliche Revolution nicht mehr auf der Tagesordnung der Geschichte stand, da die materiel­len Bedingungen der kommunistischen Revolution auf Weltebene bereits existierten. Was wir zu den rätekommunisten und mesnschewistischen Auffassungen gesagt haben, trifft auch auf die bordigistische Auffassung zu. Es ist jedoch notwendig, einige konfuse Ideen zurückzuweisen, die sich aus dem Begriff der "Doppelrevolution" ergeben.
Erstens: die Idee, dass das Proletariat die bürgerliche Revolution ausführt, ist falsch. Selbst wenn Marx solch eine Auffassung l848 vertreten konnte, die von Lenin 1905 wieder aufgegriffen wurde, gibt es in der Geschichte kein Beispiel, in dem eine Klasse eine andere Klasse bei der Erfül­lung ihrer historischen Aufgaben ersetzen konnte. Eine Revolution ist ein Akt, bei dem eine Klasse, die zum Träger der neuen, durch die Entwicklung der Produktivkräfte notwendig gewordenen Produktionsverhältnis­se geworden ist, die politische Macht über­nimmt. Nun hat die Geschichte vielfach be­wiesen, dass die revolu­tionäre Klasse die politische Macht allgemein erst ergreifen kann, nachdem die Notwendigkeit und die materiellen Bedingungen der Revolution lan­ge offenkundig geworden sind. Es handelt sich hier um das klassische, vom Marxismus eindeutig demonstrierte Phänomen der langsamen Anpassung des gesellschaftlichen Überbaus an Veränderungen in seiner Infrastruktur. Insbesondere dieses Phänomen er­möglicht uns zu begreifen, warum es in der Geschichte der Menschheit Zeiträume der Dekadenz gegeben hat, in denen die alten Produktionsverhältnisse zu Fesseln der Ent­wick­lung der Produktivkräfte geworden wa­ren, während die als Träger der neuen Produktionsverhältnisse wirkende Klasse noch nicht genügend Macht - insbesondere politische Macht - erlangt hatte, um die alte, bestehende Gesell­schaftsordnung zu zerstören. Das heißt,  wenn eine Klasse ausreichend stark ist, um die politische Macht zu ergreifen, bestehen die ökonomischen und sozialen Aufgaben, vor denen sie steht, darin, die Produktionsverhält­nisse zu entwickeln, deren historischer Träger sie ist, und nicht darin, anstelle der vorherigen historischen Klasse Aufgaben zu erfüllen, die faktisch nicht mehr auf der Tagesordnung stehen. Das Proletariat konnte sich wie die Bauern und Handwerker an den bür­gerlichen Revolutionen beteiligen, aber nur als Hilfskraft, nie als der Hauptprotagonist. Das Proletariat hat selbst eine sehr akti­ve Rolle in der Radikalisierung dieser Re­volutionen gespielt, indem es die energischsten Kräften der Bourgeoisie unterstützt hat. Doch sobald die eige­nen Klasseninteressen sichtbar wurden, standen diese sofort den Interessen aller, einschließlich der radikalsten Fraktion der Bourgeoisie entgegen: die "Levellers" gegen Cromwell in der englischen Revolution, Babeuf gegen die Montagnards in der französischen Revolution, das Pariser Proletariat gegen die provisorische Regierung im Juni 1848.
Der andere Aspekt des Begriffs der "Doppelrevolution" betrifft das bordigistische Verständnis der Art von ökono­mischen Maßnahmen, die das Proletariat am Anfang der Revolu­tion ergreifen kann. Die Bordigisten kritisieren zurecht die trotz­kistische Auffassung, dass "Arbeitslosenunterstützung" oder die "Abschaffung des Privateigentums in der Großindustrie" sozialistische Maßnahmen sind. Für sie sind diese Maßnahmen nichts anderes als "Wohlfahrts"-Maßnahmen im ersten Fall und "staatskapitalistische" Maßnahmen im zweiten Fall. Die "sozialistische Ökonomie beginnt mit der Kapitalvernichtung" (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 57, S. 25). In dieser Hinsicht ha­ben die Bordigisten verstanden, dass die wirtschaftlichen Maßnahmen, die von der proletarischen Macht in Russland ergriffen wurden, noch immer kapitalistische Maßnahmen waren, und glorifizierten sie nicht als "sozialistisch", wie die Stalinisten und Trotzkisten es tun. Jedoch wird der bordigistische Irrtum in der folgenden Passage enthüllt:
"In den fortgeschrittenen Ländern wird die Diktatur des Proleta­riats in der Lage sein, sofort  einen zahlenmäßig ausgearbeiteten Produk­tionsplan aufzustellen. In den anderen Ländern wird das Proletariat, während es auf die Ausdehnung der Revolution wartet, den Kapitalismus verwalten, wobei die Produktivkräfte  soweit wie möglich in den Händen des Staates zusam­mengefasst und Schutzmaßnahmen für die lohn­abhängige Klasse getroffen  würden, alles Maßnahmen, die unter den gleichen Be­dingungen unmöglich wären für eine bürgerliche Partei. In allen Fällen be­deutet die Machtübernahme durch das Proleta­riat nichts anderes als die erste Stufe der Weltrevolution, die siegen muss oder besiegt wird. Entweder generiert sie andere Revo­lutionen, oder sie wird im Bürgerkrieg untergehen, oder es wird, in dem Fall, wo das Proletariat einen jungen Kapitalismus verwalten muss, zu einer bürgerlichen Macht degenerieren." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 57,  S. 36)
Da haben wir's! Nur in den Ländern, wo das "Proletariat einen jungen Kapitalis­mus verwalten muss" (als ob der Kapitalismus, dessen Senilität ein internationales Phänomen ist, irgendwo noch jung sein könn­te!), "degeneriert die Revolution zu einer bürgerlichen Macht." So ist die Revolution in Russland dege­neriert, weil sie in einem schwach industrialisierten Land (das KOMMUNISTISCHES PROGRAMM fälschlicherweise als "jungen Kapitalismus" bezeichnet) isoliert geblieben ist . Wäre die Revolution dage­gen in einem hoch industrialisierten Land isoliert geblieben, wäre sie gemäß dieser Argumentationsweise nicht degeneriert und die  etablierenden Produktionsverhältnisse  wären auch nicht mehr kapi­talistisch gewesen. Kurzum, Sozialismus in einem Land wäre möglich ... unter der Bedingung, dass es sich um einen "alten Ka­pitalismus" handelt. Eben­so wie bei den Rätekommunisten führt die Auffassung der Bordigisten, wenn man sie zu Ende denkt, zwangsläufig zu der stalinistischen These. Die Bordigisten müssen sich entscheiden: Entweder ist in allen Fällen "die Machtübernahme durch das Proletariat nichts anderes als die erste Stufe der Weltrevolution", oder sie ist es nur in bestimmten Fällen. Faktisch führt der Begriff der "Doppelrevolution" letztendlich zu einer "doppelten Auffassung":  eine Auffassung, die zwischen Internationlismus und Nationalismus hin und her schwankt.
In Wirklichkeit ist es so: wie immer der Entwicklungsgrad der Länder sein mag, in denen das Proletariat die Macht ergreift, es kann nicht auf sofortige "sozialistische" Maß­nahmen zu setzen. Es wird in der Lage sein, eine Reihe von Maßnahmen zu ergreifen, wie die Enteignung der Privatkapitalisten, gleiche Bezahlung, Unterstützung der Ärmsten, unentgeltliche Verteilung gewisser Konsumgüter, etc., die zu sozialistischen Maßnahmen führen, die aber in sich selbst  perfekt geeignet sind, um vom Kapitalismus vereinnahmt zu werden. Solange die Revolution in einem Land oder in einer kleinen Anzahl von Ländern isoliert bleibt, wird die Wirt­schaftspolitik, die sie verfolgen kann, überwiegend von den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Rest der kapitalistischen Welt  bestimmt sein, die dieses Land oder diese Länder aufrechterhalten muss/müssen. Diese Beziehungen können nur Handelsbeziehungen sein: Das Gebiet, in dem das Proletariat die Macht ergriffen hat, muss auf dem Weltmarkt einen Teil seiner Produkte verkaufen, um in der Lage zu sein, auf demselben Markt all die unerlässlichen Güter zu erwer­ben, die es nicht selbst herstellen kann.
Daher bleibt die gesamte Wirtschaft dieses Gebietes stark von der Notwendigkeit geprägt, Waren so billig wie möglich zu produzieren, um  Käufer zu finden gegen die Konkurrenz durch die Waren, die in den Ländern hergestellt werden, in denen das Proletariat die Macht noch nicht ergriffen hat. Das bedeutet, dass diese Wirtschaft dem Konsum der Arbeiterklasse Beschränkungen auferlegen muss; Beschränkungen, deren Zweck es nicht nur ist, die zukünftige Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu ermöglichen (die unverzichtbare Grundlage des Kommunismus), sondern auch und viel prosaischer, um einen Mehrwert zu erlangen, der auf dem Weltmarkt ausgetauscht werden und die Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann. Es ist offen­sichtlich, dass die proletarische Macht eine größtmögliche Anzahl von Vorkehrungen ge­gen die korrumpierenden Auswir­kungen tref­fen muss, die diese typisch kapitalisti­sche Praxis  im proletarischen Macht­bereich und in ihren Institutionen unvermeidlich erzeugen wird. Aber es ist ebenso offensicht­lich, dass der Fortbestand dieser Praxis im Falle einer an­dauernden Isolierung der Revolution nur zum Sturz der proletarischen Macht führen kann. Und was für den streng be­grenzten Bereich der Ökonomie zutrifft, gilt auch für den militärischen Be­reich. Allein auf weiter Flur, wird die Revo­lution dazu gezwungen, sich gegenüber den Versuchen des Kapitalismus, sie zu zerschlagen, zur Wehr zu setzen. Das bedeutet, dass von dem Tag an, an dem das Proletariat die Macht ergreift, viele Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig aufrechterhalten müssen: Waffenproduktion, die den Lebensstandard der Arbeiter drückt und die Entwick­lung der mate­riellen Bedin­gungen des Kommunismus verhindert, die Existenz einer Armee, die auch als "Rote Armee" weiterhin eine Institution mit einem im Kern kapitalistischen Charakter bleibt: eine Ma­schinerie, die dazu bestimmt ist, auf organisierte und systematische Weise zu töten und Zwang auszuüben. Auch hier ist die Trag­weite der Bedrohungen leicht zu verstehen, die solche Notwen­digkeiten auf die proletarische Macht ausüben. All dies trifft sowohl auf die fortge­schrittenen als auch auf die rückständigen Länder zu. In Wirklichkeit ist ein hoch industrialisiertes Land sogar noch abhän­giger vom kapitalistischen Weltmarkt. Es wäre nicht allzu absurd zu behaupten, dass die Revolution, wäre sie in einem Land wie Deutschland isoliert gewesen, noch schneller als in Russland degeneriert wäre. Es war also nicht schlicht die Rückständigkeit Russlands, die den kapitalistischen Charakter der wirtschaftlichen Maßnahmen erklärt, die in den ersten Jahren der Sowjetmacht ergriffen wurden. Wenn man die Maßnah­men, die in Deutschland im Falle eines proletarischen Sieges getroffen worden wären, untersucht, findet man eine große Ähnlichkeit:
"1.    Konfiskation aller dynastischen Vermögen und Einkünfte für die Allgemeinheit;
2.    Annullierung der Staats- und anderer öffentlichen Schulden sowie sämtlicher Kriegs­anleihen, ausgenommen Zeichnungen von einer bestimmten Höhe an, die durch den Zentralrat der A(rbeiter)- und S(oldaten)-Räte festzu­setzen ist)
3.    Enteignung des Grund und Bodens aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetrie­be, Bildung sozialistischer landwirtschaft­licher Genossenschaften unter einheitlicher zentraler Leitung im ganzen Reiche, bäuerliche Kleinbetriebe bleiben im Besitze ihrer Inhaber bis zu deren freiwilligem Anschluss an die sozialistischen Genossenschaften;
4.    Enteignung aller Banken, Bergwerke, Hüt­ten sowie aller Großbetriebe in Industrie und Handel durch die Räterepublik.
5.    Konfiskation aller Vermögen von einer bestimmten Hohe an, die durch den Zentralrat festzusetzen ist;
6.    Übernahme des gesamten öffentlichen Ver­kehrswesens durch die Räterepublik.
7.    Wahl von Betriebsräten in allen Betrieben, die im Einverneh­men mit den Arbeiterraten die inneren Angelegenheiten der Be­triebe zu ordnen, die Arbeitsverhältnisse zu regeln, die Produktion zu kontrollieren und schließ­lich die Betriebsleitung zu übernehmen haben." ("Was will der Spartakusbund?" (aus dem Programm des Spartakusbundes der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), zitiert aus dem Artikel von Rosa Luxemburg, "Was will der Spartakusbund?", in: Rosa Luxem­burg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 449)
Der große Fehler der Bordigisten ist es, davon auszugehen, dass die Welt in verschiedene geo-ökonomische Gebiete" aufge­teilt ist: in jene Gebiete, in denen der Kapitalismus reif und gar altersschwach geworden ist, und in jene, in denen der Kapitalismus "jung" oder "jugendlich" ist. Unfähig zu begreifen, dass der Kapitalismus als ein Weltsystem (und darin unterscheidet er sich von allen vergangenen Systemen) eine auf­stei­gende Phase und dann, seit 1914, eine dekadente Phase erlebt, sind sie gleichermaßen unfähig zu be­greifen, dass seit 1914 die Aufgaben des Proletariats in allen Weltregionen die gleichen sind: den Kapitalismus zu zerstören und neue Produktionsverhältnisse zu etablieren. Für die Bordigisten gibt es einige Weltregionen, in denen eine "reine“, proletarische Revo­lution auf der Tagesordnung steht, und andere Regionen, wo die "Doppelrevolution" erforderlich ist. Dieses Schema beinhaltet, dass:
-       einerseits die Aufgaben des Prole­tariats innerhalb eines Prozesses der sozia­listischen Umwälzung der Gesellschaft in den verschiedenen Gebieten als unter­schiedlich aufgefasst werden. Das Proletariat in den entwickelten Ländern kann sofort sozialistische Maßnahmen ergreifen, während das Proletariat in den rückständigen Ländern sich zunächst der Entwicklung des Kapitalismus widmen muss, um die Bedingungen für den Sozialismus zu schaffen;
- andererseits das Proletariat und die Revolutionäre kurzfristig die verschiedensten "nationalen Befreiungskämpfe" unterstützen muss, die die Bordigisten als die Grundlage für die Entwicklung eines "jugendlichen" Kapitalismus in diesen Ländern betrachten.
Erst kürzlich haben wir die Verirrungen gesehen, die aus letztgenannter Folgerung  in der bordigistischen Auffassung entstehen: eine Rechtfertigung der von den Roten Khmer an der kambodscha­nischen Bevölkerung verübten Massaker, die als Ausdruck des "radikalen Jakobinertums" ge­wertet werden; Einstimmen in die stalinistischen und trotzkistischen Lobeshymnen für Che Guevara, jenem "lebenden Symbol der demokratischen, antiimperialistischen Revolution (...) von den Yankee-Impe­rialisten und ihren lateinameri­kanischen Lakaien  feige umgebracht" (P.C., Nr. 75, S. 51), und viele andere Beweise für ihre mehr oder weniger kritische Unterstützung dieses oder jenen Mitwirkenden in den jüngsten inter-imperialistischen Konflikten (Vietnam, Angola, Mosambique, etc.)
Was die erstgenannte Folgerung angeht, so drückt sie die absurde bürgerliche Idee aus, dass das Proletariat ei­nes jeden Landes, sobald es die Macht über­nommen hat, sich um seine "eigenen Angelegenheiten kümmern muss". In Wirklichkeit ist es das gesamte Weltproletariat, das alle ökonomischen Probleme angehen muss, die sich in den vielen Weltregionen stellen. Diese Probleme sind durch die doppelte Aufgabe bestimmt, die sich dem Proletariat gleichzeitig stellt: die Produktivkräfte besonders in den rückständigen Ge­bieten weiterzuentwickeln und die Produktionsverhältnisse fortschreitend in Richtung Kommunismus zu transformieren. Sobald das Proletariat die Macht auf Weltebene übernommen hat, muss es somit nirgendwo auf der Welt kapitalisti­sche Aufgaben erfüllen. Im Rahmen der sozialisti­schen Umwandlung der Gesellschaft beginnt das Proletariat die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, die durch die historische Deka­denz der kapitalisti­schen Produktionsweise zur Stagnation ver­dammt waren. In diesem  Rahmen muss das Proletariat die Überreste der vorkapi­talistischen Gesellschaft auslöschen, die der Kapitalismus nicht integrieren konnte - durch die Integration der enormen Massen von agrarischen Kleinproduzenten und Handwerkern, die heute noch immer die breite Mehrheit der Weltbevölkerung bilden, in die assoziierte Produktion des vergesellschafteten Bereichs. Und diese Aufga­be muss nicht nur in den rückständigen Län­dern durchgeführt wanden, sondern auch in einer ganzen Reihe von fortgeschrittenen Ländern wie Japan, Frankreich, Spanien oder Italien, wo zig Millionen von Kleinbauern und Landarbeiter unter gesellschaftlichen Bedingungen schmachten, die dem Feudalismus sehr nahekommen. Warum sprechen die Bordigisten nicht von der "Doppelrevolution" für diese Länder? So stellen sie einerseits dem Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern, wo die Revolution noch isoliert ist, viel zu ehrgeizige Aufgaben und unterschätzen die historischen Aufgaben, denen sich das Proletariat gegenübersieht, sobald es überall auf der Welt die Macht übernommen hat, indem sie kapitalistische Bewegungen befürworten, und dies zu einer Zeit, wenn der Kapitalismus überall am Ende ist.
Im ersten Teil dieses Arti­kels haben wir gesehen, wie die Rätekommunisten, nach­dem sie die Errungenschaften der Oktoberre­volution begrüßt hatten, in den sozialdemokratischen und anarchistischen Chor mit einstimmten, der diese Revolution denunzierte. Die Bordigisten hingegen verteidigen kompromisslos die Revolution. Sie haben, woran es den Rätekommunisten mangelt,  ein Verständnis für den Vorrang der politischen über die ökonomischen As­pekte der Revolution, was gelegentlich klar zum Ausdruck kommt:
 „Die Oktoberrevolution darf an erster Stelle nicht unter dem Blickwinkel der unmittelba­ren Transformation der Gesellschaft (...) der Produktionsformen und ökonomischen Strukturen verstanden werden, sondern als eine Phase im internationalen politischen Kampf des Proletari­ats." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 68, S. 20)
Aber leider erweisen sie sich als unfähig, die menschewistische Behauptungen abzuweisen, die später von den Rätekommunisten wieder aufge­griffen wurden. Im Gegenteil, aufgrund einer religiösen Anhänglichkeit zu den Analysen Lenins (insbesondere in der nationalen Frage, deren Unrichtigkeit durch mehr als ein halbes Jahrhundert an Erfahrungen bewiesen worden ist) zeigen sie sich als unfähig, weder die grundlegenden Bei­träge Lenins und der Bolschewiki noch die Bedeutung der Erfah­rung der Oktoberre­volution für das proletarische Programm zu begreifen. Die Oktoberrevolution muss daher nicht nur die Lügen und die versuchte Vereinnahmung durch die Bourgeoisie, nicht nur die rätekommunistischen Angriffe erdulden, sondern auch die wohlmeinende, aber desaströse Analyse, die von ihren beflissensten Verteidigern, den Bordigisten, vorgebracht wird.

 

Charakter und Rolle der bolschewistischen  Partei


Eine Verteidigung des proletarischen Cha­rakters der Oktoberrevo­lution wäre unvoll­ständig, wenn sie sich nicht mit dem Charakter der bolschewistischen Partei als einem der Hauptträger der Revolution befassen würde. Wie bei der Revo­lution selbst, bestanden auch über den Klassencharakter der Partei keinerlei Zweifel unter den damaligen revolutionären Strömungen. Erst später kam die Idee einer nicht-prole­tarischen, bolschewistischen Partei auf, anders als bei Kautsky und der Sozialdemokratie. Die rätekommunistischen "Thesen über den Bolsche­wismus" sind ziemlich deutlich in dieser Hinsicht:
"Der Bolschewismus ist in seinen Prinzipien, Taktiken und in seiner Organisation eine Bewegung der bürgerlichen  Revolution in einem überwiegend bäuerlichen Land..." (These 66)[3]
Obgleich die Thesen einigermaßen widersprüchlich sind:
"Die russische sozialdemokratische Bewegung bildet in ihren berufs-revolutionären Führungselementen primär einen Bestandteil des revolutionären Kleinbürgertums." (These 66)
Ob bürgerlich, kleinbürgerlich oder "staatskapitalistisch" , die verschiedenen Versionen der rätekommunistischen Analysen stimmen alle in einem Punkt überein: jeglichen proletarischen Charakter der bolschewisti­schen Partei zu leugnen. Bevor wir fortfah­ren und die Gründe aufdecken, die hinter dieser Analyse stecken, ist es notwendig, einige elementare Gesichtspunkte über die Ursprünge und der Positionen der Bolschewiki sowie über die von ihnen gegen andere politische Tendenzen geführten Kämp­fe in Erinnerung zu rufen.
Der Bolschewismus entstand als eine marxis­tische Strömung, als ein integaler Be­standteil der russischen Sozialdemokratie, die als solche erfolgreiche Schlachten kämpfte:
1.    gegen die Volkstümler und den Agrarsozialismus;
2.    gegen den legalen Marxismus und die Vertreter des russischen Liberalismus;
3.    gegen den Terror als eine Kampfmethode, anstelle dessen sie den Mas­senkampf der Arbeiterklasse vertraten;
4.    gegen den arbeitertümlerischen Ökonomismus, der den proletari­schen Kampf einzig auf  ökonomische Forderungen innerhalb des Kapi­talismus reduzierte, anstelle dessen sie den globalen, politischen Kampf des Proletariats, die historischen Aufgaben des Marxismus vertraten;
5.    gegen den Intellektualismus, die Intelligentsia, gegen die dilettantischen, zweifelhaften Mitläufer der Arbeiterbewegung und für die Verteidigung der Idee des militanten Engagements der Revolutionäre innerhalb der Klasse;
6.    gegen den Menschewismus und seine als "Marxismus" verkleidete Unterstützung der liberalen Bourgeoisie in der Revolution von 1905;
7.    gegen die "Liquidatoren", die nach der Zerschlagung der Revolution von 1905 begannen, die Notwendigkeit der poli­tischen Organisation des Proletariats zu leugnen;
8.    gegen die Vertreter des imperialisti­schen Krieges, für einen echten Internatio­nalismus, der sich klar vom bloßen humanisti­schen Pazifismus abhob;
9.    gegen die Provisorische Regierung, die aus der Februarrevolu­tion von 1917 hervor­ging, gegen jegliche "kritische oder be­dingte Unterstützung" für die Regierung und für den Schlachtruf: "Alle Macht den Räten".ENDE
Diese Punkte ermöglichen uns, uns ein ge­naueres Bild von der bol­schewistischen Partei zu machen als das, das die Rätekommunisten vorgestellt haben. Tatsächlich befand sich die bolschewistische Frak­tion immer auf der Seite der Arbeiterklasse. Dies gilt beson­ders für die Revolution 1905, die die russi­sche Gesellschaft erschütterte. Die Bolschewiki spielten eine aktive Rolle:
-       im Kampf für die Zerstörung des zaristi­schen Systems,
-       in den Sowjets, an der Seite der Sowjets,
-       im Aufstand gegen die Menschewiki, die sich gegen die Bewaffnung der Arbeiter aussprachen.
Gewiss ist die Analyse der Bolschewiki von 1905 (die sie als eine bürgerliche Revolution betrachteten) falsch. Aber ihre Analyse war eine genaue Kopie der Marxschen Position zur bürgerlichen Revolu­tion in Deutschland l848: Sie be­tonten die aktive und autonome Rolle des Proletariats in der Revolution, anstatt es aufzurufen, sich hinter der Bourgeoi­sie einzuordnen. Dies markiert die Klassengrenze, und nicht das Verständnis, dass von da an keine bürgerliche Revolution mehr möglich war. Die Analyse der Bolschewiki hinkte der Realität hinterher, doch da dies ein Wendepunkt zwischen zwei Epochen war, war sich 1905 niemand darüber bewusst, dass man am Vorabend einer histori­schen Krise des Kapitalismus, seiner Niedergangsepoche stand. Erst 1910-11 warf Rosa Luxemburg die Frage einer Änderung in der historischen Perspektive auf.
Die Aktivitäten und die Positionen der Bol­schewiki befassten sich nicht nur mit den in Russland aufgeworfenen Problemen. Zusammen mit der gesamten russischen Sozialdemokratie waren sie ein integraler Bestandteil der II. Internationalen, innerhalb derer sie Teil des linken Flügels in allen Hauptfragen waren, die zur Diskussion standen. Sie sprachen sich gegen den Re­formismus, gegen den Revisionismus und den Kolonia­lismus aus. Insbesondere gehörten sie zur Vorhut im Kampf für den Internatio­nalismus.
1907, auf dem Kongress in Stuttgart, unter­zeichnete Lenin mit Rosa Luxemburg einen (später angenommenen) Ergänzungsent­wurf, der einer etwas zaghaften Resolution über den Krieg Nachdruck verlieh und der als Grundlage für die Position der Internationalisten 1914 diente:
"Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeige­führte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Be­seitigung der kapitalisti­schen Klassenherr­schaft zu beschleunigen." (R. Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 4, S. 130).
1912, auf dem Außerordentlichen Kongress in Basel, der sich mit der Gefahr eines imperialistischen Krieges auseinandersetzte, rief der linke Flügel die Arbeiter auf, sich der nationalen Verteidigung entgegenzu­stellen und am proletarischen Internationalismus festzuhalten.
1914 waren die Bolschewiki die ersten, die nach dem Zusam­menbruch der II. Interna­tionalen wieder auf die Beine kamen. Sie waren die ersten, die den Schlachtruf vorstell­ten, der den Sinn der Stuttgarter und der Baseler Resolutionen in die Praxis umsetzte: "Verwandelt den imperialistischen Krieg in ei­nen Bürgerkrieg!". Sie waren die ersten, die die Notwendigkeit verstanden, nicht nur mit den sozialdemokratischen Chauvinisten, sondern auch mit den "Zentristen" wie Kautsky zu brechen, und eine neue Internationale aufzubauen, die frei von Opportunismus war, der die II. Internationale korrumpiert hatte, und deren unmittelbare Aufgabe es war, die sozialistische Revolution vorzubereiten.
1915, auf der Zimmerwalder Konferenz (5.-8. September), standen Lenin und die Bolsche­wisten an der Spitze der Linken, deren Antrag, der von Radek geschrieben und von Lenin berichtigt wurde, feststellte:
"Ohne Verbindung mit dem revolutionären Klassenkampf des Proletariats ist der Kampf für den Frieden nur eine pazifistische Phrase sentimentaler oder das Volk betrügender Bour­geois" (Lenin, Werke, Band 21, S. 379, "An  die Internationale Sozialistische Kommission“).
Dieser Antrag wurde ohne Prüfung abgelehnt, und schließlich schloss sich die Linke (8 von 38 Delegierten) dem von Trotzki ge­schriebenen Manifest an (Trotzki war der Initiator des "Zentrums", dem damals auch die beiden Delegierten des Spartakus angehörten). Wobei sie jedoch ernste Vorbehalte gegen­über diesem Manifes äußerte: "ein zaghaftes, inkonsequentes Manifest" (aus dem Artikel "Der erste Schritt" in "So­zialdemokrat“ vom 11. Oktober 1915). Um die eige­nen Positionen zu verteidigen, eröff­nete die Linke ein "Ständi­ges Büro der Zimmerwalder  Linken", das neben der "Kommis­sion der Sozialistischen Internationalen" existierte. Dieses Büro wurde hauptsächlich von den Bolschewiki angeregt.
1916, auf der Kienthaler  Konferenz (24. 4.), standen die Bolsche­wisten erneut an der Spitze der Linken, die ihr Position ge­stärkt hatte (12 von 43 Delegierten), hauptsächlich weil die Spartakisten zur Position der Linken gelangt waren, was die von ihr in Zimmerwald eingenommene Haltung bestätigte.
1917 wurde die Vorbereitung der Oktoberre­volution von Lenin direkt mit dem Kampf ge­gen den imperialistischen Krieg und für den proletarischen Internationalismus verknüpft:
"Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demo­kratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, an das Proletariat (...)
Die internationalen Pflichten der Arbei­terklasse Russlands treten gerade jetzt  mit besonderem Nachdruck in den Vordergrund.
Es gibt nur einen wirklichen Internatio­nalismus: die hingebungs­volle  Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein, in aus­nahmslos allen Ländern." (Aus "Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution", April 1917, Lenin, in: Gesammelte Werke,Bd.2, S. 60, 67, 68).
"Dem russischen Proletariat wurde die große Ehre zuteil, zu be­ginnen, es darf aber nicht vergessen, dass seine Bewegung und sei­ne Revolution nur ein Teil der internatio­nalen, revolutionären, proletarischen Bewe­gung sind, die, wie zum Beispiel in Deutsch­land, von Tag zu Tag stärker und stärker wird. Nur unter diesem Gesichtswinkel kön­nen wir unsere Aufgaben bestimmen." (Eröff­nungsrede zur 7. Gesamtrussischen Konferenz des SDAPR, April 1917).
Im März 1919 wurde die Kommunistische Inter­nationale in Mos­kau gegründet. Ihre Haupt­aufgabe wurde in dem Namen, den sie sich gegeben hatte, zusammengefasst: "Weltpartei der kommunistischen Revolution". Dies war der Höhepunkt der von den Bolsche­wisten seit Zimmerwald geleisteten Arbeit. Es war die bolschewis­tische Partei (die zur "Kommunis­tischen Partei Russlands" gewor­den war), die den Kongress einberief; es waren zwei Bolsche­wiki, Lenin und Trotzki, die die beiden Haupt­texte schrieben: "Thesen und Referat über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Pro­letariats" und das "Manifest". Und nicht nur weil die Revolution in Russland stattfand, zählten bereits zwei Mitglieder des Exekutivkomitees der Ko­mintern (Lenin und Sinowjew) zu den drei Mitgliedern des "Ständigen Büros der Zimmerwalder  Linken". Dies war schlicht ein Ausdruck des konsequenten und untadeligen Internationalismus, für den die Bolschewiki eingetreten wa­ren, bis das Rückfluss der revolutionären Welle sie in das Lager des Feindes riss. So also handel­ten die Bolschewiki inmitten der Erschütterungen des kapitalistischen Systems am An­fang des Jahrhunderts. Und dennoch gibt es immer noch Revolutionäre, die behaupten, es habe sich um eine bürgerli­che Strömung ge­handelt.  Untersuchen wir ihre Argumente.
1) Der "Substitutionismus" der Bolschewiki
"Das tragende Prinzip der Politik des Bolschewismus ist jakobinisch: Machtergreifung und Machtausübung der Organisation." ("Thesen über den Bolschewismus", These 21) "Als Führerbewegung der jakobinischen Diktatur hat der Bolschewismus in allen seinen Phasen konsequent den Gedanken der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse bekämpft und die Unterwerfung des Proletariats unter die bürokratisierte Organisation verlangt." (These 42
Ehe wir fortfahren und um mit einigen Legenden aufzuräumen, wollen wir Lenin zi­tieren:
 „Wir sind keine Utopisten. Wir wissen: Nicht je­der ungelernte Arbeiter und jede Köchin sind imstande, sofort an der Verwaltung des Staates mitzuwirken. Darin stimmen wir sowohl mit den Ka­detten als auch mit der Breschkowsjkaja  und mit Zereteli  überein. Wir unterscheiden uns jedoch von diesen Bürgern dadurch, dass wir den sofortigen Bruch mit dem Vorurteil verlangen, als ob nur Reiche oder aus reichen Familien stammende Beamte imstande wären, den Staat zu verwalten, gewohnheitsmäßige, tägliche Ver­waltungsarbeit zu leisten. Wir verlangen, dass die Ausbildung für die Staatsverwaltung von klassenbewussten  Arbeitern und Soldaten besorgt und dass sie unverzüglich  in Angriff genommen werden, d.h. dass unverzüglich begonnen werde, alle Werktätigen, die ganze arme Bevölkerung, in diese Ausbildung einzubeziehen."
"Selbstverständlich sind bei den ersten Schrit­ten dieses neuen Appa­rats Fehler nicht zu ver­meiden. Kann  es denn einen anderen Weg geben, um das Volk zu lehren, sich selbst  zu regieren, um Fehler zu überwinden, als den Weg der Praxis, als den sofortigen Über­gang zu einer wirk­lichen  Selbstverwaltung des Volkes? (...) Die Hauptsache ist, den Unterdrückten und Werk­tätigen Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ein­zuflößen, ihnen in der Praxis zu zeigen, dass sie selbst die richtige, aufs strengste gere­gelte, organisierte Ver­teilung des Brotes, aller Nahrungsmittel, der Milch, der Kleidung, der Wohnungen usw. im Interesse der Armen in die Hand nehmen können und müssen (...) Nimmt man hingegen gewissenhaft, kühn und allerorts die Übergabe des Verwaltungswesens in die Hände der Proletarier und Halbproletarier in Angriff, so wird das einem in der Geschichte beispiellosen revolutionären Enthusiasmus in den Massen wec­ken und die Kräfte des Volkes im Kampf gegen das Elend derart vervielfachen, dass vieles von dem, was unsere alten, bürokratischen Kräften unmöglich erscheint, sich als durch führ­bar erweisen wird für die Kräfte der Millionenmasse, die beginnt, für sich selbst zu arbeiten, die  nicht für den Kapitalisten, nicht für das Herrensöhnchen, nicht für den Bürokraten, nicht unter Zwang  arbeitet." (Lenin, Gesammelte Werke, Band II, S. 470) zitiert aus: "Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?")
Das sind die Worte Lenins, dem "Jakobiner"! "Aber", werden einige Leute sagen, "dies war vor der Oktoberrevolution. Diese Sprache war reine Demagogie und hatte keinen ande­ren Zweck, als das Vertrauen der Massen zu gewinnen, um die Macht anstelle der Massen zu übernehmen. Nachher war alles anders!"  Schauen wir, was Lenin-Robespierre nach der Oktoberrevolution sagte:
"Mag die korrupte bürgerliche Presse jeden Fehler, den unsere Revolution begeht, in die Welt hinausposaunen. Wir fürchten un­sere Fehler nicht. Mit Beginn der Revolution sind die Menschen nicht zu Heiligen gewor­den. Makel- und fehlerlos die Revolution zu Ende zu führen, das können die werktätigen Klassen nicht, die Jahrhunderte hindurch ausgebeutet, gewaltsam niedergehalten und in den Schraubstock der Not, der Unwissen­heit und der Verwilde­rung gepresst wurden (...) Auf  je hundert unserer Fehler, von denen die Bourgeoisie und ihre Speichellecker (unsere Menschewiki und die Rechtssozialrevolutio­näre darunter) in die Welt hinausschreien, kommen zehntausend Heldenakte, die um so größer und um so heldenhafter sind, da sie einfach und unscheinbar sind, sich im Alltag des Fabrikviertels oder des entlegenen Dorfes abspielen und von Menschen vollbracht werden, die nicht gewohnt sind (und auch keine Mög­lichkeit dazu haben), jeden ihrer Erfolge in die Welt hinauszutrompeten.
Aber wenn auch das Gegenteil der Fall wäre, (...) wenn  selbst auf hundert unserer richti­gen Schritte zehntausend Fehler entfielen, ja, auch dann noch wäre unsere Revolution groß und unbesiegbar; und sie wird auch vor der Weltgeschichte groß und unbesiegt dastehen, denn zum ersten Mal geschieht es, dass nicht die Mino­rität, nicht die Reichen und Gebildeten, sondern die wirklichen Volksmassen, die ungeheure Majorität der Werktätigen selbst, ein neues Leben aufbauen, selbst, aus eigener Erfahrung, über die schwierigsten Fragen sozialistischer Organisation entschei­den.
Ein jeder Fehler in dieser Arbeit, in dieser gewissenhaftesten und aufrichtigsten Mitwir­kung von zehn Millionen einfacher Arbeiter und Bauern an der Neugestaltung ihres ganzen Lebens -, ein jeder solcher Fehler wiegt Tau­sende und Millionen 'fehlerloser' Erfolge der ausbeutenden Minorität auf (...) denn nur an die­sen Fehlern werden die Arbeiter und die Bauern lernen, das  neue Leben aufzubauen, wer­den lernen, ohne die Kapitalisten auszukommen; nur so werden sie sich den Weg, durch tausend Hindernisse hindurch, zum siegreichen Sozialismus bahnen." (Le­nin, in: "Brief an die amerikanischen Arbeiter", 20. August 1918, in "Die Kommunistische Internationale", Nr. 31-32, S. 53).
Dies mag das übliche Bild Lenins als dem bösen Buben abschwächen, dem es allein darum ging, seine eigene diktatorische Macht aufrechtzuerhalten und "konsequent den Gedanken der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse zu bekämpfen". Man könnte Dutzende von anderen Texten aus den Jahren 1917, 19l8, 1919 zitieren, die die gleiche Idee ausdrücken. Allerdings trifft es zu, dass Lenin und die Bolschewiki der irrigen Auffassung waren, die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat bedeute die Machtergreifung durch seine Partei - ein Schema, das von der bürgerlichen Revolution stammte. Diese Auffassung wurde jedoch von allen Strömungen der II. Internati­onalen vertreten - den linken Flügel eingeschlossen. Gerade die Erfahrung der Revolution in Russ­land und ihrer Degeneration ermöglichte es, den grundlegenden Unterschied zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Revolu­tion zu begreifen. Zum Beispiel vertrat Rosa Luxemburg , de­ren Differenzen mit den Bolschewiki über die Organisationsfrage wohlbekannt sind, bis an ihr Lebensende im Januar 1919 die gleiche falsche Auffas­sung:
"Der Spartakus­bund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideu­tigen Willen der großen Mehrheit der prole­tarischen Masse." ("Was will der Sparta­kus­bund?", in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 450).
Muss man daraus schließen, dass auch Rosa Luxemburg eine "bür­gerliche Jakobinerin" war? Doch für welche Art von "bürgerlicher Revolu­tion" kämpfte sie und die Spartakisten im indus­trialisierten Deutschland von 1919? Vertrat sie vielleicht diese Position, weil sie selbst Führerin einer Partei gewesen war, nämlich der SDKP (Sozial­demokratie des Königreiches Polen), die ihre Aktivitäten in den polnischen und litauischen Provinzen des zaristischen Russlands ausübte, "wo allein eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung war"? So lächerlich dieses Argument sein mag, es ist nicht lächerlicher als jenes, das Lenin, der die meiste Zeit seines Lebens als Mili­tanter in Deutschland, der Schweiz, England und Frankreich (d.h. in den damals am weitesten entwickelten Ländern) verbracht hatte , als ein "reines Produkt der russischen Erde" und der bürgerlichen Revolution porträtiert, mit der dieses Land angeblich schwanger ging.
2) Die Agrarfrage
"Sie (die Bolschewiki, d.Red.) drückten in ihrer Agrarpraxis und ihren Bauernlosungen (Friede und Land) vollkommen das Interesse der um Sicherung von Kleinprivatbesitz, also auf kapitalistischer Linie kämpfenden Bauern aus und waren so in der Agrarfrage rückhaltlos Verfechter des kleinkapitalistischen, also nicht des sozialistisch-proletarischen Interesses gegen den feudalen und kapitalistischen Großgrundbesitz." (These 46).
Auch hier müssen wir einige Dinge gerade rücken. Wenn die Bolschewiki in dieser Frage Fehler begangen ha­ben, müssen wir ihre tatsächlichen Positionen kritisieren, so wie es Rosa Luxemburg in ihrer Schrift "Die Russische Revolution" getan hat, und nicht ihnen eine Position unterstellen, um die Richtigkeit eines Arguments zu beweisen. Dies stand in dem "Dekret über Grund und Boden", ein von Lenin eingebrachter Antrag, der auf dem 2. Gesamtrussischen Sowjetkongress genau am Tag des Oktoberaufstandes angenommen wurde:
„1. Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufge­hoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch ver­pfändet, noch auf irgendeine andere Weise ver­äußert werden.
Der gesamte Boden: die Staatsapanage-, Kabinetts-, Kloster-, Kirchenland usw. wird entschädigungslos enteignet, zum Gemein­eigentum des Volkes erklärt und allen, die ihn bear­beiten, zur Nutzung übergeben (...)
3. Lände­reien mit hoch entwickelten Wirtschaften: Gärten, Plantagen,  Pflanzschulen, Baumschulen, Gewächshäuser usw., unterliegen nicht der Auf­teilung, sondern werden in Musterwirtschaften umgewandelt und je nach ihrer Größe und Bedeu­tung dem Staat oder den Gemeinden zur aus­schließlichen Nutzung übergeben." (Gesammelte Werke, Band II, S. 536, Abschnitt über "Bäuerlicher Wählerauftrag zur Boden­frage")
Dies unterscheidet sich vollkommen von der Vertretung des "Kleinprivatbesitzes auf kapitalistischer Linie". Diese waren "für immer aufgehoben".
Die Verordnungen dieses Dekrets sind eine Konkretisierung des "Modell-Dekrets", das im August 1917 auf der Grundlage von 242 lokalen Bauernmandaten entworfen wurde. In seinem Bericht erklärt Lenin:
"Hier werden Stimmen laut, das  Dekret selbst und der Wählerauf­trag seien von den Sozialrevolutionären abgefasst worden. Sei's drum. Es ist einerlei, von wem sie abgefasst worden sind; als de­mokratische Regierung können wir einen Beschluss der Volksmas­sen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären. Wenn die Bauern das Dekret in der Pra­xis anwenden und an Ort und Stelle durch­führen, so werden sie in der lebendigen Wirk­lichkeit selbst erkennen, wo die Wahrheit liegt (...) Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird sich zeigen, wer recht hat; mögen die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem ei­nen Ende herangehen und wir von dem anderen." (ebenda, S. 537)
Die Position der Bolschewiki war eindeu­tig: Falls sie den Bauern Zugeständnisse machten, dann deshalb, weil sie ihr Pro­gramm nicht mit Zwangsmitteln durchsetzen wollten; doch sie gaben es damit nicht auf. Ferner hatten die Bauern in dem Augenblick, als das Dekret angenommen wurde, schon fast überall angefangen, das Land aufzuteilen. Was den Ruf "Das Land den Bauern" angeht, war es kein Produkt "skrupelloser Vertreter der klein­kapitalistischen Interessen", sondern ein Versuch, alle bürgerlichen und versöhnle­rischen Parteien zu entlarven, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die die Bauern mit dem Versprechen der Landre­form schlicht täuschen wollten, denn sie hatten weder die Absicht noch die Mittel, diese Reform durchzuführen. In dieser Hinsicht bestätigten diese Parteien nur das, was Lenin und die ganze marxistische Linke seit Jahren sagten: Die Bour­geoisie in den unterentwickelten Ländern war unfähig geworden, irgendeine "fortschrittliche" historische Aufgabe zu erfüllen, insbesondere die der Eliminierung der feudalen Struktu­ren und Gesetze und der Erzwingung von bäuerlichen Eigentum an Grund und Boden, so wie es die Bourgeoi­sie in den fortgeschrittenen Ländern zu Be­ginn des Kapitalismus gemacht hatte. Jedoch beging Lenin den Fehler, davon auszugehen, dass diese von der Bourgeoisie unvollendeten Aufga­ben vom Proletariat übernommen wer­den konnten. Die Bour­geoisie war unfähig geworden, diese Aufgaben zu erfüllen, weil diese Aufgaben historisch nicht mehr realisierbar waren; sie entsprachen nicht mehr einer Notwendigkeit, der Entwicklung der Produktivkräfte, und standen im Grunde in Widerspruch zu den neuen Auf­gaben, vor denen die Gesellschaft stand. Rosa Luxemburg betonte zurecht, dass die Aufteilung von Grund und Boden "vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialisti­schen Sinne unüberwindliche Schwie­rigkeiten auftürmte" (Ges.Werke, Bd. 4,S. 343).
Rosa Luxemburg rief zur "Nationalisie­rung des großen und mittleren Grundbesitzes und  zur Vereinigung von Industrie und Landwirt­schaft" auf. Statt die Bolschewiki als die "Vertreter von kleinkapitalistischen Interessen" anzuprangern, schrieb sie ganz richtig:
"Dass die Sowjetregierung in Russland diese gewaltigen Reformen nicht durchgeführt hat - wer kann ihr das zum Vorwurf machen? Es wäre ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft, mitten im reißenden Strudel der inneren und äuße­ren Kämpfe, von zahllosen Feinden und Wider­ständen ringsherum bedrängt, eine der schwie­rigsten, ja, wir können ruhig sagen, die schwierigste Aufgabe der sozialistischen Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten! Wir werden uns, einmal zur Macht gelangt, auch im Wes­ten und unter den günstigsten Bedingungen an dieser har­ten Nuss manchen Zahn ausbrechen, ehe wir nur aus den gröbsten der tau­send komplizier­ten Schwierigkeiten dieser Riesenaufgabe heraus sind." ("Zur Russischen Re­volution", in: Ges.Werke, Bd. 4, S. 343).
3) Die nationale Frage
"Der Appell des Bolschewismus an die internationale Arbeiterschaft war nur eine Seite einer großangelegten Politik der internationalen Stützung der russischen Revolution. Die andere Seite war die Politik und Propaganda der 'nationalen Selbstbestimmung' der Völker, in der der Klassenanschauung noch stärker als im Begriff der 'Volksrevolution' zu Gunsten eines allgemeinen Appells an alle Klassen bestimmter Völker aufgegeben wurde." ("Thesen über den Bolschewismus", These 46).
Es fällt schwer zu glauben, dass die russi­sche Sozialdemokratie (nicht nur die Bolschewiki) seit ihrer Gründung 1898 sich, der Führung der internationalen Sozialdemokratie folgend, den Schlachtruf vom "Recht auf nationale Selbstbestimmung" schlicht und einfach als eine Taktik zu eigen gemacht hat, um eine Revolution zu verteidigen, die erst 1917 stattfinden sollte, und dies in einem Land und auf eine Weise, das bzw. die niemand vorhergesehen hatte. Sollen wir glauben, dass Gorter und Pannekoek, die die Position Lenins in dieser Frage kritisierten, eine zukünftige Verteidigung der "bürgerlichen Revolution in Holland" vor Augen hatten, als sie eine Ausnahme in ihrer Analyse machten und zur Selbstbestimmung von Niederländisch-Indien aufriefen?
Was die Aufgabe von "Klassenperspektiven" angeht, sehen wir einmal nach, was Lenin inmitten seiner Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg zu dieser Frage meinte:
"Die Sozialdemokratie als Partei des Prole­tariats betrachtet es als ihre Hauptaufgabe, an der freien Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern der des Proletariats einer jeden Nationalität mitzuwirken. Wir haben stets das engste Bündnis des Proletariat aller Nationalitäten bedingungslos unterstützt und nur in besonderen, in Ausnahmefällen können wir Forderungen nach einem neuen Klassenstaat oder nach der Ersetzung einer umfassenden politischen Ein­heit des Staats durch eine lose föderative Union vortragen." (ISKR, Nrf. 44, Übersetzung von IKS)
Nach dieser notwendigen Richtigstellung - und es ist bemerkenswert, dass jene, die den Bolschewismus als bürgerlich denunzieren, meist noch weniger über ihn wissen als jene, die ihn buchstabengetreu verteidigen - ist festzustellen, dass das "Recht auf nationale Selbst­bestimmung" entschieden zurückgewiesen werden muss, wegen seines unrichtigen theoretischen Gehalts und erst recht weil die Erfahrung gezeigt hat, was dieser Schlachtruf in der Praxis bedeutet hat. Die IKS hat eine Reihe von Texten dieser Frage gewidmet (insbeson­dere die Broschüre "Nation oder Klasse"), sodass es nicht notwendig ist, hier erneut darauf einzugehen. Jedoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, welche Bedeutung dieser Schlachtruf für die Bolschewiki hatte, um den fundamentalen Unterschied zwischen einem Fehler und einem Verrat aufzuzeigen. Lenin und die Mehrheit der Bolschewiki, die von den Interessen der sozialistischen Weltrevolution ausgingen, glaubten, dass es möglich sei, die Position des "Rechts auf Selbstbestimmung" gegen den Kapitalismus zu verwenden. In dieser Hinsicht haben sie sich vollstän­dig getäuscht. Doch die Renegaten und Verräter aller Art, von den Sozialisten bis zu den Stalinisten, haben diese Position benutzt, um ihre konterrevolutionäre Politik zu vertreten, um den nationalen und inter­nationalen Kapitalismus zu bewahren und zu stärken. Hier liegt der Unterschied. Aber dieser Unterschied ist so schwerwiegend, dass er eine Klassengrenze ausmacht.
Es ist ganz natürlich, dass Renegaten und Verräter versuchen, sich zu tarnen, indem sie  diese oder jene fal­sche Aussage Lenins nutzen; doch sie enden bei Schlussfolgerungen, die dem revolutionären Geist völlig entgegengesetzt sind, von dem Lenins Handlungen sein ganzes Leben lang geleitet waren. Es ist jedoch geradezu dumm, wenn Revolutionäre auch noch dabei helfen, den Unterschied zwischen diesen Kanaillen und Le­nin zu verwischen, und behaupten, dass Lenin das Recht auf "Selbst­bestimmung" der Völker bis hin zur Loslö­sung von Russland gefordert hätte, um die nationalen Interessen der "bürgerlichen Revolution" zu verteidigen. Wenn wir sagen, dass die "Befreiung" der Kolonien, ihre formale "Unabhängigkeit"  mit den Interessen der Kolonialmächte nicht unvereinbar ist, so meinen wir damit, dass der Impe­rialismus sich sehr gut an diese formale Unabhängigkeit anpassen kann. Das heißt aber keineswegs, dass der Imperialismus diese Politik gutwillig oder gleichgültig verfolgt. All diese "Befreiun­gen" waren das Ergebnis interner Kämpfe, der Interessenkollisionen zwischen verschie­denen Bourgeoisien und der internationale In­trigen der antagonistischen imperialistischen Mächte gewesen. Stalin zeigte später auf blutige Weise, dass die Interessen Russlands nicht gerade der Unabhängigkeit der angrenzenden Länder entsprachen; im Gegenteil, diese Interessen verlangten die gewaltsame Einverleibung dieser Länder in das Großrussische Reich.
Erklären heißt nicht rechtfertigen. Aber jene, die, um eine falsche Position zu missbilligen, zwischen dem Recht der Völker auf Abspaltung und der gewaltsamen Einverleibung, die zwischen Lenin und Stalin eine Verbindung herstellen, verstehen überhaupt nichts und machen aus der Geschichte einen formlosen, faden Brei. Lenin sah im "Recht der Na­tionen auf Selbstbestimmung" vor allem eine Möglichkeit zur Verurteilung des Imperia­lismus - nicht so sehr des Imperialismus an­derer Länder als vielmehr den "seines" eigenen Landes, seiner eigenen Bourgeoisie. Dass die­se Position Lenins zu Widersprüchen führte, ist nicht zu leugnen, wie der folgende Ab­schnitt zeigt:
"Die Lage ist zweifellos sehr verwirrt, aber es gibt aus ihr einen Ausweg, bei dem alle Beteiligten Internationalisten blei­ben: die russischen und die deutschen So­zialdemokraten, indem sie die bedingungslo­se 'Freiheit der Lostrennung' Polens ver­langen, und die polnischen Sozialdemokraten, indem sie für die Einheit des proletarischen Kampfes in einem kleinen Lande und den großen Ländern kämpfen, ohne für die gege­bene Epoche oder die gegebene Periode die Losung der Unabhängigkeit Polens aufzustel­len." (Lenin: "Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung", in Gesammelte Werke, Bd. 22, S. 359).
Doch dieser Abschnitt hebt auch hervor, dass die Widersprüche, die "sehr verwirrte Lage", zu der ihn seine Analyse führte, zweifellos von einem kompromisslos inter­nationalistischen Bestreben ausgelöst wurde. Als Lenin diesen Text verfasste, war die Sozialdemokratie die wichtigste konterrevolutionäre Kraft. Er nannte sie "Sozial­imperialisten", "sozialistisch in Worten, imperialistisch in Taten." Ohne die Hilfe der Sozialdemokratie hätte der Kapitalismus die Arbeiter nie in das große Gemetzel des Weltkrieges führen können. Diese "Sozialisten" rechtfertigten den Krieg im Namen der nationalen Interessen, die die Arbeiter angeblich mit der Bourgeoisie gemeinsam hätten. Für sie bedeutete der imperialisti­sche Krieg die Verteidigung der Demokratie, der Freiheiten und Errungenschaften der Arbeiter, die von den bösar­tigen "ausländischen Imperialisten" bedroht seien. Diese Lügen und die falschen Sozialisten zu entlarven war die erste Pflicht, die unumgängliche Aufgabe eines jeden Revolutionärs. Für Lenin war das Recht der Völker auf Selbstbestimmung Teil dieser Aufgabe, nicht für die Interessen Russlands, sondern gegen die Beteiligung am imperialistischen Krieg. Was diese Losung zur Rechtfertigung der Beteiligung am imperialistischen Krieg anbelangte, so antwortete Lenin ziemlich deutlich:
"Wer sich jetzt auf Marx' Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx`s Worte 'die Arbeiter haben kein Vaterland' vergisst - diese Worte, die sich gerade auf die Epo­che der reaktionären, überlebten Bourgeoi­sie beziehen, auf die Epoche der sozialis­tischen Revolution -, der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche." (Lenin, "Sozialismus und Krieg", Gesammelte Werke, Bd. 21, S. 310).
4) Der "taktische" Internationalismus
"Ihr revolutionärer Internationalismus war jedoch ganz ebenso von ihrer Taktik im Kampf um die russische Revolution bestimmt, wie etwa später ihre Umstellung zur NEP-Politik in Russland selbst" (Thesen... Nr.50)
 "Die einzige wirkliche Gefahr, die der russischen Revolution drohte, war die Ge­fahr des Eingriffs der imperialistischen Mächte (...) Das Problem der aktiven Gegenwehr des Bolschewismus gegen den Weltimperialismus bestand also darin, den Angriff auf ihn in den Zentren seiner Macht selbst vorzutragen. Das geschah durch die doppel­seitige internationale Politik des Bolsche­wismus." (Nr. 51).
"Der Begriff der 'Weltrevolution' hat für die Bolschewiken also einen ganz anderen Klasseninhalt. Er hat nichts mehr mit dem Gedanken der internationalen proletari­schen Revolution gemein." (Nr. 54)
Das ist eine weitere gängige Legende über die Bolschewiki: da­nach war ihr Internationalismus nur "tak­tisch" und dazu bestimmt, erstens das Vertrauen der kriegsmüde gewordenen Volksmassen zu gewinnen und zweitens die Arbeiterbewegung der ganzen Welt einer Politik der Verteidigung des russischen kapitalistischen Staates zu unterwerfen.
Was das erste Argument angeht, verweisen wir die Leser auf die Stellungnahmen der Bolschewiki lange vor Kriegsausbruch, insbesondere auf den internationalen Kon­gressen 1907 und 1912. Ferner hatte der Kampf gegen den Krieg in der Konzeption der Bolschewiki nichts mit den Positionen der pazifistischen Bourgeoisie zu tun, die einige Sektoren der Arbeiterbewegung beein­flussten. Anstatt einen "demokratischen Frieden ohne Annexionen"  zu fordern, "dem Krieg den Krieg zu erklären", waren sie die ersten in der Arbeiterbewegung, die den wahrhaft revolutionären Schlachtruf "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bür­gerkrieg" vorbrachten und unnachgiebig jegliche Illusion des Pazifismus anprangerten. Falls ihre einzige Sorge gewesen wäre, "die Massen zu gewinnen, um die Macht zu übernehmen", warum haben sie es dann für notwendig gehalten, Schlachtrufe aufzugreifen, die sie von den Massen, die in der Idee des "Kämpfens bis zum Ende" gefangen waren - zunächst in der chauvinistischen Form und danach in der Gewand der "revolutionä­ren Verteidigung" - isolierten? Die Verleumder der Bolschewiki antworten: "Weil sie vorausgesehen hatten, dass sich die Massen, ermüdet vom Krieg und vom Unglück, das er mit sich brachte, ihnen letztlich zuwenden würden." Aber warum haben dann Plechanow, die Menschewiki, die So­zialrevolutio­näre, Kerenski - alle Fraktio­nen der Bourgeoisie, die ebenfalls die Macht ergreifen wollten - nicht ebenso zum "revolutionären Defä­tismus" aufgerufen, d.h. erklärt, dass es auch im Interesse der russischen Arbeiter sei, dass ihr Land den Krieg verliert? Die­se Strömungen hätten ebenfalls die "internationalistische" Karte spie­len müssen, da diese die einzige Trumpfkarte war, die nicht mit den Interessen des russischen Kapitals kollidierte. Immerhin hatten diese Leute doch angeblich dieselben elementaren Interessen wie die Bolschewiki. Ist der Unterschied zwischen den Bolschewiki und all den an­deren kein Klassenunterschied, sondern schlicht ein Unterschied in der Scharfsichtigkeit, der Intelligenz? Darauf läuft die Ana­lyse dieser professionellen Verräter hinaus. Doch wie konnte es dann sein, dass all die fortschrittlichen Elemente des Weltproletariats (die Spartakisten und die Gruppe "Arbeiterpolitk" in Deutschland, die Elemente, die sich in Frankreich um Loirot gruppierten, die Gruppe von Russel Williams oder die "Trade Unionisten" in England, MacLean in Schottland, die "Sozialistische Arbeiterpartei" in den USA, die Gruppe "De Tribune" in Holland, die sozialistische Linke oder die sozialistische Jugend in Schweden, die "Tesnjaki" - Engherzigen - in Bulgarien, das "Nationa­le Büro" und das "allgemeine Büro" in Po­len, die Linkssozialisten in der Schweiz, die Gruppe des "Karl-Marx-Klubs" in Öster­reich usw.), von denen die große Mehrheit an der Spitze der großen Klassen­kämpfe nach dem Krieg stand - wie konnte es aloso sein, dass all diese Elemente (die zu­künftigen "Rätekommunisten" einge­schlossen) gleiche oder ähnli­che Positionen wie die Bolschewiki in der Frage des Krie­ges vertraten? Warum haben all diese Ele­mente mit den Bolschewiki innerhalb der Zimmerwalder und der Kienthaler Linken zusammengearbeitet?
Im allgemeinen bestreiten die Rätekommunisten den proletarischen Cha­rakter dieser Strömungen nicht (dies mit gutem Grund). Warum aber behaupten sie, dass das, was die Bol­schewisten von den Men­schewisten unterschied, nur eine Frage der Intelligenz war, während der gleiche Gegen­satz zwischen den Spartakisten und der So­zialdemokratie eine Klassengrenze ausdrückte? Deutschland, ein viel älterer, weitaus mächtigerer und erprobter Kapitalismus als Russland, war nicht in der Lage, das zu tun, was seinem viel schwächeren Rivalen gelungen war: eine politische Strömung hervorzubringen, die geschickt genug war, schon 1907 und insbe­sondere 1914 internationalis­tische Losungen vorzustellen, die es ihr im rechten Augenblick ermöglichten, die Un­zufriedenheit der Massen zu ihrem Vorteil und zum Vorteil des nationalen Kapitals zu nutzen. Das ist die logische Schluss­folgerung der Idee des "taktischen" Inter­nationalismus. Und dieses Paradoxon ist noch größer, wenn man bedenkt, dass es diese bür­gerliche Partei war, die in Zimmerwald die korrekteste Position vertrat, während die pro­letarischen Spartakisten in den Konfusionen des "Zentrums" versanken. Und wenn die große Revolutionärin Rosa Luxemburg diese Konfusion in ihre Broschüre gegen den Krieg, die „Junius Broschüre", hineinschreibt:
"Ja, die Sozialdemokraten sind verpflich­tet, ihr Land in einer großen historischen Krise zu verteidigen. Und darin liegt gera­de eine schwere Schuld der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, dass sie in ih­rer Erklärung vom 4. August 1914 feierlich verkün­dete: 'Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich', ih­re Worte aber im gleichen Augenblick ver­leugnete (...) Denn die erste Pflicht gegen­über dem Vaterland in jener Stunde war, ihm den wahren Hintergrund dieses imperia­listischen Krieges zu zeigen, das Gewebe von patriotischen und diplomatischen Lügen zu zerreißen, womit dieser Anschlag auf das Vaterland umwoben war (...),dem imperialis­tischen(...) Programm des Krieges das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von l848, das Programm von Marx, Engels und Lassalle, die Losung der einigen großen deutschen Republik, entge­genzustellen" (Rosa Luxemburg, Ges.V., Bd. 4, S. 147)
... dann ist es wirklich überraschend, dass gerade der "bürgerliche" Lenin diese Feh­ler wie folgt kritisiert:
"Das Irrige seiner Ausführungen springt in die Augen (...) Er schlägt vor, dem impe­rialistischen Krieg ein nationales Programm 'entge­genzustellen'. Der fortschrittlichen Klasse schlägt er vor, sich der Vergangenheit und nicht der Zukunft zuzuwenden! (...) Jetzt ist für die führenden, größten Staa­ten Europas die objektive Lage eine ande­re (als 1793 und 1848 - IKS). Die Vorwärts­entwicklung - wenn man von möglichen, vor­übergehenden Rückschlägen absieht -, ist zu verwirklichen nur in der Richtung der sozialistischen Gesell­schaft, der sozialis­tischen Revolution." (Lenin, Ges. Werke, Bd. 22, S. 321, "Über die Junius-Broschüre")
Schließlich läuft die These des "taktischen" Internationalismus auf die Behauptung hi­naus, dass die Haltung gegenüber dem impe­rialistischen Krieg damals ein zweitrangiger Punkt des proletari­schen Programms ge­wesen sei, der sich ebenso im Programm einer bürgerlichen Partei hätte befinden können. Das ist vollkom­men falsch. In Wirk­lichkeit steht von 1914 an das Problem des Krieges im Mittelpunkt des Lebens des Kapi­talismus. In dieser Frage werden all seine Widersprüche aufgedeckt. Der Krieg be­wies, dass das System in die Phase seines histo­rischen Niedergangs eingetreten war, eine Fessel für die Entwicklung der Produktiv­kräfte geworden war, das ohne fortlaufende Holocausts, ohne wiederholte und immer katastrophalere Zerstörungen nicht überleben konnte. Wie immer auch die Interessensgegensätze zwischen den ver­schiedenen Tei­len der Bourgeoisie in einem Land aussehen mochten, der Krieg zwang all diese Fraktionen der Bourgeoisie dazu, sich für die Ver­teidigung des gemeinsamen Erbes zu mobilisieren: das nationale Kapital und seinen höchsten Repräsentanten, den Staat. Des­halb trat 1914 ein Phänomen in Erscheinung, das kurz zuvor noch undenkbar schien: der "Burgfrieden", der Parteien und Organisationen zusammenband, die sich jahrzehntelang bekämpft hatten. Und auch wenn während des Krieges weiterhin Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse aufkamen, so stellten sie nie die Notwendigkeit in Frage, soviel wie möglich vom im­perialistischen Kuchen zu ergreifen; sie gingen nur um die Frage, wie dies in Angriff genommen werden soll. So gab die bürgerli­che Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution die Macht übernommen hat­te, keine der Zielsetzungen auf, die in den diplomatischen Vereinbarungen zwischen dem zaristischen Russland und den  Ländern der Entente getroffen worden waren. Im Gegenteil, weil sie erkannte, dass das zaristische Regime den Krieg zusammen mit Frankreich und England nicht entschlossen genug führte, dass der Zar versucht war, seine Bündnisse aufzukündigen und zu einer Vereinbarung mit Deutschland zu kommen, half die Fraktion der Bourgeoisie, die die Provisorische Regierung dominierte, mit, Nikolaus II. loszuwerden. Wenn die Oktoberrevolution wirklich eine „bürgerliche“ Revolution gewesen wäre, mit dem Ziel, das nationale Kapital noch wirkungsvoller zu verteidigen, hätte sie  nicht unmittelbar den Frieden als notwendig erklärt, die Veröffentlichung der  diplomati­schen Geheimverträge durchgeführt  und auf alle darin enthaltenen Kriegsziele verzichtet. Sie hätte im Gegenteil sofort die not­wendigen Maßnahmen für eine wirkungsvollere Kriegsführung ergriffen. Wenn die bolsche­wistische Partei bürgerlich gewesen wäre, hätte sie nicht an der Spitze aller dama­ligen proletarischen Parteien gestanden, den imperialistischen Krieg angeprangert und die Arbeiter dazu aufgerufen, dem Krieg durch die sozialistische Revolution ein Ende zu setzen. Im imperialisti­schen Krieg ist der Internationalismus kein zweitrangiger Punkt für die Arbeiterbewegung . Im Gegenteil: er bildet die Klassengrenze zwischen dem proletarischen und dem bürgerlichen Lager. Und dies war nur die Veranschaulichung einer allgemeineren Wahrheit: Der Internationalismus gehört zur Arbeiterklasse. Sie ist die einzige Klasse in der Geschichte, die kein Eigentum besitzt und deren Herr­schaft über die Gesellschaft das Ende aller Eigen­tumsformen beinhaltet. Als solche ist sie die einzige Klasse, die über die territorialen Spaltungen (regional für den Adel, national für die Bourgeoisie) hinauszugehen fähig ist, die der geopolitische Ausdruck der Existenz von Privateigentum sind, der Rahmen, innerhalb dessen die herrschende Klasse ihr Eigentum schützt und verteidigt. Und wenn die Bildung von Nationen dem Sieg der Bourgeoisie über den Adel entsprach, so kann die Abschaffung der Nationen nur mit dem Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie zustande gebracht werden.
Dies führt uns zum zweiten Argument, das die Rätekommunisten vorbringen, um zu zeigen, dass der Internationalismus der Bolschewiki nur "taktisch" gewesen sei, dass er nur ein Schlachtruf war, der darauf abzielte, die Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt einer Politik der Verteidi­gung des russischen kapitalistischen Staates zu unterwerfen, und dass die Kommunistische Internationale seit ihrer Gründung schlicht und einfach ein Instru­ment der sowjetischen Diplomatie gewesen sei. Solch eine Auffassung wird auch von G.Sabatier, Mitglied der Gruppe "PIC" (Für eine kommu­nistische Intervention) in seiner Schrift "Der Vertrag von Brest-Litovsk 19l8: Rück­schlag der Revolution" vertreten. Für diesen Genossen (der immerhin nicht dem Menschewismus der Rätekommunisten bezüglich des "bürgerlichen" Charakters der Russischen Revolution anheimfällt) wurde die "III. Internationale (...) mit der un­mittelbaren Aufgabe der Verteidigung des russi­schen Staates in allen Ländern verbunden und als Unterstützung der traditio­nellen Diplomatie auf gefasst." (S.32)
Obwohl Sabatier zugibt, dass:  "... etliche Texte das Vordringen der interna­tionalen proletarischen Bewegung widerspie­geln, wie z.B. das von Trotzki verfasste Ma­nifest 'An die Proletarier der ganzen Welt'",  geht er davon aus, dass "der vom Kongress verbreitete Aufruf 'An die Arbeiter aller Länder' das bedeutendste Do­kument (...) hinsichtlich der tatsächlichen Rolle (war), die diese Organisation hinter einer Nebelwand von Glaubensbekenntnissen einnahm:  Die Arbeiter wurden zuallererst da­zu aufgerufen, den Kampf des von kapi­talistischen Staaten bedrohten proletari­schen Staates vorbehaltlos zu unter­stützen; und um dies zu tun, sollten die Arbeiter alle Mittel einsetzen, um Druck auf ihre Regierungen auszuüben, 'einschließlich, falls not­wendig, revo­lutionärer Mit­tel (sic!)'. Ferner betonte die­ser Aufruf die 'Dankbarkeit', die 'dem revo­lutionären russischen Proletariat und sei­ner führenden Partei, der kommunistischen Partei der Bolschewiki' geschuldet sei, und bereitete so den Boden für die 'Verteidigung der UdSSR', für den Kult des Parteistaates." (S.34)
Wenn man einen Hund totschlagen will, muss man nur sagen, dass er tollwütig ist! Es ist etwas kurios, zu denken, dass das "bedeutendstes Dokument" insichtlich der tatsächlichen Rolle der KI ein simples Memoran­dum war, das von Sadoul als Er­klä­rung der franzosischen Delegation auf dem Kongress eingereicht wurde; es ist verlogen, diesen Text als einen "vom Kongress lancierten Appell" darzustellen, weil er nicht einmal zur Billigung dem Kongress vorgelegen hat. Somit soll die KI in einem zweitrangigen Text als Hauptauf­gabe des Weltproletariats die Verteidigung des russischen Staates ausgegeben haben! Dabei vertraten die wesentlichen Texte des Kongresses (verfasst von Bolschewiki, wie das "Manifest" von Trotzki, die "Thesen über die bürgerliche Demokratie und die proletarische Diktatur" von Lenin, die "Plattform" von Bucharin und Albert, die "Resolution über die Position bezüglich sozialistischer Strömungen und der Berner Konferenz" von Sinowjew) folgende Positionen:
-       eine Anprangerung der sozialistischen Partei­en als Agenten der Bour­geoisie und die absolute Notwendigkeit des Bruchs mit ihnen;
-       die Anprangerung aller demokratischen und parlamentarischen Illusionen, die noch auf die Arbeiter einwirkten;
-       die Notwendigkeit der gewaltsamen Zerstö­rung des kapitalisti­schen Staates;
-       die Machtübernahme durch die Arbeiterräte auf Weltebene und die Einrichtung der Dik­tatur des Proletariats.
In keinem dieser Texte findet man die ge­ringste Spur eines Aufrufs zur "Verteidi­gung der UdSSR", nicht weil es ein Fehler gewe­sen wäre, die Arbeiter anderer Länder dazu auf­zurufen, der Hilfe ihrer Regierun­gen an die Weißen Armeen und deren direkte Beteiligung am Bürgerkrieg entgegenzutreten, sondern weil dies nganz simpel nicht die Hauptfunktion der KI, die sich als "das Instrument für die internationale Räterepublik" und als "die Internationale der offenen Massenaktion, der revolutionären Verwirklichung, die Internationale der Tat" ("Manifest") begriff. Vielleicht behauptet man jetzt, Sadoul sei von den Bolschewiki "fernge­steuert" oder "manipuliert“ worden, um den Proletariern ihre Pflicht der "Verteidi­gung der UdSSR" aufzuzeigen, während die Bolschewiki das Kommando übernahmen und eine "Nebelwand kommunistischer Glaubensbekenntnisse" schufen. Dies wäre ein weiterer Be­weis für die viel gepriesene Doppelrolle der Bol­schewiki. Doch wenn eine  solche Hypothese zutreffend gewesen wäre, so ist es immer noch notwendig zu erklären, warum die Bolschewiki solch eine Taktik benutzt haben sollten. Wenn das wahre Ziel hinter der Gründung der Internationalen gewesen wäre, die Arbeiter für die "Verteidigung der UdSSR" zu mobilisieren, wäre es da nicht der bessere Weg zur Erlangung dieses Ziels gewesen, die Losung in die offiziellen Texte der Kongresses einzufügen und all ihre Autorität (eine Autorität, die beachtlich war unter den Arbeitern der ganzen Welt) dafür zu verwenden. Ist es wirklich plausibel, dass solch eine Losung mehr Einfluss auf die proletarischen Massen ausgeübt haben, wo sie fast schon vertraulich in einem zweitrangigen Dokument auftauchte, noch dazu von einem Militanten präsentiert, der nicht sehr bekannt war und der nicht einmal ein offizieller Delegierter war (der Repräsentant von Zimmerwald war Guilbeaux)? Die Schlichtheit dieser Argumentation ist ein weiterer Beweis für die Unhaltbarkeit der These, dass die Kommunistische Internationale von Anfang an ein Instrument der russischen kapitalis­tischen Diplomatie war.
Nein, Genosse Sabatier! Nein, liebe Bolschewiki-Verleumder! Die KI war bei ihrer Gründung nicht bürgerlich, sie ist es erst geworden. Doch damit starb sie als eine Internatio­nale, weil es keine Internationale der Bourgeoisie geben kann. Niemals hat eine bürgerliche Revolution eine Internationale hervorgebracht: die "bürgerliche" Revolu­tion von 1917 wäre die einzige Ausnahme. Da die Rätekommunisten wie die Stalinisten die russische Revolution auf die gleiche Stufe wie die so genannte chinesische „Revolution“ von 1949 stellen (siehe die"Thesen über die chinesische Revolution" von Cajo Brendel), schulden sie uns eine Erklärung dafür, warum die chinesische Revolution keine neue Internationale hervorgebracht hat.
Und wenn die KI von Anfang an nichts anderes als eine kapitalistische Institution war, so muss erklärt werden, warum sich all die vitalen Kräfte des Weltproletariats in ihr versammelt haben, einschließlich jener Elemente, die später die Kommunistische Linke werden sollten? Wurde das Büro der KI in Westeuropa nicht von Pannekoek und seinen Freunden geleitet? Wie konnte ein bürgerlicher Organismus diese kommunistischen Fraktionen absondern, die inmitten der fürchterlichsten Konterrevolution in der Geschichte die einzigen waren, die die Verteidigung proletarischer Prinzipien fortsetzten? Sollen wir uns vorstellen, dass während der großen revolutionären Welle nach dem Krieg Millionen von im Kampf befindlichen Arbeitern sowie all die bewusstesten und auf­geklärtesten Militanten der Arbeiterbewe­gung ganz einfach an der falschen Tür geklopft haben, als sie sich der Kommunistischen Internationalen anschlos­sen? Der Rätekommunismus hat eine Anzwort auf diese Fragen:
5) Der "Machiavellismus" der Bolschewiki
"... haben die Bolschewiki auch Parolen in die Arbeiterschaft geschleudert wie z.B. die Räteparole. Ent­scheidend für ihre Taktik war lediglich der momentane Erfolg einer Parole, die durchaus nicht als prinzipielle Verpflich­tung der Partei gegenüber den Massen be­trachtet wurde, sondern als propagandisti­sches Mittel einer Politik, die die Macht­er­greifung der Organisation zum letzten Inhalt erhebt." (Thesen... Nr. 31)
"Die Aufrichtung des Sowjet-Staates war die Aufrichtung der Herr­schaft der Partei des bolschewistischen Machiavellismus." (Th.57).
Der Rätekommunismus hat sich die Idee des "Machiavellismus" der Bolschewiki und Lenins nicht selbst ausgedacht. Die Bourgeoisie hat sie 1917 in die Welt gesetzt. Erst danach stimmten die Rätekommunisten, gefolgt von den Anarchisten, in diesem Chor mit ein. Vorweg sei gesagt, dass solch ein Standpunkt die Geschichtsauffassung eines Polizisten verrät, die charakteristisch ist für ausbeutende Klassen, für die jegliche soziale Bewegungen schlicht das Werk von "Manipulationen" oder "Rädelsführern" sind. Diese Auffassung ist vom marxistischen Standpunkt aus (und die Rätekommunisten nennen sich selbst Marxisten) so absurd, dass wir uns auf einige Zitate und Tatsachen über die Handlungen der Bolschewiki beschränken werden, um zu zeigen, wie unzutreffend sie ist. Geschah es aus "Demagogie" oder "Machiavellismus", als Lenin im April 1917 erklärte:
"Glaubt nicht an Worte. Lasst euch nicht von Versprechungen ködern. Überschätzt eure Kräf­te nicht. Organisiert euch in jedem Betrieb, in jedem Regiment, in jeder Kompanie, in je­dem Häuser­block. Arbeitet täglich und stünd­lich an der Organisation, arbeitet daran sel­ber, dieser Arbeit darf man niemanden anderen anver­trauen (…) Das ist der grundlegende Inhalt aller Beschlüsse dieser Konferenz. Das ist die Hauptlehre aus dem ganzen Verlauf der Re­volution. Das ist die einzige Gewähr für den Erfolg.
Genossen Arbeiter ! Wir rufen euch zu schwe­rer, ernster, uner­müdlicher Arbeit auf, die das klassenbewusste, revolutionäre Proletariat aller Länder zusammenschweißt. Dieser und nur die­ser Weg ist der Ausweg aus der Sack­gasse, nur er führt zur Erlö­sung der Mensch­heit von den Schrecken des Krieges, von dem Joch des Kapitals." (Einleitung zu den Resolu­tionen der 7. Gesamt­russischen Konferenz der SDAPR/Aprilkonferenz, Lenin, Ges. Werke, Bd. II, S. 156)
"Es kommt nicht auf die Zahl an, sondern auf den richtigen Aus­druck der Ideen und der Po­litik des wirklich revolutionären Prole­tariats (...) Lieber zu zweit bleiben, wie Liebknecht, und das heißt beim revolutionären Proletariat blei­ben." (Die Aufgaben des Pro­letariats in unserer Revolution, Lenin Ges. Werke, Band II, S.75,77)
Die Bolschewiki sagten nicht nur, dass es notwendig sei, im Stande zu sein, sich in die Isolation zu begeben;  sie taten es auch jedes Mal, wenn die Arbeiterklasse auf dem Ter­rain der Bourgeoisie mobilisiert wurde.
Doch es geschah wohl aus reiner "Demagogie", dass sie sich zusammen mit dem Proletariat oder an der Spitze der Klasse wiederfanden, als diese zur Revolution schritt. All das war reine "Taktik"; seit 1903 haben sie jeden zu täuschen versucht:
-       das russische Proletariat, um an die Macht zu kommen;
-       das Weltproletariat, um es zur Verteidigung ihrer Macht auszu­nutzen;
-       die russischen Bauern, indem sie ihnen das Land gaben, um es ihnen später wieder besser wegzunehmen;
-       die nationalen Minderheiten;
-       die russische Bourgeoisie;
-       die Weltbourgeoisie.
Und in Wirklichkeit war ihr "Machiavellismus" so groß, dass ihnen sogar die Glanzleistung gelang, sich selbst zu täuschen... Pannekoek kam dahinter, als er schrieb: „Lenin ("natürlich ein Schüler Marxens") hat den wirklichen Marxismus nie gekannt.“ (Pannekoek, „Lenin als Philosoph“)
Die Entwicklung des Klassenbewusstseins
Wir haben die Verteidigung des proletarischen Charakters der Bolschewiki und der Oktoberrevolution nicht unternommen, um ihr Andenken in frommen Ehren zu halten. Wir taten dies, weil die Auffassung des bürgerlichen Charakters der Bolschewiki oder der Oktoberrevolution einen Bruch mit dem Marxismus bedeutet, dem unverzichtbaren theoretischen Instrument des Klassenkampfes, ohne dem ein Sieg des Prole­tariats über den Kapitalismus undenkbar ist. Wir haben bereits gesehen, wie die rätekommunistische oder gar die bordigistische Auffassung über die Oktoberrevolution von 1917 zu menschewistischen oder stalinistischen Verirrungen führt. Gleichfalls verhindert jede Auffassung der Bolschewiki als eine bürger­liche Partei das Verständnis des lebendigen Prozesses der Bewusst­seinsentwicklung des Proletariats. Die Revolutionäre haben die Aufgabe, diesen Prozess zu beschleunigen, zu vertiefen und zu verallgemeinern. Dafür müssen sie diesen Prozess aber so klar wie möglich ver­stehen.
An diejenigen, die die Oktoberrevolution als proletarisch, die bol­schewistische Partei jedoch als bürgerlich betrachten, oder die sagen, die beide bourgeois waren, dennoch nicht leugnen  können, was Anton Pannekoek einst sagte:
"Die russische Revolution bildete eine wichtige Episode in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Erstens, wie bereits erwähnt, durch die Entfaltung neuer Formen des politischen Streiks als eines Werkzeuges der Revolution. Und dann noch in höherem Maße durch das erstmalige Erscheinen neuer Formen der Selbstorganisierung der kämpfenden Arbeiter , die als Sowjets, d.h. Räte, bekannt geworden sind" (Pannekoek, „Die Arbeiterräte“, S. 98, Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit)...
... an all jene Leute richten wir diese Frage: Wie drückte sich in einem so bedeutungsvollen Ereignis für das Leben und den Kampf der Arbeiterklasse das Klassenbewusstsein aus? Ist es möglich, dass solch ein Ereignis nicht von irgendeiner Entwicklung des Klassenbewusstseins begleitet war? Dass  sich die proletarischen Massen in Bewegung gesetzt haben, ganz neue, unbe­kannte Kampf- und Organisationsformen hervorgebracht haben und gleichzeitig dem Gewicht der bürgerlichen Ideologie so wie zuvor unterworfen blieben? Die Frage allein zeigt schon die Absurdität einer solchen Vorstellung. Aber fand diese Bewusstseinsentwick­lung dann in aller Stille statt? In welchen Militanten, Zeitungen und Flugblättern hat es seinen Ausdruck gefunden? Geschah die Ausbreitung durch Gedan­kenübertragung oder durch bloße Addition von Millionen identischer individueller Erfahrungen? War es möglich, dass alle Mitglieder und Berei­che der Klasse sich auf eine homogene, gleichartige Weise entwickelten? Selbstverständlich nicht!  Aber ist es dann möglich, dass die fortgeschrittensten Elemente und Bereiche isoliert, atomisiert blieben, ohne zu versuchen, sich zusammenzu­schließen, um ihre Positionen zu vertiefen und aktiv im Kampf und im allgemeinen Prozess der Bewusstwerdung einzugreifen? Selbstverständlich nicht! Wel­che Organisation oder Organisationen (ab­gesehen von den Räten, die die ganze Klasse und nicht nur die am weitesten fortgeschrit­tenen Elemente zusammenfassten) drückten diesen Bewusstwerdungsprozess aus und halfen, das Bewusstsein zu erweitern und zu vertiefen?
Die bolschwistische Partei? Manche von jenen Leuten, die denken, dass sie eine bürgerliche Partei ist, meinen, dass diese Par­tei "selbst dann" oder auf "verzerrte Weise" die­ses Bewusstsein ausdrückte. Solch eine Analyse ist unhaltbar. Entweder ist diese Partei ein Ausfluss des Kapitalismus, oder sie ist ein Ausfluss der Arbeiterklasse oder irgendeiner anderen Klasse in der Gesellschaft. Doch falls sie wirklich aus dem Kapitalis­mus hervorgegangen ist (in welcher Form auch immer), könnte sie nicht gleichzeitig das Leben des Todfeindes des Kapitalismus (des Proletariates) widerspiegeln. Sie könn­te nicht die bewusstesten Elemente dieser Klasse zusammenschließen, sondern im Ge­gen­teil nur die am meisten mystifizierten Elemente.
Die anarchistische Strömung? Diese Strömung war sehr zersplittert und heterogen. Zwischen einem Kropotkin, der zum Kampf gegen die "preußische Barbarei" aufrief, und einem Volin, der  selbst während der schlimmsten Zeit  des II. Weltkrieges ein Internationalist blieb, besteht eine große Kluft. Unfähig, sich zu organisieren, zersplittert in seine individualistischen, syndikalistischen und kommunistischen Varianten und unge­achtet sei­ner großen Anhängerschaft hinkte der Anarchismus entweder den Ereignissen hinterher oder verfolgte bis 1917 die glei­che Politik wie die Bolschewiki. Wenn die bewusstesten Elemente der Klasse sich schon innerhalb der bolschewistischen Partei nicht zusammenschließen konn­ten, konnten sie es noch weniger in der anar­chistischen Strömung.
Die linken Sozialrevolutionäre? Auch hier dasselbe: das Beste, was diese Strömung geleistet hat, war, dass sie zusammen mit den Bolschewiki zusammen gekämpft ha: Sie kämpfte gegen die provisorische Regierung Kerenskis, beteiligte sich am Oktoberaufstand, verteidigte die Macht der Räte. Doch ansonsten betrachtete sie sich hauptsäch­lich als Vertreter der Kleinbauern. Nach 1917 kehrte diese Strömung schnell zu ihren Ursprüngen zurück: dem Terrorismus. Falls die Bolschewisten keine Militanten der Klasse waren, dann waren es die linken Sozialrevolutionäre noch weniger.
Sollen wir somit die bewusstesten Elemente in den Parteien suchen, die an der bürger­lichen provisorischen Regierung teilgenom­men hatten, bei den Sozialrevolutionären und den Menschewiki? Vielleicht halten die Rätekommunisten, die die Analysen der   Menschewiki übernommen haben, diese Partei für den besten Ausdruck des prole­tarischen Bewusstseins?
In Wirklichkeit sind die Rätekommunisten vollkommen unfähig, irgendeine dieser Fra­gen zu beantworten; die einzige Schlussfolgerung, die sie ziehen können, ist, dass:
-       entweder die Ereignisse von 1917 überhaupt kein Klassenbewusstsein hervorge­bracht oder ausgedrückt ha­ben,
-       oder dieses Bewusstsein vollkommen sprachlos, atomisiert und "individuell" blieb.
Aber dies sind nicht die einzigen Abwege, inn die die räte­kommunistische Auffassung führt. Wie wir gesehen haben, stützt sich ihre Analyse des "bürgerlichen" Wesens der bolschewistischen Partei darauf, dass die Bolschewiki in bestimmten Fragen bür­gerliche Positionen vertraten:
- in der Frage des Substitutionismus,
- in der  Agrarfrage,
-  in der nationalen Frage.
Obwohl der Rätekommunismus, wie wir gesehen haben, den Bolschewiki Positionen zuschreibt, die diese niemals vertreten haben (zumin­dest nicht bis 1917 und auch nicht in den er­sten Jahren der Revolution), obgleich sie zwischen diesen Positionen einen Zusammenhang sehen, die völlig gegensätzlich zu dem ist, was die Bolschewiki wirklich vertraten, ist es notwendig, die Irrtümer der Bolschewiki anzuerkennen und nicht zu verstecken, wie es die Bordigisten beispielsweise tun. Die Bolschewiki waren die ersten, die ihre Fehler zugaben, insofern sie sich ihrer bewusst wurden. Doch der Rätekom­munismus weigert sich gerade anzuerkennen, dass die­se Positionen Irrtümer waren: Aus seiner Sicht handelt es sich um die klare Verdeutlichung des "bürgerlichen Charakters" der bolschewistischen Partei.
Man bemerke die systematische Voreingenommenheit der Rätekommunisten: Wenn in einem bestimmten Punkt die Bolschewiki von einem proletarischen Standpunkt aus die korrekteste Position vertraten (Bruch mit der Sozialdemokratie, Zerstörung des kapitalistischen Staates, Macht der Ar­beiterräte, Internationalismus), dann ge­schah dies aus reinem "Zufall" oder aus "taktischen Gründen". Wenn sie jedoch eine Position vertraten, die weniger korrekt als die anderer revolutionärer Strömungen war (Agrarfra­ge, nationale Frage), dann ist dies ein Beweis ihres "bürgerlichen Charakters". Im Grunde wird man, wenn man den Kriterien der Rätekommunisten folgt, zur Schlussfolgerung verleitet, dass alle da­mali­gen proletarischen Parteien der Kapitalistenklasse angehörten.
Für die Rätekommunisten waren die III. Inter­nationale und die Parteien, die ihr angehörten, von Anfang an kapitalisti­sche Organe. Was muss man dann von der II. Internationalen halten? Vertrat sie in den angeführten Punkten richtigere Positionen als die III. Internationale und die Bolschewiki? Was war ihre Position z.B. in der nationalen Frage und insbesondere in der polnischen Frage, die im Mittelpunkt der Kontro­verse zwischen Lenin und Luxemburg stand? Die Antwort wird klar, wenn wir uns entsinnen, dass Lenin sich in dieser Debatte ge­rade auf die Reso­lutionen des Kongresses der Internationalen stützte, die Luxemburg so vehement bekämpfte. In der Frage der Machtübernahme durch das Proletariat ging die offizielle Position der Internationalen davon aus, dass dies die Aufgabe der Arbeiterpartei sei; in dieser Hinsicht haben we­der Lenin noch Rosa etwas Neues erfunden. Dagegen waren sich die sozialistischen Parteien alle nicht sehr klar über die Notwendigkeit, den kapitalistischen Staat zu zerstören. Wir könnten noch viele weitere Beispiele nennen, um zu zeigen, dass die unrichtigen Positionen der Bolschewiki lediglich ein Erbe von der II. Internationalen waren. Der Ana­lyse der Rätekommunisten zufolge war daher auch diese Internationale ein bürger­liches Organ: Arme Engels, Luxemburg, Liebknecht, Pannekoek und Gorter, die so viele Jahre ihres militanten Lebens in einer Institution verbrachten, die den Kapitalismus verteidigte! Darüber hinaus ist es schwer begreif­lich, warum die I. Interna­tionale mehr "Arbeiterklasse" ist als ihre Nachfolger. Möglicherweise verlieh ihr die Anwesen­heit der Positivis­ten, Proudhonisten und der Anhänger Mazzinis eine proletarische Aura, die ihren Nachfolgern so sehr fehl­te? Oder sollen wir bis zum Bund der Kommunisten zurückgehen, um eine wirklich proletari­sche Strömung zu finden? Einige Rätekommunisten vertreten tatsächlich diese Idee. Wir empfehlen ihnen, das Manifest von 1848 noch einmal zu lesen. Sie könnten schockiert darüber sein, dass Klasse und Partei miteinander identifiziert werden und dass das Programm der konkreten Maßnahmen, das vorgeschlagen wurde, eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Staatskapita­lismus hat. Letztendlich führt die rätekommunistische Auffassung zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass es nie eine or­ganisierte Arbeiterbewegung gegeben hat. Oder vielmehr, dass eine solche Bewegung erst mit ihnen begann. Und außerdem hat es niemals vor ihnen Revolutio­näre gegeben. Marx und En­gels? Sie waren nur bürgerliche Demo­kraten. Wie sonst ist die Position Engels in der Frage der Machteroberung durch das Parlament in einer Einleitung aus dem Jahre l895 zu den "Klassenkämpfen in Frankreich" zu verstehen oder die Rede von Marx zum glei­chen Thema auf dem Haager Kongress im Jahre 1872, sein Glückwunschtelegramm an Lincoln, die Haltung von Marx und Engels während der Revolution l848 , als sie sich vom Bund der Kommunisten entfernten und mit der "De­mokratischen Gesellschaft" einließen...?
Wie die bordigistische Analyse, für die es seit 1848 ein "invariantes", "unveränderbares" Programm gibt, ist die rätekommunistische Vorgehensweise vollkom­men ahistorisch, weil sie nicht einsehen will, dass das Bewusstsein und die politi­schen Positionen des Proletariats Erzeugnisse sei­ner historischen Erfahrung sind. Die Auffas­sung, dass jeder Fehler, jegliche bürgerliche Position innerhalb einer poli­tischen Organisation die Zugehörigkeit dieser Organisation zur Bour­geoisie bedeutet, beruht auf der absurden Idee, dass ein voll ausgeprägtes kommunistisches Bewusstsein auf Anhieb existieren kann. Dies ist für einen marxistischen Standpunkt völlig abwegig. Das Klassenbewusstsein ist das Ergebnis eines langen Reifeprozesses, in dem theoretische Reflexionen und Praxis eng miteinander verbunden sind und in dem die Arbeiterbe­wegung sich vorwärtstastet und -kämpft, sich selbst prüft:
"Proletarische Revolutionen kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grau­samgründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versu­che, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schreckend stets von neuem zu­rück vor der unbe­stimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation ge­schaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht..." (Marx "Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", MEW Bd. 8, S. 118).
Als Ausdruck der Verwirrungen einer kommu­nistischen Strömung während der schrecklich­sten Konterrevolution der Geschichte schei­nen die rätekommunistischen Auffassungen zu einem Refugium für skeptische Akademiker geworden zu sein (es ist kein Zufall, dass Rätekommunisten vom Schlage eines Paul Mattick, Cajo Brendel oder Maximilian Rubel mehr daran inte­ressiert sind, Bücher zu verfas­sen, Konfe­renzen abzuhalten und Marxologie zu betrei­ben, statt kommunistische Gruppen zu animieren). Daran ist nichts Unge­wöhnliches: Ist diese Art, Geschichte zu beurteilen, nicht geradezu typisch für jene Intellektuellen, die vom Elfenbeinturm herab und auf der Grundlage nachträglicher Kriterien, im Rückblick die Irrtümer und Unzulänglichkeiten des Proletariats und der Revolutionäre verurteilen, statt die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, um den zukünftigen Kampf zu stärken? Der Rätekommunismus "entdeckte" hinterher, dass die Oktoberrevolution und die bolschewistische Partei bürgerlich waren, indem sie Kriterien verwendeten, die  erst im Nachhinein etabliert wurden, und größtenteils dank der Erfahrung dieser "bürgerlichen" Oktoberrevolution.
Wir haben in diesem und anderen, in unserer INTERNATIONALEN REVUE veröffentlichten Artikeln (besonders "Die Degeneration der Russischen Revolution" in Nr. 3 - engl., franz., span. Ausgabe) gesehen, dass die Existenz eines kapitalistischen Re­gimes in der UdSSR keinesfalls aus dem rückständigen Zu­stand dieses Landes 1917 und auch nicht aus der von den Bolschewiki nach der Machtübernahme ausge­übten Politik abgeleitet werden kann, auch wenn diese beiden Faktoren die spezifische Form des Kapitalismus in der UdSSR sowie dessen ideologische Rechtfertigung beeinflusst haben. Wir haben weiterhin gesehen, dass die Degeneration und das Scheitern der Revolution nicht das Resultat eines Mangels an "objektiven materiellen Bedin­gungen" war; Letztere existierten, weil der Kapitalismus in seiner Gesamtheit in seine Niedergangsepoche eingetreten war. Vielmehr liegen die Ursa­chen für das Schei­tern der Revolution in der Un­reife der "subjektiven Bedingungen", d.h. im Bewusstseinsgrad des Proletariats. Soll das heißen, dass das Proletariat zu früh die Revolution in Russland in Gang gesetzt hat, dass die Bolschewiki einen Fehler ge­macht haben, als sie die Arbei­terklasse in diese Richtung drängten?
Nur akademische Philister und Reformisten können dies bejahen. Revolutionäre können diese Frage nur verneinen. Erstens, weil das einzige Kriterium für die Beurteilung des Bewusstseinsniveaus in der Klasse, ihre Fähigkeit, sich der Situation zu stellen, die Tat und Praxis der Klasse selbst ist. Und zweitens, weil dieses Bewusstseinsniveau nur in und durch die Handlung verändert werden kann, wie Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Bernstein schrieb:
"... lässt sich das 'verfrühte' Ergreifen der Staatsgewalt auch deshalb nicht vermeiden, weil diese 'verfrühten' Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und zwar sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft, dass sie eben auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mit herbeifüh­ren und mitbestimmen. Von diesem Standpunk­te erscheint der Begriff selbst einer ver­frühten Eroberung der politischen Macht durch das arbeitende Volk als ein politi­scher Widersinn, der von einer mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt." (Rosa Luxemburg, "Sozialreform oder Revolution", l899 , in Gesammelten Werken, Bd.l, S. 435).
Die einzige Möglichkeit, dass die "verfrüh­te" Machtergreifung durch das Proletariat 1917, seine Erfahrungen und Irrtümer (und damit auch jene der Boolschewiki) zu einem "wichtigen Faktor im endgültigen Sieg" der Arbeiter­klasse werden kön­nen, liegt in der schonungslosen Kritik dieser Erfahrungen und Fehler durch das Proletariat und die heutigen Revolutionäre. Eine der ersten, die dies noch vor den spä­teren Rätekommunisten tat, war Rosa Luxem­burg mit ihrer Schrift "Die Russischen Revolution". Doch dies heißt, dass wir uns ihre Haltung gegen alle bösen Zungen der Oktoberrevolution und den Bolschewiki zu eigen machen müssen:
"... und wir sollen es nie vergessen, wenn man uns mit den Ver­leumdungen gegen die russischen Bolschewiki kommt, darauf zu antworten: Wo habt Ihr das Abc Eurer heutigen Revolution gelernt? Von den Russen habt Ihr's geholt: die Arbeiter- und Soldatenräte." (Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD 1918/1919, in Ges. Werke, Bd. 4, S. 496.)
"Was eine Partei in ge­schichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, re­volutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleis­tet. Die ganze revolutionä­re Ehre und Aktionsfähig­keit, die der Sozialdemo­kratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki ver­treten. Ihr Oktober­aufstand war nicht nur eine tatsäch­liche Rettung für die rus­sische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus." (Die Russische Revolution", S. 341)
"In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzunh zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben: in Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden: es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem 'Bolschewismus'." (ebenda, S. 365)

 (Übersetzt aus der IINTERNATIONAL REVIEW, Nr.13, 1978)

[1] Siehe Internationale Revue Nr.5

[2] Alle Übersetzungen der Zitate aus Pro­gramme Communiste wurden von der IKS an­gefertigt.

[3]Thesen über den Bolschewismus- aus: Rätekorrespondenz, Nr.3, August 1954 .

 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir6/1981_rusrev2 [16]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [17]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [11]

Internationale Revue Nr. 7

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Die Arbeiteraristokratie - Eine soziologische Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse

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Es gibt einen Klassengegensatz innerhalb der Arbeiterklasse, einen Widerspruch zwischen den "am meisten Ausgebeuteten" und den "privilegierten" Schichten. Es gibt eine "Arbeiteraristokratie", die höhere Löhne erhält und unter besseren Bedingungen arbeitet; ein Sektor der Arbeiterklasse, der einen Anteil der Extra-Profite erhält, den "sein Imperialismus"  aus den Kolonien zieht. So gibt es also eine Schicht in der Arbeiterklasse, die eigentlich nicht der Arbeiterklasse angehört, sondern der Bourgeoisie: eine Schicht von "Bürger-Arbeitern.»

Dies sind die Hauptaussagen, die alle Theorien über die "Arbeiteraristokratie" gemeinsam haben. Es handelt sich um ein theoretisches Werkzeug, das es ermöglicht, die Linie zu verwischen, die die Arbeiterklasse vom globalen Kapitalismus trennt - in welchem Umfang auch immer man es für nötig hält.

Diese Theorie macht es möglich, ganze Teile der Arbeiterklasse (Arbeiter der höchst industrialisierten Länder z.B.) als "bürgerlich" zu verurteilen und bürgerliche Organisationen (die "linken" Parteien und die Gewerkschaften z.B.) als "Arbeiterklasse" zu definieren.

Der Ursprung dieser Theorie lässt sich auf die Analyse zurückführen, die Lenin im Ersten Weltkrieg entwickelt hatte und die von der Dritten Internationalen aufgegriffen worden war. Einige proletarische, politische Strömungen, die sich selbst den seltsamen Titel "leninistisch"  geben, klammern sich noch immer an diese theoretische Kuriosität, ohne damit etwas Genaues anfangen zu können, abgesehen davon, daß sie eine große Verwirrung über grundsätzliche Fragen des Klassenkampfes stiften. Auch die Stalinisten haben seit Jahrzehnten Gebrauch von dieser Theorie gemacht, indem sie das Prestige Lenins ins Feld führten, um ihre konterrevolutionäre Politik zu legitimieren.

Aber diese Theorie ist auch, in vielfältigen Formen, von Gruppen aufgegriffen worden, die - via Maoismus - aus dem Stalinismus kamen und mit vielen der schlimmsten Lügen des offiziellen Stalinismus (insbesondere mit dem Mythos der Existenz sozialistischer Staaten, sei es die UdSSR, China oder andere) gebrochen hatten.
Diese Gruppen, wie OPERAI E TEORIA in Italien, LE BOLCHEVIK in Frankreich (mittlerweile Groupe Ouvriere Internationaliste, die REVOLUTION MONDIAL veröffentlicht) und MARXIST WORKERS' COMITTEE in den USA, treten mit sehr radikalen Positionen gegen die Gewerkschaften und die linken Parteien auf. Auf diese Weise erlangten sie einen gewissen Einfluß unter einigen Gruppen von militanten Arbeitern. Doch für diese Strömungen, ehemalige "Drittwelt"-Aktivisten, beruht die Kritik an den Gewerkschaften und den linken Parteien auf die begeisterte Unterstützung einer Spaltung der Arbeiterklasse zwischen den "niedrigsten Schichten" - ihnen zufolge das wirkliche Proletariat - und der "Arbeiteraristokratie".

So formuliert OPERAI E TEORIA diese Theorie der Spaltung der Arbeiterklasse: "Wenn man weder das Vorhandensein einer internen Spaltung in den Reihen der produktiven Arbeiter, die Bedeutung des Kampfes gegen die Arbeiteraristokratie, noch die Notwendigkeit sieht, daß die Revolution auf einen Bruch, eine Loslösung der Interessen der untersten Schichten von der Arbeiteraristokratie hinarbeiten muß, hat man nicht nur ein Ereignis in der Geschichte der Arbeiterbewegung nicht verstanden, sondern läßt auch auch das Proletariat hinter der Bourgeoisie herlaufen - und das ist viel schlimmer." (OPERAI E TEORIA, Nr. 7, Okt./Nov. 80.) (1)

In diesem Artikel wollen wir uns nicht so sehr mit den theoretischen Widersprüchen der "leninistischen" Gruppen befassen. Unsere Absicht ist es, die theoretische Inkonsequenz und die politischen Gefahren der Theorie der Arbeiteraristokratie zu demonstrieren, so wie sie von etlichen maoistischen und ex-maoistischen Gruppen vertreten wird, die oftmals innerhalb der kämpferischsten Sektionen der Arbeiterklasse wirken. Wir wollen aufzeigen, daß:

-    diese Theorie auf einer soziologischen Untersuchung beruht, die den historischen Klassencharakter des Proletariats außer Acht läßt;
-    die Definition oder eher die Definitionen der "Arbeiteraristokratie" noch fehlerhafter und widersprüchlicher werden vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Spaltungen, die der  Kapitalismus innerhalb der Arbeiterklasse gesät hat;
-    die praktische Schlußfolgerung dieser Auffassung nur zu einer Spaltung der Arbeiter in ihren Kämpfen, zur Isolierung der "meist ausgebeuteten" Arbeiter vom Rest der Klasse führen kann;
-    diese Konzeptionen zu Konfusionen über den Charakter der Gewerkschaften und der linken Parteien führen - namentlich zur Konfusion, daß sie "bürgerliche Arbeiterorganisationen" sind (diese Zweideutigkeit bestand schon in der Kommunistischen Internationalen);
-    sie sich zu Unrecht auf Marx, Engels oder Lenin berufen. Auch wenn Letztere mehr oder weniger präzise über eine "Arbeiteraristokratie" oder über die "Verbürgerlichung" der englischen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert gesprochen haben, so unterstützten sie nie auch nur eine Theorie, die eine Spaltung der Arbeiterklasse für notwendig hält. Ganz im Gegenteil.

I. Eine soziologische Theorie

Man kann die Arbeiterklasse auf zweierlei Weise betrachten. Entweder man betrachtet sie, wie sie die meiste Zeit ist, das heißt, geknechtet, gespalten und in Millionen von Einzelindividuen atomisiert, die kein Verhältnis untereinander haben.

Oder man blickt auf die Arbeiterklasse von einem historischen Standpunkt aus. Man sieht sie als eine gesellschaftliche Klasse mit einer Geschichte von mehr als zwei Jahrhunderten des Kampfes und mit einer Zukunft als Impulsgeber der weitreichendsten Revolution in der Geschichte der Menschheit.

Die erste Vision ist die Vision des Unmittelbaren, die Sichtweise einer besiegten Klasse, während die zweite eine Vision des Klassenkampfes ist. Die zweite ist die marxistische Vision, die versteht, daß die Arbeiterklasse mehr ist, als was sie jetzt ist; das heißt vor allem, wie sie zu werden gezwungen ist. Der Marxismus ist keine soziologische Untersuchung eines besiegten Proletariats. Sein Ziel ist es, den proletarischen Klassenkampf zu begreifen, was etwas ganz anderes ist.

Die Theorie, daß es grundlegende Antagonismen innerhalb der Arbeiterklasse gibt, beruht auf einer Auffassung, die nur die unmittelbare Realität einer geschlagenen, atomisierten Arbeiterklasse berücksichtigt. Jeder, der die Geschichte der Arbeiterrevolutionen kennt, weiß, daß die höchsten Momente des proletarischen Kampfes nur durch die weitest mögliche Generalisierung der Arbeitereinheit erreicht werden konnten. Zu behaupten, daß die Einheit zwischen den am meisten Ausgebeuteten und den am wenigsten Ausgebeuteten unmöglich ist, bedeutet die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung zu verkennen. Die Geschichte zeigt, daß auf jeder wichtigen Stufe ihres Kampfes die Arbeiterklasse mit dem Problem konfrontiert ist, wie der größtmögliche Grad an Einheit erreicht werden kann.

Es gibt eine fundamentale Tendenz in der Entwicklung von den ersten Assoziationen von Handwerker-Arbeitern über die Gewerkschaften bis zu den Sowjets. Diese Tendenz ist das Streben nach einer immer größeren Einheit. Die Arbeiterräte, die  zum ersten Mal 1905 in Rußland von den Arbeitern spontan geschaffen wurden, sind die höchste Form der Einheitsorganisation, die vorstellbar ist. Da sie auf den Vollversammlungen der Arbeiter beruhen, ermöglichen sie der größtmöglichen Anzahl von Arbeitern, sich am Kampf zu beteiligen.

Diese Entwicklung spiegelt nicht nur eine Weiterentwicklung des Klassenbewußtseins, des Verständnisses der Notwendigkeit der Klasseneinheit wider. Die Entwicklung dieses Verständnisses ist selbst eine Widerspiegelung der weiterentwickelten materiellen Bedingungen, unter denen die Proletarier arbeiten und kämpfen.

Die Entwicklung der Manufakturindustrie zerstörte die Spezialisierungen, die vom feudalen Handwerker der Vergangenheit übernommen worden waren. Sie  führte die Uniformität des Proletariats herbei und wandelte die Arbeiterklasse in eine Ware um, die in der Lage ist, ebenso leicht Schuhe wie Kanonen herzustellen, ohne die Dienste eines Schusters oder Schmieds in Anspruch zu nehmen.

Ferner brachte die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung von gigantischen urbanen Industriezentren mit sich, wo Millionen von Arbeitern auf engstem Raum zusammengepfercht sind. In diesen Zentren nimmt der Kampf aufgrund der Geschwindigkeit, in der sich die Millionen von Menschen für eine einheitliche Handlung organisieren und koordonieren können, einen explosiven Charakter an.

"Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedrigeres Niveau herabdrückt."  (Kommunistisches Manifest, Bourgeois und Proletarier).

In den jüngsten Kämpfe in Polen, in denen die Arbeiter ihre Fähigkeit, sich zu vereinen und selbst zu organisieren, auf eine Weise demonstriert haben, die die Welt in Erstaunen versetzt hat, hat es kein Anzeichen für einen Kampf zwischen unqualifizierten und qualifizierten Arbeitern gegeben. Stattdessen erlebten wir eine Vereinigung aller Sektoren in den Massenversammlungen, im Kampf und für den Kampf.

Um aber solche "Wunder" zu verstehen, darf man seinen Blick nicht wie die Soziologen auf die unmittelbare Wirklichkeit der Arbeiterklasse fixieren, wenn diese nicht kämpft. Wenn das Proletariat nicht kämpft, wenn es der Bourgeoisie gelingt, die Löhne auf das absolute Existenzminimum zu reduzieren, dann ist die Arbeiterklasse in der Tat völlig gespalten.

Seit ihren Ursprüngen hat die Arbeiterklasse, die der letzten, aber auch der absolutesten Form der Ausbeutung, die die Geschichte je gekannt hat, ausgesetzt ist, auf die eine Weise existiert, wenn sie passiv und unterwürfig gegenüber der Bourgeoisie blieb, und auf eine völlig andere Weise, wenn sie sich gegen ihre Unterdrücker erhob.

Diese Trennung zwischen zwei Existenzformen (vereint und im Kampf oder gespalten und passiv) hat sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus nur weiter verschärft. Mit Ausnahme der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, als das Proletariat für einen gewissen Zeitraum in der Lage war, die Bourgeoisie zu zwingen, die Existenz von authentischen Gewerkschaften und Massenparteien zu akzeptieren, hat der Grad der Einheit, den die Arbeiterklasse in Zeiten des Kampfes erlangte, tendenziell stets zugenommen, aber ebenso die Spaltung und Atomisierung der Arbeiterklasse in Zeiten des "sozialen Friedens".

Dieselben Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse, die sie zu einem viel stärker vereinten Kampf zwingt, führt außerhalb von Kampfperioden zur Spaltung und Atomisierung der Arbeiterklasse in eine Masse von Einzelindividuen, wie wir sie heute kennen.

Die Konkurrenz unter den Arbeitern außerhalb von Kampfperioden ist ein Merkmal des Proletariats seit seinem Entstehen. Aber sie war weniger stark ausgeprägt im frühen Kapitalismus, als die Arbeiter "einem Handwerk nachgingen", als noch keine allgemeine Schulbildung bestand und als die Fertigkeiten eines jeden Arbeiters unverzichtbares "Handwerkszeug" waren. Der Weber konkurrierte nicht mit dem Schmied. Doch in dem Maße, wie "jeder alles produzieren kann", entsprechend dem Fortschritt in Industrie und Bildung, wird dies im Kapitalismus zunehmend durch eine Situation widergespiegelt, in der "jeder den Job des anderen übernehmen kann".

Angesichts des Problems, Arbeit zu finden,  weiß der Arbeiter im Industriekapitalismus, daß dies davon abhängt, wieviel Bewerber es für denselben Job gibt. Marx beschrieb diesen Prozeß folgendermaßen:

"Das Anwachsen des Produktivkapitals begreift in sich die Akkumulation und Konzentration der Kapitalien. Die Zentralisierung der Kapitalien hat eine größere Arbeitsteilung und eine größere Anwendung von Maschinen zur Folge. Die größere Teilung der Arbeit zerstört die besondere Geschicklichkeit des Arbeiters; und indem sie an die Stelle dieser besonderen Geschicklichkeit eine Arbeit setzt, die jedermann verrichten kann, vermehrt sie die Konkurrenz unter den Arbeitern." (Marx in "Rede über die Frage des Freihandels", MEW Band 4, S. 451)

Die Entwicklung der Industrie schafft also die materiellen Bedingungen für die Existenz einer vereinten und bewußten Menschheit, aber gleichzeitig erzeugt sie innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesetze, wo das Überleben des Arbeiters von seiner Fähigkeit abhängt, seine Arbeitskraft zu verkaufen, eine bislang ungekannte Konkurrenz.

Der Versuch, die Theorie des Klassenkampfes des Proletariats auf eine Momentaufnahme eines gespaltenen und geschlagenen Proletariats zu stützen, dabei die historischen Erfahrungen der vergangenen Kämpfe ignorierend, führt unvermeidlich zur Auffassung, daß die Einheit der Arbeiter nie möglich sein wird. Und je mehr man Zuflucht in eine unhistorische, auf das Unmittelbare fixierte Betrachtungsweise - unter dem Vorwand, man müsse "konkret sein", man müsse etwas machen, das unmittelbare Ergebnisse hat -  sucht, desto mehr wird ein jegliches Verständnis des Proletariats auf den Kopf gestellt.

Eine Auffassung, die die Möglichkeit der Einheit der Arbeiterklasse leugnet, ist letztendlich eine Theoretisierung der Niederlage des Proletariats, in Zeiten, in denen es nicht kämpft. Es ist eine bürgerliche Vision des Proletariats als ignorante, gespaltene, atomisierte und geschlagene Individuen. Es ist eine Züchtung der Soziologie.

Eine "ouvrieristische" Auffassung

Da diese Konzeption die Arbeiterklasse nicht als eine historische Kraft betrachtet, begreift sie die Arbeiterklasse als eine Summe von revolutionären Individuen. Der Ouvrierismus (etwa: Arbeitertümelei) basiert nicht auf der These vom revolutionären Charakter der Arbeiterklasse, sondern ist ein soziologischer Kult des individuellen Arbeiters. Durchdrungen von dieser Vision, messen politische Strömungen mit maoistischen Ursprüngen der sozialen Herkunft von Mitgliedern politischer Organisationen große Bedeutung zu. Das geht so weit, daß ein Großteil ihrer Mitglieder aus dem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Milieu - vor allem seit 1968 - ihr Studium auf gab, um Jobs in Fabriken anzunehmen (was nur dazu diente, den Arbeiterkult weiter zu verstärken).

So schrieb das Marxist Workers' Committee - eine Gruppe, die sich bis zu dem Punkt weiterentwickelt hat, daß sie heute davon ausgeht, daß es keine Arbeiterstaaten mehr gibt und daß Rußland seit 1924 (seit dem Tod Lenins) kapitalistisch ist - in einem Artikel der ersten Ausgabe MARXIST WORKER (Sommer 79) unter dem Titel "25 Jahre Kampf - Unsere Geschichte":

"Unsere Erfahrung in der alten revisionistischen Kommunistischen Partei der USA und in der American Workers' Communist Party (Maoist) hat uns zu der Schlußfolgerung geführt, daß die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus Recht hatten, als sie behaupteten, daß eine wirkliche Arbeiterpartei eine Kadergruppe von theoretisch fortgeschrittenen Arbeitern entwickeln muß, da nicht nur die Gesamtheit ihrer Mitglieder, sondern auch ihre Führung in erster Linie aus der Arbeiterklasse stammen muß."

Welche Auffassung von der Arbeiterklasse kann man wohl von einer bürgerlichen, stalinistischen Organisation "lernen"? Erinnern wir uns hier an zwei Beispiele aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die die Konsequenzen des ouvrieristischen Prinzips demonstrieren:

Erinnern wir uns zunächst des Kampfes des "Arbeiters" Tolain (französischer Delegierter auf den ersten Kongressen der Internationalen Arbeiterassoziation), der dagegen war, Marx als Delegierten zu akzeptieren. Tolain argumentierte gegen die Aufnahme von Marx auf der Grundlage des Prinzips, daß "die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann", denn Marx war kein Arbeiter. Nach einer Debatte wurde Tolains Antrag abgelehnt. Wenige Jahre später fand sich Tolain, der Arbeiter, auf der Seite der Versailler wieder, die gegen den Arbeiteraufstand kämpften,  der die Kommune von Paris errichtete.

Erinnern wir uns auch daran, wie es der deutschen Sozialdemokratie im November 1919 gelang, Rosa Luxemburg daran zu hindern, auf dem Kongreß der Arbeiterräte zu sprechen, weil sie keine Arbeiterin sei, und wie sie einige Wochen später auf Anordnung des Arbeiters Noske von den Freikorps  ermordet wurde, die auch den Aufstand im Januar 1919 in Berlin blutig niederschlugen. Nicht der einzelne Arbeiter ist revolutionär, sondern die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit.

Der Ouvrierismus versteht diesen Unterschied nicht, und deshalb begreift er weder den individuellen Arbeiter noch die Arbeiterklasse als Klasse.

II. Die Arbeiteraristokratie: eine unmögliche Definition

Es ist selbstverständlich, daß es innerhalb der Arbeiterschaft Lohnunterschiede, unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen gibt. Es ist ebenfalls eine Banalität zu sagen, daß je komfortabler die Lage für ein Individuum ist, Letzteres umso mehr darum bestrebt ist, diese Lage zu bewahren. Aber daraus auf die Existenz einer stabilen Schicht innerhalb des Proletariats zu schließen, deren Interessen jenen des Rests der Klasse entgegenstehen und sich den Interessen der Bourgeoisie angleichen, oder gar auf eine mechanische Verbindung zwischen der Ausbeutung und dem Bewußtsein sowie der Kampfbereitschaft zu schließen heißt, einen theoretischen Bocksprung voller Gefahren zu machen.

Im Frühkapitalismus, als ein Großteil der Arbeiter noch mehr oder weniger  Handwerker war - mit besonderen Fähigkeiten und mit ständischen Vorrechten -, war es zu bestimmten Zeitpunkten, d.h. in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität,  möglich, vielleicht noch Sektionen in der Arbeiterklasse mit besonderen Privilegien ausmachen.

So konnte Engels nebenbei in einem Brief von einer "Arbeiteraristokratie" von "Mechanikern, Zimmerleuten und Tischlern, Bauarbeitern" sprechen, die im 19. Jahrhundert weitestgehend organisiert waren und bestimmte Privilegien genossen, die aus der Wichtigkeit ihrer Qualifikationen und dem Monopol, das sie in diesen Qualifikationen verfügten, herrührten.

Aber angesichts der Entwicklung des Kapitalismus, einerseits mit der De-Qualifizierung der Arbeit und andererseits mit der Vervielfachung künstlicher Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse, den Versuch zu unternehmen, eine "Arbeiteraristokratie" im Sinne einer präzisen Schicht zu definieren, die über Privilegien verfügt, welche sie qualitativ von den anderen Arbeitern unterscheidet, ist eine völlig willkürliche Übung. Der Kapitalismus hat die Arbeiterklasse systematisch gespalten mit dem Ziel, Situationen zu schaffen, in denen die Interessen der einen Arbeiter den Interessen der anderen entgegengesetzt sind.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie die Entwicklung der Maschinen in Zeiten des sozialen Friedens durch die Zerstörung der spezialisierten Fertigkeiten des Arbeiters zur Entwicklung der Konkurrenz zwischen den Arbeitern geführt hat. Jedoch gibt sich der Kapitalismus nicht mit den Spaltungen zufrieden, die durch den Produktionsprozeß selbst erzeugt werden können. Wie alle ausbeutenden Klassen in der Geschichte kennt und wendet die Bourgeoisie das alte Prinzip "Teile und herrsche" an. Und sie tut dies so zynisch und methodisch, auf eine Weise, die beispiellos ist in der Geschichte.

Der Kapitalismus hat Nutzen aus den "natürlichen" Spaltungen des Geschlechts und des Alters gezogen, die er von den vergangenen Gesellschaften übernommen hatte. Obwohl die privilegierte Stellung des Mannes aufgrund seiner Körperkraft mit der Entwicklung der Industrie zunehmend verschwindet, hält das Kapital bewußt diese Spaltungen mit dem Ziel aufrecht, die Arbeitskraft zu spalten und niedrigere Löhne für Frauen, Kinder und Alte zu rechtfertigen.

Der Kapitalismus hat aus der Vergangenheit auch die rassischen oder geographischen Spaltungen übernommen. In seinen Ursprüngen ist das Kapital, damals noch hauptsächlich in Gestalt eines kommerziellen Kapitals, durch den Sklavenhandel reich geworden. In seiner höchstentwickelten Form greift das Kapital weiterhin auf die rassischen oder nationalen Unterschiede zurück, um einen ständigen Druck auf die Löhne auszuüben. Von der Behandlung der irischen Arbeiter in England im 18. und 19. Jahrhundert bis zu jener der türkischen oder jugoslawischen Arbeiter in der BRD 1980 - der Kapitalismus hat stets dieselbe Politik zur Spaltung der Arbeiterklasse verfolgt. Das Kapital weiß sehr gut, wie es von den Spaltungen zwischen den Stämmen in Afrika, den religiösen Differenzen in Ulster, den Kastenunterschieden in Indien oder den rassischen Unterschieden in den USA und in den wichtigen europäischen Mächten profitieren kann, die mit der Hilfe eines massiven Importes von Arbeitern aus Asien, Afrika und den weniger entwickelten Ländern Europas (Türkei, Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien. etc.) wiederaufgebaut worden waren.

Doch der Kapitalismus gibt sich nicht damit zufrieden, die sogenannten "natürlichen" Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten und zu fördern. Durch die Ausdehnung der Lohnarbeit und die "wissenschaftliche" Organisierung der Ausbeutung in der Fabrik (Taylorismus, Prämiensystem usw.) hat die Aufgabe der Spaltung der Arbeiterklasse den Status eines Berufs erlangt: Soziologen, Psychiater, Gewerkschaftssekretäre arbeiten Hand in Hand mit den Personalchefs zusammen, um "rentable" Methoden zur Organisierung der Produktion auszuarbeiten und um zu gewährleisten, daß das Gesetz des "Jeder für sich selbst" in den Fabriken und Büros herrscht, sodass jeder denkt, seine Interessen stünden im Gegensatz zu den Interessen eines jeden anderen.  Im Kapitalismus kommt der berühmte Satz "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" der Wirklichkeit am nächsten. Indem der Lohn von der Produktivität anderer abhängig gemacht wird, indem alle Arten von Lohngefälle für dieselbe Arbeit geschaffen werden (was nun durch den Gebrauch von Computern im Management an seine Grenzen stößt), schafft der Kapitalismus mehr Spaltungen in der ausgebeuteten Klasse denn je.

Unter diesen Umständen ist es fast unmöglich, nicht für jede Kategorie von Arbeitern eine andere Kategorie zu finden, die mehr oder weniger "privilegiert" ist.

Wenn man all die Privilegien berücksichtigt, die einem Arbeiter aufgrund seines Alters, seines Geschlechtes, seiner Rasse, seiner Erfahrung, der Art seiner Arbeit (Hand- oder Kopfarbeit), seiner Stellung in der Produktion, der Prämien, die er verdient, usw. gewährt werden, könnte man unendlich viele Definitionen einer "Arbeiteraristokratie" finden. Wenn man so verfährt, kommt man dem Verständnis des revolutionären Charakters der Arbeiterklasse nicht einen Schritt näher.

Folgt man der Logik ihrer "anti-arbeiteraristokratischen" Haltung, so beinhalten die Perlen der maoistischen Weisheiten über das Subjekt der Arbeiteraristokratie die Notwendigkeit, das "wahre Proletariat", die "am meisten Ausgebeuteten" zu organisieren. Diese Gruppen sind also dazu gezwungen, nicht nur eine adäquate Definition für die Arbeiteraristokratie zu finden, sondern auch eine entsprechende Definition für die "rein proletarischen" Schichten. Sie widmen einen Großteil ihrer "theoretischen" Arbeit hierfür, wobei sich die Ergebnisse je nach Gruppe, Tendenz, Land, Zeitraum usw., den/die sie betreffen, unterscheiden.

So seien beispielsweise in Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland die "Gastarbeiter" die wirklichen Proletarier und die weißen Arbeiter die Aristokratie. In den USA könnte die gesamte Arbeiterklasse dieser Logik zufolge als "verbürgerlicht" angesehen werden (der Lebensstandard eines schwarzen Arbeiters in den USA kann bis zu 100 mal höher sein als der eines Arbeiters in Indien), aber derselben Logik zufolge kann man auch folgern, daß nur die weißen Arbeiter zur Aristokratie gehören. Von der einen Seite aus betrachtet, sind schwarze amerikanische Arbeiter Aristokraten, aber von der anderen Seite aus gesehen, sind sie "am meisten ausgebeutet". Für OPERAI E TEORIA setzt sich die "wirkliche Arbeiterklasse" aus Arbeitern zusammen, die am Fließband arbeiten. Einige Gruppen jedoch klassifizieren die Industriearbeiter der unterentwickelten Länder als "Aristokraten", weil ihr Lebensstandard wesentlich höher ist als der der arbeitslosen Massen, die in den Elendsvierteln am Rande der Großstädte hausen.

Die Definitionen dieser berühmten "Aristokratie" können somit von einer Gruppe zur anderen ganz unterschiedlich sein und mal 100 Prozent der Arbeiter, mal 50 oder 20 Prozent umfassen, je nach Laune  der Theoretiker.

III. Eine Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse

Zusammen mit ihren Versuchen, ihre vielen soziologischen Definitionen von Schichten innerhalb des Proletariats auszutüfteln oder zu klären, bezweckt die Intervention dieser Organisationen gegenüber der Arbeiterklasse mehr oder weniger, die Arbeiter zu spalten - wie sie selbst zugeben.

Dies stützt sich auf die Bildung von Organisationen, die nur jene Arbeiter sammelt, von denen sie glauben sicher zu sein, daß sie nicht der "Arbeiteraristokratie" angehören: Organisationen schwarzer Arbeiter oder von Fließbandarbeitern, von Arbeitsimmigranten usw.

Dies beispielsweise ist der Ursprung einer besonderen Form des Rassismus, die sich in einigen Gruppen innerhalb der Immigranten-Communities in den höchst industrialisierten Ländern Europas ausgebreitet hat und die den herkömmlichen Rassismus gegen die Weißen durch einen "marxistisch-leninistischen" Rassismus gegen die weiße Arbeiteraristokratie ersetzt hat. In den weniger industrialisierten Ländern, die Exporteure von Arbeitskräften sind, machen sich die Befürworter dieser Theorie daran, Feindseligkeiten unter den weniger qualifizierten Arbeitern gegenüber den qualifizierten Arbeitern zu schüren.

Innerhalb dieser Organisationen wird eine Feindschaft gegenüber der "Arbeiteraristokratie" kultiviert, die bald schon als Sündenbock für all das Mißgeschick herhalten muß, das die am "meisten Ausgebeuteten" ereilt.

Im besten Fall gibt man vor, daß die eigene Einheit der am meisten ausgebeuteten Sektoren der Klasse als ein Beispiel dient und eine Stimulanz für eine breitere Vereinigung der Klasse ist. Aber damit verkennt man völlig, wie die Klasseneinheit eigentlich herbeigeführt wird.

Das lebendige Beispiel von Polen 1980 verdeutlicht dies ganz klar. Die Klasseneinheit der Arbeiter ist nicht der Kulminationspunkt einer Reihe von Teilvereinigungen, einer der anderen folgend, Sektor für Sektor, nach Jahren systematischer Vorarbeit. Im wirklichen Leben findet diese Vereinigung auf explosive Weise, in ein paar Tagen oder Wochen statt. Der Ausbruch des Klassenkampfes und seine Generalisierung sind das Produkt vieler unterschiedlicher, unvorhersehbarer Faktoren.

Doch Polen hat übrigens nur einmal mehr bestätigt, was all die Explosionen des Klassenkampfes seit den Kämpfen 1905 in Rußland gezeigt hatten. Seit 75 Jahren hat es keine Klasseneinheit der Arbeiter gegeben, außer im und für den Kampf. Aber wenn die Arbeiterklasse sich vereint, tut sie dies mit einem Male und im größtmöglichen Maßstab. Seit 75 Jahren erblickt man, wenn Arbeiter auf ihrem Klassenterrain kämpfen, nicht einen Kampf zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil eine Tendenz zu einer immer größeren Einheit. Das Proletariat ist die erste Klasse in der Geschichte, die nicht durch reale wirtschaftliche Antagonismen in sich selbst gespalten ist. Im Gegensatz zu den Bauern und Handwerkern besitzt das Proletariat seine Produktionsmittel nicht. Es besitzt nur seine Arbeitskraft, und diese zeichnet sich durch ihren kollektiven Charakter aus.

Die einzige Waffe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist seine schiere Anzahl. Doch Zahlen ohne Einheit sind nichts. Die Erlangung dieser Einheit ist der fundamentale Kampf des Proletariats, um seine Macht zu bekräftigen. Es ist kein Zufall, daß die Bourgeoisie dies mit allen Kräften zu verhindern versucht.

Es bedeutet, die Welt auf den Kopf zu stellen, wenn man wie OPERAI E TEORIA behauptet, die Idee von der Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse sei bürgerlich:

"Heute git es keine Stimme in der Bourgeoisie, die diese Spaltung unterstützt (zwischen den untersten Schichten und der 'Aristokratie'), im Gegenteil, es gibt einen Tenor in der bürgerlichen Propaganda, der für  die Notwendigkeit von Opfern argumentiert, 'weil wir alle im gleichen Boot sitzen'." (OPERAIO E TEORIA, Nr. 7, S. 10).

Die Bourgeoisie aller Länder spricht nicht von der Einheit der Arbeiterklasse, sondern von der nationalen Einheit. Was sie sagt, ist nicht: "Alle Arbeiter sitzen im gleichen Boot", sondern: "Die Arbeiter sitzen im gleichen Boot wie die Bourgeoisie". Und das ist überhaupt nicht dasselbe. Doch dies ist für jene schwer zu begreifen, die ihren Marxismus von Nationalisten wie Mao, Stalin und Ho Tschi Minh "gelernt" haben. Gegen all diese stalinistischen Verdrehungen können die Kommunisten nur die Lehren aus den praktischen Erfahrungen des Proletariats bekräftigen. Wie schon das Kommunistische Manifest 1848 befürwortete: "Die Kommunisten (heben) (...) die gemeinsamen (...) Interessen des gesamten Proletariats hervor und bringen sie zur Geltung."

IV. Eine zweideutige Auffassung von Parteien und Gewerkschaften

Wie konnte eine solche Auffassung auch nur das geringste Echo in der Arbeiterklasse haben?

Wahrscheinlich liegt der Hauptgrund, warum diese Auffassung auf so viel Gehör bei einigen Arbeitern trifft, ohne Gelächter oder Verärgerung zu erzeugen, darin, daß sie eine Erklärung dafür zu geben scheint, warum und wie die sogenannten "Arbeiter"-Gewerkschaften ihre widerwärtige Sabotage gegen den Klassenkampf ausführen.

Dieser Theorie zufolge sind die Gewerkschaften sowie die linken Parteien der Ausdruck der materiellen Interessen bestimmter Schichten des Proletariats, d.h. der privilegiertesten Schichten. In Zeiten des "sozialen Friedens" mag diese Theorie einigen Arbeitern, die Opfer des Rassismus weißer Arbeiter oder der Geringschätzun durch höher qualifizierter Arbeiter sind, oder angewidert von der Art und Weise sind, wie die linken Parteien und Gewerkschaften im Management des Kapitalismus involviert sind, einerseits als kohärente Erklärung dieser Phänomene erscheinen und andererseits eine unmittelbare Handlungsperspektive bieten: sich von den "Aristokraten" getrennt zu organisieren. Leider ist diese Auffassung theoretisch falsch und politisch gefährlich.

Hier ein Beispiel, wie LE BOLCHEVIK in Frankreich diese Idee formuliert:

"Die Kommunistische Partei (Frankreichs) ist keine Arbeiterpartei. Durch ihre Zusammensetzung, größtenteils intellektuellen und kleinbürgerlich, und vor allem durch ihre reformistische, ultrachauvinistische politische Linie ist die KP von Marchais und Seguys  eine bürgerliche Partei.

Sie ist nicht der politische und ideologische Repräsentant der Arbeiterklasse. Sie repräsentiert die oberen Schichten des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie." (LE BOLCHEVIK, Nr. 112, Feb. 1980).

Anders ausgedrückt: die Interessen eines Teils der Arbeiterklasse, der "Arbeiteraristokratie", sind die gleichen wie die der Bourgeoisie, da die Partei, die sie vertritt, "bürgerlich" ist. Diese Identität der politischen Linie zwischen den Parteien der Arbeiteraristokratie und der Bourgeoisie beruhe auf einer ökonomischen Basis: Die "Aristokratie" erhalte ein paar Krümel aus den Extra-Profiten,  die das nationale Kapital aus den Kolonien und Halbkolonien herausgepreßt hat.

Lenin vertrat eine ähnliche Theorie, um den Verrat der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg zu erklären:

"Der Opportunismus (so nennt Lenin die reformistischen Tendenzen, die die Arbeiterorganisationen beherrschten und am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, d. IKS) wurde im Laufe von Jahrzehnten durch die Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus hervorgebracht, in der die verhältnismäßig friedliche und zivilisierte Existenz einer Schicht privilegierter Arbeiter diese 'verbürgerlichte', ihnen Brocken von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals zukommen ließ und sie von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriß (...) Die ökonomische Grundlage des Chauvinismus und des Opportunismus in der Arbeiterbewegung (ist) ein und dieselbe: das Bündnis der zahlenmäßig geringen Oberschichten des Proletariats und des Kleinbürgertums, für die Brocken von den Privilegien 'ihres' nationalen Kapitals abfallen, gegen die Masse der Proletarier, die Masse der Werktätigen und Unterdrückten überhaupt." (Lenin, "Der Zusammenbruch der II. Internationale", Werke, Bd. 21, S. 238 und 240).

Eine Kritik an Lenins Erklärung für den Verrat der Zweiten Internationalen

Bevor wir auf die Theorie seiner Epigonen eingehen, wollen wir kurz innehalten und einen Blick auf die Auffassung werfen, die von Lenin entwickelt wurde, um den neuen Klassencharakter der sozialdemokratischen Arbeiterparteien nach ihrem Verrat an das proletarische Lager zu erklären.

Die Geschichte stellte den Revolutionären folgende Frage: Jahrzehntelang hatte die europäische Sozialdemokratie, die von Marx, Engels und anderen gegründet worden war und die aus einem erbitterten und langwierigen Kampf hervorgegangen war, ein wirkliches Instrument zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse gebildet. Doch nun hatte sich eigentlich die gesamte sozialdemokratische Bewegung, einschließlich sowohl der Massenparteien als auch der Gewerkschaften, mit der nationalen Bourgeoisie ihres jeweiligen Landes gegen die Arbeiter anderer Länder verbündet. Wie konnte man den Klassencharakter dieses monströsen Produktes der Geschichte definieren?
Um einen Eindruck des Schocks zu vermitteln, den dieser Verrat unter der ganz kleinen Minderheit hervorgerufen hatte, die noch immer auf internationale, revolutionäre Positionen beharrte, können wir zum Beispiel Lenins Überraschung in Erinnerung rufen, als er die Ausgabe des VORWÄRTS (Publikation der deutschen Sozialdemokratischen Partei) las, die die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten verkündete. Er dachte, daß dies eine Fälschung sei, die lanciert wurde, um der Kriegspropaganda Schützenhilfe zu leisten. Wir können auch an die Schwierigkeiten der deutschen Spartakisten, angeführt von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, erinnern, um endlich die Nabelschnur zu durchschneiden, die sie organisch mit der "Mutterorganisation" verband.

Als der Krieg ausbrach, war die Politik der Sozialdemokratie ganz offen bürgerlich, aber die Mehrheit ihrer Mitglieder sowohl in der Partei als auch in den Gewerkschaften setzte sich noch aus Arbeitern zusammen. Wie war solch ein Widerspruch zu erklären?

Die Sozialdemokraten, nun Patrioten, sagten: "Hier ist der Beweis dafür, daß der Internationalismus keine wirkliche Arbeiteridee ist." In seiner Ablehnung dieser Analyse antwortete Lenin, derselben Logik folgend, daß nicht alle Arbeiter den Internationalismus abgelehnt hätten, sondern nur eine "privilegierte Minderheit", die sich "von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriß". Lenins Anliegen war völlig richtig: Der Hinweis auf die Tatsache, daß das europäische Proletariat es zugelassen hatte, sich in den imperialistischen Krieg ziehen zu lassen, bedeutete nicht, daß Kriege dieser Art den Interessen der Arbeiterklasse in den verschiedenen betroffenen Ländern entsprachen. Jedoch waren die Argumente, die er benutzte, falsch, was von der Realität bestätigt wurde. Lenin sagte, daß die "patriotischen" Arbeiter gemeinsame Interessen mit "ihrem" nationalen Kapital hatten, die eine "Arbeiteraristokratie" bestach, indem es ihnen "ein paar Krümel des Profits" hinwarf.

Wie groß ist dieser korrumpierte Sektor der Arbeiterklasse? "Ein verschwindender Teil", sagt Lenin in "Der Krieg und die Zweite Internationale"; "die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie", sagt er im Vorwort zu "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus".

Doch in Wirklichkeit zeigte sich:

1. daß nicht eine "verschwindende" Minderheit des Proletariats von der Expansion des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts profitierte, sondern alle Industriearbeiter. Die Abschaffung der Kinderarbeit, die Beschränkung der weiblichen Erwerbstätigkeit, die Verkürzung des Arbeitstages auf zehn Stunden, die Schaffung von Schulen und öffentlichen Krankenhäusern, etc. - von all diesen Maßnahmen, die der Arbeiterkampf dem Kapitalismus in Zeiten einer rapiden Expansion abgerungen hatte, profitierten vor allem die "niedrigsten", am meisten ausgebeuteten Schichten der Arbeiterklasse;

2. daß Lenins Sichtweise einer verschwindenden Minderheit von korrupten Arbeitern, isoliert inmitten einer gigantischen Massen von leidenden Arbeitern, die von "revolutionären Stimmungen" ergriffen waren, am Vorabend des I. Weltkriegs reine Einbildung war. Nahezu alle Arbeiter in den Ländern der Hauptmächte - arme oder reiche, qualifizierte wie ungelernte, gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche - folgten dem Ruf zu den Waffen und wollten den "Feind" besiegen und massakrieren, um "ihre" nationalen Herren zu verteidigen;

3. daß die "ökonomische Grundlage" für die "Brocken aus dem Profit", die von den imperialistischen Mächten unter ihre qualifizierten Arbeitern verteilt wurden, keinen Sinn ergibt. In erster Linie weil es, wie wir gesehen haben, nicht eine winzige Minderheit war, deren Bedingungen sich in den Zeiten der kapitalistischen Expansion verbessert hatten, sondern alle Arbeiter in den Industrieländern. Zweitens, weil die Kapitalisten ihre Profite wie auch ihre Extraprofite erklärtermaßen nicht mit jenen teilen, die sie dafür ausbeuten.

Die Lohnzuwächse und die weitestgehend verbesserten Lebensbedingungen der Arbeiter in den Industrieländern waren nicht das Resultat der Großzügigkeit der Kapitalisten, die bereitwillig ihre Profite teilen, sondern des erfolgreichen Drucks, den die Arbeiter damals auf ihren nationalen Kapitalismus auszuüben in der Lage waren. Der wirtschaftliche Wohlstand des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts führte allerorts zu einer Verringerung der Zahlen von beschäftigungslosen Arbeitern in der "Reservearmee" des Kapitalismus. Die Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt wurde knapper und somit teurer, da immer mehr Fabriken errichtet wurden und bereits existierende Fabriken voll ausgelastet waren. Dies war der Zustand während dieser Periode. Die Arbeiter waren, indem sie selbst auf limitierte Weise (in Gewerkschaften und Massenparteien) organisierten, in der Lage, ihre Arbeitskraft zu einem höheren Preis zu verkaufen und wirkliche Verbesserungen in ihren Existenzbedingungen zu erlangen.

Die Erschließung des Weltmarktes durch einige Industriezentren, die sich mehr oder weniger auf Europa und Nordamerika beschränkten, erlaubten es dem Kapitalismus, sich mit unbändiger Kraft zu entwickeln. Die periodischen Krisen der Überproduktion wurden mit einer anscheinend immer höheren Geschwindigkeit und Energie überwunden. Die Industriezentren expandierten, indem sie eine immer größere Anzahl von Bauern und Handwerker absorbierten, die damit in Arbeiter, in Proletarier umgewandelt wurden. Die Arbeitskraft der qualifizierten Arbeiter, die sich ihre Fertigkeiten über viele Jahre angeeignet hatten, wurden zu einer kostbaren Ware für die Kapitalisten.

So gibt es gewiss eine Verknüpfung zwischen der globalen Expansion des Kapitalismus und dem wachsenden Lebensstandard der Industriearbeiter, aber es ist nicht die Verknüpfung, die von Lenin geschildert wird. Die Verbesserung der proletarischen Bedingungen betrafen nicht eine "verschwindende" Minderheit, sondern die gesamte Arbeiterklasse. Sie war nicht das Resultat der "Bestechung" von Arbeitern durch ihre kapitalistischen Herren, sondern der Arbeiterkämpfe in Zeiten der kapitalistischen Prosperität.

Wenn die europäischen und amerikanischen Arbeiter sich en masse mit den Interessen des nationalen Kapitals identifizierten und dabei der Führung ihrer politischen und gewerkschaftlichen Organisationen folgten, dann geschah dies, weil sie jahrzehntelang im größten materiellen Wohlstand gelebt hatten, den die Menschheit jemals erlebt hat. Wenn die Idee von der Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus solch große Wirkung in der Arbeiterbewegung erzielt hat, dann geschah dies, weil der gesellschaftliche Wohlstand oftmals als Ergebnis bewusster Kräfte in der Gesellschaft auftrat. Die Barbarei des I. Weltkrieges ertränkte diese Illusionen im Schlamm der Schützengräben von Verdun. Doch nichtsdestotrotz gestatteten diese Illusionen den kapitalistischen Generälen, mehr als zwanzig Millionen Männer im inter-imperialistischen Gemetzel in den Tod zu schicken.

Der Weltmarkt markierte das endgültige Ende jeglicher Möglichkeit einer Kohabitation zwischen den "Reformisten" und den Revolutionären innerhalb der Arbeiterbewegung. Indem sie sich in Rekrutierungsoffiziere für die imperialistischen Armeen verwandelte, lief die Mehrheit der reformistischen Strömungen in der II. Internationalen mit Mann und Maus ins Lager des Kapitalismus über.

Von diesem Standpunkt aus waren sie keine Tendenzen der Arbeiterklasse mehr, die stark von der Ideologie der herrschenden Klasse beeinflusst waren, sondern Zahnräder im politischen Apparat der Bourgeoisie. Die sozialdemokratischen Parteien sind nicht mehr "verbürgerlichte Arbeiterorganisationen", sondern bürgerliche Organisationen innerhalb der Arbeiterklasse. Sie repräsentieren nicht mehr die Arbeiterklasse oder auch nur einen Teil von ihr. Sie sind die Inkarnation der Interessen des nationalen Kapitals in seiner Gesamtheit.

Die Sozialdemokratie ist genausowenig "Arbeiterklasse", weil sie Arbeiter enthält, wie die Gitterstäbe des Käfigs "Tiere" sind, weil sie Tiere enthalten. Das Massaker an den deutschen Arbeitern nach dem Krieg durch die sozialdemokratische Regierung war ein blutiger Beweis dafür, welcher Seite die Sozialdemokratie von nun an angehörte.(2)

Die Theorie, daß die linken Parteien und ihre Gewerkschaften die Interessen der "Arbeiteraristokratie" vertreten, beinhalten stets, in der einen oder anderen Weise, den Gedanken, daß sie immerhin Arbeiterorganisationen seien.

Die praktische Bedeutung dieser theoretischen Frage wird deutlich, wenn die Arbeiterklasse mit einem Angriff von einer Sektion der Bourgeoisie gegen diese Organisationen konfrontiert ist. Es geschah im Namen der Verteidigung dieser "Arbeiterorganisationen", daß die "westliche Demokratie" Arbeiter in den Kampf "gegen den Faschismus" führte - von 1936 bis Hiroshima.

Diese Zweideutigkeit erweist sich für Lenins Epigonen heute als sehr nützlich. Die maoistische Strömung kam aus den Kommunistischen Parteien hervor. Die Maoisten sind Späne aus dem stalinistischen Block, die unter dem Druck der Entwicklung der inter-imperialistischen Konflikte (besonders zwischen China und Rußland) und der Intensivierung des Klassenkampfes abgesprengt wurden.

Viele Gruppen maoistischen Ursprungs gehen durchaus davon aus, daß die KPs "bürgerliche" Organisationen sind, aber sie machen schnell klar, daß die KPs sich auf die "Arbeiteraristokratie" stützten; aus diesem Grunde seien sie teilweise "verbürgerlichte Arbeiterorganisationen"... Man sieht, welche Bedeutung diese "Nuance" für Gruppen haben kann, die, wie das Marxistische Arbeiterkomitee, vehement ihre "25 Jahre Kampf"(3) verteidigen, von denen sie mehr als drei Viertel in der stalinistischen Partei verbracht haben. Laut ihrer Theorie haben sie diese Jahre nicht damit verbracht, für die Bourgeoisie zu arbeiten, sondern für.... die "Arbeiteraristokratie".

Jegliche Zweideutigkeit darüber, auf welcher Seite der Barrikade die linken Parteien stehen, kann für die Arbeiterklasse tödliche Folgen haben. In den letzten 60 Jahren ist nahezu jede wichtige Bewegung der Arbeiterklasse von der Linken oder mit ihrer Beihilfezerschlagen worden. Die Theorie der "Arbeiteraristokratie" entwaffnet durch die Kultivierung dieser Zweideutigkeit die Klasse und verschleiert die eine Frage, die so klar wie möglich sein muß, ehe man sich in einem Kampf engagiert: Wer ist der Feind?

V. Eine grobe Verzerrung des Marxismus

Wir haben gezeigt, wie die Theorie der Arbeiteraristokratie, wie sie von maoistischen und ex-maoistischen Gruppen vertreten wird, ein soziologisches Verständnis der Arbeiterklasse verrät, eine Vision, die diese Strömungen durch ihre Erfahrungen mit dem Stalinismus erworben haben.

Das Verständnis dieser Erfahrung wird ersetzt durch eine quasi-religiöse Untersuchung bestimmter Texte der "proletarischen Evangelisten", aus denen Auszüge zitiert werden, die als absoluter Beweis für die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen dienen sollen.(Die Entwicklung der maoistischen Gruppen kann an der Anzahl der Konterfeis ihrer Evangelisten, die aus ihrer Ikonographie entfernt wurden, abgelesen werden: Am Anfang gab es Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Mao wurde als erster entfernt, dann, in einem etwas fortgeschritteneren Stadium, wurde auch Stalin eliminiert. Doch gleichzeitig wurde der religiöse Status der verbliebenen drei noch weiter erhöht.)

Um herauszufinden, ob diese oder jene politische Position richtig oder falsch ist, stellen sich diese Organisationen nicht die Frage: Ist dies durch die reale, lebendige Praxis der Arbeiterkämpfe in der Vergangenheit bewiesen worden? Sondern: Kann dies durch ein Zitat von Marx, Engels oder Lenin belegt werden?

Um also den Beweis für die Richtigkeit der Theorie der Arbeiteraristokratie "wissenschaftlich" zu demonstrieren, bombardieren diese Gruppe ihre Leser mit bewußt ausgewählten Zitaten von Marx, Engels oder Lenin.

Diese ultra-leninistischen Gruppierungen stützen sich auf die Fehler Lenins in der Frage der "Aristokratie", aber sie vergessen, daß Lenin nie solch irrtümliche Schlüsse daraus zog wie OPERAI E TEORIA, denen zufolge die Revolutionäre nicht mehr "die gemeinsamen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen" dürfen, wie es das Manifest sagt, sondern "auf eine Spaltung, einen deutlichen Bruch zwischen den Interessen der unteren Schichten und denen der Aristokratie" (OPERAI E TEORIA) hinarbeiten müssen.

Lenin hat nie die Arbeiter dazu aufgerufen, sich unabhängig von und gegen den Rest ihrer Klasse zu organisieren. Im Gegenteil, Lenins Attacken gegen die sozialdemokratischen Patrioten als politische Strömung deckten sich mit seinem Beharren auf die Notwendigkeit einer Einheit aller Arbeiter in ihren Einheitsorganisationen. Der Schlachtruf "Alle Macht den Räten", d.h. alle Macht den breitesten und einheitlichsten Organisationen, die die Arbeiterklasse zu bilden in der Lage ist - ein Schlachtruf, den Lenin mit am standhaftesten vertrat -, war kein Aufruf zur Spaltung der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil zur größtmöglichen Einheit zum Zwecke der Machtübernahme.

Was die Hinweise dieser Strömungen auf bestimmte Zitate von Engels anbetrifft, so sind diese nur der Versuch, in die aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen von Engels etwas hineinzuinterpretieren, was er nie gesagt hatte. Engels spricht an etlichen Stellen von einer "Aristokratie" innerhalb der Arbeiterklasse. Aber worüber sprach er genau?

In einigen Fällen bezieht er sich auf die englische Arbeiterklasse, die im Ganzen einen höheren Lebensstandard und bessere Arbeitsbedingungen genoss als die Arbeitern anderer Länder. In anderen Fällen bezieht er sich auf die spezialisierteren Arbeiter in der britischen Arbeiterklasse selbst, die ihre handwerklichen Fertigkeiten noch erhalten konnten (Mechaniker, Zimmerleute, Schreiner, Bauarbeiter). Doch dabei war es sein Ziel, jegliche Illusionen zu vertreiben, die die englische Arbeiterklasse noch hinsichtlich ihrer "aristokratischen" Stellung haben konnte. Weiter unterstrich er die Tatsache, daß die Entwicklung des Kapitalismus vor allem durch Wirtschaftskrisen stattfand, die ihn zwingen, die Bedingungen aller Arbeiter auf das niedrigste gemeinsame Niveau zu drücken und die materiellen Grundlagen der "Privilegien" minoritärer Arbeitergruppen zu zerstören, auch in der Arbeiterklasse in Großbritannien. So sagte er in einer Debatte in der Internationalen Arbeiterassoziation (Erste Internationale):

"Das (die Einwilligung des Antrages von Haies über die Irische Sektion der IAA, d.IKS) würde die unter den englischen Arbeitern nur zu sehr verbreitete Meinung sanktionieren, daß sie, verglichen mit den Iren, überlegene Wesen wären und ebensolche Aristokraten wie jene, für die sich die niederträchtigen Weißen in den Sklavenhalterstaaten den Negern gegenüber hielten." (F.Engels, MEW. Bd. 18, S. 80).

Und Engels erläuterte, wie die Wirtschaftskrise dazu tendiert, diese Auffassung zu untergraben, die viel zu lange verbreitet war:

"Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein - die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen - eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie die Arbeiter des Auslandes." (F. Engels, Vorwort zur 2. Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse", MEW 22, S. 328)

Und Bezug nehmend auf die alten Gewerkschaften, die eifersüchtig ihre Stellung als Organisationen ausschließlich der spezialisiertesten Arbeiter verteidigten:

"Schließlich muß (die akute Krise des Kapitalismus) ausbrechen, und es ist zu hoffen, daß dies den alten Gewerkschaften ein Ende machen wird." (4)

Die praktische Erfahrung der Arbeitskämpfe im 20. Jahrhundert, die zu "neuen" Organisationsformen führten, welche auf Vollversammlungen basierten, mit Delegierten für die Komitees oder Räte, hat nicht nur den alten Gewerkschaften der spezialisierten Arbeiter effektiv ein Ende bereitet, sondern auch allen anderen Gewerkschaften, die immer auf rein beruflichen Kategorien gegründet sind.

Engels sprach von einer Art von "Arbeiteraristokratie", um zu bezwecken, daß die Bewegung in Richtung einer unerlässlichen Einheit der Arbeiterklasse gestärkt wird. Daraus die Notwendigkeit der Spaltung der Arbeiterklasse zu lesen ist eine grobe Fälschung.

Um diese "marxistischen" Referenzen zu beenden, noch ein Wort zur Untersuchung von OPERAI E TEORIA, die vorgibt, eine Erklärung bei Marx für die Antagonismen, die die Arbeiter angeblich gegeneinander aufhetzen, gefunden zu haben.

"Alle (Arbeiter) produzieren als organisches Ganzes Mehrwert, aber nicht alle produzieren die gleiche Quantität, denn sie unterliegen nicht alle der massiven Auspressung von relativem Mehrwert."

Anscheinend haben sich diese Leute nicht einmal die Mühe gegeben herauszufinden, was der "relative Mehrwert" eigentlich bedeutet. Marx benutzte dieses Terminus, um Phänomen des wachsenden Anteils der Arbeitszeit zu definieren, die das Kapital der Arbeiterklasse durch das Mittel der Produktivitätssteigerung stiehlt.

Im Gegensatz zur Auspressung des "absoluten Mehrwerts", der hauptsächlich von der Dauer der Arbeitszeit abhängt, hängt der "relative Mehrwert" in erster Linie von der gesellschaftlichen Produktivität der Gesamtheit der Arbeiterklasse ab.

Die Produktivitätssteigerung findet ihren Ausdruck in der Tatsache, daß zur Herstellung einer gleichen Menge von Gütern weniger Arbeitszeit benötigt wird. Die gesellschaftliche Produktivitätssteigerung drückt sich durch die Tatsache aus, daß weniger gesellschaftliche Arbeitszeit benötigt wird, um die Subsistenzmittel zu produzieren.

Die für die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft notwendigen Erzeugnisse, die der Arbeiter mit seinem Lohn kaufen muß, enthalten einen immer geringeren Wert. Selbst wenn er sich nun zwei Hemden anstatt wie früher eins kaufen kann, haben diese Hemden dank der Produktivitätssteigerungen  weniger Arbeit gekostet als früher ein einziges. Die Differenz zwischen dem von dem Arbeiter erzeugten Wert der Arbeit und dem "Gegenwert", den er in Gestalt des Lohnes erhält - diese Differenz, die der vom Kapitalisten angeeignete Mehrwert ist -, vergrößert sich, selbst wenn die absolute Dauer seiner Arbeit unverändert bleibt.

Der relative Mehrwert ist die Ausbeutung durch die Verstärkung der Herrschaft des Kapitals über das gesamte gesellschaftliche Leben (5). Es ist die "kollektivste" Ausbeutungsform, die in einer Klassengesellschaft möglich ist (weshalb sie auch die letzte Form der Ausbeutung ist).

In diesem Sinne leiden alle Arbeiter im gleichen Maße darunter.

Die wachsende Abhängigkeit des Kapitalismus vom relativen Mehrwert führt nicht zu einer Herausbildung von ökonomischen Antagonismen innerhalb der Arbeiterklasse, wie es OPERAI E TEORIA behauptet, sondern im Gegenteil zur wachsenden Gleichförmigkeit der objektiven Lage der Arbeiter im Verhältnis zum Kapital.

Man kann Marx nicht mit den Augen eines stalinistischen Sozilogen lesen.

Einige politische Strömungen, die aus dem Maoismus hervorgegangen sind, tragen eine radikal anti-gewerkschaftliche Haltung zur Schau. Dies erweckt Illusionen, als handle es sich um einen Schritt nach vorn in Richtung Klassenpositionen. Aber die ihrer Position zugrundeliegende Theorie wie auch die politischen Konsequenzen, zu denen sie führt, machen aus diesem Anti-Gewerkschaftstum ein neues Instrument zur Spaltung der Arbeiterklasse.

Vom Standpunkt des Klassenkampfes aus ist die gewerkschaftliche Organisationsform historisch tot, eben weil sie nicht zu einer wirklichen Klasseneinheit führt. Die Organisierung nach Industriezweigen und Berufen auf streng ökonomischer Ebene ist keine Grundlage mehr für die Einheit, die für den Kampf im totalitären Kapitalismus unverzichtbar ist.

Die Gewerkschaften abzulehnen, nur um auf andere Weise die Arbeiterklasse zu spalten - das ist das Resultat eines Anti-Gewerkschaftstums, das sich als Opposition zur "Arbeiteraristokratie" begreift.

R.V. (Aus der Internationalen Revue Nr. 25, 2. Quartal 1981, deutsche Ausgabe Nr. 8, 1982)

 

Fußnoten:

(1) Dies ist einem Artikel entnommen, in dem OPERAI E TEORIA auf die Kritik von BATTAGLIA COMUNISTA (Partito Comunista internationalista) zu antworten versucht, die, auch wenn sie selbst "Leninisten" sind, OPERAI E TEORIA vorwerfen:

-  "den kapitalistischen Prozeß der Spaltung der Arbeiterklasse zu beschleunigen",

-  ihre Theorie auf der "objektiv unrichtigen Idee der Privilegien" in der Klasse zu stützen;

-  nicht "die Tendenz des Kapitalismus in der Krise (zu verstehen), die Existenzbedingungen des gesamten Proletariats auszuhöhlen und somit seine wirtschaftliche Vereinheitlichung herbeizuführen".

Battaglia hat vollkommen recht mit seiner Kritik, doch führt sie dies nicht zu ihrem logischen Schluß, aus Angst, das Wort ihres "Meisters" Lenin in Frage stellen zu müssen.

(2) Die "Kompromisse", die die Dritte Internationale auf Kosten der Strömungen in der Arbeiterklasse, denen "ultra-linke" Tendenzen vorgeworfen wurden,  mit den sozialdemokratischen Parteien nach 1920 sich zu schließen bemüßigt fühlte, fanden ihre theoretische Rechtfertigung in der Zweideutigkeit des Begriffs "bürgerliche Arbeiterparteien", den man für die patriotischen Sozialdemokraten verwendete. So kam Lenins Internationale dazu, die britischen Kommunisten zum Eintritt in die "Labour"-Party aufzufordern!

(3) MARXIST WORKER, Nr. 1, 1979, "25 years of struggle. Our history".

(4)Teil einer Intervention auf dem Treffen des Generalrats der IAA im Mai 1872.

(5) Die Vorherrschaft des relativen Mehrwerts über den absoluten Mehrwert ist eine der grundlegenden Eigenschaften dessen, was Marx die "wirkliche Herrschaft des Kapitals" nennt.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Zweite Internationale [18]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [19]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [20]

Internationale Revue - 1982

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Internationale Revue 8

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Kriegszustand in Polen: Die Weltbourgeoisie gegen die Arbeiterklasse

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Im August 1980 haben uns die Arbeiter in Polen ein Beispiel für den Massenstreik, für die Selbstorganisation der Klasse und die wahre Solidarität der Arbeiter gegeben. Seit dem 13. Dezember 1981 sind sie für uns auch ein Beispiel für den Mut und den Kampfgeist, was beweist, daß die Reaktion der Arbeiter heute nicht mit den 30er Jahren zu vergleichen ist. Weil die Arbeiterklasse heute nicht vor der geballten bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates einknickt, weil selbst ein ganzes Jahr der Gewerkschaftssabotage und all der Illusionen, die von den verschiedenen Agenturen der Bourgeoisie gefördert wurden, nicht ausreichte, um diese außergewöhnliche Kraft des Kampfgeistes auszutrocknen, wissen wir, daß die Revolution möglich ist.

Auch wenn sie sich dessen nicht direkt bewußt sind, kämpften die Arbeiter in Polen nicht als "Polen". Ihr Mut, ihre Entschlossenheit in diesem ungleichen und verzweifelten Kampf sind keine besonderen Merkmale des "polnischen Volkes". Es sind typische Züge der Weltarbeiterklasse. Es gibt zahlreiche Beispiele in der Geschichte für den heldenhaften Mut, zu dem das Proletariat in allen Ländern fähig ist: die Kämpfer der Kommune 1871, die russischen und polnischen Arbeiter 1905-1906, die Arbeiter in Rußland, Deutschland, Österreich, Italien, China und vielen anderen Ländern zwischen 1917 und 1927.

Welche Art von Niederlage?

Heute wird in Polen ein Battaillon des Weltproletariats mit all der Gewalt attackiert, zu der der Kapitalismus fähig ist: Panzer, Maschinengewehre, Massenverhaftungen, Konzentrationslager, Bergwerke, die mit Gas oder Wasser geflutet werden (eine alte kapitalistische "Technik", die vor allem von der englischen Bourgeoisie in den 30er Jahren in Indien angewandt wurde). Ein Battaillon der Weltarbeiterklasse, das großartig, mit äußerstem Mut kämpfte. Daß dieser Kampf verloren ist, ist offensichtlich: Heute verkünden die staatlichen Behörden mit Genugtuung, daß es keine Widerstandsnester mehr gibt. Auch der passive Widerstand wird langfristig überwunden werden, weil er nicht mehr das Produkt einer Massenbewegung, der kollektiven und organisierten Aktion der Arbeiterklasse ist, sondern das Produkt einer Summe von Arbeitern,die durch die Repression und den Terror atomisiert sind.

Und selbst wenn diese Form des Widerstands noch längere Zeit anhielte, so hätte die Bourgeoisie dennoch einen Sieg errungen, weil es ihr gelungen ist, all die direkten Formen des Lebens  in der Klasse zum Schweigen zu bringen: Massenstreiks, Vollversammlungen, Austausch von Erfahrungen und offene Diskussionen unter Arbeitern.

Wir müssen uns der Realität stellen. Das Proletariat in Polen hat eine Niederlage erlitten. Aber diese Niederlage ist weder endgültig noch unumkehrbar. Die Arbeiter sind mitnichten vernichtend geschlagen worden.

Wie die Revolutionäre, namentlich Marx und Rosa Luxemburg, bereits seit langem beobachtet haben, muß das Proletariat bis zu seinem endgültigen Sieg über den Kapitalismus viele Niederlagen hinnehmen. Indem es so klar wie möglich die Lehren aus den Niederlagen zieht, wird das Proletariat die Kraft finden, um die Siege von morgen vorzubereiten.

Als solche ist eine Teilniederlage für die Arbeiterklasse nicht katastrophal. Sie ist ein Teil ihres langen und beschwerlichen Weges zur Revolution. Sie ist eine Schule, in der das Proletariat lernt, seinen Feind und sich selbst besser zu verstehen, die Kräfte, die es für die künftigen Schlachten entwickeln muß, und die Schwächen einzuschätzen, die es überwinden muß. Sie ist ein unvermeidbarer Bestandteil im Reifungsprozeß des Klassenbewußtseins, das eine der wichtigsten Waffen in den kommenden, entscheidenden Zusammenstößen sein wird.

Jedoch haben nicht alle Niederlagen des Proletariats die gleiche Bedeutung. Manche Niederlagen führen zu einer langfristigen Demoralisierung und Orientierungslosigkeit innerhalb der Klasse. Dies sind Niederlagen, die im Kontext des allgemeinen Rückzugs des Klassenkampfes, des Triumphes der Konterrevolution stattfinden. Solcherart war die Niederlage der Arbeiterklasse in Spanien zwischen 1936 und 1939. In diesem Fall verlor das Proletariat nicht nur eine Million Klassenbrüder und -schwestern, sondern ebnete mit diesem Opfer lediglich den Weg für die 50 Millionen Toten im II. Weltkrieg. Im allgemeinen zeichnet sich diese Art von Niederlage dadurch aus, daß das Proletariat nicht direkt auf seinem Klassenterrain kämpft, sondern sich auf ein bürgerliches Terrain wie den "Antifaschismus" 1936 drängen läßt.

Auf der anderen Seite finden Niederlagen im Zusammenhang mit einem Kurs in Richtung eines zunehmenden Klassenkampfes statt, der auf einem proletarischen Terrain ausgefochten wird. Die Arbeiterklasse ist besiegt, aber sie ließ sich nicht für die Ziele der Bourgeoisie mobilisieren. Die Revolution von 1905 war eine Generalprobe für den Sieg 1917, weil das Proletariat in Rußland 1905 auf seinem eigenen Terrain gekämpft hatte, auch wenn es nicht auf Anhieb siegte: nämlich auf dem Terrain des Massenstreiks, des Kampfes für die Verteidigung seiner ökonomischen und politischen Interessen, der Selbstorganisierung in den Sowjets.

Trotz all des negativen Gewichtes und der Manöver Solidarnoscs, trotz all der polnischen Fahnen und der Bilder der Jungfrau, die die Bewegung des Proletariats in Polen behinderten, war das Proletariat in Polen fähig, in seinem Kampf gegen die wachsende Ausbeutung und die kapitalistische Repression auf seinem eigenen Terrain zu bleiben. Jene, die sich darauf versteifen, daß die Arbeiterklasse noch nicht taub gegenüber dem bürgerlichen Gewäsch ist, können dies nicht begreifen und begegnen dem Kampf der Arbeiter in Polen mit Skepsis. Sie gehören zur gleichen Kategorie wie jene, die 1936 sich einbildeten, daß eine rote Fahne dem Antifaschismus einen proletarischen Charakter verleiht.

Im Verlauf von anderthalb Jahren der Kämpfe in Polen hat es an Subjekten der bürgerlichen Mystifikation nie gefehlt. Doch waren es nicht die Themen, die die Arbeiterklasse mobilisierten. Im Gegenteil, es waren Themen zur De-Mobilisierung der Arbeiterkämpfe, die im allgemeinen mit Klassenforderungen (gegen Preiserhöhungen, gegen Lebensmittelrationierungen, Repression, gegen die Willkür der Bosse, für die Verkürzung der Arbeitszeit usw.) aus dem Boden schossen.

Dies erlaubt uns zu sagen, daß das Proletariat von heute ganz anders gegen die Krise kämpft als in den 30er Jahren. Es zeigt uns, daß der großartige Widerstand der Arbeiter in Polen nicht einfach ein Schuss ins Blaue war, sondern der Weg, auf dem die Arbeiter in Polen ihren Klassenbrüdern in anderen Ländern die Fackel des Kampfes überreichen.

Die heutige Niederlage gehört also in die Kategorie jener Kämpfe, die direkt zur Vorbereitung des endgültigen Triumphes des Proletariats beitragen. Dies kann jedoch nur dann so sein, wenn die Klasse so viele Lehren wie möglich zieht und sich selbst die Mittel gibt, um solche Niederlagen in Zukunft zu vermeiden. Im Grunde besteht die Taktik, die die Bourgeoisie heute, wie in der Vergangenheit (besonders in Deutschland Anfang der 30er Jahre), zu verwenden versucht, darin, das Proletariat Gruppe für Gruppe, Fabrik für Fabrik, Land für Land zu schlagen. Eine Reihe solcher Teilniederlagen wie die heutige könnte zu einer unwiderruflichen Schwächung der Arbeiterklasse, zu einer Umkehrung des historischen Kurses führen. Dann gäbe es nicht mehr die Perspektive der proletarischen Reaktion gegen die Krise - die Revolution -, sondern nur die bürgerliche Antwort - der Weltkrieg.

Welche Lehren?

Die Hauptfragen, die heute beantwortet werden müssen, sind daher:

Wie konnte dies geschehen?

Was versetzte die Bourgeoisie in die Lage, dem Proletariat solch einen blutigen Rückschlag zuzufügen?

Wie können wir in Zukunft solche Niederlagen, solche Repression verhindern?

Der erste grundlegende Punkt, der für das Proletariat klar sein muß, ist,daß die Bourgeoisie nicht sporadisch und zerstreut auf den Klassenkampf reagiert, sondern auf konzertierte Weise. Natürlich ist die Bourgeoisie gespickt mit einer Vielzahl von Interessenskonflikten, die die Krise nur noch mehr verschärfen und in der Spaltung der Welt in Militärblöcke ihren Höhepunkt finden. Aber die Geschichte lehrte uns, und die heutige Realität bestätigt dies erneut, daß die Bourgeoisie fähig ist, ihre Widersprüche zu überwinden, wenn ihre eigene Existenz als Klasse auf dem Spiel steht. Wir haben bei vielen Gelegenheiten in den Spalten dieser Zeitschrift und in unserer territorialen Presse auf die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Teilen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterkämpfe in Polen hingewiesen: zwischen der Regierung und Solidarnosc, zwischen Ost und West, zwischen Rechts und Links. Wir kommen hier darauf zurück, um die ungeheure Doppelzüngigkeit des US-Blocks zu denunzieren, der sich zunehmend empört gibt über die Repression der polnischen Arbeiter und über Rußlands Kollaboration in dieser Repression.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß von dieser "Empörung", für die Reagan nun das Hauptsprachrohr ist und die zu einem wichtigen Bestandteil in den ideologischen Kriegsvorbereitungen des westlichen Blocks geworden ist,  überhaupt nichts zu hören war, als der Belagerungszustand ausgerufen wurde.

Mehrere Tage lang hat die Bourgeoisie im Westen, Washington eingeschlossen, den Mythos der "rein polnischen Angelegenheiten" lanciert. Erst nachdem klar wurde, daß die Arbeiter im Westen nicht in der Lage waren, eine wirkliche Solidarität gegenüber ihren Klassenbrüdern in Polen zum Ausdruck zu bringen, daß die Solidaritätsgefühle der Arbeiter da, wo sie auftauchten, von den Linken und den Gewerkschaften angemessen kanalisiert wurden, erst dann konnte sich die westliche Bourgeoisie, sich in Sicherheit vor der Front des Klassenkampfes wähnend, den Luxus leisten, die Repression, die sie selbst mit vorbereitet hatte, für ihre Propaganda gegen den russischen Block zu nutzen.

Wenn es noch eines Beweises für die Komplizenschsaft zwischen den Großmächten bei der Repression der Arbeiter in Polen bedarf, so nehme man nur die Erklärung von M. Doumeng, Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und Bonze in einem großen französischen Unternehmen, in der Wochenzeitschrift PARIS-MATCH (1. Januar 1982) zur Kenntnis. Auf die Frage: "Was den Militärputsch in Polen angeht, glauben Sie, daß die Sowjetunion und die USA sich vorher abgesprochen haben?"; antwortete Doumeng offen: "Was mir auffällt, ist, daß alle beide daran interessiert sind, die Ordnung in Polen wiederherzustellen. Vor drei Wochen war ich in Polen. Dort habe ich einen sehr mächtigen amerikanischen Geschäftsmann getroffen. Er war dort, um der polnischen Regierung zu erklären, daß er bereit wäre,  ihr eine Milliarde Dollar zu leihen - unter einer Bedingung: Die Ordnung muß in Polen wiederhergestellt werden". Dieses Individuum sagt nicht solche Dinge, nur weil es Mitglied der KPF ist; die gleichen Töne konnte man am Tag nach der Verhängung des Kriegsrechts im WALL STREET JOURNAL vernehmen.

Doch was beide nicht einräumen, ist, daß die Solidarität zwischen Ost und West sich nicht auf den finanziellen Bereich beschränkt. In letzter Instanz ist die Bourgeoisie bereit, den wirtschaftlichen Zusammenbruch Polens abzuschreiben. Worauf es ihr vor allem ankam, war, ein Proletariat, das ein zu "schlechtes Beispiel" für die Proletarier in den anderen Länder war, zum Schweigen zu bringen - und dies zu tun, ehe andere Arbeiter dieses Beispiel unter dem Druck des wachsenden Elends aufgreifen.

Dies ist der zweite Kernpunkt, der für die Arbeiterklasse klar sein muß: Die bürgerliche Repression in Polen war nur möglich, weil das Proletariat in diesem Land isoliert geblieben ist (siehe Artikel dazu in der INTERNATIONALEN REVUE und WELTREVOLUTION).

Insbesondere diese Isolierung ermöglichte es Solidarnosc, die Arbeiterklasse in Polen zu schwächen und den Einfluß ihrer demokratischen, gewerkschaftlichen, nationalistischen und Selbstverwaltungs-Mystifikationen zu erleichtern.

Heute wird in Polen auf tragische Weise die Notwendigkeit deutlich, daß das Proletariat seine Kämpfe weltweit ausdehnen muß. Wenn es diese Lehre nicht versteht, wenn es sich durch die falschen "Solidaritäts"-Kampagnen, die von den linken Fraktionen der Bourgeoisie orchestriert werden, umdrehen läßt, wenn es nicht versteht, daß die einzig wahre Solidarität im gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung und Misere besteht, dann wird es noch weitere, schlimmere Repressionen und am Ende einen imperialistischen Holocaust geben.

FM

(4. Januar 1982)

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [14]

Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus

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"Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm..." (K. Marx, Der 18te Brumaire des Louis Napoleon, MEW Bd. 8, S. 115).
Heute, in einer Zeit des historischen Wiedererstarkens des Klassenkampfes, ist die Arbeiterklasse nicht nur durch das Gewicht jener Ideologie belastet, welche die bürgerliche Klasse direkt und absichtsvoll erzeugt, sondern auch durch den Ballast der eigenen Traditionen. Um sich zu emanzipieren, muss die Arbeiterklasse ihre Erfahrungen unbedingt verarbeiten; nur so kann sie die Waffen für die entscheidende Schlacht schmieden, die dem Kapitalismus ein Ende bereiten wird. Doch es besteht auch die Gefahr, dass sie die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit toten Traditionen verwechselt, dass es ihr nicht gelingt, zwischen den Methoden vergangener Kämpfe, die stets gültig und lebendig bleiben, und jenen Aspekten zu unterscheiden, die endgültig der Vergangenheit angehören, weil sie von den damaligen Verhältnissen abhängig waren.
Wie Marx oft betonte, blieb der Arbeiterklasse auch zu seinen Lebzeiten im 19. Jahrhundert diese Gefahr nicht erspart. Trotz einer sich rasant entwickelnden Gesellschaft schleppte das Proletariat noch den ganzen Ballast seiner Traditionen aus der Zeit seines Ursprungs mit sich: Überreste aus den alten Gesellenverbänden, aus der Zeit Babeufs, aus ihren gemeinsamen Kämpfen mit der Bourgeoisie gegen den Feudaladel. So waren in der 1864 gegründeten Ersten Internationalen die sektiererischen, verschwörerischen und republikanischen Traditionen aus der Zeit vor 1848 weiterhin als belastendes Gewicht zu spüren. Die gesamte Periode jener gewaltigen Veränderungen war Teil der Epoche des aufstrebenden Kapitalismus und beinhaltete spezifische Bedingungen für die Kämpfe der Arbeiterklasse. Angesichts des blühenden Kapitalismus bestand die Möglichkeit, wirkliche und dauerhafte Verbesserungen in den Lebensbedingungen der Arbeiter zu erringen. Eine Zerstörung des Kapitalismus in seiner Blütezeit stand nicht zur Debatte.
Dieser Rahmen verlieh den verschiedenen Etappen in der Entwicklung der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts einen permanenten Charakter. Nach und nach wurden Methoden und Mittel des Klassenkampfes, die gewerkschaftliche Organisierung, herausgearbeitet und stetig verbessert. Trotz aller Unterschiede überwogen die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Etappen. Unter diesen Umständen stellte das Gewicht der Traditionen keine große Last für die damaligen Arbeitergenerationen dar. Im Gegenteil, die Vergangenheit wies weitgehend den Weg.
Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts änderte sich diese Situation radikal. Die meisten Instrumente, welche die Klasse über Jahrzehnte hinweg entwickelt hatte, verloren nun ihren Nutzen. Schlimmer noch: sie wendeten sich gegen das Proletariat und wurden zu tödlichen Waffen des Kapitals. Dies trifft auf die Gewerkschaften, auf die Teilnahme an den Wahlen und am Parlamentarismus zu. Dies geschah, weil der Kapitalismus in eine völlig neue Phase seiner Entwicklung getreten war: in die Periode seiner Dekadenz. Dadurch wurde der Rahmen des proletarischen Kampfes in seinen Grundfesten erschüttert. Von nun an verlor der Kampf um ständige und dauerhafte Verbesserungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seine überragende Bedeutung.
Der Kapitalismus konnte nicht nur keine Zugeständnisse mehr leisten, seine Krise stellte zudem zahlreiche proletarische Errungenschaften aus der Vergangenheit in Frage. Angesichts eines todkranken Systems kann der einzig wirkliche Fortschritt für das Proletariat nur in der Zerstörung des Kapitalismus bestehen. Der Erste Weltkrieg verkörperte den Bruch zwischen den beiden Lebensphasen des Kapitalismus. Die Revolutionäre begriffen, dass das System in seine Niedergangsphase eingetreten war. 1919 proklamierte die Kommunistische Internationale in ihrer Plattform: "Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung ist da. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats ist angebrochen." Jedoch blieben die Revolutionäre mehrheitlich von den Traditionen der Vergangenheit beeinflusst. Trotz ihrer großartigen Arbeit war die III. Internationale nicht imstande, die Schlussfolgerungen ihrer Analyse konsequent auszuformulieren. Trotz des Verrats durch die Gewerkschaften schlug sie nicht vor, sie zu zerstören, sondern neu aufzubauen. Sie stellte fest, dass "die parlamentarischen Reformen für die werktätigen Massen jede praktische Bedeutung verlieren (...) Der Schwerpunkt des politischen Lebens hat sich vollkommen aus dem Parlament verschoben, und zwar endgültig" (Leitsätze über den Parlamentarismus angenommen auf dem 2. Kongress der Komintern, 1920), um nichtsdestotrotz unbeirrt für die Teilnahme an diesen Institutionen zu plädieren
Die Feststellung von Marx im Jahr 1852 wurde so am Ende nachdrücklich bestätigt. Die tragische Konsequenz daraus war, dass das Gewicht der Traditionen das Proletariat mit dem Ausbruch des imperialistischen Krieges 1914 nicht nur in große Verwirrung stürzte, sondern auch für das Scheitern der 1917 begonnenen revolutionären Welle und für die furchtbare Konterrevolution verantwortlich war, die nach der Zerschlagung der revolutionären Welle ein halbes Jahrhundert lang herrschte. Waren sie schon ein Hindernis für die vergangenen Kämpfe, so sind die überlieferten, toten Traditionen ein noch viel schlimmerer Feind der gegenwärtigen Kämpfe. Um erfolgreich zu sein, muss das Proletariat die alten Kleider von sich streifen, um sich für die Notwendigkeiten, welche die neue Epoche des Kapitalismus seinem Kampf aufzwingt, zu wappnen. Es muss die Unterschiede begreifen, die sich sowohl im Leben des Kapitalismus als auch in den Methoden und Zielen seines Kampfes zwischen der aufsteigenden und der dekadenter Phase der kapitalistischen Gesellschaft auftun. Der folgende Text möchte einen Beitrag zu diesem Verständnis leisten (...)

DIE NATION

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Eines der typischen Merkmale des 19. Jahrhunderts war die Bildung neuer Nationen (Deutschland, Italien usw.) bzw. ein zäher Kampf um die Bildung derselben (Polen, Ungarn, etc.). Dies ist absolut kein Zufall, sondern entsprach den Notwendigkeiten des entstehenden Kapitalismus, der in der Nation den geeigneten Rahmen für seine Wirtschaft fand. Damals erfüllte die nationale Unabhängigkeit noch einen Sinn: Sie entsprach der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte und der Zerstörung der feudalen Imperien (Russland, Österreich-Ungarn), den Bastionen der Reaktion.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Im 20. Jahrhundert ist der nationale Rahmen zu eng für die Produktivkräfte geworden. So wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst ist auch die Nation zu einem Hindernis für die Produktivkräfte geworden. Außerdem wird die nationale Unabhängigkeit zu einer Schimäre, sobald sich das nationale Kapital in seinem eigenen, wohlverstanden Interesse in einen der beiden großen imperialistischen Blöcke integriert und damit auf seine Unabhängigkeit verzichtet. Die angeblichen "nationalen Unabhängigkeitsbewegungen" des 20. Jahrhunderts laufen alle darauf hinaus, dass die betroffenen Länder von einer Einflusszone in die andere überwechseln.

DIE ENTWICKLUNG NEUER KAPITALISTISCHER EINHEITEN

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Ein anderes typisches Merkmal der aufsteigenden Phase war die ungleiche Entwicklung des Kapitals in den verschiedenen Ländern. Die höchst entwickelten Länder wiesen den anderen Ländern den Weg. Die Rückständigkeit Letzterer war durchaus nicht hoffnungslos. Es bestand für sie sogar die Möglichkeit, die Ersteren einzuholen und gar zu überholen. Dies war fast allgemeingültige Regel: "Im Rahmen des gigantischen Aufstieges war der Umfang der Steigerung in den einzelnen Ländern außerordentlich verschieden. Diejenigen europäischen Industriestaaten, die 1860 am stärksten entwickelt waren, zeigten in dieser Epoche eine geringere Aufwärtsentwicklung. Die englische Produktion verdreifachte sich ,nur', die französische vervierfachte sich ,nur', während die deutsche sich mehr als versiebenfachte, die amerikanische sich mehr als verzwölffachte.
Das verschiedene Tempo der Steigerung hatte zur Folge, dass die Rangordnung der entscheidenden Industrieländer von 1860 bis 1913 sich grundlegend wandelte.
Um 1880 verlor England den führenden Platz in der Weltproduktion an die Vereinigten Staaten. Gleichzeitig wurde Frankreich von Deutschland überholt. Um 1900 wurde England von Deutschland überholt und kam an die dritte Stelle." (E. Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, 1951)
Zur gleichen Zeit erklomm ein anderes Land die Stufe zur modernen Industrienation: Japan. Auch Russland durchlief einen sehr schnellen Prozess der Industrialisierung, der aber durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase abgewürgt wurde. Die Möglichkeit für die weniger entwickelten Länder, ihre Rückständigkeit zu überwinden, erklärt sich aus folgenden Gründen:
1. Ihre Binnenmärkte boten Absatzmöglichkeiten und spornten so die Entwicklung des industriellen Kapitals an. Die Existenz breiter und relativ wohlhabender Bereiche vor-industrieller Produktion (handwerklicher und vor allem landwirtschaftlicher Art) bildete den notwendigen Nährboden für die kapitalistische Akkumulation.
2.  Die Politik des Protektionismus erlaubte es ihnen eine Zeit lang, ihren Markt vor den billigeren Waren der entwickelteren Länder abzuschirmen und eine eigene nationale Produktion zu entwickeln.
3. Angesichts der frisch eroberten kolonialen Territorien existierte weltweit ein riesiger außerkapitalistischer Markt. Dieser Markt nahm die überschüssige Produktion der Industrieländer auf.
4. Das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wirkte sich günstig auf die Möglichkeit einer Entwicklung der weniger entwickelten Länder aus. Da die Nachfrage, global gesehen, das Angebot überstieg, wurde der Preis der Waren von den höheren Produktionskosten in den weniger entwickelten Länder bestimmt. Diese erlaubte dem Kapital dieser Länder, eine Profitrate zu erzielen, die eine wirkliche Akkumulation ermöglichte, während die entwickelteren Länder Extraprofite kassierten.
5. Die Rüstungsausgaben waren relativ niedrig und konnten von den Industrieländern leicht kompensiert, ja, sogar in Form von kolonialen Eroberungen rentabilisiert werden.
6. Im 19. Jahrhundert erforderte das technologische Niveau noch nicht die erheblichen Kapitalmassen wie im 20. Jahrhundert, auch wenn es gegenüber der vorausgegangenen Epoche einen riesigen Fortschritt darstellte.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Die Periode der kapitalistischen Dekadenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Entstehung neuer Industrienationen unmöglich geworden ist. Jene Länder, die ihren industriellen Rückstand vor dem Ersten Weltkrieg nicht wettmachen konnten, waren dazu verdammt, in totaler Unterentwicklung zu stagnieren oder in eine chronische Abhängigkeit gegenüber den hochindustrialisierten Ländern zu geraten. So verhält es sich mit Nationen wie China oder Indien, denen es trotz angeblicher "nationaler Unabhängigkeit" oder gar "Revolution" (d.h. die Einführung eines drakonischen Staatskapitalismus) nicht gelang, Unterentwicklung und Armut abzustreifen. Auch die UdSSR kann sich dieser Realität nicht entziehen. Die fürchterlichen Opfer, die der Bauernschaft und vor allem der Arbeiterklasse dieses Landes abverlangt worden waren, die immense Ausbeutung in den Arbeitslagern, die Planwirtschaft und das staatliche Monopol im Außenhandel (von den Trotzkisten als "große Errungenschaften" der Arbeiter gepriesen), die systematische Ausplünderung der osteuropäischen Länder - all dies reichte nicht, um der UdSSR zum Anschluss an die Hochindustrieländer zu verhelfen, um die hartnäckigen Spuren der Unterentwicklung und Rückständigkeit auszumerzen (s. dazu diverse Artikel in der Internationalen Revue).
Dass es unmöglich geworden ist, neue, große kapitalistische Einheiten zur Entstehung zur verhelfen, drückt sich unter anderem in der Tatsache aus, dass die sechs größten Industrieländer (USA, Japan, Russland, BRD, Frankreich, England) bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges die führenden Wirtschaftsmächte, wenn auch in einer anderen Reihenfolge, gestellt hatten.
Die Unfähigkeit der unterentwickelten Länder, das Niveau der hochentwickelten Mächte zu erreichen, lässt sich durch folgende Tatsachen erklären:
1. Die Märkte, die einst die außerkapitalistischen Sektoren für die Industrieländer verkörperten, sind durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft und den fast vollständigen Niedergang des Handwerks gänzlich ausgeschöpft.
2. Die protektionistische Politik hat im 20. Jahrhundert völlig ausgedient. Sie bietet der Wirtschaft in den unterentwickelten Ländern keine Gelegenheit zum Luftholen mehr, sondern führt im Gegenteil zu ihrer Strangulierung.
3. Die außerkapitalistischen Territorien dieser Welt sind nahezu voll-ständig vom kapitalistischen Weltmarkt einverleibt worden. Trotz der ungeheuren Armut und der immensen Nachholbedürfnisse, trotz der völligen Unterentwicklung ihrer Wirtschaft stellen die Drittweltländer keinen zahlungsfähigen Markt dar, weil sie schlicht und einfach pleite sind.
4. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage behindert jegliche Entstehung neuer kapitalistischer Nationen. In einer Welt der gesättigten Märkte übertrifft das Angebot die Nachfrage bei weitem; die Preise werden durch die niedrigsten Produktionskosten bestimmt. Dadurch sind jene Länder mit den höchsten Produktionskosten gezwungen, ihre Waren für wenig Profit, wenn nicht gar mit Verlust zu veräußern. Dies drückt ihre Akkumulationsrate auf ein niedriges Niveau. Selbst mit ihren billigen Arbeitskräften gelingt es ihnen nicht, die notwendigen Investitionen zur Anschaffung moderner Technologien zu tätigen. Das Ergebnis ist die ständige Vergrößerung des Abstandes zwischen ihnen und den Industrieländern.
5. Die Militärausgaben in einer Welt des permanenten Krieges stellen auch für die entwickelten Länder eine große Belastung dar. Für die unterentwickelten Länder führen sie hingegen in den vollständigen Bankrott.
6. Die moderne Produktion von heute erfordert eine im Vergleich zum 19. Jahrhundert weitaus höher entwickelte Technologie und somit enorme Investitionen, die lediglich die Industriemächte zur Verfügung haben. So wirken sich auch rein technische Faktoren negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus.

DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN STAAT UND GESELLSCHAFT

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
In diesem Lebensabschnitt des Kapitalismus gab es eine sehr deutliche Trennung zwischen der Politik, dem Bereich der staatlichen Verwaltungsspezialisten und der Wirtschaft, dem Bereich der Privatkapitalisten.
In jener Zeit war der Staat, der auch damals durchaus nach der Herrschaft über die Gesellschaft trachtete, stark von Interessengruppen und Fraktionen des Kapitals beherrscht, was sich zum großen Teil in der Legislative bemerkbar machte. Noch dominierte die Legislative die Exekutive; das parlamentarische System und die repräsentative Demokratie waren Realität, waren das Terrain, auf dem die Konfrontationen zwischen den verschiedenen Interessengruppen stattfanden. Aufgabe des Staates war, die soziale Ordnung zu Gunsten des kapitalistischen Systems in seiner Gesamtheit zu bewahren. Aus diesem Interesse heraus gewährte der Staat den Arbeitern diverse Reformen gegen die barbarischen Exzesse der Ausbeutung, deren Ursache im unmittelbaren und unersättlichen Hunger der Privatkapitalisten nach Profit lag (z.B. die 10-Stunden-Bill in Großbritannien, die Gesetze zur Einschränkung der Kinderarbeit usw.)

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Dieser Lebensabschnitt des Kapitalismus zeichnet sich durch die Absorbierung der Gesellschaft durch den Staat aus. So hat die Legislative, die ursprünglich die gesellschaftlichen Interessen vertreten hatte, jegliches Gewicht zu Gunsten der Exekutive verloren, die nunmehr die Spitze der staatlichen Hierarchie verkörpert. In dieser Periode verschmilzt die Politik mit der Ökonomie zu einem Ganzen, da der Staat die Hauptrolle in der nationalen Wirtschaft und ihre tatsächliche Führung übernommen hat.
Ob dies durch die schrittweise Integration, wie in der "Marktwirtschaft" westlicher Ausrichtung, oder durch eine plötzliche Umwälzung, wie in der verstaatlichten Wirtschaft, geschieht, der Staat ist in keinem Fall mehr das bloße ausführende Organ der Privatkapitalisten und Interessengruppen, sondern der kollektive Kapitalist, dem sich alle besonderen Interessen zu beugen haben.
In seiner Eigenschaft als reelle Einheit des nationalen Kapitals verteidigt der Staat dessen Interessen sowohl nach innen als auch nach außen. Ebenso übernimmt er die Aufgabe, die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse sicherzustellen.

DER KRIEG

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Im 19. Jahrhundert hatte der Krieg im Allgemeinen die Funktion, jeder kapitalistischen Nation die zu ihrer Entwicklung notwendige territoriale Einheit und Ausdehnung zu sichern. In diesem Sinne und trotz des damit verbundenen Elends war der Krieg ein Aspekt des fortschrittlichen Wesens des Kapitals.
So waren die Kriege damals üblicherweise auf zwei oder drei meist benachbarte Länder begrenzt und zeichneten sich durch folgende Merkmale aus:
- Sie waren von kurzer Dauer.
- Sie verursachten wenig Zerstörung.
- Sie ermöglichten sowohl den Siegern als auch den Besiegten einen neuen Aufschwung (so z.B. der deutsch-französische, der österreichisch-italienische, der österreichisch-preußische und der Krimkrieg).
Der Deutsch-französische Krieg von 1870/71 war ein typisches Beispiel für diese Art von Krieg
- Er stellte eine entscheidende Etappe bei der Bildung des deutschen Nationalstaates dar, d.h. bei der Schaffung einer Grundlage für die gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte und bei der Bildung des wichtigsten Teils des industriellen Proletariats Europas, ja, der Welt, wenn man seine politische Rolle berücksichtigt.
- Gleichzeitig dauerte dieser Krieg nicht einmal ein ganzes Jahr. Auch fielen ihm nicht allzu viele Menschen zum Opfer. Selbst für das besiegte Frankreich stellte er keinen wirklichen Rückschlag dar: Nach 1871 setzte Frankreich seine industrielle Entwicklung fort, die im "Zweiten Reich" begonnen hatte, und erbeutete zudem den Löwenanteil seines Kolonialreiches.
Was die Kolonialkriege angeht, so verfolgten sie das Ziel, neue Märkte und Rohstoffressourcen zu erobern. Sie waren das Ergebnis eines Wettrennens der kapitalistischen Länder, die in ihrem Drang, ihre Bedürfnisse nach Ausdehnung zu befriedigen, die Welt unter sich aufteilten. Die Kolonialkriege standen also in direktem Zusammenhang mit der Ausdehnung des Kapitalismus und der Entwicklung der globalen Produktivkräfte.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
In einer Periode, in der die Bildung lebensfähiger nationaler Einheiten nicht mehr möglich und die formale Unabhängigkeit neuer Länder im Wesentlichen das Resultat der Rivalitäten zwischen den großen imperialistischen Mächten ist, werden die Kriege nicht mehr durch wirtschaftliche Notwendigkeit, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, bestimmt, sondern sind auf politische Ursachen zurückzuführen. Sie werden bestimmt vom Kräfteverhältnis zwischen den Blöcken und haben aufgehört, ein Moment der Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise zu sein. Die Kriege von heute sind im Gegenteil Ausdruck der Unmöglichkeit einer solchen Ausdehnung. Sie führen nicht zur Aufteilung der Welt, sondern zu ihrer Neuaufteilung. Da eine Weiterentwicklung definitiv nicht mehr möglich ist, kann der eine Block von Ländern seine Kapitalverwertung nur auf Kosten des feindlichen Blocks aufrechterhalten. Im Endeffekt läuft dieser Zustand auf Schwächung des Weltkapitals in seiner Gesamtheit hinaus.
Heute verbreiten sich die Kriege in alle Himmelsrichtungen und verursachen ungeheure Zerstörungen in der Weltwirtschaft; sie führen letztendlich zur allgemeinen Barbarei.
Wie im deutsch-französischen Krieg 1870/71 standen sich auch 1914 und 1939 Deutschland und Frankreich feindlich gegenüber. Doch die Unterschiede zwischen dem erstgenannten Krieg und den beiden Weltkriegen sind frappierend. Im 20. Jahrhundert:
- zog der Krieg ganz Europa in Mitleidenschaft und dehnte sich zudem auf die gesamte Welt aus;
- war der Krieg ein totaler Krieg, der jahrelang die gesamte Bevölkerung und sämtliche wirtschaftlichen Ressourcen mobilisierte, der binnen kurzer Zeit Jahrzehnte menschlicher Arbeit zunichte machte, Millionen von Proletariern massakrierte und Hunderte von Millionen von Menschen in die Hungersnot trieb.
Die Kriege des 20. Jahrhunderts sind keineswegs "Erneuerungskuren" (wie manche behaupten), sondern nichts anderes als ein Ausdruck des dahinsiechenden Kapitalismus.

DIE KRISEN

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
In einer auf ungleiche Entwicklungen, auf ungleiche Binnenmärkte basierenden Welt waren auch die Krisen durch die ungleiche Entfaltung der Produktivkräfte in den verschiedenen Ländern und Branchen gekennzeichnet. Sie zeigten an, dass der Binnenmarkt gesättigt und eine weitere Ausdehnung erforderlich war. Sie traten periodisch im Abstand von sieben bis zehn Jahren auf, also entsprechend der Tilgungsfrist des fixen Kapitals, und lösten sich infolge der Eröffnung neuer Märkte schnell auf. Sie trugen daher folgende Merkmale:
1. Sie brachen plötzlich aus, meistens nach einem Börsenkrach.
2. Sie waren von kurzer Dauer; die längsten Krisen dauerten ein bis drei Jahre.
3. Sie betrafen nicht alle Industrieländer. So:
- traf die Krise von 1825 vor allem Großbritannien, Frankreich und  Deutschland blieben von ihr verschont;
- traf die Krise von 1830 vor allem Nordamerika, während Frankreich  und Deutschland ihr erneut entgingen;
- verschonte die Krise von 1847 die USA und hatte schwache Auswirkungen in Deutschland;
- zeigte die Krise von 1866 wenig Wirkung in Deutschland und
- verschonte die Krise von 1973 Frankreich.
Nach und nach neigte der beschriebene Zyklus zwischen Börsenkrach und Boom dazu, sich auf alle entwickelten Länder gleichzeitig auszuwirken. Doch noch 1900 und 1903 waren die USA von der damaligen Rezession unbetroffen, und auch Frankreich blieb von der Rezession von 1907 verschont. Erst die Krise von 1913, die in den Ersten Weltkrieg mündete, erschütterte praktisch alle Länder gleichzeitig.
4. Sie wirkten sich nicht auf alle Industriebranchen aus. So:
- litt hauptsächlich die Baumwollindustrie unter den Krisen von 1825 und 1836;
- wurde in der Krise von 1873 die Metallindustrie in Mitleidenschaft gezogen. So kam es nicht selten vor, dass bestimmte Branchen sich noch im Aufschwung befanden, während andere von der Rezession erfasst waren.
5. Sie mündeten in einen neuen industriellen Aufschwung (die o.g. Wachstumszahlen von Sternberg sind in dieser Hinsicht aufschlussreich).
6. Sie schufen nicht die Bedingungen für eine politische Krise des Systems und noch weniger für den Ausbruch einer proletarischen Revolution. Hier muss man die Fehleinschätzung von Marx erwähnen, der kurz nach den Ereignissen von 1847/48 geschrieben hatte, dass eine neue Revolution nur im Anschluss an eine neuen Krise möglich sei, aber ebenso sicher sei wie Letztere. Sein Irrtum bestand nicht in der Erkenntnis darüber, dass zur Ermöglichung der Revolution die Krise des Kapitalismus notwendig ist. Ebenso wenig täuschte er sich, als er eine neue Krise angekündigt hatte (die Krise von 1857 sollte sich als noch stärker erweisen als die von 1847). Er ging vielmehr fehl in der Annahme, dass die Krisen zu seiner Zeit bereits die Todeskrisen des Kapitalismus darstellten. Diesen Irrtum hat Marx später natürlich korrigiert. Gerade weil er sich über die objektiven Bedingungen der Revolution im Klaren war, stieß er später in der IAA mit den Anarchisten zusammen, welche die noch bevorstehenden Etappen auf dem Weg zur proletarischen Revolution einfach überspringen wollten. So warnte er am 9. September die Pariser Arbeiter: "Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, (...) wäre eine verzweifelte Torheit." (Marx, Zweite Adresse über den deutsch-französischen Krieg, MEW Bd. 17, S. 277) Heute muss man schon Anarchist oder Bordigist sein, um sich einzubilden, dass die Revolution jederzeit möglich sei bzw. dass ihre materiellen Bedingungen bereits 1848 oder 1871 existiert hätten.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Bildung des kapitalistischen Weltmarktes abgeschlossen. Die Binnenmärkte haben an Bedeutung verloren (u.a. wegen des Verschwindens außerkapitalistischer Bereiche). Unter diesen Umständen sind die Krisen kein Ausdruck lediglich zeitweise verstopfter Märkte, sondern Zeugnis von der Unmöglichkeit einer weiteren Ausdehnung der Märkte. Aus diesem Grund handelt es sich bei den heutigen Rezessionen um allgemeine und permanente Krisen.
Die Konjunkturen werden nicht mehr vom Verhältnis zwischen der Produktionsauslastung und der Größe des jeweils bestehenden Marktes bestimmt. Sie sind vielmehr im Wesentlichen das Ergebnis politischer Faktoren, die vom Zyklus "Krise-Krieg-Wiederaufbau" beeinflusst sind. So bestimmen nicht mehr die Probleme der Kapitaltilgung die Dauer der konjunkturellen Phasen, sondern vielmehr der Umfang der Zerstörungen des vorausgegangenen Krieges. Nur so kann man verstehen, warum die Dauer der Wiederaufbau- und Expansionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg mehr doppelt so lang war (17 Jahre) wie nach dem Ersten Weltkrieg (sieben Jahre).
Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, das von der Politik des "Laisser-faire" charakterisiert war, wird im 20. Jahrhundert das Ausmaß der Krisen mit Hilfe staatlicher Eingriffe eingeschränkt. So verhält es sich mit den lokalen Kriegen, mit der Entwicklung der Rüstungsindustrie, der Kriegswirtschaft, mit dem systematischen Einsatz der Inflation (das Drucken von Banknoten), mit dem Verkauf auf Kredit, der allgemeinen Verschuldung und mit vielen anderen politischen Maßnahmen, die vielfach mit den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus brechen.
So gesehen, haben die Krisen des 20. Jahrhunderts folgende Merkmale:
1. Sie brechen nicht plötzlich aus, sondern entwickeln sich schrittweise und über einen längeren Zeitraum. Zwar wies die Krise von 1929 mit ihrem plötzlichen Ausbruch durchaus noch ein Merkmal der Krisen des 19. Jahrhunderts auf. Doch lässt sich dies nicht dadurch erklären, dass sie unter ähnlichen wirtschaftlichen Bedingungen stattfand, sondern allein durch die Tatsache, dass die politischen Institutionen des Kapitals gegenüber den veränderten Bedingungen völlig unvorbereitet waren. Später ermöglichten es die massiven staatlichen Eingriffe (New Deal in den USA, Rüstungsproduktion in Deutschland), die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise über ein Jahrzehnt lang hinauszuzögern.
2. Einmal ausgebrochen, dauern Krisen im 20. Jahrhundert stets sehr lange. Während das Verhältnis zwischen Rezession und Aufschwung im 19. Jahrhundert 1 : 4 betrug, änderte es sich im 20. Jahr-hundert auf 2 : 1. Denn zwischen 1914 und 1980 zählte man genau zehn Jahre Weltkrieg (ohne die permanenten lokalen Kriege mit zu berücksichtigen), 32 Jahre der Krisen und Rezessionen (1918-22, 1929-39, 1945-50, 1967-...), insgesamt also 42 Jahre Kriege und Krisen, dagegen nur 24 Jahre Wiederaufbau (1922-29 und 1950-67). Und die derzeitige Krise ist noch lange nicht an ihrem Ende angelangt.
3. Während sich die Wirtschaft im 19. Jahrhundert am Ende einer jeden Krise aus eigener Kraft wieder angekurbelt hatte, kennen die Krisen des 20. Jahrhunderts, vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen, keine andere Lösung als einen neuen Weltkrieg. Krisen sind in diesem todkranken System unvermeidbar. Für das Proletariat hingegen bringen sie die Notwendigkeit und Möglichkeit der kommunistischen Revolution zum Vorschein. Das 20. Jahrhundert ist in der Tat die Ära von Krieg und Revolution, wie es die Komintern auf ihrem Gründungskongress ausgedrückt hatte.

DER KLASSENKAMPF

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Die Formen des Klassenkampfes im 19. Jahrhundert waren gleichermaßen durch die Besonderheiten des Kapitals wie durch die Arbeiterklasse selbst bestimmt:
1. Das Gesamtkapital im 19. Jahrhundert war noch in zahllose, kleine Einzelkapitale zersplittert. Selten hatten die Fabriken mehr als 100 Arbeiter beschäftigt, oftmals waren die Unternehmen noch halbe Handwerksbetriebe. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich mit dem Bau der Eisenbahnen, der massenhaften Maschinisierung, der Vervielfachung der Bergwerke die Vorherrschaft der Großindustrie, so wie man sie heute kennt.
2. Die Zahl der konkurrierenden Kapitalisten war somit sehr hoch.
3. Zudem war die angewandte Technologie noch ziemlich unterentwickelt. Die erste Generation von Fabrikarbeitern kam vom Land und war mehrheitlich unqualifiziert. Qualifizierte Arbeiter kamen vorwiegend aus dem Handwerk.
4. Die Ausbeutung basierte auf dem Auspressen des absoluten Mehrwerts: langer Arbeitstag, sehr niedriger Arbeitslohn.
5. Jeder Fabrikherr stieß direkt und auf sich allein gestellt mit den Arbeitern zusammen, die von ihm ausgebeutet wurden. Es gab noch keine organisierte Einheit der Unternehmer: Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich die ersten Unternehmerverbände. In diesen isolierten Konflikten kam es nicht selten vor, dass die Konkurrenz sich die Hände rieb und mit einem Auge auf die Abnehmer der betroffenen Fabrik schielte.
6. Der Staat hielt sich in der Regel aus solchen Konflikten heraus. Er intervenierte erst dann, wenn der Konflikt die "öffentliche Ordnung" zu stören drohte.
Auf Seiten der Arbeiterklasse sind folgende Charakteristiken festzuhalten:
1. So wie das Kapital war auch die Arbeiterklasse sehr zersplittert. Sie war eine in der Entstehung befindliche Klasse. Ihre kämpferischsten Angehörigen waren noch sehr stark mit dem Handwerk verbunden und daher stark vom Korporatismus geprägt.
2. Auf dem Arbeitsmarkt herrschte noch uneingeschränkt und direkt das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Nur in Zeiten der Hochkonjunktur, der schnellen Ausweitung der Produktion, in der Mangel an Arbeitskräften vorherrschte, waren die Arbeiter in der Lage, wirksamen Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals zu leisten und sogar wichtige Verbesserungen in den Löhnen und Arbeitsbedingungen zu erzielen. In Zeiten der Wirtschaftskrise verloren sie dagegen ihre Stärke und ließen sich wehrlos einen Teil der eben errungenen Verbesserungen wieder abjagen. Als Ausdruck dieses Phänomens fand die Gründung der Ersten sowie der Zweiten Internationalen jeweils in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs statt (1864, also drei Jahre vor dem Ausbruch der Krise von 1867, wurde die Internationale Arbeiterassoziation, kurz: IAA, gegründet, die II. Internationale 1889, am Vorabend der Krise von 1890-93) und spiegelte die verstärkte Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse wider.
3. Im 19. Jahrhundert bedeutete die Emigration eine Lösung für die Arbeitslosigkeit und die furchtbare Not, die in regelmäßigen Abständen die Arbeiterklasse während der zyklischen Krisen heimsuchten. Als die Lebensbedingungen in den kapitalistischen Metropolen unerträglich wurden, war die Möglichkeit für große Teile des Proletariats, in die "Neue Welt" zu emigrieren, ein Element zur Vermeidung explosiver Situationen wie jener des Jahres 1848. So war die Ausdehnungsfähigkeit des Kapitalismus und die Möglichkeit der Emigration eine Garantie für die Stabilität des Systems im 19. Jahrhundert.
4. Die besonderen Bedingungen des aufstrebenden Kapitalismus zwangen die Arbeiter dazu, Organisationen zur Vertretung ihrer ökonomischen Interessen zu schaffen: die Gewerkschaften, lokale, berufsgebundene Interessenorganisationen, die auf eine Minderheit von Arbeitern beschränkt blieben. Der Streik, die Hauptform des damaligen Kampfes, wurde gründlich vorbereitet, die bestreikten Fabriken stets vorher ausgewählt. Im Allgemeinen brachen die Kämpfe verstärkt in Phasen der Hochkonjunktur aus und richteten sich gegen eine bestimmte Industriebranche oder einzelne Fabriken. Trotz all dieser Beschränkungen waren die Gewerkschaften reelle Organe der Arbeiterklasse, die nicht nur im ökonomischen Kampf gegen die Kapitalisten, sondern auch als Lebenszentrum der Klasse, als Schule der Solidarität, unabdingbar waren. In diesen Schulen konnten die Arbeiter lernen, dass sie eine gemeinsame Sache, ein gemeinsames Ziel verfolgen, denn es handelte sich hierbei um "Schulen des Kommunismus", wie Marx sie bezeichnete, die für die revolutionäre Propaganda offen waren.
5. Im 19. Jahrhundert waren die Streiks im Allgemeinen von relativ langer Dauer. Darin bestand eine der Bedingungen für ihre Wirksamkeit: Sie zwang die Arbeiter, das eigene Verhungern zu riskieren und sich daher mit der Notwendigkeit zu befassen, Unterstützungsfonds, "Widerstandskassen", zu organisieren und die materielle Solidarität der anderen Arbeiter in Anspruch zu nehmen. Daher bildete die Tatsache, dass Letztere weiter arbeiteten und sich nicht dem Streik anschlossen, durchaus ein positives Element für die Wirksamkeit des Kampfes. Denn wenn in den Konkurrenzfabriken weitergearbeitet wurde, konnte dies einen zusätzlichen Druck auf den bestreikten Fabrikherrn ausüben.
6. Unter diesen Umständen erhielt die Frage der materiellen, finanziellen Vorbereitung und Organisierung des Proletariats eine zentrale Bedeutung bei der Durchführung der Kämpfe. Oft hatte sie Vorrang vor dem Inhalt, vor den tatsächlichen Errungenschaften der Kämpfe. Sie wurde zum Ziel an sich, wie Marx feststellte, als er auf die Aussagen der Bourgeoisie einging, die nicht verstand, warum die Arbeiter mehr Geld für ihre Gewerkschaften ausgaben, als diese dem Kapital für sie entreißen konnten.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Der Klassenkampf im dekadenten Kapitalismus wird aus der Sicht des Kapitals durch folgende Merkmale bestimmt:
1. Das Kapital hat ein hohes Niveau der Konzentration und Zentralisierung erreicht.
2. Quantitativ, also von der bloßen Anzahl der konkurrierenden Unternehmer ausgehend, ist die Konkurrenz schwächer geworden, qualitativ hat sie sich dagegen enorm zugespitzt.
3. Die Technologie ist hoch entwickelt. Die Arbeitskräfte sind immer qualifizierter, da die einfachen Arbeiten zunehmend von Maschinen ausgeführt werden. Ein Großteil der heutigen Lohnabhängigen steht schon in der vierten oder fünften Arbeitergeneration. Nur eine ganz geringe Anzahl von Arbeitern wird aus der Landwirtschaft rekrutiert.
4. Die dominierende Grundlage der Ausbeutung ist das Auspressen des relativen Mehrwerts (Beschleunigung des Arbeitsrhythmus und Zunahme der Produktivität).
5. Im Vergleich zu früher herrscht heute eine viel größere Einheit und Solidarität unter den Kapitalisten gegenüber der Arbeiterklasse. Erstere haben spezielle Organe gegründet, um der Arbeiterklasse nicht mehr einzeln gegenüberzutreten.
6. Der Staat greift direkt in die sozialen Konflikte ein, entweder in seiner Eigenschaft als Kapitalist bzw. als "Vermittler", d.h. als Kontrollorgan auf der politischen und ökonomischen Ebene der Konfrontation, um diese auf Sparflamme zu halten, oder aber einfach als Organisator und Ausführender der Repression.
Auf der Seite der Arbeiterklasse sind folgende Merkmale zu nennen:
1. Die Arbeiterklasse ist auf globaler Ebene vereinigt und auf intellektueller Ebene hoch qualifiziert. Sie hat nur noch sehr entfernte Verbindungen zum Handwerk. Zentrale Stätten ihrer Kampfbereitschaft sind die großen, modernen Betriebe. Die Kämpfe verlassen immer mehr den Boden des Korporatismus.
2. Im Gegensatz zur aufsteigenden Periode kommt es heute zum Ausbruch von Kämpfen, wenn die Gesellschaft in eine Krise gerät: Die Revolutionen von 1905 und 1917 in Russland entstanden infolge der akuten Krise (denn Kriege sind nichts anderes als Krisen). Die große internationale Welle von revolutionären Kämpfen zwischen 1917 und 1923 fand während einer Zeit der Kriege und der sich anschließenden wirtschaftlichen Erschütterungen statt und endete mit dem Aufschwung, den der Wiederaufbau mit sich brachte. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern wurde die Dritte Internationale 1919, auf einem Tiefpunkt der gesellschaftlichen Krise und auf dem gleichzeitigen Höhepunkt der proletarischen Kampfbereitschaft, gegründet.
3. Das Phänomen der wirtschaftlich bedingten Emigration im 20. Jahrhundert, besonders nach dem II. Weltkrieg, ist sowohl von seinem Ursprung her als auch hinsichtlich seiner Konsequenzen keineswegs vergleichbar mit den großen Auswanderungsströmungen des 19. Jahrhunderts. Es drückt nicht die historische Expansion des Kapitals nach neuen Territorien aus, sondern im Gegenteil die Unmöglichkeit der ökonomischen Entfaltung der ehemaligen Kolonien. Die Arbeiter und Bauern flüchten aus den verelendeten ländlichen Regionen in die Metropolen, welche die emigrierenden Arbeiter des 19. Jahrhunderts ihrerseits verlassen hatten. Die Auswanderung wirkt also nicht mehr als Sicherheitsventil in der akuten Krise des Systems. Nach dem Ende der Wiederaufbauperiode hörte die Emigration auf, ein Mittel zu sein, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, die sich in den Industrieländern ausbreitet, nachdem sie bereits vorher die unterentwickelten Länder heimgesucht hat. Die Krise treibt die Arbeiterklasse in die Enge, ohne ihr den geringsten Ausweg innerhalb dieses Systems zu lassen.
4. Die Unmöglichkeit von dauerhaften Verbesserungen für die Arbeiterklasse bedeutet auch die Unmöglichkeit der Bildung spezifischer, permanenter, ihre ökonomischen Interessen vertretener Organisationen. Die Gewerkschaften verlieren ihre ursprüngliche Funktion: Da sie keine Klassenorgane, geschweige denn "Schulen des Kommunismus" sind, werden sie vom Kapital vereinnahmt und in den Staat integriert, ein Prozess, der durch die Tendenz des Staates, sich die gesamte Gesellschaft einzuverleiben, noch verstärkt wird.
5. Der proletarische Kampf sprengt zunehmend den ökonomischen Rahmen und wird zum gesellschaftlichen Kampf. Die Arbeiter stoßen direkt mit den staatlichen Organen zusammen und werden auf diesem Wege politisiert. Desgleichen erfordern diese Kämpfe die massive Beteiligung der gesamten Klasse. Rosa Luxemburg deckte dies in ihrer Schrift "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" vor dem Hintergrund der ersten russischen Revolution von 1906 auf. Den gleichen Gedanken findet man auch bei Lenin: "Hinter jedem Streik erhebt sich das Gespenst der Revolution."
6. Die Kämpfe in der dekadenten Phase können nicht von langer Hand organisatorisch vorbereitet werden. Sie brechen spontan aus und streben danach, sich auszuweiten. Sie finden eher auf lokaler oder territorialer denn auf beruflicher Ebene statt. Ihre Ausweitung verläuft eher horizontal als vertikal. Diese Merkmale sind Vorboten der revolutionären Konfrontation, in der die Arbeiter nicht nach Berufen oder Branchen getrennt oder als Arbeiter der einen oder anderen Fabrik auftreten, sondern als vereinigte Klasse, die sich auf geopolitischer Ebene (Provinzen, Länder) zusammengeschlossen hat. Auch ist es der Arbeiterklasse unmöglich, sich im Vorfeld eines Kampfes mit materiellen Hilfsmitteln zu versorgen. Angesichts der Art und Weise, wie das Kapital sich organisiert, wie die gesamte Kapitalistenklasse sich im Falle von Kämpfen gegenseitig hilft, wird ein Streik auf längere Zeit zu einer stumpfen Waffe. In diesem Sinn hängt der Erfolg eines Streiks nicht von finanziellen Mitteln ab, sondern im Wesentlichen von der Fähigkeit der Arbeiter, den Kampf auszudehnen, da nur dies eine reelle Bedrohung des gesamten nationalen Kapitals darstellt. Heutzutage besteht die Solidarität der Arbeiter nicht mehr in der finanziellen Unterstützung kämpfender Arbeiter (dabei handelt es sich nur um eine Scheinsolidarität, welche die Gewerkschaften anbieten, um die Arbeiter von einer wirklichen Unterstützung abzuhalten), sondern in der eigenen Aufnahme des Kampfes.
7. So wie die Organisation des Kampfes dem Kampf selbst nicht vorausgeht, sondern sich erst im Verlauf des Kampfes herausschält, so kann die Selbstverteidigung und Bewaffnung des Proletariats nicht im Voraus vorbereitet werden, indem man ein paar Gewehre bunkert (so wie sich dies einige Gruppen wie die GCI vorstellen).
 All dies sind Etappen in einem Prozess, den man nicht beenden kann,   ohne alle Etappen durchlaufen zu haben.

DIE ROLLE DER REVOLUTIONÄREN ORGANISATION

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Die Organisation der Revolutionäre, Produkt der Klasse und ihres Kampfes, ist eine Minderheitsorganisation, die sich auf der Grundlage eines Programms konstituiert. Ihre Funktion besteht in der:
1. theoretischen Aufarbeitung der Kritik des Kapitalismus,
2. Erarbeitung des Programms, der historischen Ziele des Klassenkampfes,
3. Verbreitung dieses Programms in der Klasse,
4. aktiven Teilnahme an allen Phasen des unmittelbaren Kampfes der Klasse und ihrer Selbstverteidigung gegen die kapitalistische Ausbeutung.
So übernahmen die revolutionären Organisationen im 19. Jahrhundert die Aufgabe, ab einem bestimmten Entwicklungsstadium die ökonomischen Kämpfe der Klasse auf der Grundlage einer bereits im Keim bestehenden und in früheren Kämpfen erzeugten Organisation aktiv zu initiieren und zu organisieren.
Aufgrund dieser Funktion und angesichts der Begleitumstände dieser Periode - die Möglichkeit von Reformen und eine Neigung zur Propagierung reformistischer Illusionen in der Klasse - wurden auch die Organisationen der Revolutionäre (die Parteien der II. Internationalen) vom Bazillus eines Reformismus befallen, der letztendlich das revolutionäre Endziel zu Gunsten der unmittelbaren Reformen aufgab. Sie ließen sich dazu verleiten, die Entwicklung und den Erhalt der ökonomischen Organisationen (Gewerkschaften) zu ihrer einzigen praktischen Aufgabe zu machen (Entwicklung des Ökonomismus).
Nur eine Minderheit innerhalb der revolutionären Organisationen widerstand dieser Entwicklung und verteidigte die Integrität des historischen Programms der sozialistischen Revolution. Ein Teil dieser Minderheit wiederum neigte jedoch dazu, als Reaktion auf die reformistische Degeneration sich die dem Proletariat fremde Auffassung anzueignen, dass die Partei die einzige Quelle des Bewusstseins, die alleinige Inhaberin eines vollendeten Programms sei, deren Funktion mithin darin bestünde, ähnlich wie die Parteien der Bourgeoisie die Arbeiterklasse zu "vertreten", und die folglich das Recht habe, das Entscheidungsorgan der Klasse zu stellen, mit anderen Worten: im Namen der Arbeiterklasse die Macht zu übernehmen. Diese Auffassung, die wir Substitutionismus nennen, prägte eine Mehrheit der revolutionären Linken in der II. Internationalen, insbesondere ihren wichtigsten Theoretiker Lenin (s. Was tun?, Ein Schritt vorwärts,  zwei Schritte zurück).

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
In dieser Phase behält die Organisation der Revolutionäre die allgemeinen Merkmale der vorherigen Periode bei. Hinzu kommt aber, dass die Verteidigung der unmittelbaren Interessen nicht mehr vom Endziel getrennt werden kann, welches auf der Tagesordnung der Geschichte steht. Dagegen verliert sie aufgrund dieser Tatsache die Funktion, die Klasse zu organisieren. Dies kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein, die in ihrem Kampf zu einer sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht neuartigen Organisation findet: den Arbeiterräten.
Indem sie sich die alte Parole der Arbeiterbewegung wieder zu Eigen macht, dass "die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst" ist, muss die Organisation jegliche substitutionistischen Tendenzen als bürgerliche Auffassung bekämpfen. Als revolutionäre Minderheit hat sie nicht die Aufgabe, a priori eine Plattform für die unmittelbaren Forderungen zu bilden, um die Klasse zu mobilisieren. Sie muss sich jedoch entschlossen an allen Kämpfen beteiligen und ihnen eine allgemeine Orientierung verleihen, wobei sie die Agenten und Ideologen der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse denunzieren muss. Im Kampf selbst muss sie die Notwendigkeit der Generalisierung als einzigen Weg zum Endziel, der Revolution, betonen. Sie ist weder unbeteiligter Zuschauer noch devoter Diener der Arbeiterklasse.
Die Organisation der Revolutionäre verfolgt das Ziel, die Entstehung von Arbeiter-Diskussionsgruppen oder Arbeitergruppen zu fördern und in ihnen mitzuarbeiten. Dabei muss sie diese als vorübergehende, unfertige Produkte eines tatsächlich in der Klasse bestehenden Bedürfnisses nach Umgruppierung und Diskussion betrachten, das angesichts der Unmöglichkeit, neue Gewerkschaften zu schaffen, allerdings erst dann völlig befriedigt werden kann, wenn die wirklichen Einheitsorgane de Arbeiterklasse, die Arbeiterräte, gebildet werden.
Entsprechend dem Charakter der Krise muss die Organisation der Revolutionäre jeden Versuch, solche Gruppen künstlich zu erzeugen, jeden Anspruch, sie zu Transmissionsriemen irgendwelcher Parteien oder gar zum Kern der künftigen Räte oder anderer politisch-ökonomischer Organe zu machen, ablehnen. Denn dies kann die Entwicklung des Reifungsprozesses im Bewusstsein und in den Einheitsorganen der Klasse nur lähmen. Solange sie es vermeiden, sich zum Selbstzweck zu machen, unausgegorene Plattformen zu verabschieden, solange sie ein Treffpunkt bleiben, der für alle Arbeiter offen ist, die sich mit den Problemen ihrer Klasse auseinandersetzen wollen, können solche Diskussionszirkel durchaus wertvoll sein und vorübergehend wichtige Aufgaben erfüllen.
In Anbetracht der Tatsache, dass nach einer Zeit lang andauernder und erdrückender Konterrevolution die Revolutionäre in alle Winde zerstreut sind, hat die revolutionäre Organisation die Aufgabe, die Entwicklung eines politischen Milieus auf internationaler Ebene zu fördern. Das bedeutet, Debatten und Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen über politische Positionen zu fördern, was schließlich den Prozess der Bildung der internationalen politischen Klassenpartei in Gang setzt.
Die schlimmste Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterbewegung war auch für die Organisation der Revolutionäre eine furchtbare Prüfung. Die einzigen Strömungen, die überlebten, waren diejenigen, die bei Wind und Wetter die wichtigsten Prinzipien des kommunistischen Programms hochgehalten hatten. Allerdings hat eine solch misstrauische Haltung gegenüber "neuen Konzepten", die unter dem Druck der triumphierenden bürgerlichen Ideologie im Allgemeinen zur Aufgabe von Klassenpositionen drängen - eine Haltung, die an sich völlig gerechtfertigt ist -, die Revolutionäre oft daran gehindert, die im Kapitalismus und in den Arbeiterkämpfen eingetretenen Veränderungen in ihrem vollen Umfang zu begreifen. Eine besonders karikaturistische Form dieses Phänomens findet sich in jener Auffassung wieder, welche die Klassenpositionen als "invariant" bezeichnet und meint, das kommunistische Programm sei 1848 ein für allemal formuliert worden und müsse nicht im Geringsten modifiziert werden.
Während sie sich einerseits gegenüber der modernistischen Ideologie abschirmen muss, die oft nur alten Wein in neuen Schläuchen anbietet, muss die Organisation der Revolutionäre, falls sie die Aufgaben erfüllen soll, derentwegen sie von der Klasse geschaffen worden war, andererseits auch in der Lage sein, diese Veränderung im gesellschaftlichen Leben sowie ihre Folgen auf die Aktivität der Klasse und ihrer kommunistischen Avantgarde zu begreifen.
Angesichts des offensichtlich reaktionären Charakters sämtlicher Nationen muss sie jegliche Unterstützung der so genannten nationalen Befreiungsbewegungen verweigern. Angesichts des imperialistischen Charakters aller Kriege muss sie jede angestrebte Beteiligung an ihnen, gleich, unter welchem Vorwand, demaskieren. Angesichts der Vereinnahmung der Gesellschaft durch den Staat und der Unmöglichkeit von Reformen muss sie jede Teilnahme am parlamentarischen Wahlzirkus bekämpfen. Angesichts der heutigen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen des Klassenkampfes muss die Organisation der Revolutionäre jegliche Illusion in der Klasse über die Möglichkeit der Wiederbelebung von Organisationen wie die Gewerkschaften zerstören, da diese ihren Kampf nur behindern. Ebenso muss sie die Methoden und die Organisationsweisen, welche die Arbeiterklasse in der ersten revolutionären Welle dieses Jahrhunderts geschaffen hatte, in den Vordergrund stellen: den Massenstreik, die Vollversammlungen, die Einheit zwischen ökonomischem und politischem Kampf, die Arbeiterräte.
Um ihre Rolle in den Kämpfen wahrzunehmen, um sie zu unterstützen und auf eine revolutionäre Lösung zu orientieren, muss die Organisation der Kommunisten letztlich jene Rolle aufgeben, die sie im 19. Jahrhundert innehatte. Es ist nicht mehr ihre Aufgabe, die Klasse zu organisieren und zu vertreten.
Revolutionäre, die behaupten, dass sich seit dem letzten Jahrhundert nichts geändert habe, halten das Proletariat wohl für Babin, jener Figur aus einem Märchen Tolstois. Jedes Mal, wenn Babin einen Fremden traf, gab er ihm die Antwort, die eigentlich der letzten von ihm angetroffenen Person gegolten hatte. So widerfuhr es ihm, dass er häufig Prügel bezog. Denn gegenüber Kirchgängern benutzte er Worte, wie er sie besser im vorherigen Dialog mit dem Teufel angewendet hätte. Mit einem Bär sprach er, als sei dieser jener Einsiedler, mit dem er zuvor geredet hatte. Am Ende büßte der arme Babin für seine Dummheiten mit seinem Leben...
Die Neubewertung der Position und Rolle der Revolutionäre, die wir in diesem Text behandelt haben, stellt keineswegs eine Aufgabe oder "Revision" des Marxismus dar. Im Gegenteil, sie gibt das Wesentliche des Marxismus getreu wieder. Die Fähigkeit, die neuen Kampfbedingungen und ihre Auswirkungen auf das kommunistische Programm zu begreifen, ermöglichte es Lenin und den Bolschewiki, eine aktive und entscheidende Rolle in der Oktoberrevolution von 1917 zu spielen.
Rosa Luxemburg verteidigte den gleichen revolutionären Standpunkt, als sie 1906 gegen die "orthodoxen" Elemente ihrer Partei schrieb: "Wenn also die Russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunktes des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wieder nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen." (R. Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Ges. Werke, Bd. 2, S. 97)

Partei, Arbeiterräte, Substitutionismus Teil 1

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In der jungen revolutionären Bewegung, die durch das Wiedererstarken des Klassenkampfes am Ende der 60er Jahre ins Leben gerufen wurde, war das erste und hartnäckigste Hindernis für den Wiederaufbau einer internationalen Organisation der Revolutionäre, was im allgemeinen als  Rätekommunismus beschrieben werden kann. Traumatisiert durch den Verfall der bolschewistischen Partei und durch die Erfahrung mit dem Stalinismus und Trotzkismus, erklärten die meisten dieser neuen revolu­tionären Strömungen, daß die Arbeiterklasse keine revolutionäre Partei benötige und einzig und allein die Ein­heitsorgane der Klasse, die Arbeiterräte, für die Verwirklichung der kommunistischen Revolution notwendig sind. Diesem Standpunkt zufolge sollten die Revolutionäre vermeiden, sich zu organisieren und als Avantgarde im Klassenkampf zu handeln. Einige Strömungen gingen sogar soweit, daß sie jegliche Form einer revolutionären Grup­pe als "Gaunerbande" ablehnten, die von den Bedürf­nissen des Kapitals und nicht vom Proletariat diktiert seien. Seit Anbeginn ihres Bestehens hat unsere inter­nationale Strömung diese Konfusionen abgelehnt und aktiv interveniert, um sie zu bekämpfen - z.B. auf der internationalen Konferenz, die 1969 von der franzö­sischen Gruppe INFORMATIONS CORRESPONDENCE OUVRIERES veranstaltet wurde. Wir ha­ben immer darauf bestanden, daß die Zurückweisung der kon­terrevolutionären Hypothek des Stalinismus und Trotz­kismus sowie die notwendige Kritik an den Irrtümern frühe­rer proletarischer Parteien nicht zur Absage an die Notwendigkeit einer vereinigten Organisation der Revolutionäre führen darf, und haben vor der Gefahr eines mangelnden Verständnisses der unverzichtbaren Rolle der kommunistischen Partei in der pro­letarischen Revolution gewarnt. Wenn diese kompromißlose Verteidigung der Notwendigkeit einer re­volutionären Organisation von den Rätekommunisten und den verschiedenen Libertären als "Leninismus" beschimpft wird, dann ist das um so schlimmer für sie! Die IKS hat sich immer auf die großen historischen Verdienste Lenins und der bolschewistischen Partei als ein Teil unserer eigenen Erbes berufen.
Die rätekommunistische Ideologie, die großen Wert auf ihre eigene, besondere Interpretation der "Massenspontaneität" der Arbeiterklasse legt, kann in Zeiten wachsender Klassenaktivitäten , wenn die Kreativität der Klasse ein hohes Niveau erreicht und die revolutionären Minderheiten in ihr Schlepptau nimmt, gelegentlich aufblühen. So war der Mai '68 die Hochphase zahlloser rätekommunistischer Tendenzen, von der Situationistischen Internationalen bis zur GLAT. Doch solchen Tendenzen erging es nicht so gut, wenn der Klassenkampf den Rückzug antrat. Nach dem Abebben der Welle von Kämpfen in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern zwischen 1968 und 1972 zerbröselte die überwiegende Mehrheit dieser Tendenzen, die sich auf eine immediatistische und aktivistische Konzeption der revolutionären Arbeit stützten, oder entwickelte sich zu sterilen, akademischen Sekten. Die Liste der Verluste ist lang: die SI, Gauche Marxiste, Pouvoir Ouvrier, Noir et Rouge, die GLAT, Combate und die mannigfaltigen modernistischen, anti-organisatorischen Tendenzen: Invariance, Mouvement Communiste, Kommunismen, Internationell Arbeitarkampf, Negation, For Ourselves... In der schwierigen und manchmal entmutigenden Atmosphäre der letzten paar Jahre, in denen die Vertiefung der Krise nicht ein entsprechendes Niveau des Klassenkampfes bewirkt hat, hat nahezu die Hälfte aller kommunistischen Gruppierungen, die überlebten oder gar wuchsen, auf die eine oder andere Weise besonderen Wert auf die Notwendigkeit der Organisation gelegt: die IKS, die CWO, Battaglia Comunista und, trotz ihrer politischen Degenerierung, die bordigistische IKP. So wie auf einer größeren, historischen Ebene ihre Klarheit in der Organisationsfrage es der Italienischen Linken ermöglichte, sicherer in der Periode der Konterrevolution zu überleben als andere linkskommunistische Fraktionen, so waren die letztgenannten Gruppen besser gerüstet, um mit den Auswirkungen der heutigen Periode einer verhältnismäßigen Ruhe an der Klassenfront fertigzuwerden.
Doch wenn die rätekommunistischen und organisationsfeindlichen Abweichungen in Zeiten der wachsenden Akti­vitäten der Klasse Auftrieb erhalten können, so neigen die entgegengesetzten Abweichungen dazu, in Zeiten der Niederlage der Klasse oder der Zwangsruhe in den Vordergrund zu rücken, wenn Revo­lutionäre oft ihre Überzeugung in der Fähigkeit des Prole­tariats verlieren, autonom zu kämpfen und sein revolutionäres We­sen zu verwirklichen. Die substitionistischen Übertreibungen in Lenins Was tun? waren weitgehend das Produkt der Periode der internationalen Klassenruhe Ende des 19. Jahrhunderts gewesen. Als Folge von 1905 und insbesondere der Revolution von 1917 war Lenin in der Lage, diese Übertreibungen zu kritisieren und seine eigenen politischen Positionen mit der massenhaften Selbstaktivität der Klasse zu verknüpfen; der Niedergang der revolutionären Welle verleitete Lenin und die Bolschewiki jedoch dazu, zu den alten sozialdemokratischen Deformationen zurückzukehren. Auch der Preis, den die Italienische Linke für ihr Festhalten an Klassenpositionen in den langen Jahren der Konterrevolution entrichten mußte, war hoch: eine, besonders nach dem II. Weltkrieg, wachsende Überbetonung der Rolle der Partei, die in dem Partei-Größenwahn der Bordigisten kulminierte.
So wurde die IKS unter den gegenwärtigen Umständen - angesichts der Auflösungserscheinungen im Rätekommunismus und seines Bankrotts, der sich in  diesem Verfall manifestiert - immer mehr mit der entgegengesetzten Abweichung konfrontiert: dem Substitutionismus,  der Unterschätzung der Bedeutung der Selbstaktivität der Massen und einer Überschätzung der Rolle der Partei, was soweit ging, daß der Partei  Aufgaben zugeschrieben wurden, die nur die Klasse in ihrer Gesamtheit ausführen kann, insbesondere die Ergreifung und Ausübung der politischen Macht. Nachdem die IKS von den Rätekommunisten als leninistisch beschimpft wurde, wird sie nun von den Leninisten als rätekommunistisch denunziert... Hinzu kommt, daß Organisationen, die ursprünglich ein klareres Verständnis des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse hatten - wie z.B. die "Com­munist Workers' Organisation" (CWO) -, sich zu offen sub­stitutionistischen Positionen zurückentwickeln. So stellte die Plattform von REVOLUTIONARY PERSPECTIVE 1975 fest, daß die revolutionäre Organisation "nicht im Namen der Klasse handeln kann, sondern nur als ein Teil von ihr, unmißverständlich anerkennend, daß die Hauptlehre von 1917 in Rußland und Deutschland war, daß die Ausübung der Macht in der Diktatur des Proletariats und die Errichtung des Kommunismus die Aufgaben der Klasse selbst und ihrer klassen-weiten Organisationen (Räte, Fabrikkomitees, bewaffnete Milizen) sind."
Heute argumentiert die CWO, daß die Partei den Kampf um die Macht "anführt und organisiert" (CWO-Text für die Pariser Konferenz der revolutionären Gruppen) und:
"Im Moment seines Sieges wird der Aufstand in eine Revolution umgewandelt, und die mehrheitliche Unterstützung für den Kommunismus wird sich dadurch manifestieren, daß die Klasse - auf dem Wege der Partei in den Räten - die Macht innehält." (INTERNATIONAL REVIEW, Nr. 12, S. 23)
Selbst innerhalb der IKS sind ähnliche Gedanken entwickelt worden, was Genossen in Frankreich und Italien zu den beruhigenden Dogmen des Bordigismus geführt hat. Morgen, wenn das Proletariat entschlossen auf die Bühne zurückgekehrt ist, werden wir es möglicherweise wieder mit Rätekommunisten, Ouvrieristen und Autonomen aller Schattierungen zu tun haben. Die Resolution "Die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution", die auf dem Dritten Kongreß von WORLD REVOLUTION angenommen worden war, ist ein Versuch, beiden Garnituren von Abweichungen entgegenzutreten und einen allgemeinen Rahmen zur Entwicklung einer detaillierteren und genaueren Analyse der Rolle der Partei zu liefern - eine Analyse, die zwangsläufig unvollständig bleiben muß, bis der zukünftige revolutionäre Kampf der Klasse bislang ungelöste Fragen beantworten wird. Wenn wir uns in diesem Beitrag auf die Frage des Substitutionismus konzentrieren, so deshalb, weil wir denken, daß die Weiterexistenz dieser Ideologie in der gegenwärtigen Arbeiterbewegung ein Haupthindernis für die Entwicklung eines wirklichen Verständnisses der positiven Aufgaben der revolutionären Partei ist. Der Substitutionismus ist für uns etwas, das die historische Erfahrung bereits geklärt hat. Wenn die revolutionäre Avantgarde ihren Aufgaben in den Klassenschlachten von morgen gerecht werden will, so muss sie schonungslos all die Ladenhüter der Vergangenheit entsorgen.


GIBT ES EINEN SUBSTITUTIONISMUS?
Manche behaupten, der Substitutionismus sei kein Problem. Einige dieser Elemente suchen Zuflucht in solch philosophischen Tiefsinnigkeiten wie: "Wie kann sich eine Partei, die die historischen Interessen des Proletariats repräsentiert, an die Stelle der Klasse setzen?" Natürlich können die historischen Interessen der Klasse nicht die Klasse ersetzen, doch das Problem ist, daß proletarischen Parteien keine metaphysischen Einheiten sind, sondern das Erzeugnis der realen Welt des Klassenkampfes: Selbst die größte theoretische Klarheit immunisiert sie nicht völlig gegen die Auswirkungen der bürgerlichen Ideologie, befreit sie nicht automatisch vom sehr realen Druck der alten Welt, von den Gefahren des Konservatismus, der Bürokratisierung oder des unverhohlenen Verrats. Genug Parteien sind degeneriert. Es gibt genügend Bei­spiele von degenerierten Parteien oder von Par­teien, die die Arbeiterklasse verraten haben. Und selbst wenn sich Parteien weitab ab von jeglicher eindeutigen Degeneration befinden, können sie dennoch den historischen Interessen der Klasse zuwider handeln. Ein Blick auf die erste Reaktion der bolschewistischen Partei auf die Februarrevolution reicht aus, um das zu verstehen. Es gibt keine absolute Garantie dafür, daß die die Handlungen oder Positionen einer proletarischen Partei ausnahmslos mit den historischen Interessen der Klasse übereinstimmen; Handlungen, von denen Revolutionäre glauben, daß sie im besten Interesse der Klasse sind, haben häufig die katastrophalsten Konsequenzen sowohl für die Partei als auch für die Klasse.
Allerdings hat eine Gruppe wie die CWO ein weitaus handfesteres Argument gegen den Begriff des Substitutionismus. Sie gibt zu, Substitutionismus könne bedeuten, "daß eine Minderheit der Klasse versucht, die Aufgaben der gesamten Klasse auszuführen" ("(Some Questions for the ICC", Internationale Revue, engl, franz., spanische Aus­gabe, Nr. 12). Aus der Sicht der CWO ist dies eine gerechtfertigte Kritik an der Auffassung der blanquistischen Vorstellung einer Machtergreifung ohne aktive Unterstützung und Teilnahme der Mehrheit der Klasse; oder es handelt sich um eine bloße Beschreibung der objektiven Lage, in der sich die Bolschewiki nach der Isolierung der Revolution befanden. Die CWO findet nichts Substitutionistisches daran, daß die Partei "die Macht ergreift", sofern sie die Unter­stützung der Mehrheit der Arbeiterklasse gewonnen hat, und sieht auch keine Verbindung zwischen der Parteikonzeption der Bolschewiki im Jahre 1917 und ihren anschließenden Konfrontationen mit der russischen Arbeiterklasse. Doch dies läßt zu viele Fragen offen. Der Kern des Problems liegt nicht darin, die Theorien Blanquis abzulehnen; der Marxismus hat das schon vor langer Zeit getan, und selbst die Bordigisten würden zustimmen, daß Putsche und Komplotte uns nicht zum Kommunismus führen. Was wir hier herausstellen wollen, ist, daß schon die Vorstellung einer Machtergreifung durch die Partei, selbst wenn sie dazu demokratisch gewählt wäre, eine Spielart des Substitutionismus darstellt, weil sie bedeutet, daß "eine Minderheit der Klasse ver­sucht, die Aufgaben der gesamten Klasse auszuführen". Und wir werden versuchen aufzuzeigen, daß die Konfusion der Bolschewiki in dieser Frage ein zusätz­licher Faktor in ihrer anschließenden Degeneration war. Für uns ist das Problem des Substitutionismus keine clevere Erfindung der IKS, sondern eine tief greifende Frage, die in der gesamten Erfahrung der Geschichte der Arbeiterklasse verwurzelt ist.


DER HISTORISCHE KONTEXT DER IDEOLOGIE DES SUBSTITUTIONISMUS
Anders als jene, die glauben, daß das kommunisti­sche Programm und die Klassenpartei in einer Sphäre un­veränderlicher Abstraktionen existieren, sind das Pro­gramm und die Partei der Klasse nichts anderes als hi­storische Produkte der Erfahrung der Arbeiterklasse. Diese Erfahrung wird von den objektiven Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung zu einem gegebenen Zeitpunkt sowie vom allge­meinen Niveau des Klassenkampfes und der Klassenaktivitäten gebündelt und geprägt, welche im Rahmen dieser Entwicklung stattfin­den. So waren Marx und Engels schon 1848 in der Lage, eine klare, allgemeine Auffassung vom Charakter der pro­letarischen Revolution und von den Aufgaben der Kommu­nisten zu entwickeln, aber es war für sie objektiv unmöglich, ein präzises Verständnis der Art und Weise, wie das Proletariat die Macht ergreifen würde, sowie des Charakters der kommunistischen Partei und ihrer Rolle in der Diktatur des Proletariats zu erlangen. Ihre Illusionen über die Möglichkeit, daß die Arbeiterklasse den bestehenden bürgerlichen Staat kapern könnte, konnte nur durch die praktische Erfahrung der Kommune (und das auch nur teilweise) zerstreut werden. Auch ihre Unschärfe in der Frage des Charakters und der Rolle der Partei konnte erst durch die Entwicklung der orga­nisierten Arbeiterbewegung überwunden werden.
Es sei daran erinnert, daß der Marxismus zu einer Zeit entstand, als selbst bürgerliche politische Parteien gerade erst begonnen hatten, die ver­einigte und relativ kohärente Gestalt , die sie heute haben, anzunehmen - eine Entwicklung, die durch die Bewegung zum allgemeinen Wahlrecht bestimmt wurde, das die alten, losen parlamentarischen Koalitionen unhaltbar mach­te. Damals hatte die Arbeiterbewegung nicht einmal eine sehr klare Auffassung darüber, was der Begriff Partei bedeutete. Daher die extreme Vagheit, mit der Marx diesen Begriff verwendete: Er benutzte ihn zur Beschreibung einiger Individuen, die durch einen gemeinsamen Standpunkt vereint sind,  zur Beschreibung der gesamten Klasse, die in einem gemeinsamen politischen Kampf vereint ist, einer avantgardistischen kommunistischen Organisation oder einer losen Assoziation von verschiedenen Strömungen und Tendenzen. So muß die berühmte Formulierung aus dem Kommunistischen Manifest, die "Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei..." sowohl als eine grundsätzliche Aussage über den politischen Charakter des Klassenkamp­fes als auch als Ausdruck der Notwendigkeit einer politischen Partei des Proletariats wie auch der Unreife der Bewegung verstanden werden, die noch nicht zu einer klaren Definition der Partei als ein Teil der Klasse gelangt war.
Der gleiche Mangel an Klarheit machte sich zwangsläufig in den Auffassungen der Marxisten über die Auf­gaben der Partei in der proletarischen Revolution bemerkbar.
"Obgleich die Revolutionäre in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Schlachtruf der I. Internationalen: 'Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Ar­beiter selbst sein' aufgriffen, neigten sie dazu, die Eroberung der Macht durch das Proletariat mit der Über­nahme der Macht durch die proletarische Partei gleichzu­setzen. Die einzigen Beispiele von Revolutionen, die ihnen für ihre Untersuchung zur Verfügung standen, waren bürgerliche Revolutionen; Revolutionen, in denen die Macht einer politischen Partei übertragen werden konnte. Solange die Arbeiterklasse nicht ihre eigenen Er­fahrung gemacht hatte, konnten sich die Revolutionäre noch nicht sehr klar über diese Frage sein" ("Die gegenwärtigen Aufgaben der Revolutionäre", aus REVOLUTION INTERNATIONALE, Organ der IKS in Frankreich, Nr. 27).
Das ideologische Erbe der bürgerlichen Revolution wurde durch die allgemeinen Bedingungen verstärkt, unter denen der Klassenkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand. Nach dem Ende der auf­ständischen Kämpfe in den 1840er Jahren (die es Marx ermöglicht hatten, den kommunistischen Charakter der Arbeiterklasse und die enge Verbindung zwischen ihren "ökonomischen" und ihren "politischen" Kämpfen zu verstehen) trat die Arbeiterbewegung in eine lange Periode des Kampfes um Reformen inner­halb des kapitalistischen Systems ein. Diese Periode institutionalisierte mehr oder weniger die Trennung zwischen den ökonomischen und politischen Aspekten des Klassenkampfes. Insbesondere in der Zeit der Zweiten Internationalen wurde diese Trennung in den ver­schiedenen Massenorganisationen der Klasse kodifiziert: Die Gewerkschaften wurden als die Organe, die die ökonomischen Kämpfe der Klasse anführen, und die Partei als das Organ der politischen Kämpfe definiert.
Ob dieser politische Kampf nun unmittelbar demokratische Reformen anstrebte oder ober er langfristig die politische Macht der Arbeiterklasse anvisierte - er fand im wesentlichen auf der Ebene des Parlaments statt, diesem Terrain par excellence für die bürgerliche Po­litik. Die Arbeiterparteien, die auf diesem Terrain kämpf­ten, wurden unweigerlich von seinen Anmaßungen und Arbeitsmethoden durchtränkt.
Die parlamentarische Demokratie bedeutet, daß die Auto­rität in die Hände eines Körpers von Regierungs- und Parteispezialisten gelegt wird, deren Daseinsgrund im Streben nach eigener Macht besteht. In der bürgerlichen Gesellschaft, der Gesellschaft der "egoistischen Menschen, (der) vom Menschen und vom Gemeinwesen ge­trennten Menschen" (Marx, "Zur Judenfrage"), kann die politische Macht nur die Form der Macht über die In­dividuen und die Gemeinschaft hinaus annehmen. So wie der "Staat der Mittler zwischen dem Menschen und der Frei­heit der Menschen ist" (ebenda), so muß es in solch einer Gesellschaft einen Vermittler geben zwischen dem "Volk" und seiner eigenen Regie­rungsmacht.Die atomisierte Masse, die in den bürgerlichen Wahlen zur Wahlurne geht, findet lediglich den Anschein kollekti­ver Interessen und Führung durch das Medium einer politischen Partei vor, die die Massen repräsentiert, gerade weil diese sich selbst nicht repräsentieren können. Obgleich die Internationalistische  Kommunistische Partei aus Italien (BATTAGLIA COMUNISTA) nicht fähig ist, alle notwendigen Konsequenzen daraus für ihre Praxis zu ziehen, drückte sie diese Wirklichkeit der bürgerlichen Repräsentierung sehr gut aus:
Der bürgerliche Staat basierte auf "jenes fiktive und hinterlistige Merkmal einer Delegierung der Macht, einer Repräsentation durch die Vermittlung eines Abgeordneten, des Wahlzettels oder durch eine Partei. Delegierung bedeutet faktisch den Verzicht auf die Möglichkeit der direkten Aktion. Die vorgetäuschte 'Souveränität' der demokratischen Rechte ist nichts anderes als eine Entsagung, und in den meisten Fällen ist es eine Entsagung zugunsten eines Gauners." ("Proletarische Diktatur und Klassenpartei", aus: "Texte der Internationalen Kommunistischen Partei", S. 44)
Die proletarische Revolution schafft diese Art Repräsen­tierung ab, die in der Tat eine Art von Entsagung ist. Die Revolution einer Klasse, die organisch durch untrennbare Klasseninteressen vereinigt ist, bietet die Möglichkeit, daß der Mensch "seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und or­ganisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt" ("Zur Judenfrage"). Die Praxis des proletarischen Kampfes neigt dazu, die Trennung zwischen Denken und Handeln, zwischen Führenden und Ausführenden, zwischen gesellschaftlichen Kräften und politischer Macht zu beseitigen. Die proletarische Revolution benötigt somit keine permanente, spezialisierte Elite, die die gestaltlosen Massen "repräsentiert" und deren Aufgaben in deren Namen ausführt. Die Pariser Kommune, das erste Beispiel einer proletarischen Dik­tatur, begann diese Realität zu beleuchten, indem sie praktische Maßnahmen ergriff, um die Trennung zwi­schen den Massen und der politischen Macht aufzuheben: Abschaffung der parlamentarischen Trennung zwischen Le­gislative und Exekutive; Sicherstellung, daß alle Abgeordneten jederzeit gewählt und abgewählt werden können; Auflösung der Polizei und des stehenden Heeres. Aber die Erfahrung der Kommune kam verfrüht, war zu kurzle­big, um all die bürgerlichen demokratischen Auffassun­gen über den Staat und die Rolle der Partei aus dem Programm der Arbeiterbewegung zu eliminieren. Die Kommune zeigte, daß auch ohne eine kommunistische Partei an ihrer Spitze die Arbeiterklasse den Kampf auf das Niveau der politischen Machtergreifung heben kann; doch das rückgratlose Lavieren der proletarischen und kleinbürgerlichen Parteien, die den Aufstand anführten, bestä­tigte auch, daß die proletarische Revolution ohne die aktive Präsenz einer realen kommunistischen Partei von Anfang an verkrüppelt ist. Jedoch blieb das genauere Ver­hältnis, das solch eine Partei zum Kommune-Staat haben sollte, eine offene Frage.
Wichtiger ist vielleicht die Tatsache, daß die Erfahrung der Kommune den Illusionen der Revolutionäre über die demokratische Republik kein Ende setzte. 1917 schrieb Le­nin, daß die Kommune das Ergebnis einer Revolution gewesen sei, die den alten bürgerlichen Staat an Haupt und Gliedern zerschlagen habe. Aber im letzten Viertel des 19. Jahrhun­derts und zu Anfang dieses Jahrhunderts neigten die Mar­xisten dazu, sie als ein Modell des Kampfes der Ar­beiter um die Kontrolle über die demokratischen Republik zu verstehen, die die schlechtesten Eigenschaften "los geworden" sei und sich zu einem Instrument der proletarischen Macht gewandelt habe.
"Der internationale Sozialismus geht davon aus, daß die Republik die einzig mögliche Form der sozialistischen Befreiung ist - unter dieser Bedingung entreißt das Proletariat sie aus den Händen der Bourgeoisie und verwandelt sie von einer 'Maschinerie zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere' in eine Waffe für die sozialistische Befreiung der Menschheit." (Trotzki, "35 Jahre nach 1871-1906", veröffentlicht in: "L. Trotzki über die Pariser Kommune", Pathfinder Press)
Und in mancherlei Hinsicht behielt die Kommune, die auf territorialen, repräsentativen Einheiten, auf dem all­gemeinen Wahlrecht ruhte, viele Eigenschaften des bürgerlichen demokratischen Staates bei. Von daher ermöglichte sie es der Arbeiterbewegung nicht, über die Vorstellung hinauszugehen, daß die Macht des Proletariats durch eine Partei vermittelt wird. Die­ses Problem wurde erst durch das Auftauchen der Arbei­terräte am Ende der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs gelöst. In den Räten war die Klasse als Klasse organisiert; sie war in der Lage, ihre wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aufgaben zu vereinen, bewußt und ohne Vermittler zu entscheiden und zu handeln. Das Auftauchen der Räte ermöglichte es den Revolutionären, endgültig mit der Idee zu brechen, daß die demokratische Republik eine Staatsform ist, die irgendwie vom Pro­letariat benutzt werden kann. In Wirklichkeit war die demokratische Republik die letzte und heimtückisch­ste Schranke gegen die proletarische Revolution. Aber auch wenn die Revolutionäre 1917 imstande waren, sich all der parlamentarischen Illusionen in der Frage des Staates zu entledigen, lasteten die fortdauernden alten Gewohnheiten immer noch schwer auf ihrer Parteikonzeption.ENDE
Wir haben gesehen, daß in der sozialdemokratischen Weltanschauung die ökonomischen Kämpfe der Klasse von den Gewerkschaften ausgetragen werden, die politischen Kämpfe - bis hin zum Kampf um die Macht - von der Partei. Gerade weil es sich um eine Frage der "Eroberung" der bürgerlichen Staatsmacht handelte, existierte die Idee von politischen Massenorganen der Revolution der Arbeiterklasse nicht. Das einzige politische Organ des Proletariats war die Partei. Dem Staat wurde nur in dem Maße eine proletarische Funktion zugesprochen, wie er von der Partei des Proletariats kontrolliert wurde. Somit war es unvermeidbar, daß der Aufstand und die Machtergreifung von der Partei organisiert werden; kein anderes Organ konnte die Klasse auf politischer Ebene vereinen und mobilisieren. In der Theorie mußte daher die Partei zu einer Massenpartei werden, zu einer riesigen disziplinierten Armee, um ihre revolutionären Aufgaben auszuführen. In der Praxis dagegen spielte die Massenbasis der Partei eine Rolle in ihrem Kampf um Reformen und nicht für die Revolution. Das sozialdemokratische Modell der Revolution wurde und konnte nie in die Praxis umgesetzt werden. Doch seine Bedeutung lag in dem ideologischen Vermächtnis, das es den Revolutionären vermachte, die in den Schulen der Sozialdemokratie großgezogen worden waren. Und jenes Vermächtnis konnte nur ein substitutionistisches sein: auch wenn die Revolution von einer Massenpartei verwirklicht werden sollte, handelte es sich immer noch um eine Auffassung, die der Partei Aufgaben zuteilte, welche nur von der ganzen Klasse erfüllt werden konnten.
Sicherlich rührten diese Auffassungen nicht von irgend­einer moralischen Schwäche der Sozialdemokratie her. Die Vorstellung, daß die Partei im Namen der Klasse han­delt, war das Ergebnis der Praxis der Arbeiter­bewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus und  tief verwurzelt in der gesamten Klasse. In dieser Zeit konnten die Tageskämpfe der Klasse für Reformen sowohl auf ökonomischer als auch auf politischer Ebene zu einem großen Maße den ständigen "Repräsentanten", den Verhandlungsspeziali­sten der Gewerkschaften und den parlamentarischen Spre­chern anvertraut werden. Aber die Praxis und die Auffassungen, die in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus möglich waren, wurden beim Eintritt in die  Dekadenzphase, als die Epoche der Reformkämpfe zu Ende ging, unmöglich und reaktionär. Die revolutionären Aufgaben, vor denen das Proletariat heute steht, beinhalten ganz andere Methoden des Kampfes.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Revolutio­näre wie Lenin, Trotzki, Pannekoek und Luxemburg das Verhältnis zwischen der Partei und der Klasse im Lichte der sich umwälzenden historischen Bedingungen und der Massenkämpfe zu klären, die diese insbesondere in Russland hervorbrachten. Wenn wir ihren reichen, aber oftmals widersprüchlichen Beiträgen die profundesten Gesichts­punkte entnehmen, können wir die Entwicklung ei­nes Bewußtseins erkennen, daß die sozialdemokratische Massenpartei nur für den Zeitraum der Kämpfe um Reformen geeignet war. Lenin erkannte am klarsten, daß die re­volutionäre Partei nur eine straff organisierte und gut ausgewählte kommunistische Avantgarde sein kann. Und namentlich Luxemburg hatte begriffen, daß die Aufgabe der Partei nicht in der "Organisierung" der Kämpfe der Klasse lag. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß der Kampf spontan ausbricht und die Klasse dazu zwingt, vom Teilkampf zum allgemeinen Kampf überzugehen. Die Organisation des Kampfes erwuchs aus dem Kampf selbst und erfaßte die gesamte Klasse. Die Rolle der kommunistischen Avant­garde innerhalb dieser Massenkämpfe war keine organisatorische in dem Sinne, daß sie der Klasse eine vorfabrizierte Organisationsstruk­tur für den Kampf liefert.
"Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mecha­nismus der Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu über­nehmen." (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke , Bd. 2, "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften", S. 133)
Mit anderen Worten, die Aufgabe der Partei bestand darin, in diesen spontanen Kämpfen aktiv mitzuwirken, um sie so bewußt und organisiert wie möglich zu gestalten; um die Aufgaben aufzuzeigen, die die gesamte Klasse, die in ihren Einheitsorganen organisiert ist, selbst erfüllen muß.
Aber es wäre unmöglich gewesen, daß all diese Konsequenzen von den damaligen Revolutionären sofort vollständig begriffen worden wären. Und hier kehren wir wieder zum Problem des Substitutionismus zurück. Das Fortbestehen von sozialdemokratischen Auffassungen nicht nur in der Klasse als Ganzes, sondern auch in Köpfen der besten Revolutionäre, der Mangel an tatsächlicher Erfahrung darin, was es in Wirklichkeit bedeutete, wenn die Arbeiterklasse die Macht ergreift, sollte zu einer schweren Hypothek für die Klasse werden, als sie sich in die revolutionäre Konfrontation von 1917-23 stürzte.
Die Überreste der sozialdemokratischen Ideologie können z.B. in der offiziellen Position der Kommunisten Internationalen zur Gewerkschaftsfrage gesehen werden. Im Gegensatz zur deutschen Linken, die zu erkennen begannen, daß der gewerkschaftliche Kampf in der Epoche der Dekadenz unmöglich geworden ist, blieb die KI immer noch der Idee von der Partei als dem Organisator der defensiven Kämpfe der Klasse verhaftet; die Gewerkschaften wurden als notwendige Brückenköpfe zwischen Partei und Klasse betrachtet. Somit konnte die KI die Bedeutung der autonomen Organe nicht begreifen, die die Massen während des Kampfes außerhalb und gegen die Gewerkschaften schufen.
Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch, aufzuzeigen wie die alten Denkmuster das Verhältnis zwischen Partei und Räten im Verständnis der KI dominierten. Nachdem auf ihrem Ersten Kongreß Lenins "Thesen über bürgerliche Demokratie und der proletarischen Diktatur", wie "Staat und Revolution", noch ihre ganze Betonung auf die Sowjets als Organe der direkten proletarischen Herrschaft gelegt hatten, machten sich die Auswirkungen der Niederlage, die die Klasse 1919 hatte hinnehmen müssen, auf dem 2. Kongreß schon bemerkbar: Nun wurde das Schwergewicht von den Sowjets auf die Partei verlagert. Die KI-"Thesen über die Rolle der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution" stellten ausdrücklich fest: "Die politische Macht kann eben nur durch die politische Partei erobert, organisiert und geleitet werden".
Diese Auffassung wurde mehr oder weniger von allen Strömungen der Arbeiterbewegung bis 1920 geteilt. Alle, Luxemburg eingeschlossen, die die Idee der "Diktatur der Partei" kritisierte, vertraten eine halb-parlamentarische Auffassung, wonach die Sowjets eine Partei an die Macht wählen. Nur die deutsche Linke begann sich von dieser Idee zu lösen; allerdings entwickelte sie nur eine Teilkritik, die schnell zu einem rein rätekommunistischen Standpunkt degenerierte. Doch wenn man behauptet, die politische Macht des Proletariats könne nur durch eine Partei ausgedrückt werden, sagt man, daß die Sowjets selbst unfähig sind, die Macht auszuüben. Es heißt, die Partei bei den wichtigsten Aufgaben an die Stelle der Sowjets zu setzen und sie somit ihres realen Inhalts zu entleeren.
1917 waren diese Fragen nicht besonders dringend gewe­sen. Wenn die Klasse sich in größerem Maße in Bewegung befindet, ist das Problem des Substitutionismus nicht besonders akut. In solchen Momenten ist es für die Partei unmöglich, sich um die "Organisierung" des Kampfes zu kümmern: Der Kampf ist bereits im Gange, die Organisationen des Kampfes sind bereits vorhanden. Das Problem für die Partei besteht darin, wie sie eine wirk­liche politische Präsenz innerhalb dieser Organisatio­nen etablieren und einen direkten Einfluß auf sie ausüben kann. Somit gehen jene, die fragen: "Hat sich die bolschewistische Partei  im Oktober  1917 an die Stelle der Klasse gesetzt?“, am Punkt vorbei. Nein, es gab keinen Substitutionismus in der Oktober-Erhebung. Der Aufstand wurde nicht von der bolschewistischen Partei organisiert oder ausgeführt, sondern von dem revolutionären Militärkomitee des Petrograder Sowjets unter der politischen Führung der bolschewistischen Partei. Jene, die denken, daß es sich um eine rein formale Unterscheidung handelt, sollten Trotzkis "Geschichte der Russischen Revolution" nachlesen, wo er die politische Bedeutung unterstreicht, die die Bolschewiki der Tatsache beimaßen, daß die Erhebung im Namen des Sowjets - dem Massenorgan der Klasse - durchgeführt wurde und nicht im Namen der kommunistischen Avantgarde. Es ist richtig, daß, wenn die Klasse vorwärts schreitet, das Verhältnis zwischen der Partei und den Massenorganen sehr eng und harmonisch ist, aber das ist kein Grund, den Unterschied zwischen der Partei und den Einheitsorganen zu verwischen. In der Tat kann solch eine Verwechslung der Rollen später fatale Auswirkungen haben, wenn die Klassenbewegung zurückweicht. So nahm das Problem des Substitutionismus in der Russischen Revolution sein volles Ausmaß erst nach der Machtübernahme an: in der Organisierung des Sowjet-Staates und während des Bürgerkriegs und der Isolierung der Revolution sowie den damit verbundenen Schwie­rigkeiten. Aber obgleich die objektiven Schwierigkeiten, vor denen die Russische Revolution und die Bolschewiki standen, die tieferliegende Erklärung für den Grund lieferten, weshalb sich die Bolschewiki schließlich an die Stelle der Arbeiterräte setzten und auf der Seite der Konterrevolution endeten, dürfen wir die Analyse hier nicht beenden. Andernfalls können wir keine Lehren aus der russischen Erfahrung ziehen, außer der offensichtlichen Tatsache, daß die Konterrevolution durch die ... Konterrevolution verursacht wird. Wenn die Revolutionäre die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen wollen, dann müssen wir untersuchen, wie die politischen Konfusionen der bolschewistischen Partei die Degeneration der Revolution und ihen eigenen Übergang ins Lager des Kapitals beschleunigten. Insbesonde­re müssen wir aufzeigen, warum die Konfusionen der Bolschewiki über das Verhältnis zwischen Par­tei, Klasse und Staat zu einer Situation führten, in der:              
-  die bolschewistische Partei fast unmittel­bar nachdem sie zur Regierungspartei geworden war und lange bevor die Massen der russischen Arbeiter vom Bürgerkrieg zerstreut und dezimiert worden waren und die internationale revolutionäre Welle abgeklungen und niedergeschlagen war, mit den Einheitsorganen der Klasse in Konflikt geriet;             
-  es die Partei, der am weitesten fortgeschrittene Ausdruck des russischen Proletariats, war, die zur Vorhut der Konterrevolution wurde. Dies zerstörte die Partei von innen heraus und führte zu der monströsen Geburt des Stalinismus; ein historischer Verrat, der mehr als jeder andere Verrat durch eine proletarische Or­ganisation die Arbeiterbewegung desorientierte.
Wenn wir vermeiden wollen, diese Tatsachen zu erklären, indem wir uns auf die naiven Theorien der Libertären zurückziehen ("Die Bolschewiki taten dies, weil sie autoritär waren", "Alle Parteien trachten nach der Macht", "Macht korrumpiert", etc), dann müssen wir die Probleme der Partei, der Räte und des Staates in der proletarischen Revolu­tion etwas näher untersuchen.


PARTEI UND RÄTE
Aus der Sicht mancher rätekommunistischer Strömungen ist der Interessengegensatz zwischen revolutionären politischen Organisationen und den Einheitsorganen der Klasse so groß, daß sie die Auflösung aller politischen Gruppen befürworten, sobald die Räte auftauchen. Oder sie haben Angst davor, von der Existenz einer Partei oder Parteien innerhalb der Räte zu sprechen, werden sie doch von der bürgerlichen Sichtweise heimgesucht, daß die Partei nichts anderes ist als ein Spezialistenkorps ist, dessen alleinige Funktion es ist, sich selbst an die Macht zu manövrieren. Für diese Strömungen haben sich politische Gruppierungen und Parteien irgendeine Ursünde zuschulden kommen lassen, die sie unweigerlich dazu bringt, Verrat an der Klasse zu begehen und deren Kampforgane zu manipulieren oder zu übernehmen. Wir brauchen kaum darauf eingehen, wie kindisch diese Auffassung ist und wie sehr sie die Autonomie der Klasse trifft. Die tragische Erfahrung der deutschen Revolution führte die Kommunistische Internationale zu folgender richtigen Schlussfolgerung:
"... die Existenz einer starken Kommunistischen Partei notwendig ist, die sich nicht einfach den Räten 'anpassen', sondern imstande sein muß, ihre Politik entsprechend zu beeinflussen; sie zu veranlassen, sich von der 'Anpas­sung' an die Bourgeoisie und die weiße Sozialdemokratie loszusagen" ("Leitsätze über die Rolle der kommunisti­schen Partei in der proletarischen Revolution" , II. Kongreß der Komintern im Juli 1920).
Doch das Beharren auf der Notwendigkeit, daß die Partei in den Räten intervenieren und all ihren Handlungen eine klare politische Orientierung geben muß, darf uns nicht dazu verleiten, die Erfahrungen aus der Ver­gangenheit zu ignorieren, insbesondere nicht die Erfahrungen aus der Russischen Revolution, und vorzutäu­schen, als gebe es keine Probleme im Verhältnis zwischen Partei und Räte, als sei die Gefahr der Ersetzung der Räte durch die Partei nur eine rätekommunistische Neu­rose. Tatsächlich konnten die Abweichungen des Räte­kommunismus nur solche Ausmaße annehmen, weil sie eine falsche Lösung für ein reales Problem waren.
Nach all den hitzigen Debatten, die in der revolutionä­ren Bewegung in den letzten fünfzig Jahren stattgefunden haben, ist es eher traurig zu sehen, wie eine Gruppe wie die CWO das ganze Problem mit einem spitzfindigen Argument zu vertuschen versucht. Laut CWO:
-  muß die Partei, damit eine revolutionäre Eroberung der Macht stattfinden kann, über eine Mehrheit der Delegierten in den Arbeiterräten verfügen. Andernfalls müßte man behaup­ten, daß "die Revolution erfolgreich sein könnte, auch wenn die Mehrheit der Klasse sich der Notwendigkeit des Kom­munismus nicht bewußt ist oder die Mehrheit der Delegierten in den Räten nicht kommunistisch ist" (Internationale Revue, Nr. 12, S. 24/ engl. Ausgabe).
-  ist die Partei, da sie die Mehrheit der Delegierte besitzt, faktisch an der Macht.
Hier haben wir's! Diese Logik ist makellos, aber sie ruht auf völlig falschen Prämissen. Erstens: sie enthüllt eine absurde formalistische und demokratistische Auffassung vom Klassenbewußtsein. Zweifellos ist die Entwicklung einer ausschlaggebenden Präsenz und eines entscheidenden Einflusses von kommunistischen Parteimilitanten in den Räten eine not­wendige Vorbedingung für den Erfolg der Revolution. Aber diesen Einfluß nur in Begriffen einer statistischen Mehr­heit der Delegierten zu definieren, ist absurd: Ein Rat könnte leicht für revolutionäre Positionen gewonnen werden, wenn nur eine Minderheit der Delegierten Par­teimitglied wäre. Die CWO scheint jedoch davon auszugehen, daß nur die Mitglieder der Partei zu revolutionärem Denken und Handeln fähig sind. Die anderen Delegierten in den Räten, ob Mitglieder anderer politischer Strömungen oder "unab­hängige" Arbeiter, werden als gänzlich unbewußt dargestellt, die von der bürgerlichen Ideologie vereinahmt sind. In Wirk­lichkeit entwickelt sich das Klassenbewußtsein nicht nach diesem sterilen Schema. Die Entwicklung dieses revolutio­nären Bewußtseins in der Klasse bedeutet nicht, daß eine bewußte Partei eine unbewußte Klasse dirigiert. Sie bedeutet, daß die gesamte Klasse, durch ihren Kampf, durch Massen­aktionen sich auf kommunistische Positionen zubewegt, wobei die Partei die Richtung aufzeigt, die die gesamte Klasse bereits zu folgen beginnt. In einer revolutionären Situation entwickelt sich das Klassenbewußtsein mit großer Geschwindigkeit, und die Dynamik der Bewegung führt viele Arbeiter dazu, Positionen zu vertreten, die ihrer formalen "Parteizugehörigkeit" weit voraus sind. Im Grunde zeigt bereits allein die Bildung der Arbeiterräte, auch wenn sie in sich selbst nicht ausreicht, um die Revolution auszuführen, daß der Klasse bereits ein revolutionäres Ausmaß an Aktivitäten aufgezwungen wurde. Wie die KAPD in ihren "Leitsätzen über die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution" (1921) schrieb:
"Die politischen Arbeiterräte (Sowjets) sind die hi­storisch gegebene breite Organisationsform der prole­tarischen Herrschaft und Verwaltung: sie tauchen jeweils auf bei Zuspitzung des Klassenkampfes zum Kampf um die ganze Macht."
In der proletarischen Bewegung kann es keine Trennung zwischen Bewußtsein und Organisation geben. Ein bestimm­tes Niveau von Selbstorganisation setzt ein bestimmtes Niveau von Klassenbewußtsein voraus. Die Räte sind nicht bloße Formen, in die die Partei einen revolutionären Inhalt hineingießt; sie sind selbst Pro­dukte eines entstehenden revolutionären Bewußtseins in der Klasse. Die Partei flößt dieses Bewußtsein nicht ein; sie entwickelt und verallgemeinert es bis zu seinem höchsten Potential.
Im Wissen um die Komplexität und Reichhaltigkeit des Prozesses, durch den die Klasse bewußt wird, kann die revolutionäre Avantgarde (gleichgültig, ob wir über die Partei oder über eine breitere Vorhut der Delegierten der zentralen Räteorgane sprechen) nie durch rein statistische Mittel das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenbewegung ermessen, und sie kann ihre Handlungskriterien sicherlich nicht auf die Mechanismen einer formalen Abstimmung begrenzen. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre über die Russische Revolution schrieb:
"... haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der 'Mehrheit des Volkes' gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinimus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit aus der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: Zuerst werben wir eine 'Mehrheit'. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamenta­rische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg." (R. Lu­xemburg, "Zur Russischen Revolution", Ges. Werke, Bd. 4, S. 341)
Die zweite falsche Prämisse des Argumentes der CWO lautet, daß das Gewinnen einer Mehrheit der Delegierten in den Räten gleichbedeutend mit der an der Macht befindlichen Partei ist. Dies war die große Konfusion der gesamten Arbeiterbewegung zur Zeit der russischen Revolution und sollte die schädlichsten Folgen haben. Heute kann solch eine Auffassung nicht mehr entschuldigt werden. REVOLUTION INTERNATIONALE (Sektion der IKS in Frankreich) schrieb 1969:­
"Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß in be­stimmten Augenblicken des Kampfes ein oder mehrere Rä­te mit den Positionen dieser oder jener revolutionären Organisation voll übereinstimmen. Dies bedeutet schlicht, daß zu einem beliebigen Zeitpunkt die jeweilige Gruppe vollkommen dem Bewußtseinsgrad des Proletariats ent­spricht; es heißt keinesfalls, daß die Räte ihre Macht dem 'Zentralkomitee' dieser Gruppe zu überlassen hätten. Es kann sogar sein, daß die Delegierten, die vom Rat gewählt werden, allesamt Mitglieder jener Gruppe sind. Das ist un­wichtig und heißt nicht, daß der Rat sich in einer untergeordneten Stellung gegenüber dieser Gruppe befindet, so lange der Rat seine Macht bewahrt, seine Dele­gierte abzuwählen." (Nr. 3, alte Serie, "Über die Organisation")
Dies ist kein demokratischer Formalismus, sondern eine lebenswichtige Frage, die vom tollen Schema der CWO nicht beantwortet wird. Die wirkliche Frage lautet: Wer trifft die Entscheidungen? Sind die Dele­gierte der Räte zu jeder Zeit abwählbar oder nur bis zur "Machtergreifung durch die Partei" ? Sind Wahl und die Abwahl der Delegierten nur ein Mittel für die Partei, um an die Macht zu gelangen - und können danach verdrängt werden - oder gehorchen sie nicht einem tieferen Bedürfnis im Proletariat? Und eine andere Frage, die von der CWO außer Acht gelassen wird, die für die Bordigisten aber offensichtlich ist, die nicht vorgeben, daß sie den demokratischen Regeln der Räte treu bleiben werden: Wenn die Partei eine Weltpartei ist, wie dies in der nächsten revolutionären Welle der Fall sein wird, bedeutet dann nicht die An­nahme der Macht durch die Partei selbst in einem einzigen Land, daß sich die Macht in den Händen des zen­tralen Organs der Weltpartei befinden muß? Und wie sollen die Arbeiter in einer Bastion ihre Kon­trolle über ein Organ aufrechterhalten, das auf Weltebene organisiert ist?
In Wirklichkeit kann man nicht gleichzeitig für die Macht der Partei und für die Macht der Räte sein. Wie wir an anderer Stelle gesehen haben, ist die Delegierung der Macht an eine Partei in bürgerlichen Parlamenten un­vermeidbar, wo die Wähler einen Apparat "wählen", der in einem gegebenen Zeitraum über sie herrscht. Ein solches Schema steht jedoch im totalen Widerspruch zur Funktionsweise der Räte, die die Trennung zwischen den Massen und ihrer politischen Macht, zwischen Legislative und Exekutive, zwischen "Regierung" und "Regierten" aufzuheben trachten. Die auf der Klasse beruhende, kollektive Struktur der Räte, ihre Mechanismen der Wahl und Abwahl ermöglichen es, daß die Macht, Entscheidungen zu treffen und auszuführen, zu jeder Zeit in den Händen der Massen bleibt. Die Delegierten, die der Partei angehö­ren, werden ihre politische Zugehörigkeit nicht verheimlichen: Gewiß werden sie aktiv die Positionen ihrer Organisation vertreten, aber das ändert nichts an der Tat­sache, daß sie von den Vollversammlungen oder den Räten ge­wählt werden, um die Entscheidungen dieser Versammlun­gen und Räte auszuführen, und daß sie abgewählt werden, wenn sie dies nicht tun. Selbst wenn eine große Harmonie zwischen den Positionen der Partei und den Entscheidun­gen der Räte herrscht, bedeutet das nicht, daß die Macht an die Partei delegiert wird. Die Macht zu delegieren bedeutet - wenn es überhaupt etwas bedeutet - die Delegierung der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und sie einem Apparat aufzuzwingen, der sich nicht mit den Räteorganen deckt und deshalb nicht unter ihrer Kontrolle bleiben kann. Sobald die Macht der Räte wirklich einer Partei übertragen wird, verlie­ren Wahlen und Abwählbarkeit ihren Sinn. Posten mit größter Verantwortung könnten von der Partei ernannt werden; wichtige Entscheidungen könnten ohne jegliche Berücksichtigung der Räte getrof­fen werden. Allmählich würden die Räte aufhören, im Fokus des Lebens der Revolution zu stehen, und in bloße Abnicker der Parteientscheidungen verwandelt werden.
Es ist wichtig, auf diesen Punkt zu bestehen, nicht weil wir aus demokratischen Formen einen Fetisch machten; wie wir schon gesagt haben, kann Klassenbewußtsein nicht an Stimmen allein gemessen werden. Doch dies ändert nichts an der Tatsache, daß die Räte nicht in der Lage sein werden, ihre grundlegende politische Rolle als lebendige Zentren der revolutionären Klärung und Handlung für die ganze Klasse auszuüben, wenn sie nicht ihre "demokratischen" Mechanismen erhalten (Wahl und Abwahl, kollektive Entscheidungs­findung usw.). Die demokratischen Formen sind unabding­bar, weil sie die Klasse dazu befähigen, selbst zu den­ken, zu entscheiden und zu handeln. Wenn der Sozialis­mus die selbstbewußte Kontrolle der Produzenten über ihr eigenes Schicksal ist, dann kann nur eine aktive und selbstbewußte Arbeiterklasse das sozialistische Projekt durchführen.
Einige Leute mögen einwenden, die offene Demokratie der Räte sei keine Garantie dafür, daß Letztere auf  revolutio­näre Manier handeln werden. Dies trifft selbstverständlich zu; genau diese Offenheit macht die Räte "offen" gegenüber dem Einfluß bürgerlicher Organisationen und der bürgerlichen Ideologie. Aber solche Einflüsse können durch kein Parteidekret aus­geschaltet werden: Die Partei kann ihnen nur ent­gegentreten, indem sie sie vor der Klasse bloßstellt, indem sie demonstriert, wie sie die wirklichen Bedürfnisse des Kampfes blockieren. Wenn die Arbeitermassen den Unterschied zwi­schen revolutionären und konterrevolutionären Positionen völlig verstehen sollen, dann können sie dies nur selbst herausfinden, indem sie die Konsequenzen ihrer Handlungen und Entscheidungen begreifen. Das Festhalten der Räte an der Entscheidungsbefugnis ist eine notwendige, jedoch nicht ausreichende Voraussetzung für die Entwicklung eines kommunistischen Bewußtseins. Andererseits kann, wie die Erfahrung der Russischen Revolution bestätigt, die Kontrolle der besten Partei der Welt über ein passives, gebändigtes Sowjetsystem nur gegen die Entwicklung dieses Bewußtseins arbeiten.  
Nun, im Gegensatz zu den Behauptungen der Rätekommunisten spielte sich der Prozeß, in dem die Entscheidungsbefug­nis von den Räten auf die Bolschewisten überging, nicht von heute auf morgen ab und war sicherlich nicht das Er­gebnis systematischer Bemühungen der Bolschewi­sten, die Macht der Räte zu untergraben. Die Theoretisie­rung der "Diktatur der Partei" durch Elemente wie Sinowjew und Trotzki setzte erst ein, nachdem der Bür­gerkrieg und die Zerstörungen durch die imperia­listische Blockade die Arbeiterklasse dezimiert und die materiellen Grundlagen der Aktivitäten der Sowjets ausgelaugt hatten. Zuvor (und im Grunde bis zum Ende seines Lebens) bestand Lenin unentwegt auf der Notwendigkeit, die Sowjets zu regenerieren und wieder an die zentrale Stelle zu rücken, die sie zu Beginn der Revolution besetzt hatten. Es wäre allerdings ein Fehler, davon auszuge­hen, daß die irrigen Auffassungen der Bolschewiki kei­ne Rolle in dem Prozeß gespielt haben, in dessen Verlauf die Par­tei an die Stelle der Räte trat; daß der Verlust an Macht und Einfluß der Räte ein rein automatisches Ergebnis der Iso­lierung der Revolution gewesen war. In Wirklichkeit begann die Umwandlung der bolschewistischen Partei in eine Regierungspartei, die Delegierung der Macht an die Partei die eigentliche Macht der Räte sofort zu schwächen. Ab 1917 wurden immer mehr Exekutivposten und -kommissionen von der Partei eingerichtet, die immer weniger Bezug zu den Räteversammlungen hatten. Sowjet-Delegierte wurden von der Partei, statt von den Sowjet-Organen, abgesetzt oder ernannt. Einheits­organe wie die Fabrikkomitees wurden von den Gewerkschaften, den Organen des Parteistaates, absorbiert; die Arbeitermili­zen wurden auf ähnliche Weise in die Rote Armee eingeglie­dert. All dies begann, bevor die großen Arbeiterkonzentrationen durch den Bürgerkrieg aufgebrochen wurden. Es geht hier nicht darum, einen Katalog der Fehler der Bolsche­wiki in dieser Frage aufzustellen, sondern darum, zu zeigen, wie ihre politischen Positionen, ihre Parteiauffassung die Tendenz beschleunigten, durch die die Einheitsorgane der Klasse dem Verwaltungs- und Unterdrüc­kungsapparat des Staates unterworfen wurden. Die politi­sche Rechtfertigung für diesen Prozeß werden in einer Stellungnahme Trotzkis aus dem Jahre 1920 deutlich:
"Heute haben wir von der polnischen Regierung Friedensvor­schläge erhalten. Wer entschied diese Frage? Da ist Sow­narkom, aber sie muß einer bestimmten Kontrolle unterwor­fen werden. Welcher Kontrolle? Der Kontrolle der Arbei­terklasse als einer formlosen, chaotischen Masse? Nein! Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ist zusam­mengerufen worden, um die Vorschläge zu diskutieren und zu entscheiden, ob darauf geantwortet werden soll. Das gleiche gilt für die Agrar- und Lebensmittelfragen wie für alle anderen Fragen." (Rede auf dem 2. Kongreß der Komintern)
Dieser Einstellung liegt die alte sozialdemokratische Idee zugrunde, daß der Staat automatisch im Interesse des Proletariats gelenkt wird, wenn die proletarische Partei erst die Staatsmacht übernommen hat. Die Klasse "vertraut" ihre Macht der Partei an, und das Bedürfnis der Sowjets, die eigent­lichen Entscheidungen zu treffen, wird aus der Welt geschafft. In Wirklichkeit konnte dies nur ein Verzicht auf die Verantwortlichkeit der Sowjets sein und diese immer unfähiger machen, sich den Tendenzen der Bürokratisierung, die sich so chronisch im Bürgerkrieg entwickel­ten, zu widersetzen. Um hier jegliches Mißverständnis zu vermeiden, wollen wir hier diesen Punkt anders formulieren. Wir sagen keineswegs, daß die Partei nicht versuchen sollte, Unterstützung für ihre Positionen zu gewinnen. Im Gegenteil, es ist für die Partei lebenswich­tig zu versuchen, einen entscheidenden Einfluß in den Rä­ten zu gewinnen. Aber dieser Einfluß kann nur ein politi­scher sein: Die Partei kann in dem Prozeß der Entschei­dungsfindung nur intervenieren, indem sie die Räte von der Richtigkeit ihrer Positionen politisch überzeugt. Statt sich die Entscheidungsbefugnis selbst anzumaßen, muß sie immer und immer wieder darauf bestehen, daß alle wichtigen Entscheidungen, die den Verlauf der Revolution betreffen, in den Räten vollinhaltlich diskutiert und verstanden werden und entsprechend gehandelt wird. Und deshalb ist es vollkommen falsch, von der "Machtübernahme durch die Partei" mit oder ohne formale Mehrheit in den Räten zu sprechen. In der realen Welt ist die Macht nicht eine Frage der Stimmen, sondern eine Frage der Kräfte. Die Partei kann nur "an der Macht" sein, wenn sie die Fähigkeit besitzt, ihre Positionen in der Klasse, im Rätesystem durchzusetzen. Dies beinhaltet, daß die Partei über einen Machtapparat verfügen muß, der von den Räten  getrennt ist. Parteien als solche besitzen im allgemei­nen nicht solch einen Apparat, und die bolschewistische Partei war keine Ausnahme. Tatsächlich bestand die ein­zige Möglichkeit einer Machtübernahme durch die bolsche­wistische Partei darin, sich mit dem Staat zu identifi­zieren. Aus diesem Grund ist es unmöglich, das Problem des Sub­stitutionismus ohne ein korrektes Verständnis des Problems des post-revolutionären Staates zu erfassen.
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir8/1982_parteiraete [21]

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [22]

Partei, Arbeiterräte, Substitutionismus Teil 2

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Für verschiedene Strömungen, die CWO sowie verschie­dene Rätekommunisten eingeschlossen, besteht das Prob­lem des Staates in der Übergangsgesellschaft überhaupt nicht. Der Staat, das sind die Arbeiterräte, und damit hat sich's. Daher ist jegliches Gerede über mögliche Kon­flikte zwischen den Einheitsorganen der Klasse und dem Übergangsstaat vollkommener Unfug. Leider handelt es sich hierbei um eine idealistische Auffassung der Revolution. Als Marxisten dürfen wir unsere Revolutionsauffassung nicht auf dem stützen, was wir wün­schen, sondern darauf, was die historische Notwendig­keit in der Vergangenheit erzwungen hat und was sie auch in der Zukunft erzwingen wird. Das einzige wirkliche Beispiel einer Arbeiterklasse, die die Macht auf Landesebene übernommen hatte - die Russische Revolution -, zwingt uns anzuerkennen, daß eine Gesellschaft im Revolutionsmodus zwangsläufig Formen der staatlichen Organisation hervorbringen wird, die sich nicht nur von den Einheitsorganen der Klasse unterscheiden, sondern die in tiefgreifende und gar gewalttätige Konflikte mit ihnen treten können.
Die unvermeidbare Notwendigkeit, eine Rote Armee, eine Staatspoli­zei, einen Verwaltungsapparates und eine Form der politi­schen Repräsentation für all die nicht-ausbeutenden Klassen und Schichten zu organisieren, ruft eine Staatsmaschinerie ins Leben, die - gleichgültig, ob sie als proletarisch bezeichnet wird oder nicht - nicht einfach mit den Arbei­terräten auf eine Stufe gestellt werden kann. Im Gegensatz zur Auffassung einiger Rätekommunisten schufen die Bolschewiki diese Staatsmaschinerie nicht ex nihilo, um ihre machiavellistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Obgleich wir verstehen müssen, wie die bolschewistische Auffassung über ihre Rolle als Regierungspartei aktiv das Tempo beschleunigte, mit dem der Staatsappa­rat der Kontrolle der Arbeiterräte entwich, gestalteten und passten sie nur ein Staatsorgan an, das schon vor der Oktoberrevolution aufzutauchen begann. Die Kongresse der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte entwickelten sich bereits vor dem Sturz des Kerenski-Regimes zu einer neuen Staatsform . Die Notwendigkeit, die Gesellschaft nach dem Aufstand zu organisieren, konsolidierte diesen Prozeß zum Sowjetstaat. Wie Marx  in seinen "Kritischen Randglossen zu dem Artikel 'Der König von Preußen und die Sozialreform'" schrieb: "Der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft sind von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft." (MEW, Bd. 1, S. 401)


PARTEI UND STAAT
Wenn die Russische Revolution uns etwas über die­sen Staat lehren kann, dann, daß die Isolation der Revolution, die Schwächung der Arbei­terräte dazu tendiert, den Staatsapparat auf Kosten der Arbeiterklasse zu stärken; daß dies der Beginn der Transformation jenes Staat in ein Instrument der Unterdrückung und Ausbeutung gegen die Klasse ist. Der Staat ist die Achillessehne der konterrevolutionären Kräfte. Er ist der Organismus, mit dem die unpersönliche Macht des Kapitals da­zu tendiert, seine Autorität wieder geltend zu machen, indem die proletarische Revolution zum bürokratischen Gespenst des Staatskapitalismus pervertiert. Wer behauptet, daß diese Gefahr nicht existiert, entwaffnet die Klasse vor den künftigen Kämpfen.
Einige Tendenzen, besonders jene, die mit dem immensen Beitrag der Italienischen Linken zu dieser Frage vertraut sind, begreifen durchaus, daß hier ein Problem besteht. So stellte BATTAGLIA COMUNISTA auf der jüngsten internationalen Konferenz in Paris fest, daß die Partei faktisch die Macht übernehmen müsse, während es in ihrer Plattform heißt, daß die Parteikader "den Staat auf dem Pfad der revolutionären Kontinuität halten" müssen, aber "keineswegs mit dem Staat verwechselt oder in ihn integriert werden" dürfen. Diese Tendenzen wollen wie BILAN in den 30er Jahren, daß die Partei die Macht übernimmt, die proletarische Diktatur ausübt und den Staatsapparat kontrolliert - aber nicht, daß die Partei mit dem Staat fusioniert wie die bolschewistische Partei, da sie erkannt haben, daß die Verstrickung der Bolschewiki im Apparat des Sowjetstaates zur Degeneration von Partei und Revolution beitrug. Aber diese Position ist widersprüchlich. Bei BILAN war dieser Widerspruch insofern fruchtbar, als sie sich in einem Prozeß der Klärung des richtigen Verhältnisses zwischen der Partei und der Klasse befanden; ein Prozeß, der nach unserer Meinung am fruchtbarsten in der Arbeit von Gauche Communiste de France nach dem Krieg und von der IKS heute fortgesetzt wird. Doch heute auf die widersprüchlichen Positionen BILANs zurück­zufallen, kann nur ein Rückschritt sein.
Diese Position ist widersprüchlich, weil die Partei den Staat nicht "kontrollieren" kann, ohne über Mittel zur Durchsetzung dieser Kontrolle zu verfügen. Die Partei muß über eigene Zwangsorgane verfügen, um sicherzustellen, daß der Staat ihren Anord­nungen folgt; oder - was wahrscheinlicher ist und auch in Rußland geschah- die Partei muß sich immer mehr mit den Kommandohöhen des Staates, mit dem Verwal­tungs- und Unterdrückungsapparat identifizieren. In beiden Fällen wird die Partei zu einem Staatsorgan. Wenn man behauptet, daß die Partei dies entweder allein durch ihre programmatische Klarheit oder durch organisatorische Maßnahmen vermeiden kann, wie die Errichtung einer speziellen Unterkommission, die die Staatsgeschäfte betreibt und vom Zentralkomitee überwacht wird, versteht man nicht, daß das, was in Rußland geschah, das Ergebnis von großen gesellschaftlichen Kräften war, und daß eine Wiederholung nur durch eine Intervention noch größerer gesellschaft­licher Kräfte verhindert werden kann, und nicht durch schlichte ideologische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen.
Der Übergangsstaat, obgleich eine absolute Notwendig­keit für die Verteidigung der Revolution, kann nicht das dynamische Subjekt der Bewegung zum Kommunismus sein. Im besten Fall kann er ein Instrument sein, das die Klasse verwendet, um die von der kommunisti­schen Gesellschaftsbewegung erzielten Fortschritte abzusichern und gesetzlich festzulegen. Aber die Bewegung selbst wird von den Einheitsorganen der Klasse, die aufs Engste das Leben und die Bedürfnisse der Klasse widerspiegeln, sowie von der kommunistischen Partei angeführt, die kontinuierlich die Gesamtziele der Bewe­gung hervorhebt. Die Einheitsorgane der Klasse dürfen nicht durch die Alltagsaufgaben des Staates erdrückt werden. Sie können nur in einem Zustand des ständigen Aufstands existieren, dabei pausenlos aus den en­gen Grenzen von Verfassungen, Gesetzen und der Ver­waltungsroutine ausbrechend, die alle jedoch den Kern des Staates ausmachen. Nur so können sie schöpferisch auf die ungeheuren Problemen antworten, die sich durch den Aufbau des Kommunis­mus stellen, und nur so können sie den Staat dazu zwingen, sich den globalen Bedürfnissen der Re­volution zu unterwerfen. Das gleiche trifft für die Partei zu, die sich sowohl vor als auch nach der Machtübernahme in den Massen und in deren Kampforganen verankern muß, indem sie sie unermüdlich nach vorn drängt und ihr Zögern und ihre Konfusionen kritisiert. Die Verschmelzung von Partei und Staat wird, wie bei den Bolschewiki, ihre dynamische Rolle untergraben und die Partei zu einer konservativen Kraft machen, die sich vor allem mit den unmittelbaren Bedürfnissen der Wirtschaft und mit reinen Verwaltungsaufgaben befaßt. Die Partei würde somit ihre grundlegende Funktion verlieren, eine politische Rich­tung zu liefern, der alle Verwaltungsaufgaben unterge­ordnet werden müssen.
Die Partei wird selbstverständlich in den repräsentativen Organen des Staates intervenieren, aber organisatori­sch wird sie vollkommen vom Staatsapparat ge­trennt sein. Welche Richtung sie dem Staat geben kann, hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Delegierten der terri­torialen Sowjets, der Soldatenkomitees, der Massen der Kleinbauern, der landlosen Bauern usw. politisch von der Richtigkeit ihrer Positionen zu überzeugen. Aber sie kann den Staat nicht kontrollieren, ohne selbst zu einem Staatsorgan zu werden. Nur die Arbeiterräte können den Staat wirklich kontrollieren, da sie den gesamten revolutionären Prozeß hindurch bewaffnet bleiben und ihre Anweisungen dem Staat durch Massenaktionen und Druck aufzwingen können. Und das "Haupt­feld' der Intervention der Partei werden die Arbeiter­räte sein, in denen sie beständig Agitation betreiben wird, um sicherzustellen, daß die wachsame Kontrolle der Räte über all die Staatsorgane keinen Augenblick nachläßt.


PARTEI UND KLASSE
Früher oder später werden alle Gruppen im revolutionären Lager die Unklarheiten und Widersprüche ihrer Position in der Parteifrage verarbeiten müssen. Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, wenn man sagt, daß die Partei die Macht ergreifen muß; und die logischsten Vertreter dieser Position innerhalb der proletarischen Bewegung sind unserer An­sicht nach die Bordigisten.
"Der proletarische Staat kann nur von einer einzigen Partei beseelt werden; es wäre völlig sinnlos und käme über die konkreten Bedingungen nicht hinaus von dieser Partei zu fordern, daß sie in ihren Reihen eine Mehr­zahl eingliedere, oder mit der alten Masche der Bour­geoisie, den 'Volksabstimmungen' die Genehmigung einer statistischen Mehrheit erlange (...) Die kommunistische Partei wird also allein regieren und nie ohne den physischen Kampf der Macht entsagen.Der mutige Beschluß, den trü­gerischen Zahlen nicht zu unterliegen und sie nicht zu gebrauchen, wird den Kampf gegen die Entartung der Re­volution erleichtern." ("Proletarische Diktatur und Klassenpartei", S. 41/42, Texte der Internationalen Kommunistischen Partei, geschrieben 1951).
Verglichen mit dem demokratischen Formalismus der CWO ist diese Position erfrischend eindeutig. Die kommuni­stische Partei, die die "historischen Interessen der Arbeiterklasse" unveränderlich vertritt, benutzt die demokratischen Mechanismen der Räte nur,um die Macht zu ergreifen. Sobald sie an der Macht ist, benutzt sie den Staat dazu, um den Massen ihre Entscheidungen aufzuzwingen. Falls die Massen gegen das, was die Partei als historische Interessen der Massen bezeichnet, handeln, wird sie Gewalt anwenden, den be­rühmten roten Terror, um die Klasse zu zwingen, sich in Einklang mit "ihren eigenen historischen Interessen" zu bringen. Jene, die wollen, daß die Partei die Macht übernimmt, aber zögern, dieser Logik bis zu ihrem Ende zu folgen, fliehen vor der historischen Wirklichkeit. Doch wie diese erbarmungslose Logik wirkt, wurde jüngst von der CWO auf der Pariser Konferenz anschaulich verdeutlicht, wo sie ausdrücklich feststellte, daß die Partei, sobald sie an der Macht sei, nicht zögern sollte, Gewalt gegen "rückstän­dige" oder "konterrevolutionäre" Ausdrücke der Klasse anzuwenden.
Es ist in der Tat ironisch, daß die CWO, die so lange darauf bestanden hat, daß das Massaker des Kronstädter Aufstandes den Übergang der Bolschewiki in das kapi­talistische Lager kennzeichnete, die die Interna­tionale Kommunistische Strömung gar als "Verfechter" des Massakers anprangerte, weil die IKS der Meinung ist, daß 1921 nicht das endgültige Ende der Bol­schewiki als proletarische Partei war - daß dieselbe CWO nun den ideologischen Boden für ein neues Kronstadt vorbereitet. Wir dürfen nicht verges­sen, daß Kronstadt nur der Höhepunkt eines Prozesses war, in dem die Partei immer mehr Zuflucht in Zwangsmaßnahmen gegen die Klasse suchte. Die Lehre aus diesem ganzen Prozeß, die durch das Massaker von Kron­stadt auf tragische Weise unterstrichen wird, ist, daß die proletarische Partei keine physische Unterdrückung gegen einen Teil der Klasse - ob mit oder ohne Un­terstützung der Mehrheit der Klasse -  ausüben darf, ohne damit zutiefst der Revolution zu schaden und ihren eigenen Kern zu pervertieren. Dies wurde 1938 sehr deut­lich von der Italienischen Linken ausgedrückt:
"Die Frage, vor der wir  stehen, ist diese. Es könnte eine Situation entstehen, in der ein Teil des Proletariats - und wir können sogar einräumen, daß dieser Teil das unbewußte Opfer von Manövern des Feindes ist - den Kampf gegen den proletarischen Staat aufnimmt. Was soll man in solch einer Lage tun? Wir müssen von dem Prinzip ausgehen, daß der Sozialismus dem Proletariat nicht durch Zwang oder Gewalt auferlegt werden kann. Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, wo doch das Festhalten an Kronstadt vom geographischen Stand­punkt aus nur eines zur Folge haben konnte: eine Deformierung der Kernsubstanz der Aktivität des Pro­letariats. Wir kennen die Einwände: Der Ver­lust Kronstadts wäre ein entscheidender Verlust für die Revolution gewesen, vielleicht sogar der Verlust der Revolution selbst. Hier kommen wir zum springenden Punkt. Auf welche Maßstäbe fußt diese Analyse? Auf jene, die von Klassenprinzipien abge­leitet sind, oder auf jene, die schlicht von einer gegebenen Lage ausgehen? Gehen wir von der Maxime, daß es für die Arbeiter besser ist, Fehler zu begehen - selbst fatale Fehler -, oder von der Idee aus, daß wir unsere Prinzipien zurückstellen sollten, weil die Arbeiter uns anschließend dankbar sein werden, weil wir sie selbst mit Gewalt verteidigt haben?
Jede Situation erzeugt zwei gegensätzliche Garnituren von Kriterien, die zu zwei gegensätzlichen taktischen Schlußfolgerungen führen. Wenn wir unsere Untersuchung nur auf die reine Form beschränken, dann gelangen wir zur Schlußfolgerung, die aus folgendem Vorschlag hervorgeht: Da dieses oder jenes Organ proletarisch ist, müssen wir es als solches verteidigen, selbst wenn dies auf die Niederschlagung einer Arbeiterbe­wegung hinausläuft. Wenn wir jedoch unsere Analyse auf die Frage der Substanz stützen, gelangen wir zu einer ganz anderen Schlußfolgerung: Eine politische Bewegung, die vom Feind manipuliert ist, beinhaltet in ihrem Innern einen organischen Widerspruch zwischen dem Pro­letariat und seinem Klassenfeind. Um diesen Widerspruch an die Oberfläche zu bringen, ist es notwendig, Propaganda unter den Arbeitern zu betreiben, die im Laufe der Ereignisse ihre Stärke als eine Klasse wiederentdecken und in der Lage sind, die Pläne des Feindes zu vereiteln. Doch wenn es zufällig wahr wäre, daß der Ausgang dieses oder jenes Ereignisses das Ende der Revolution bedeu­ten könnte, dann ist es sicher, daß ein Sieg nicht nur eine Verdrehung der Realität (historische Ereignisse wie die Russische Revolution hängen niemals wirklich von einer einzigen Episode ab, und nur ein kurzsich­tiger, oberflächlicher Geist könnte meinen, daß die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes die Revolu­tion gerettet hätte) wäre, sondern auch die Bedingungen für den wirklichen Verlust der Re­volution schaffen würde. Diese Untergrabung der Prin­zipien würde nicht lokal beschränkt bleiben, sondern sich zwangsläufig auf alle Aktivitäten des proletarischen Staates ausdehnen."
("Die Frage des Staates", OCTOBRE, 1938)
Obgleich OCTOBRE weiterhin die Diktatur der Partei ver­teidigte, bestand für die Gauche Communiste de France  und für die IKS heute der einzige Weg, diese kla­ren Einsichten konsequent umzusetzen, darin, zu bekräftigen, daß die proletarische Partei nicht nach der Macht trachtet, nicht danach strebt, ein Staatsorgan zu werden.
Andernfalls verlässt man sich allein auf den "Willen" oder auf die guten Absichten der Partei, die in der Lage sein wird zu vermeiden, daß sie mit der Klasse in einen gewaltsamen Konflikt gerät. Doch sobald die Partei zu einem Staatsorgan geworden ist, reicht selbst der stärkste Wille der besten kommunisti­schen Partei auf der Welt nicht aus, um sich gegen den unerbitt­lichen Druck des Staates zu wappnen. Deshalb kam die Gauche Communiste de France 1948 zu dem Schluß:
"In der Periode des revolutionären Aufstands besteht die Rolle der Partei nicht darin,die Macht für sich selbst zu beanspruchen, auch nicht von den Massen zu ver­langen, daß diese ihr das Vertrauen schenken. Die Inter­vention und die Aktivität der Partei zielen auf die Selbstmobilisierung der Klasse für den Sieg der revo­lutionären Prinzipien ab.
Die Mobilisierung einer Klasse um eine Partei, der sie Vertrauen schenkt oder - besser - der sie die Führung über­gibt, spiegelt den unreifen Zustand der Klasse wi­der. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Revolution unter solchen Bedin­gungen nicht siegen kann und daß dies schließlich zur Degeneration der Partei und zur Scheidung zwischen Partei und Klasse führt. Die Partei wäre schnell dazu gezwungen, immer mehr auf die Methoden des Zwangs zurückzugreifen, um sich gegenüber der Klasse durchzusetzen, und würde somit  zu einem erheblichen Widerstand für die Revolution werden."
("Sur la Nature et la Fonction du Parti Politique du Proletariat", siehe RI-Bulletin d'Etude et Discussion, aus: INTERNATIONALISME, Nr. 38, Okto­ber 1948).
Heute stehen die Revolutionäre vor einer Wahl. Entweder können sie Positionen annehmen, die zum Bordigismus führen, zu einer Verfechtung und Theoretisierung ­der Degeneration der bolschewistischen Partei,  zum Substitutionismus in seiner voll entwickelten Form. In diesem Sinn werden sie entdecken, daß der Substitutionismus in der Tat "unmöglich" in der proletarischen Bewegung ist, weil er zu Praktiken und Positionen führt, die direkt konterrevolutionär sind. Oder sie nehmen sich ein Beispiel am zutiefst revolutionären Geist Lenins und der Bolschewiki zur Zeit der Oktoberrevolution, ein Geist, der Lenin dazu veranlasste, in seinem Appell "An das Volk" einige Tage nach dem Aufstand zu sagen:
"Genossen, Werktätige! Denkt daran, daß ihr selber jetzt den Staat verwaltet! Niemand wird euch helfen, wenn ihr euch nicht selber vereinigt und nicht alle Angelegenheiten des Staates in eure Hände nehmt. Eure Sowjets sind von nun an die Organe der Staats­gewalt, bevollmächtigte, beschließende Organe." ("An die Bevölkerung", in: Ges. Werke II, S. 555)
Es ist dieser durch die Einsichten in das Verhältnis zwischen Partei und Klasse, Klasse und Staat geschärfte Geist, der uns heute leiten muß. Es ist ein Geist, der mit den Zielen und den Methoden der kommu­nistischen Revolution, mit dem revolutionären Wesen der Arbeiterklasse zutiefst übereinstimmt. Und wenn wir es tausend Mal sagen müssen: der Kommu­nismus kann nur durch die bewußte Selbstaktivität des ganzen Proletariats geschaffen werden, und die kommu­nistische Avantgarde darf niemals dieser grund­legenden Realität zuwiderhandeln. Die revolutionäre Partei darf nie den Mangel an Homogenität in der Klasse, das Gewicht der bürgerlichen Ideologie oder die Be­drohung durch die Konterrevolution als Rechtfertigung für den Gebrauch von Gewalt  verwenden, um die Klasse dazu zu "zwingen", revolutionär zu sein. Dies ist ein völliger Widerspruch in sich und drückt das Gewicht der bürgerlichen Ideologie auf die Partei aus. Die Arbeiterklasse kann das Gewicht der bürgerlichen Ideologie nur durch ihre eigene Massenaktivität, durch ihre eigene Erfahrung abschütteln. In bestimmten Augenblicken kann es für sie als leichter erscheinen, ihre schwierigsten Aufgaben auf eine revolutionäre Or­ganisation abzuwälzen, doch welche kurzfristigen "Gewinne" dies auch immer mit sich bringen mag, langfristig kann dies die Klasse nur schwächen. In der proletarischen Revolution darf es kein plötzliches Zurückschrecken geben: "Jene, die nur eine halbe Re­volution machen, graben ihr eigenes Grab" (St. Juste). Für die Arbeiterklasse bedeutet das einen unaufhörlichen Kampf, um all die passiven, konservativen Tendenzen in ihren Reihen zu überwinden; Tendenzen, die die bitteren Früchte einer generationlangen bürgerlichen Ideologie sind. Es bedeutet die unermüdliche Entwicklung und Ausbreitung ihrer eigenen Selbstorganisation und ihres eigenen Selbstbewusstseins vor, während und nach der Ergreifung der politischen Macht. Pannekoeks Polemik gegen die par­lamentarischen Taktiken der Kommunistischen Internationalen kann gleichermaßen gegen jene gerichtet werden, die der kommunisti­schen Partei eine im wesentlichen parlamen­tarische Rolle in den Sowjets zuschreiben:
"Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massive Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, daß sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporsprin­gen kann. Die Revolution erfordert, daß die großen Fra­gen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, daß schwierige Entscheidungen getroffen wer­den, daß das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird - und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und müh­sam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln. Heute stehen die Revolutionäre vor einer Wahl. Einerseits von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen - wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben." (Anton PANNEKOEK, "Weltrevolution und Kommunistische Taktik", Wien 1920, Kapitel IV)
Es gibt viele Menschen, die "Führer" der Arbeiterklasse sein wollen. Aber die meisten von ihnen verwechseln die bürgerliche Auffassung der Führung mit der Art und Weise, in der das Proletariat seine eigene Führung generiert. Jene, die im Namen der Führung die Klasse dazu aufrufen, ihre wichtigste Aufgabe an eine Minderheit abzugeben, führen das Proletariat nicht zum Kommunismus, sondern stärken den Einfluß der bürger­lichen Ideologie in der Klasse; einer Ideologie, die die Arbeiter von der Wiege bis zur Bahre davon zu überzeugen versucht, daß sie unfähig sind, sich selbst zu or­ganisieren, daß sie anderen die Aufgabe anvertrauen sollen, sie zu organisieren. Die revolutionäre Partei wird nur dann zu einem Vorankommen des Kommunismus beitragen, wenn sie ein Bewußtsein anregt und verallgemeinert, das der Ideo­logie der Bourgeoisie vollkommen entgegengesetzt ist: ein Bewußtsein über die unerschöpfliche Fähigkeit der Klasse, sich selbst zu organisieren und sich selbst der Rolle als Subjekt der Geschichte bewußt zu werden. Kommunisten, die von einer Klasse ausgeschieden werden, die keine neuen Ausbeutungsverhältnisse in sich trägt, sind insofern einzigartig in der Geschichte der revolutionä­ren Parteien, als sie alles unternehmen, um ihre eigene Funktion unnötig zu machen, sobald das Klassenbewußtsein und die Ak­tivität eine homogene Realität innerhalb der gesamten Klasse werden. Je mehr das Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus voranschreitet, umso mehr wird die gesamte Klasse zum lebendigen Ausdruck des "positiven Selbst­-Bewusstwerdung des Menschen", einer befreiten und bewussten menschlichen Gemeinschaft werden.
C.D.Ward
(Frühjahr 1979)

Internationale Revue - 1985

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Internationale Revue 9

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Die Funktion der revolutionären Organisation

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1. Seit ihrer Gründung hat die IKS die entscheidende Bedeu­tung einer internationalen Organisation der Revolutionäre im neuen Aufschwung des weltweiten Klassenkampfes unterstrichen. Durch ihre Inter­vention im Kampf, so bescheiden diese auch ausfällt, durch ihre hartnäckigen Bemühungen, auf die Schaffung eines wirklichen Diskussionszentrums zwischen revolutionären Gruppen hinzuwirken, hat sie in der Praxis bewie­sen, daß ihre Existenz weder überflüssig noch eingebildet ist. Überzeugt davon, daß unsere Funktion einem grundlegenden Bedürfnis der Klasse entspricht, hat sie sowohl den Dilettantismus als auch den Größenwahn des revolutionären Milieus bekämpft, das noch stark von Verantwortungslosigkeit und Unreife geprägt ist. Diese Überzeugung beruht nicht auf einem religiösen Glauben, son­dern auf einer analytischen Methode: die marxistische Theorie. Die Gründe für das Entstehen der revolutionären Organisation können nicht außerhalb dieser Theorie verstanden werden, denn ohne sie kann es keine wirkliche revolutionäre Bewegung geben.
2. Die neulich in der IKS stattgefundenen Spaltungen sind keine tödliche Krise für die Organisation. Sie sind im wesentlichen Ausdrücke der Unfähigkeit, die Bedingungen, die Marschrichtung der Klassenbewegung zu verstehen, die revolutionäre Organisationen hervorbringt, nämlich:

  • daß der Kurs zur Revolution nicht ein lokales, sondern ein weltweites Phänomen ist;
  • daß der Umfang der Krise und der Kämpfe nicht automatisch eine unmittelbar revolutionäre Periode einleitet;
  • daß die Notwendigkeit einer Organisation nicht ein gelegentliches oder lokales Bedürfnis ist, sondern eine ganze historische Periode bis zum weltweiten Triumph des Kommunismus umfaßt;
  • daß folglich die Arbeit der Organisation nur als langfristig aufge­faßt werden kann und alle willkürlichen Abkürzungen der immediatistischen  Un­geduld  ver­meiden müssen, die eine reale Gefahr für die Organisation darstellen.

3. Das Unvermögen, die Funktion einer revolutionären Organisation zu verstehen, hat stets zur Verleugnung ihrer Notwendigkeit geführt:
Der anarchistischen und rätekommunistischen Auffas­sung zufolge wird die Organisation als eine Verletzung der Persönlichkeit eines jeden Arbeiters verstanden und auf ein rein zufälliges Konglomerat von Individuen reduziert.
Der klassische Bordigismus, der die Klasse mit der Partei gleichsetzt, lehnt diese Notwendigkeit indirekt ab, indem er die Funktion der revolutionären Organisation mit der Funktion der allgemeinen Organisationen der Klasse verwechselt.
4. Die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation besteht heute nach wie vor. Weder die Konterrevolution noch der Ausbruch gewaltiger Kämpfe ohne die Präsenz einer revolutionären Fraktion (wie in Polen heute) beseitigen diese Notwendigkeit:

  • da seit der Konstituierung des Proletariats als Klasse im 19. Jahrhundert der Zusammenschluß der Revolutionäre eine lebenswichtige Notwendigkeit war und bleibt. Jede historische Klasse, die in sich das Potential zur Umwandlung der Gesellschaft trägt, muß eine klare Vorstellung von den Zielen und den Methoden des Kamp­fes haben, der sie zur Verwirklichung ihrer historischen Zie­le führt;   
  • da die kommunistischen Ziele des Proletariats eine politische Organisation erzeugen, die theoretisch (Programm) und praktisch (Aktivitä­ten) die allgemeinen Ziele des gesamten Proletariats vertritt;
  • da die revolutionäre Organisation als permanenter Ausfluß der Klasse die natürlichen Teilungen (geographisch und historisch) wie auch die künstlichen Spaltungen (Berufskategorien, Ort der Produktion) überwindet und somit negiert. So drückt sie die ständige Tendenz zur Entstehung eines einheitlichen Klassenbewußtseins aus, das sich gegen jegliche unmittelbare Spaltung wendet;
  • da in Anbetracht der systematischen Versuche der Bour­geoisie, das Klassenbewußtsein des Proletariats zu trüben und zu zerstören, die Organisation der Revolutionäre eine entscheidende Waffe im Kampf gegen die heimtückischen Auswirkungen der bürgerlichen Ideologie ist. Ihre Theorie (das kommunistische Programm) und ihr militantes Handeln in der Klasse sind ein starkes Gegenmittel gegen das Gift der der kapitalistischen Propaganda.

5. Das kommunistische Programm und die Prinzipien der militanten Aktivitäten sind das Fundament einer jeden revolutionären Organisation, die sich dieses Namens als würdig erweist. Ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Funktion, d.h. keine Organisation zur Verwirklichung dieses Programms. Aus diesem Grunde hat der Marxismus immer jegliche immediatistischen und ökonomistischen Abwei­chungen abgelehnt, die dazu dienen, die historische Rolle der kommunistischen Organisation zu deformieren und zu verleug­nen.
6. Die revolutionäre Organisation ist ein Organ der Klasse. Ein Organ bedeutet ein lebendiges Mitglied eines le­benden Organismus. Ohne dieses Organ würde dem Leben der Klasse eine vitale Funktion fehlen; es wäre vorübergehend geschwächt und verstümmelt. Daher wird diese Funktion ständig wiedergeboren, wächst an, dehnt sich aus und schafft zwangsläufig das Organ, das sie braucht.  
7. Dieses Organ ist kein simples, physiologisches An­hängsel der Klasse, das darauf beschränkt bleibt, ihren unmittelbaren Impulsen zu folgen. Die re­volutionäre Organisation ist ein Teil der Klasse. Sie ist weder von ihr getrennt noch mit ihr identisch. Sie ist weder eine Vermittlung zwi­schen dem Sein und dem Bewußtsein der Klasse, noch ist sie die Totalität des Klassenbewußtseins. Sie stellt eine besondere Form des Klassenbewußtseins dar, den bewußtesten Teil. Sie sammelt daher nicht die gesamte Klasse um sich, sondern nur ihre bewußteste und aktivste Fraktion. Die Klasse ist nicht mehr Partei, wie die Partei Klasse ist.
8. Als ein Bestandteil der Klasse ist die Organisation der Revolutionäre weder die Summe ihrer Teile (die Militanten), noch ist sie eine Assoziation gesellschaftlicher Schichten (Arbeiter, Arbeitgeber, Intellektuelle). Sie entwickelt sich als ein lebendiges Ganzes, dessen verschiedene Zellen keine andere Funktion haben, als sicherzustellen, daß sie auf bestmögliche Weise arbeitet. Sie bevorzugt weder Individuen noch besondere Kategorien. Nach dem Bilde der Klasse tritt die Orga­nisation als kollektiver Organismus auf.
9. Die Bedingungen für die volle Entfaltung der Organisa­tion der Revolutionäre sind dieselben, die die revolutionäre Reifung des Proletariats ermöglichen:

  • ihre internationale Dimension: nach dem Bild der Klasse entsteht und lebt die Organisation, indem sie den na­tionalen Rahmen zerschlägt, der von der Bourgeoisie aufgezwungen wurde. Gegen den Nationalismus des Kapitals vertritt sie die Internationalisierung des Klassenkampfes in allen Ländern;  
  • ihre historische Dimension: die Organisation trägt als fortgeschrittenste Fraktion der Klasse eine historische Verantwortung gegenüber der Klasse. Denn sie hält das Gedächtnis der unersetzlichen Erfahrungen der vergangenen Arbeiterbe­wegung wach. Sie ist der bewußteste Ausdruck der allgemeinen, historischen Ziele des Weltproletariats.

Diese Faktoren verleihen sowohl der Klasse als auch ihrer po­litischen Organisation ihren Einheitscharakter.  
10. Die Aktivitäten der revolutionären Organisation können nur als ein einheitliches Ganzes aufgefaßt wer­den, deren Komponenten nicht voneinander getrennt, son­dern ineinandergreifend sind:

  • die theoretischen Aktivitäten, deren Ausgestaltung eine konstante Anstrengung sein muß und die niemals endgültig festgelegt oder vollständig ist. Sie sind sowohl notwendig als auch unersetzlich;  
  • die Aktivität der Intervention in den ökonomischen und politischen Kämpfen der Klasse. Dies ist eine Praxis par excellence für die Organisation, mit der die Theorie  durch Propaganda und Agitation in eine Waffe des Kampfes umgewandelt wird;
  • die organisatorische Aktivität, die zur Weiterentwicklung und Stärkung ihrer Organe, zur Bewahrung von organisatorischen Errungenschaften führt, ohne die die quantitative Weiterentwicklung (neue Mitglieder) nicht zu einer qualitativen Weiterentwicklung führt.

11. Viele der politischen und organisatorischen Missver­ständnisse, die in unserer Strömung zum Ausdruck kamen, rühren aus dem Vergessen des theoretischen Rahmens her, den die IKS zu ihrem Beginn ge­schaffen hat. Sie beruhen auf einer lückenhaften Assimilierung der Theorie der Dekadenz des Kapi­talismus und der praktischen Auswirkungen dieser Theorie in unserer Intervention.
12. Obgleich die Organisation der Revolutionäre nicht ihren prinzipiellen Charakter geändert hat, haben sich die Merkmale ihrer Funktion zwischen der aufsteigenden und dekadenten Phase des Kapitalismus qualitativ verändert. Die revolutionären Erschütterungen nach dem Ersten Weltkrieg haben einige Existenzformen der revolutionären Organisation obsolet gemacht, während andere Formen, die im 19. Jahrhundert nur in ihrer embryonalen Form auftraten, weiterentwickelt wurden.
13. Der aufsteigende Zyklus des Kapitalismus hat den revolutionären po­litischen  Organisationen eine besondere und damit vorübergehende Form verliehen:

  • eine Mischform: Kooperativen, Gewerkschaften wie auch die Parteien konnten in derselben Organisation existieren. Trotz der Bemühungen von Marx wurde die politische Funktion der Organisation in den Hintergrund geschoben, während der gewerkschaftliche Kampf zur Hauptbühne wurde;  
  • die Bildung von Massenorganisationen, die zum Sammelbecken signifikanter Fraktionen partikularer, gesellschaftlicher Kategorien (Jugendliche, Frauen, Mitglieder von Kooperativen) oder gar der Mehrheit der Arbeiterklasse in einigen Ländern wurden, verlieh der sozialistischen Organisation eine lose Form, die dazu neigte, ihre ursprüngliche Funktion als revolutionäre Organisation zu vernachlässigen.

Die Möglichkeit unmittelbarer Reformen sowohl politi­scher als auch ökonomischer Art verlagerte das Betätigungs­feld der sozialistischen Organisationen. Der unmittel­bare, gradualistische Kampf erhielt den Vorrang vor der allgemeinen Perspektive des Kommunismus, die im Kommu­nistischen Manifest aufgezeigt worden war.
14. Die Unreife der objektiven Bedingungen für die Revolu­tion führte zu einer Spezialisierung der organisch eng ver­bundenen Aufgaben, zu einer Atomisierung der Funktion der Organisation:

  • Theoretische Aufgaben blieben Spezialisten vorbehal­ten (Marxismusschulen, professionelle Theoretiker);  
  • Propaganda- und Agitationsaufgaben wurden von Gewerkschaf­tsvertretern und Parlamentsabgeordneten ("Berufsrevolutionäre")  ausgeführt;
  • Organisatorische Aufgaben wurden von Funktionären ausgeübt, die von der Partei bezahlt wurden.

15. Die Unreife des Proletariats, von dem große Massen vom Land oder aus dem Handwerk stammten, sowie die Entwicklung des Kapitalismus im Rahmen erst kürzlich gebil­deter Nationen haben die wirkliche Funktion der Or­ganisation der Revolutionäre überschattet:  

  • Das enorme Wachstum der proletarisierten Massen, die keine politischen und organisatorischen Traditionen hatten, noch von den religiösen Mystifikationen beeinflusst und Gefangene ihrer Sehnsüchte nach den alten Lebensumständen als unabhängige Produzenten waren, verlieh der  Organisations- und Erziehungsarbeit im Proletariat ein übermäßiges Gewicht. Die Funktion der Organisation wurde in dem Injizieren von Bewusstsein und "Wissenschaft" in eine Klasse gesehen, der es noch an Kultur mangelte und die unter den Illusionen ihrer frühen Kindheit litt.  
  • Das Wachstum des Proletariats im Rahmen der Industrienationen hat den internationalen Charakter des Sozialis­mus überschattet (man sprach mehr vom "deutschen Sozialismus" oder vom "englischen Sozialismus" als vom internationalen Sozialismus). Die Erste und Zweite Internationale fungierte mehr als eine Föderation nationaler Sek­tionen denn als ein einziger, zentralisierter Weltsozialismus.  
  • Die Funktion der Organisation wurde national aufgefaßt: Aufbau des Sozialismus in jedem Land, gekrönt von einer assoziierten Föderation "sozialistischer" Staaten (Kautsky).
  • Die Organisation wurde als eine Organisation des "demokratischen" Volkes betrachtet; ihre Aufgabe war es, das Volk durch Wahlen hinter das sozialistische Programm zu sammeln.

16. Die Übergangsmerkmale dieser historischen Periode verfälschten das Verhältnis zwischen Partei und Klasse:

  • Die Rolle der Revolutionäre schien es zu sein, die Führung im Sinne eines Generalstabs zu bilden. Die Haupttugend der Klasse schien es zu sein, sich militärisch gedrillt den Führern zu unterwerfen. Wie jede Armee konnte sie nicht ohne "Häuptlinge" existieren, an die die Erfüllung ihrer Ziele (Substitutionismus) und selbst ihre Kampfmethoden (Gewerkschaftstum) delegiert wurde. Die Partei war die Partei des "ganzen Volkes", das für die "sozialistische Demokratie" gewon­nen werden sollte. Der Klassenfunktion der Partei ver­schwand im Sumpf des Demokratismus.  
  • Die Linke in der II. Internationalen und in der frühen III. Internationalen bekämpfte diese Degeneration der Parteifunktion. Daß die KI (Kommunistische Internationale)gewisse Auffassungen der alten, bankrot­ten Internationalen übernommen hatte (Massenparteien, Einheitsfront, Substitutionismus usw.), ist eine Realität, die nicht als Beispiel für die Revolutionäre dienen darf. Der Bruch mit diesen Deformationen in der Funktion der Organisation ist eine vitale Notwendigkeit, die von der historischen Epoche der Dekadenz erzwungen wird.  

17. Die revolutio­näre Periode nach dem Krieg bedeutete eine tiefgreifende, irreversible Änderung in der Funktion der Revolutionäre:

  • Die Organisation hat unabhängig davon, ob sie eine zahlenmäßig kleine Organisation oder eine große Partei ist, nicht mehr die Aufgabe, die Klasse und damit auch die Revolution vorzubereiten und zu organisieren, die die Tat der gesamten Klasse ist.  
  • Sie ist weder die Erzieherin noch ein Generalstab, der die Militanten der Klasse vorbereitet und anführt. Die Klasse erzieht sich selbst im revolutio­nären Kampf, und die "Erzieher" selbst müssen von der Klasse lernen.
  • Sie erkennt keine Partikulargruppen (Ju­gend, Frauen, Mitglieder von Kooperativen usw.) mehr an.

18. Die revolutionäre Organisation hat also einen unmittelbar einheitlichen Charakter, obwohl sie nicht die Ein­heitsorganisation der Klasse, die Arbeiterräte, ist. Sie ist eine Einheit innerhalb einer größeren Einheit - das Weltproletariat, das sie her­vorgebracht hat:

  • Sie entsteht nicht mehr auf nationaler Ebene, sondern auf Weltebene, als eine Totalität, die ihre verschie­denen "nationalen" Filialen ausscheidet.
  • Ihr Programm ist in allen Ländern das gleiche, im Osten wie im Westen, in der entwickelten wie in der unterent­wickelten Welt. Die heute bestehenden "nationalen" Be­sonderheiten, die aus der Ungleichheit der kapitalisti­schen Entwicklung und dem Fortbe­stand vorkapitalistischer Anachronismen herrühren , dürfen auf keinen Fall zur Ablehnung eines einheitlichen Programms führen. Das Programm ist weltweit gültig, oder es ist nichts.

19. Die Reifung der objektiven Bedingungen für die Revolu­tion (Konzentration des Proletariats, größere Homogenität im Bewußtsein einer Klasse, die einheitlicher sowie qualifizierter ist und über einen höheren Bildungs­stand und sowie eine größere Reife als die Arbeiter in den früheren Jahrhunderten  verfügt) hat die Form und die Ziele der Organisation der Revolutionäre grundlegend verändert:
a) in ihrer Form:  

  • Sie ist eine begrenztere Minderheit als in der Vergan­genheit, aber bewußter, ausgesuchter aufgrund ihres Pro­gramms und ihrer politischen Aktivitäten.  
  • Sie ist unpersönlicher als im 19. Jahrhundert und tritt nicht mehr als eine Organi­sation von Führern auf, die die Masse der Militanten dirigieren. Die Zeit der illustren Führer und großen Theoretiker ist vorbei. Die theoretische Weiterentwicklung ist zu einer wahrhaft kollektiven Aufgabe geworden. Nach dem Bilde von Millionen "anonymer" proletarischer Kämp­fer entwickelt sich das Bewußtsein der Organisation durch die Integration und Überflügelung des individuellen Bewußtseins in einem einzigen, kollektiven Bewußtsein.
  • Sie ist in ihrer Funktionsweise zentralisierter, im Gegensatz zur I. und II. Internationalen, die weitgehend nichts anderes waren als ein Nebeneinander von nationalen Sektionen. In einer historischen Epoche, in der die Revolution nur auf Weltebene stattfinden kann, ist sie der Ausdruck einer weltweiten Tendenz zur Umgruppierung der Revolutionäre. Im Gegensatz zur degenerierenden Auffassung der Kom­munistischen Internationalen nach 1921 bedeutet diese Zentralisierung nicht die Aufsaugung der weltweiten Aktivitäten der Revolutio­näre durch eine besondere nationale Partei. Die Selbst-Regulierung der Aktivitäten eines einzigen Organismus  existiert in einer Reihe von Ländern, ohne daß dabei ein Teil die anderen Teile dominiert. Die Vorherrschaft des Ganzen über die Teile bedingt das Leben eben dieser Teile.

b) in ihrer Vorgehensweise:  

  • In der historischen Phase der Kriege und Revolutionen entdeckt sie ihre wahre Bestimmung: für den Kommunismus nicht mehr mithilfe simpler Propaganda für ein langfristiges Ziel zu kämpfen, sondern durch ihr direktes Einbringen in den großen Kampf für die Weltrevolution.  
  • Wie die Russische Revolution bewies, existieren Revolutionäre nur durch die und in der Klasse, von der sie keine Rechte oder Privilegien zu erwarten haben. Sie setzen sich nicht selbst an die Stelle der Klasse; weder erlangen sie noch üben sie die Macht zu ihrem Gunsten aus.  
  • Ihre Rolle besteht hauptsächlich darin, in allen Kämp­fen der Klasse zu intervenieren und ihre unersetzliche Funktion bis nach der Revolution zu erfüllen - die Reifung des proletarischen Bewußtseins zu katalysieren.

20. Der Triumph der Konterrevolution und die totalitäre Herrschaft des Staates erschwerten die Existenz der revolutio­nären Organisationen und begrenzten die Reichweite ihrer Interventionen. In diesem Zeitraum des breiten Rückzugs erlangte ihre theoretische Funktion die Oberhand über ihre Interventionsfunktion und erwies sich als überlebenswichtig für die Bewahrung der revolutionären Prinzi­pien. Der Zeitraum der Konterrevolution hat gezeigt:

  • daß die revolutionäre Organisation in Gestalt kleiner Zirkel, Kerne, winziger oder unbedeutender Minderheiten, die isoliert von der Klasse sind, sich nur weiterentwickeln kann, wenn ein neuer historischer Kurs zur Revolution eröffnet wird;
  • daß die "Rekrutierung" um jeden Preis zu einem Verlust der Funktion der Organisation führt, indem Prinzipien der Schimäre der Mitgliederzahlen geopfert werden. Jene, die eintreten, müssen dies freiwillig in bewußter Übereinstimmung mit einem Programm tun;
  • daß die Existenz der Organisation nur durch ein verbindliches und kraftvolles Bekenntnis zum marxistischen theoretischen Rahmen gewährleistet werden kann. Was sie an Quantität verliert, gewinnt sie an Qualität durch eine strenge theoretische, politische und militante Auswahl;  
  • daß sie mehr als in der Vergangenheit das Zentrum des Wi­derstandes der schwachen proletarischen Kräfte gegen den gigantischen Druck eines Kapitalismus ist, der durch die 50 Jahre der konterrevolutionären Herrschaft gestärkt ist.

Obgleich die Organisation nicht für sich selbst existiert, ist es äußerst wichtig, die Organisation zu bewahren, die von der Klasse hervorgebracht wurde, sie zu stärken und auf eine Umgruppierung der Revolutionäre auf Weltebene hinzuarbeiten.  
21. Das Ende der Konterrevolution hat die Existenzbedingungen der revolutionären Gruppierungen ver­ändert. Eine neue Zeit brach an, die die Umgruppierung der Revolutionäre begünstigte. Dennoch ist diese neue Periode immer noch eine Zwischenphase, in der die notwendigen Be­dingungen für die Entstehung der Partei noch nicht aus­reichend vorhanden sind - wozu es einen realen Qualitätssprungs bedarf.
Deshalb werden sich noch eine ganze Zeit lang revolu­tionäre Gruppen entwickeln, die durch die Konfrontation der Ideen, durch gemeinsame Aktionen und schließlich durch ihren Zusammenschluß die Tendenz zur Gründung der Weltpartei manifstieren werden. Die Verwirklichung die­ser Tendenz hängt sowohl von der Eröffnung des Kurses zur Revolution als auch von dem Bewußtsein der Revolu­tionäre selbst ab.
Auch wenn seit 1968 ein gewisses Niveau erreicht wurde, auch wenn es eine Auslese innerhalb des revolutionären Milieus gegeben hat, sollte angesichts der langsamen Entwicklung des Klassenkampfes und des immer noch unreifen Charakters des revolutionären Milieus klar sein, daß die Entstehung der Partei weder ein Automatismus noch reine Willenssache ist.
22. In der Tat erwies sich das revolutionäre Milieu nach dem historischen Wiedererstarken des Proletariats 1968 als zu schwach und unreif, um mit der neuen Periode umzugehen. Das Verschwinden oder die Verknöcherung der alten Kommunistischen Linken, die während der gesamten Konterrevolution gegen den Strom gekämpft hatten, war ein negativer Fak­tor bei der Reifung neuer revolutionärer Organisationen. Mehr noch als die theoretischen Errungenschaften der Kommunistischen Linken, die langsam wieder entdeckt und aufge­griffen wurden, mangelte es an den organisatori­schen Errungenschaften (organische Kontinuität). Doch ohne diese Errungenschaften bleibt die Theorie fruchtlos. Die Funktion der Organisation, ja ihre Notwendigkeit an sich, wurde oft nicht verstanden, wenn nicht gar der Lächerlichkeit preisgegeben.
23. Mangels dieser organischen Kontinuität waren die Elemente, die nach 1968 auftauchten, dem vernichtenden Druck der Studentenbewegung und ihrer alles in Frage stellenden Haltung ausgesetzt  ausgesetzt, und zwar in Gestalt:

  • von individualistischen Theorien des All­tagslebens und der Selbstverwirklichung,  
  • des Akademismus der Studienkreise, in denen die marxistische Theo­rie entweder als "Wissenschaft" oder als "persönliche Ethik" aufgefaßt wird,
  • von Aktivismus/Immediatismus, wo der Ouvrierismus nur dünn die Unterwerfung unter dem Druck der Linksextremisten verdeckte.

Der Zerfall der Studentenbewegung, ihre Desillusionierung angesichts des langsamen, ungleichen Tempos des Klassenkampfes wurden in Gestalt des Modernismus theoretisiert. Die reale revolutionäre Bewegung jedoch hat sich dieser unverbindlichsten und unseriösesten Elemente entledigt, war doch für diese die militante Arbeit entweder eine mönchische Tätigkeit oder die höchste Stufe der Entfremdung.
24. Trotz der vor allem seit den Massenstreiks in Polen erdrückenden Beweise, daß die Krise einen Kurs zu im­mer größeren Klassenauseinandersetzungen einleitet, haben sich revolutionäre Organisationen, die IKS eingeschlos­sen, nicht von einer weiteren Gefahr befreien können, die nicht weniger tückisch ist als der Modernismus und Akademismus: der Immediatismus, dessen zwei Erscheinungsweisen der Di­lettantismus und der Individualismus sind. Die revolutionäre Organisation muß in der Lage sein, sich diesen Geißeln heute zu widersetzen, um sie schließlich endgültig zu liquidieren.
25. Die IKS hat in den letzten Jahren unter den katastrophalen Auswirkungen des Immediatismus leiden müssen, der typischsten Form der kleinbürgerlichen Ungeduld, der finalen Inkarnation des konfusen Geistes des Mai '68. Die auffallendsten Formen dieses Immediatismus waren:

  • der Aktivismus, der in den Interventionen in Erscheinung tritt und in der voluntaristischen Auffassung des "Rekrutierens" theoretisiert wird. Es war vergessen worden, daß die Organisation nicht willkürlich entwickelt werden kann, sondern organisch, durch eine strenge Auswahl auf Grundlage der Plattform. Die "numerische" Weiterentwicklung ist nicht die Frucht des bloßen Willens, sondern der Reifung der Klasse und der Elemente, die sie hervorbringt.
  • der Lokalismus, der in besonderen Interventionen an die Oberfläche kommt. Einige Genossen der IKS präsentierten "ihre" lo­kale Sektion, als sei sie ihr persönlicher Besitz, als sei sie eine autonome Einheit, obwohl jede lokale Sektion nur Teil eines Ganzen sein kann. Die Notwendigkeit für eine internationale Organisation wurde gar geleugnet und lächerlich gemacht, manche betrachteten sie nur als "Bluff" oder bestenfalls als eine Reihe von vagen "Verknüpfungen" zwischen den Sektionen.  
  • der Ökonomismus, den Lenin einst bekämpft hatte und der in der Neigung zum Ausdruck kommt, jeden Streik für sich selbst zu betrachten statt im Rahmen des weltweiten Klassenkampfes. Oft wurde die politische Funktion unserer Organisation in den Hinter­grund gedrängt. Wenn Revolutionäre als "Wasserträger" oder "Techniker" des Kampfes im Dienste der Arbeiter betrachtet werden, enden sie in der materiellen Vorbereitung des künftigen Kampfes.
  • das Mitläufertum, die finale Verkörperung dieser Mißverständnisse über die Rolle und Funktion der Organisation, welche die Form der Tendenz annahm, den Streiks einfach zu folgen, ohne selbst Farbe zu bekennen. Man schreckte davor zurück, klar und kompromißlos alle versteckten Formen des Gewerkschaftstums anzuprangern. Prinzipien wurden beiseitegeschoben, um an der Bewegung dran zu bleiben und ein sofortiges Echo zu suchen - alles, um koste-es-was-es-wolle von der Klasse anerkannt zu werden.
  • der Ouvrierismus, die finale Synthese dieser Verirrungen. Wie bei den Linksextremisten kultivierten einige Elemente die gröbste Art von Demagogie über "Arbeiter" und "Intellektuelle", über die "Führung" und die "Basis" innerhalb der Organisation.

Der Austritt einer gewissen Anzahl von Genossen beweist, daß der Immediatismus eine sehr ernste Krankheit ist und daß er zwangsläufig zur Verleugnung der politi­schen Funktion der Organisation, ihrer theoretischen und programmatischen Grundlage führt.  
26. All diese typisch linksextremistischen Abweichungen sind nicht auf die theoretischen Unzulänglichkeiten der Plattform der Organisation zurückzuführen. Sie drücken eine lückenhafte Assimilierung unseres theoretischen Rahmens und insbesondere der Theorie der Dekadenz des Kapitalismus aus, die die Formen der Aktivitäten und Interventionen von Grund auf ändert, welche für die revolutionären Organisation zugänglich sind.
27. Daher muß sich die IKS vehement jeglichem Verzicht auf den programmatischen Rahmen widersetzen, weil dies nur zum Immediatismus in der politischen Analyse führen kann. Sie muß entschlossen kämpfen:

  • gegen den Empirismus, dessen Fixierung auf die unmittelbaren Ereignisse und Phänomene unausweichlich zur altbekannten Auffassung der "besonderen Fälle" führt, eine unendliche Quelle des Opportunismus;  
  • gegen alle Neigungen zur Oberflächlichkeit, die die Form des Routinismus oder der intellektuellen Lässigkeit annehmen;  
  • gegen ein bestimmtes Mißtrauen oder Zaudern gegen­über der theoretischen Arbeit. Die "graue Theorie" darf nicht nicht den "rosigen" Farben der Intervention gegenübergestellt werden. Die Theorie darf nicht als etwas angesehen werden, das den Marxismus-Experten vorbehalten ist. Sie ist das Ergebnis eines kollektiven Denkprozesses und der Teilnahme aller an diesem Nachdenken.

28. Um die theoretischen und organisatorischen Errun­genschaften zu bewahren, müssen wir die Reste des Dilettantismus liquidieren, jene infantile Form des Individua­lismus:

  • das unsystematische Arbeiten, ohne Methode und kurzfristig;
  • das individuelle Arbeiten, Ausdruck des handwerklichen Di­lettantismus;
  • die politische verantwortungslose Gründung verfrühter oder willkürlicher Tendenzen;  
  • die Resignation oder die Flucht vor der Verantwortung.  

Die Organisation steht nicht im Dienst der Militanten in deren Alltagsleben; im Gegenteil, die Militanten führen einen täglichen Kampf, um sich in die umfassende Arbeit der Organisation einzubringen.
29. Ein klares Verständnis der Funktion der Organisation in der Epoche der Dekadenz ist die notwendige Vorbedin­gung für unsere eigene Weiterentwicklung in der entscheidenden Phase der 80er Jahre. Obgleich die Revolution keine Fra­ge der Organisation ist, muß sie Organisationsfragen lö­sen, mangelndes Verständnis ausräumen, damit die Minderheit der Revolutionäre als Organismus der Klasse funktio­nieren kann.
30. Die Existenz der IKS kann nur durch eine Wiederaneignung der marxistischen Methode gewährleistet werden, die ihren sichersten Kompaß für das Verständnis der Ereignisse und ihrer Interven­tionen darstellt. Die gesamte Arbeit der Organisation kann nur auf langfristiger Basis gesehen und entwickelt werden.  Ohne Methode, ohne kollektiven Geist, ohne die ständigen Bemühungen aller Militanten, ohne eine beharrliche Haltung, die jegliche immediatistische Ungeduld ausschließt, kann es keine wirkliche revolutionäre Organisation geben. Mit der IKS hat das Weltproletariat ein Organ geschaffen, dessen Existenz ein notwendiger Faktor in den zukünftigen Kämpfe ist.
31. Im Gegensatz zum vergangenen Jahrhundert gestaltet sich heute die Aufgabe der revolutionären Organisationen viel schwieriger. Sie erfordert mehr von jedem ihrer Mitglieder; sie lei­det noch immer unter den letzten Auswirkungen der Konterrevo­lution und den Nachwirkungen eines Klassenkampfes, der noch immer von Fortschritten und Rückschlägen gekennzeichnet ist.
Obgleich sie nicht mehr unter der erdrückenden, zer­störerischen Atmosphäre der langen Nacht der Konterrevolution leidet, obgleich sie ihre Aktivitäten in einer Periode durchführt, die den Klassenkampf und den Ausbruch von Massenbewegungen auf Weltebene begünstigt, muß die Organisation wissen, wie man sich geordnet zurückzieht, falls es einen zeitweiligen Rückschlag in der Klassenbewegung gibt.
 Daher muß die revolutionäre Organisation bis zur Revolution wissen, wie sie gegen die Wogen der Unsicherheit und Demoralisierung kämpfen muß, die über die Klasse fluten. Die wichtigste Aufgabe ist die Verteidigung der Integrität der Organisation, ihrer Prinzipien und ihrer Funktion. Lernen, wie man Widerstand leistet, ohne Schwäche, ohne sich in sich selbst zurückzuziehen - dies ist der Weg, auf den die Revolutionäre die Bedingungen für den künftigen Triumph vorbereiten können. Dies erfordert einen erbitterten Kampf gegen immediatistische Verirrungen, so daß die revolutionäre Theorie die Massen ergreifen kann.
Indem die Reste des Dilettantismus über Bord geworfen und die lebendigen Traditionen des Marxismus wiederangeeignet werden, die von der Kommunistischen Linken bewahrt und bereichert wurden, wird die Organisation in der Praxis demonstrieren, daß sie ein unersetzliches Instrument für das Proletariat ist, damit dieses seinen geschichtlichen Aufgaben gewachsen ist.

 

A N H A N G

In Zeiten generalisierter Kämpfe und revolutionärer Bewegungen haben die Aktivitäten der Revolutionäre einen direkten, gar entscheidenden Einfluß:
weil die Arbeiterklasse ihrem Todfeind dann die Stirn bieten muß. Entweder sie setzt ihre Perspektive durch oder sie macht den Weg frei für Mystifikationen und Provokationen und läßt es zu, von der Bourgeoisie vernichtet zu werden;
weil die Klasse in ihren Versammlungen und Räten der Sabotage und Untergrabung ausgesetzt ist, ausgeführt von den Agenten der Bourgeoisie, die alle verfügbaren Mittel nutzen, um den Kampf zu verlangsamen und in eine andere Richtung zu lenken.  
Die Anwesenheit von Revolutionären, die klare Orientierungen für die Bewegung vorstellen und den Prozeß der Homogenisierung des Klassenbewußtseins beschleunigen müssen, kann dann ein entscheidender Faktor sein, der das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung kippt, wie  in der deutschen und russischen Revolution deutlich wurde. Insbesondere müssen wir uns die fundamentale Rolle in Erinnerung rufen, die auf diesem Gebiet von den Bolschewiki gespielt wurde, wie Lenin sie in seinen Aprilthesen definierte:
“Anerkennung der Tatsache, daß unsere Partei in den meisten Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Minderheit, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit ist gegenüber dem Block aller kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente, die dem Einfluß der Bourgeoisie erlegen sind und diesen Einfluß in das Proletariat hineintragen (...) Aufklärung der Massen darüber, daß die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und daß daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen lässt, nur in geduldiger, systematischer, Beharrlichkeit, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen angepaßter Aufklärung über die Fehler ihrer Kritik bestehen kann" (Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, These Nr. 4).
Ab heute stellen die Existenz der IKS und die Verwirklichung ihrer gegenwärtigen Aufgaben eine unverzichtbare Vorbereitung dar, um den künftigen Aufgaben gewachsen zu sein. Die Fähigkeit der Revolutionäre, ihre Rolle in Zeiten generalisierter Kämpfe auszuüben, hängt von ihrer gegenwärtigen Aktivität ab.
1) Diese Fähigkeit entsteht nicht spontan, sondern ent­wickelt sich in einem Prozeß der politischen und organisatorischen Ausbildung. Kohärente und klar formulier­te Positionen sowie die organisatorischen Fähigkeiten, um sie verteidigen, zu verbreiten und zu vertiefen, fallen nicht vom Himmel, sondern müssen unverzüglich vorbereitet werden. So lehrt uns die Geschichte, wie die Fähigkeit der Bolschewiki, ihre Position weiterzuentwickeln, indem sie die Erfahrungen der Klasse n(von 1905 bis zum Krieg) berücksichtigten, und ihre Organisation zu stärken, es ihnen im Gegensatz zu den Revolutionären in Deutschland beispielsweise er­möglichte, eine entscheidende Rolle in den revolutio­nären Schlachten der Klasse zu spielen.
In diesem Rahmen muß eines der Hauptziele für eine kommunistische Gruppe sein, über das handwerkliche Niveau der Aktivität und Organisation hinauszugehen, das im allgemeinen die anfängliche Phase des politischen Kampfes auszeichnet. Die Weiterentwicklung, die Systematisierung, die regelmäßige Erfüllung ihrer Interventionsaufgaben, der Publikationsarbeit, des Vertriebs, der Diskussionen und Korrespondenz mit nahestehenden Elementen müssen im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen. Dies beinhaltet eine Weiterentwicklung der Organisation durch Funktionsregeln und spezifische Organe, die es der Organisation ermöglichen, nicht als eine Summe zerstreuter Zellen zu handeln, sondern als ein einziger Organismus mit einem ausgeglichenen Stoffwechsel.
2) Heute stellt die Organisation der Revolutionäre einen kohärenten, internationalen politi­schen Umgruppierungspol für die politischen Grup­pen, Diskussionszirkel und Arbeitergrup­pen dar, die mit der Weiterentwicklung der Kämpfe überall in der Welt entstehen. Die Existenz einer internationalen kommunistischen Organisation mit einer Presse und einer Intervention ermöglicht es diesen Gruppen, durch die Konfrontation der Positionen und Erfahrungen sich selbst besser einzuschät­zen, die revolutionäre Kohärenz ihrer Positionen zu ver­stärken und gegebenenfalls der internationalen kommunistischen Organisation beizutreten. Fehlt solch ein Pol, ist es weitaus wahrscheinlicher, daß solche Gruppen der Zersplitterung anheimfallen, entmutigt werden und degenerieren  (z.B. durch Lokalismus, Aktivismus, Korporatismus usw.). Mit der Weiterentwicklung der Kämpfe und dem Nahen einer Periode revolutionärer Zusammenstöße wird dieser Pol noch an Bedeutung gegenüber den Elementen gewinnen, die direkt aus den Klassenkämpfen hervorgehen.
Mehr und mehr wird die Arbeiterklasse dazu gezwungen, ihrem Todfeind entgegenzutreten. Selbst wenn der Umsturz der bürgerlichen Macht nicht sofort verwirklicht werden kann, werden die Schocks gewalttätig und entscheidend für den weiteren Verlauf des Klassenkampfes sein.  Deshalb müssen die Revolutionäre sofort, mit welchen Mitteln auch immer, in den Kämpfen inter­venieren:
um die Arbeiterkämpfe soweit wie möglich nach vom zu drängen, damit das gesamte Potential ausgeschöpft werden kann,
um sicherzustellen, daß soviel Fragen wie möglich gestellt, daß soviel Lehren wie möglich im Rahmen der allgemeinen politischen Perspektiven gezogen werden.  

IKS Januar 1982 (Erstveröffentlichung in Internationale Revue Nr. 9, engl. Ausgabe: International Review Nr. 29, Frühjahr 1982)

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [23]

Über die Partei und ihre Beziehung zur Klasse

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1. Die Frage der kommunistischen Partei und ihres Verhältnisses zur Klasse muß in den Kontext unserer Grundtexte über die Funktion der Organisation der Revolutionäre gestellt werden. (1)
2. Die kommunistische Partei ist ein Teil der Klasse - ein Organismus, den die Klasse in ihrer Bewegung hervorbringt und entwickelt, um den historischen Kampf der Klasse bis zu ihrem Triumph voranzutreiben, d.h. die radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gründung einer Gesellschaft, die die Vereinigung der menschlichen Gemeinschaft verwirklicht: einer für alle und alle für einen.
3. Entgegen der von Lenin in "Was Tun?" vertretenen Auffassung, der Vorstellung einer "Partei im Dienste der Klasse", und im Gegensatz zu den stupiden Ka­rikaturen des "Leninismus", die von den verschiedenen Tenden­zen des Bordigisnus verfochten werden, welche behaupten,  daß die Partei die Klasse gründet, schließen wir uns R. Luxemburg an, die meinte, daß die Partei selbst ein Produkt der Klasse ist, in dem Sinne, daß die Gründung der Partei der Ausdruck des Bewußtwerdungsprozesses durch den Kampf ist: Sie manifestiert den Bewußtseinsgrad, den die Klasse erreicht hat. Diese Formulierung hat nichts ge­meinsam mit einer anderen Auffassung, die von jener Art von kopfstehendem Bordigismus vertreten wird, welche in den 70er Jahren ihre höchste Vollendung in der Zeitschrift INVARIANZ fand und sagte: "Die Klasse ist die Partei". Solch eine grob vereinfachende Auffassung ersetzt das Ganze, die Einheit des Ganzen und seiner realen Bewegung durch eine bloße Gleich­setzung dieser Elemente und ignoriert die Unterschiede, die existieren, die dialektischen Verknüpfungen in der Einheit, deren integrale Be­standteile sie sind.
4. Diese "gleichmacherische" Auffassung macht es unmöglich, die Rolle zu ver­stehen, die die verschiedenen Elemente spielen, die aus ihr hervorgehen. Sie sieht keine Bewegung: Sie ist statisch und nicht dynamisch. Sie ist grundsätzlich ahistorisch. Sie stimmt mit der idealistischen, moralistischen Auffassung der Modernisten überein, jenen modernen Epigonen des degene­rierten Rätekommunismus, die in den alten Gegensatz von Schwarz und Weiß, von Gut und Böse zurückgefallen sind - und für die jede politische Organisation inner­halb der Klasse per Definition ein absolutes Übel ist.
5. Die Hauptschwäche des Rätekommunismus der hollän­dischen Linken, die unter dem Einfluß Pannekoeks stan­d, besteht darin, den politischen Strömungen und Grup­pen, die in der Klasse auftauchen, eine rein erzieheri­sche, pädagogische Funktion zuzuschreiben. Er ignoriert ihre politische Rolle als integraler, militanter Bestandteil des Proletariats, deren Aufgabe innerhalb der Klasse es ist, kohärente Positionen zu entwickeln und zu vertreten, die sich in einem kommunistischen Programm kristallisieren, und angesichts derer sie sich auf organisierte Weise  organisieren. In­dem er ihnen allein die Rolle eines Erziehers und nicht die des Vertreters des kommunistischen Programms zuschreibt, werden Pannekoeks rätekommunistische Organisationen zu "Beratern" der Klasse. Damit schließt er sich Lenins Sichtweise einer Organisation im Dienst der Klasse an. Beide Auffassungen enden in der Negierung der Idee, daß die Partei ein Teil der Klasse, einer der aktiven Organismen ist, die von der Klasse erzeugt werden.
6. Die politische Gesellschaft ist die vereinigte soziale Welt der Menschheit, die sich selbst verloren hat, indem sie sich in Klassen gespalten hat - ein Verlust, den die Menschheit in Gestalt des Proletariats auf schmerzvolle Weise zu überwinden trachtet. In diesem Sinne nimmt der Kampf des Proletariats zwangsläufig einen politischen Charakter an (insofern, als dies noch der Kampf einer Klasse ist).
Im Grunde ist der Kampf des Proletariats prinzipell ein im vollen Sinne des Wor­tes gesellschaftlicher Kampf. Sein Triumph beinhaltet die Auflösung aller Klassen und der Arbeiterklasse selbst in einer menschlichen Gemeinschaft, die weltweit neu gebildet werden wird. Jedoch muß diese gesellschaftliche Lösung zwangsläufig einen politischen Kampf miteinschließen, einen Kampf um die Macht über die Gesellschaft, wofür die Arbeiterklasse sich mit den notwendigen Instrumenten - revolutionäre Organisationen, politische Parteien - versorgen muß.
7. Die Bildung politischer Parteien, die Klasseninteres­sen widerspiegeln und vertreten, ist nicht typisch für das Proletariat. Wir haben dies bei allen Klassen in der Geschichte gesehen. Der Entwicklungsgrad, die Definition und die Struktur dieser Kräfte spiegeln die Klassen wider, denen sie entspringen. Sie finden ihre fortgeschrittenste Form in der kapitalistischen Gesellschaft - der letzten Klassenge­sellschaft der Geschichte -, in der die Gesellschaftsklassen ihre vollständigste Entwicklung erleben und in der die Antagonismen zwischen ihnen am deutlichsten hervortreten.
Es gibt zwar zweifellos gemeinsame Punkte zwischen den Parteien des Proletariats und der anderer Klassen - insbesondere der Bourgeoisie -, doch sind die Unterschiede zwischen ihnen beträchtlich.
Wie bei früheren historischen Klassen bestand das Ziel der Bourgeoisie, als sie ihre Herrschaft über die Gesellschaft errichtete, nicht darin, die Ausbeutung abzuschaffen, sondern sie in anderer Form fortzusetzen; nicht darin, die Spaltung der Gesellschaft in Klassen aufzuheben, sondern eine neue Klassengesellschaft zu errichten; nicht darin, den Staat zu zerstören, sondern ihn zu perfektionieren. Die Art von politischen Organismen, mit denen sich die Bourgeoisie wappnet , ihre Handlungsweisen und Interventionen in der Gesellschaft werden direkt durch diese Ziele bestimmt: Bürgerliche Parteien sind Staatsparteien, deren spezifische Rolle - als ein Ausfluß und eine Garantie für die Fortsetzung der Spaltung der Ge­sellschaft in Klassen - in der Übernahme und Ausübung der Staatsmacht besteht.
Dagegen ist das Proletariat die letzte Klasse in der Ge­schichte: Seine Machtergreifung hat zum Ziel, die Spaltung der Gesellschaft in Klassen zu überwinden und den Staat, den Ausdruck dieser Spaltungen, zu eliminieren. In diesem Sinne sind die Parteien des Proletariats keine Staatspar­teien. Sie streben nicht nach Übernahme und Aus­übung der Staatsmacht, ihr ultimatives Ziel ist im Gegenteil das Verschwinden des Staates und der Klassen.
8. Wir müssen uns vor einer mißbräuchlichen Interpretation der etwas un­glücklichen Formulierung im Kommunistischen Manifestes (die nur im politischen Kontext der Lage von 1848 verstanden werden kann) hüten, die besagt, daß "die Kommunisten keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien sind". Wörtlich genommen steht dieser Satz im offenen Widerspruch zur Tatsache, daß es sich hier um das Manifest einer besonderen Organisation handelte, die sich gerade "Bund der Kommunisten" nannte. Diese Formulierung ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß die beiden Männer,die das Manifest geschrieben hatten, ihr ganzes Leben lang Mitstreiter der allgemeinen Klassenbewegung waren. Sie waren Parteileute, Männer der politischen Tat.


Die Verbindung zwischen dem Leben der Klasse und ihren politischen Organisationen
9. Als Teil der allgemeinen Bewegung der Arbeiter­klasse, die sie hervorbringt, entfalten sich diese politischen Organismen, die Parteien, mit der Entwicklung des Klassenkampfes. Wie jeder lebendige Orga­nismus haben diese politischen Parteien des Proletariats eine Geschichte, die untrennbar mit der allgemeinen Klassenbewegung, mit ihren Höhepunkten und zeitweiligen Rückzügen verknüpft ist.
Die Geschichte der Partei läßt sich nur untersuchen, wenn man sie in den allgemeinen Zusammenhang mit den Stufen, die die Klassenbewegung durchläuft, mit den Problemen, vor denen die Arbeiterklasse steht, und mit ihren Bemühungen stellt, auf sie adäquat zu antworten, die Lehren aus den Erfahrungen zu ziehen und diese Lehren als ein Sprungbrett für die zukünftigen Kämpfe zu nutzen.
Während sie also selbst ein Faktor in der Entwicklung der Klasse sind, sind die politischen Parteien gleichzeitig ein Ausdruck des wirklichen Zu­standes der Arbeiterklasse selbst.
10. In ihrer gesamten Existenz ist die Klasse dem Gewicht der bürgerlichen Ideologie ausgesetzt gewesen, die dazu neigt, die proletarischen Parteien zu deformieren und zu korrumpieren, ihre wirkliche Funktion zu ent­stellen. Als Reaktion auf diese Tendenz sind revolutionäre Fraktionen entstanden, die das Ziel verfolgten, kommunistische Positionen zu erarbei­ten, zu klären und zu präzisieren. Dies war besonders bei der kommunistischen Linken der Fall, die aus der Dritten Internationalen hervorgingen: Jegliches Verständnis der Parteifrage beinhaltete zwangsläufig die Assimilierung der Erfahrungen und Beiträge der gesamten Internationalen kommunistischen Linken.
Es war jedoch das besondere Verdienst der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken, die qualitativen Unterschiede in der Organisation der Revolutionäre herausgearbeitet zu haben, je nachdem ob die Periode eine Weiterentwicklung des Klassenkampfes oder Niederlage und Rückzug erlebt hat. Die italienische Fraktion der Kommunistischen Linken legte dar, welche Form die Organisation der Revolutionäre in jeder der beiden Phasen annahm: Im ersten Fall die Parteiform, eine Organisation, die einen direkten und unmittelbaren Einfluß auf den Klassenkampf ausüben konnte; im zweiten Fall eine numerisch beschränkte Organisation mit einem weitaus schwächeren Einfluß auf das unmittelbare Leben der Klasse. Diesem zweiten Organisationstyp hat sie die Bezeichnung "Fraktion" gegeben, die zwischen zwei Phasen in der Entwicklung des Klassenkampfes, d.h. zwei Momenten in der Existenz der Partei, eine Verknüpfung bildet, eine organische Brücke zwischen der vergangenen und der zukünftigen Partei.
Die italienische Fraktion hat das Unverständnis von Trotzki und desgleichen bekämpft, die glaubten, eine Partei und eine Internationale zu jedem beliebigen Zeitpunkt gründen zu können - z.B. in den 30er Jahren -,  die aber in Spaltungen und noch größerer Zersplitterung von revolutionären Elementen endeten. Sie lehnte die subtilen Theoretisierungen Bordigas ab (2), der, mit Wörter und leeren Abstraktionen jonglierend, mit Spitzfindigkeiten wie die "Invarianz des Programms" und die Unterscheidung zwischen der "historischen" Partei und der "formellen" Partei aufwartete. Gegen diese verschiedenen Abweichungen demonstrierte die italieni­sche Fraktion die Gültigkeit ihrer Thesen, indem sie sich auf ein solides Fundament stützte - auf die Er­fahrung eines Jahrhunderts der Geschichte der Arbeiter­bewegung.
11. Die reale Geschichte und nicht die Fantasie zeigt uns, daß die Klassenpartei eine zyklische Bewegung der Entstehung, der Entfal­tung und des Dahinscheidens durchläuft. Dieses Dahinscheiden kann sich in Form ihrer inneren Degeneration, ihres Übergangs zum Feindeslager oder schlicht und einfach in Gestalt ihres Verschwindens äußern, was mehr oder we­niger lange Intervalle eröffnet, bis erneut die Bedingungen für ihre Wiederentstehung heranreifen. Das trifft sowohl für den Zeitraum vor Marx - angefangen mit Babeuf bis hin zum durchschlagenden Auftritt revolutionärer Organisationen im Leben und in den Aktivitäten von Marx und Engels - als auch für die Periode nach ihrem Ableben bis heute zu. Der Bund der Kommunisten bestand nur fünf Jahre (1847-1852), die Erste Internationale neun Jahre (1864-1873), die Zweite Internationale 25 Jahre (1889-1914), die Dritte Internationale acht Jahre (1919-1927). Selbstverständlich gibt es hier eine Kontinuität: Sie sind allesamt Organismen derselben Klasse, erfolgreiche Momente in der Einheit der Klasse, die wie das Sonnensystem als ein stabiles Ganzes erscheinen kann, innerhalb dessen diese Organismen sich bewegen. Jedoch kann es keine Stabilität oder Beständigkeit in diesem Organismus geben, der sich Partei nennt.
Die bordigistische Pseudo-Theorie der "historischen Partei" und der "formellen Partei" ist in ihrem Kern eine mystische Theorie. Ihr zufolge ist die reale Partei (wie das Programm) etwas Festgelegtes, Unveränderliches, Invariantes. Diese Partei manifestiere ihre Realität in der "formellen" Partei. Doch was wird aus der "historischen" Partei, wenn die "formelle" Partei verschwindet? Sie wird unsichtbar und untätig und bleibt dennoch irgendwo fortbestehen, weil sie unsterblich ist. Dies ist eine Rückkehr zu den Themen und Problemstellungen einer idealistischen, religiösen Philosophie, die den Geist von der Materie trennt, die Seele vom Körper - dieses in ewiger Seligkeit, jenes in irdischer Mühsal existierend.
12. Keine noch so erleuchtete, voluntaristische Theorie der Spontanerzeugung oder der außergewöhnlichen Intelligenz kann das Phänomen der Entstehung und Existenz der Partei und noch weniger die Gründe für ihr periodisches Auftreten, für die Aufeinanderfolge ihrer unterschiedlichen Momente erklären. Nur eine Vorgehensweise, die die wirkliche Bewegung des Klassenkampfes berücksichtigt, der selbst von der Ent­wicklung des kapitalistischen Systems und seiner Wider­sprüche bedingt wird, kann eine gültige Antwor­t auf das Problem der Partei geben, indem diese in die Realität der Klassenbewegung eingefügt wird.
13. Die gleiche Vorgehensweise muß praktiziert werden, wenn die unterschiedlichen Funktionen der Partei in den verschiedenen Gesellschaftsstadien betrachtet werden. So wie die Philosophie im Altertum verschiedene Diszipli­nen umfaßte, erfüllt die Partei, die das Ergebnis der Klassenbewegung des Proletariats ist, anfangs eine ganze Reihe von Aufgaben innerhalb der Klasse. Insbesondere:

  • war sie der Schmelztiegel für die theoretische Ausgestaltung durch die Klasse;
  • verdeutlichte sie die in den Kämpfen der Klasse potentiell enthaltenen Endziele;
  • war sie ein aktives Organ in der Klasse, das an vorderster Front die unmittelbaren ökonomischen und politischen Interessen der Klasse verteidigte;
  • funktionierte sie als Erzieherin, dabei ihre Interventionen in der Klasse vervielfachend und diversifizierend, und führte diese Erziehung auf allen Ebenen durch ihre Presse und durch Konferenzen, die Organisierung von  Abendschulen, Arbeiteruniversitäten usw. aus;
  • führte sie die Verbreitung revolutionärer Ideen und Propaganda durch;
  • bekämpfte sie leidenschaftlich und unermüdlich die Vorurteile der bürgerlichen Ideologie, die ununterbrochen in die Köpfe der Arbeiter eindringen und die Entwicklung des Klassenbewußtseins behindern;
  • handelte sie als ein Agitator, organisierte und vervielfachte Arbeiterdemonstrationen, Treffen, Versammlungen und andere Aktionen der Klasse;
  • agierte sie als Organisator, schuf und unterstützte alle Art von Arbeiterassoziationen - kulturelle und jene zur Vertretung ihrer unmittelbaren materiellen Forderungen, wie den gegenseitigen Beistand, Produktionskooperationen, Streikfonds, finanzielle Solidarität und vor allem die Bildung von einheitlichen, permanenten Organisationen für die Vertretung der unmittelbaren Interessen der Klasse: die Gewerkschaften;
  • führte sie durch die Präsenz von Arbeiterrepräsentanten im Parlament den Kampf für politische Reformen, die im unmittelbaren Interesse der Arbeiter waren - allgemeines Wahlrecht, Wahlbeteiligung.

Vier große Schritte im Leben des Proletariats: 1848, 1870, 1914, 1917
14. Die Geschichte der letzten 140 Jahre hat vier große Umwälzungenn erlebt:

  • 1848 den Abschluß des Zyklus der antifeudalen Revolution der Bourgeoisie;
  • 1870 den preußisch-französischen Krieg, der die Bildung von großen ökonomischen und politischen Einheiten des Kapitalismus - den Nationalstaaten - abschloss und eine lange Epoche der kapitalistischen Expansion auf der gan­zen Welt einleitete -  die Epoche des Kolonialismus;
  • 1914 den Höhepunkt der imperialistischen Phase; die Zuspit­zung der Widersprüche des Systems und sein Eintritt in die Epoche des Niedergangs mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs;
  • 1917 den ersten Durchbruch gegen das Systems, was die Notwendigkeit einer Transformation der Gesellschaft offenbarte.

15. Wie reagierte das Proletariat auf diese vier Schlüsseler­eignisse?

  • 1848: Hinter der Bourgeoisie tauchte der gewaltige Schat­ten des jungen Proletariats auf (die Juni-Erhebung der Arbeiter in Paris), ein Ereignis, das sich einige Monate zu­vor durch die Gründung des Bundes der Kommunisten ange­deutet hatte. Die erste wirkliche Partei des mo­dernen Proletariats - eine Organisation, die mit dem Romantizismus der geheimen Gesellschaften brach -  kündigte die Unvermeidlichkeit des Untergangs des Kapitalismus infolge seiner unüberwindbaren inneren Widersprüche an und demonstrierte dies in einem kohärenten Programm (das Manifest). Sie definierte das Proletariat als das Subjekt der historischen Lösung der Widersprüche des Kapitalismus. Durch seine Revolution werde das Proletariat der langen Epoche der Spaltung der Menschheit in antagonistische Klassen, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende bereiten. Jeder revolutionären Phrasendrescherei und dem Voluntarismus entgegentretend, er­kannte der Bund der Kommunisten, daß das Jahr 1852 den Sieg des Kapi­talismus über die ersten Erhebungen des Proletariats zu einer Zeit markierte, als die historischen Bedingungen für den Triumph der sozialistischen Revolution  noch nicht reif waren. Unter diesen neuen Bedingungen der Niederlage mußte der Bund zwangsläufig als aktive, zentralisierte politische Organisation verschwinden.
  • 1870: Die Militanten des Bundes lösten sich nicht in der Luft auf. Während sie auf die Reifung der Bedingungen einer neuen Welle von Arbeiterkämpfen warteten, führ­ten sie die Arbeit der theoretischen Ausgestaltung, der Assimilierung der Erfahrungen in der Klasse aus. Nach den großen gesellschaftlichen Umwälzungen von 1848 machte die Bourgeoisie große Fortschritte in ihrer Entwicklung und Expansion. Rund 15 Jahre später sehen wir ein Proletariat, das zahlreicher ist, sich in mehr Ländern verbreitet hat, reifer und entschlossen ist, machtvolle Kämpfe zu führen - nicht für die Revolution (weil die objektiven Bedingungen noch nicht reif waren), sondern für die Verteidigung seiner unmittelbaren, wirtschaftlichen Interessen. Vor diesem Hintergrund wurde 1864 auf Initiative der Arbeiter in Frankreich und Großbritannien die Erste Internationale gegründet.Diese Organisation sammelte Zehntausende von Arbeitern aller industrialisierten oder jener auf den Sprung zur Industrialisierung befindlichen Länder von Amerika bis Rußland. Die alten Militanten des Bundes der Kommunisten fanden sich natürlich in den Reihen dieser Internationalen Arbeiter­assoziation wieder, wo sie mit Marx am Steuer Positionen von höchsten Verantwortung besetzten. Überall auf der Welt wurde die Internationale zum Schlachtruf für immer mehr Arbeiter, die allerorts immer kämpferischer wurden. Bald war der Punkt erreicht, wo die Internationale zu einer Hauptsorge für alle Regierungen Europas wurde. In dieser allgemeinen Organisation der Klasse stieß die marxistische Strömung, der authentische Ausdruck des Prole­tariats, mit Bakunins anarchistischer Strömung zusammen, die die kleinbürgerliche Ideologie repräsentierte, welche noch einen beträchtlichen Einfluß unter den Ar­beitern der ersten Generation und den halbproletari­schen Handwerkern ausübte.Der deutsch-französische Krieg, die jämmerliche Niederlage des Zweiten Reiches und seines Sturzes in Frankreich, der Verrat der republikanischen Bourgeoisie, das Elend und der Hunger der Pariser Arbeiter, die von der Armee Bismarcks umzingelt waren, die Provokation der Regie­rung - alles trieb die Pariser Arbeiter in eine verfrühte bewaffnete Konfrontation, mit dem Ziel die bürgerliche Regierung davon zu jagen und die Kommune zu proklamieren. Die Niederschlagung der Kommune war un­vermeidbar. Sie demonstrierte zweifellos den Kampfgeist der Arbeiterklasse, ihre verzweifelte Entschlossenheit, das Kapital und seinen Staat anzugreifen, und sie hinterließ unschätzbare Lehren für die zukünftigen Generationen des Weltproletariats. Doch ihre Niederlage in einem riesigen Blutbad hatte eine unmittelbare und unabänderliche Konsequenz: das Verschwinden der Internationalen.
  • 1914: Der blutige Triumph des Kapitals, das Massaker an der Kommune und die nachfolgende Auflösung der Inter­nationalen sollten jahrelang ihre Wirkung zeigen und eine ganze Generation Proletarier zeichnen. Doch nach­dem die Wunden einmal geheilt waren, faßte das Proletariat langsam wieder Vertrauen in sich selbst und in seine Fähigkeiten, das Kapital zu bekämpfen. Langsam begannen die Klassenor­ganisationen der Klasse wieder Fuß zu fassen: Arbeiterhilfskassen, Gewerkschaften, politische Parteien. Letztere streb­ten danach, sich zu zentralisieren, zunächst national und dann auf internationaler Ebene, was schließlich 1889 (18 Jahre nach der Kommune) zur Gründung der Zweiten Internationalen führte, die eine strikt politische Organisation war.Aber das kapitalistische System war damals auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung auf internationaler Ebene. Es konnte ein Maximum an Profit aus einem Markt ziehen, der unbegrenzt schien. Dies war das Goldene Zeitalter des Kolonialismus, der Entwick­lung der Produktionsmittel und des relativen Mehrwerts anstelle des absoluten Mehrwerts. Der Kampf des Proletariats für Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen und politische Reformen machte sich allgemeinhin bezahlt. Diese Entwicklung schien sich endlos fortzusetzen und führte zur Illusion, daß der Kapitalismus durch eine Reihe von Reformen allmählich in den Sozialismus umgewandelt werden könnte. Diese Illusion ist bekannt als Reformismus, eine Krankheit, die tief in die Köpfe der Arbeiter und in ihre politischen und ökonomischen Organisa­tionen (insbesondere in die ökonomischen) eindrang, das Klassenbewußtsein untergrub und die revolutionäre Mission des Proletariats überschattete.Der Triumph des Reformismus bedeutete letztendlich die Niederlage des Proletariats. Es war der Triumph der Bourgeoisie, die das Proletariat für ihre eigenen nationalistischen und patriotischen gewinnen konnte. Die Gewerkschaften und Parteiorganisationen des Proletariats wurden unwiderruflich korrumpiert und wechselten ein für allemal ins Lager des Kapitals über.
  • 1917: Eingeschläfert, narkotisiert, verraten durch den Übergang seiner Organisationen ins bürgerliche Lager, vergiftet durch den Nationalismus und Patriotismus, das von der Bourgeoisie in Extra-Dosen verabreicht wurde, wurde das Proletariat , betäubt durch das Granatfeuer, in ein Meer von Blut gestoßen, von allen Seiten von Leichen umgeben, für den Krieg mobilisiert. Drei Jahre dauerten diese Verheerungen des imperialistischen Krieges, ehe das Proletariat erwachte und sah, was wirklich geschah.1917 war die erste Explosion einer revolutionären Welle, die etliche Jahre andauern sollte. Im Verlaufe dieser Explosion wurde das Proletariat dazu veranlaßt, neue Klassenorganisationen zu bilden, die seinen neuen Aufgaben entsprachen - nicht in der Form von Gewerkschaften, die in der Epoche der Dekadenz des Kapitalismus fortan völlig ungeeignet waren, nicht durch eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie, die ein für alle Mal ins feindliche Lager übergelaufen war, sondern durch die Schaffung einer kommunistischen Weltpartei - die Dritte Internationale -, die in der Lage war, sich der Aufgabe der Stunde stellen: einen Beitrag zur proletarischen Weltrevolution zu leisten. Die neue Partei, die neue, Kommunistische Internationale, wurde rund um die linken Fraktionen und Minderheiten gebildet, jenen, die jahrelang die reformistische Ideologie bekämpft hatten, die den Verrat der alten Sozialdemokratie angeprangert hatten, die gegen den Krieg und die Ideologie der nationalen Verteidigung gekämpft hatten, kurzum: jenen, die dem Marxismus und der proletarischen Revolution treu geblieben waren.

Die Prüfung der Konterrevolution
16. Diese erste große Welle der proletarischen Revolution scheiterte, weil sie im Verlaufe des Krieges, der nicht die günstig­ste Voraussetzung der Revolution darstellt, entstanden war, und sie scheiterte auch wegen der Unreife des Bewußtseins des Proletariats. Dies drückte sich u.a. im Überleben vieler Positionen innerhalb der neuen Internationalen aus, die von der Sozialdemokratie geerbt wurden:

  • die falschen Antworten zur Rolle der Par­tei in der Revolution und zum Verhältnis zwischen Partei und Klasse;
  • die Identifizierung der Diktatur des Proletariats mit der Diktatur der Partei;
  • die besonders gefährliche Konfusion in der Frage des Staates in der Übergangsperiode, der als "proletari­scher" oder "sozialistischer" Staat ausgerufen wurde.

Diese Fehler - zusammen mit dem Überleben des Sowjetstaates, der als "Arbeiterstaat" etikettiert wurde, den unzurei­chenden Analysen der Linksopposition über die Degeneration  dieses Staates (die Vorstellung, daß er immer noch seinen proletarischen Charakter bewahrt habe und die "Oktobererrungenschaften" behüte), die untereinander und mit den hintereinander folgenden Niederlagen des Proletariats in anderen Ländern interagierten - dienten dazu, das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Weltbourgeoisie zu beeinflussen, was zur vernichtenden, historischen Niederlage der Klasse führte. All diese Elemente zusammengenommen führten zu Auflösung, Degeneration und Tod der bolschewistischen Partei und aller Parteien der Dritten Internationalen, die sich dem Lager der Bourgeoisie anschlossen.
Das Ausmaß der vom Proletariat erlittenen Nieder­lage stand in direkter Proportion zur Höhe der revolutionären Welle, die dieser Niederlage vorausging. Weder die große Wirtschaftskrise, die 1929 ausbrach, noch der Zweite Weltkrieg, noch die Wiederaufbauperiode nach dem Krieg erlebte irgendwelche bedeutsamen proletarischen Aufwallungen. Selbst in den wenigen Ländern, in denen der Kampfgeist der Arbeiterklasse noch ungebrochen war, weil er nicht direkt auf die Probe gestellt worden war, konnte die Klasse leicht durch die politischen Kräfte der Linken, die die besondere Aufgabe hatte, den Boden für den nächsten Weltkrieg zu bereiten, von ihrem Klassenterrain abgelenkt werden. Dies war der Fall beim Generalstreik 1936 in Frankreich und beim Aufstand des spanischen Proletariats, der schnell in einen "Bürgerkrieg" zwischen Faschismus und Antifaschis­mus umgewandelt wurde, der Generalprobe des kommenden Weltkrieges. In anderen Ländern wie Rußland, Rumänien, Polen, Deutschland, Österreich, Italien, den Balkanländem und Portugal wurde das Proletariat der furcht­barsten Repression unterworfen. Millionen von Proletarier wurden in die Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen. Es fehlte an allen Bedingungen für eine Wiedergeburt der Klassenpartei. Nur der Voluntarismus und das totale Unverständnis für die Realität von jemanden wie Trotzki, der das Jahr 1936 als den Anfang der Revolution in Frank­reich und Spanien betrachtete und den russischen Staatskapitalismus mit dem Überleben der "Oktobererrungenschaf­ten" verwechselte, konnte dazu führen, daß Trotzki mit seinen Anhängern sich in das Abenteuer stürzten, neue, angeblich revolutionäre Parteien und eine neue Internationale zu proklamieren. Und dies, nachdem seine Strömung für einen vorübergehenden Aufenthalt zu den "sozialistischen" Parteien der erloschenen Zweiten Internationalen zurückgekehrt war.
Weit davon entfernt, eine Zeit der Annäherung zwischen den revolutionären Kräfte,  einer zusammenlaufenden, zentripetalen Bewegung zur Einheit und Bildung der Klassenpartei zu sein, war diese Periode von einer strikt zentrifugalen Bewegung geprägt. Es war eine Zeit der Zerstreu­ung, der Fragmentierung der revolutionären Gruppen: Die englische Linke war seit langem verschwun­den, die russische Linke war in den Gefängnissen Stalins physisch ausgelöscht, die deutsche Linke vollständig li­quidiert worden. Die verbleibenden revolutionären Grup­pen wurden isoliert, zogen sich zurück und verkümmerten mit jedem weiteren Jahr, das verstrich.
Der Krieg in Spanien 1936 führte zu einer strengen Auslese unter diesen Gruppen - zwischen jenen, die vom Antifaschismus eingefangen wurden, und jenen, die fest auf dem Klassenterrain verblieben: die Fraktionen der Internationalen Kommunistischen Linken, die ihr Werk der theoretischen Weiterentwicklung fortsetzten, indem sie die politischen Positionen der Kommunistischen Internationalen auf ihrem Höhepunkt einer fruchtbaren und furchtlosen Kritik unterwarfen, die auf den realen Erfahrungen der Bewegung seit 1917  beruhte.
Die Internationale Kommunistische Linke selbst wurde von den Ereignissen heftig erschüttert. Zunächst durch die Abspaltung einer Minderheit 1936, die sich für die Teilnahme am Spanienkrieg auf der Seite der an­tifaschistischen Republikaner aussprach; dann zu Beginn des Weltkrieges durch den Weggang einer Minderheit, die das "gesellschaftliche Verschwinden des Proletariats" in Kriegszeiten und somit die Unmöglichkeit jeglicher Aktivität und Aufrechterhaltung der Organisation der Fraktionen verkündete. Die dritte und endgültige Krise kam 1945 mit der Abspaltung der französischen Fraktion der Kommunistischen Linke (GCF), die sich der Entscheidung,die internationale Kommunistische Linke  aufzulösen, und der Aufnahme ihrer Mitglieder als Individuen  in einer Partei widersetzte, die in Italien proklamiert wurde - eine Partei, deren Plattform und Positionen nicht bekannt waren und von der nur bekannt war, daß sie sich um Damen und Bordiga gegründet hatte, zwei angesehene Persönlichkeiten der Italienischen Linke in den 1920er Jahren. So kam es zum traurigen Ende der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken.


Die vier Hauptlehren aus der Geschichte eines Jahrhunderts über den Charakter und die Funktion der Partei
17. Dieser kurze Überblick der Geschichte der Arbeiter­bewegung zeigt uns:
a) daß es eine enge Verbindung zwischen der Klasse als Ganzes und der Partei als besonderen Organismus dieses Ganzen gibt. Es gibt Zeiten, in denen die Klasse ohne Partei existiert, aber die Partei kann nie ohne die Klasse existieren;
b) daß die Klasse mit reifendem Klassenbewußtsein die Partei als unverzichtbaren Organismus absondert, sodaß die Klasse in der Lage ist, ihren endgültigen Triumph zu erringen. Dieser Triumph des Proletariats wäre unmöglich, wenn es nicht die Organe entwickelt hätte, die dafür unentbehrlich sind: namentlich die allgemeinen Einheitsorgane der Klasse, die alle Arbeiter sammeln, und ihre politische Organisation, die Partei, die sich rund um ein allgemeines Programm  bildet, das sich aus Positionen zusammensetzt, die das Endziel des proletarischen Kampfes - den Kommunismus - und die Mittel zu seiner Erlangung aufzeigen;
c) daß es einen substantiellen Unterschied in der Entwicklung zwischen den allgemeinen Organisationen, die allen Arbeitern offenstehen, und der politischen Organisation, der Partei, gibt. In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus besaß die allgemeine Organisation der Klasse, deren Aufgabe in der Vertretung ihrer unmittelbaren, ökonomischen Interessen bestand, eine permanente Existenz, auch wenn sie wichtige strukturelle Änderungen durchmachte. Dies war nicht der Fall bei der politischen Organisation, der Partei, die nur unregelmäßig, in Zeiten des wachsenden Kampfgeistes, existierte. Diese Beobachtung unterstreicht eindeutig die Tatsache, daß die Existenz der Partei stark vom Stand des Klassenkampfes abhängt. Im Falle eines ansteigenden Klassenkampfes sind die Bedingungen für die Entstehung und die Aktivitäten der Partei gegeben. In den Rückflußphasen, wenn diese Bedingungen nicht mehr erfüllt werden, neigt die Partei dazu, sich auf­zulösen. Im ersten Fall dominieren die zentripetalen Tendenzen, im zweiten die zentrifugalen.
d) Hinsichtlich dieses Punktes gilt es die wesentlichen Unterschiede des dekadenten Kapitalismus hervorzuheben. In dieser Epoche, in der die Aufrechterhaltung und Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiterklasse nicht mehr möglich sind, kann es auch keine permanenten Organisationen mehr geben, die diese Funktion ausüben. Deshalb hat das Gewerkschaftstum jeglichen proletarischen Inhalt verloren;die Gewerkschaften können ihre permanente Existenz nur als Anhängsel des Staates aufrechterhalten, deren Aufgabe es ist, jeglichen Ausdruck des Klassenkampfes einzudämmen, zu kontrollieren und zu Fall zu bringen. In dieser Periode haben allein die wilden Streiks, die zum Massen­streik tendieren, kontrolliert und angeleitet von den Vollversammlungen, einen klaren Klasseninhalt. Daher können solche Versammlungen anfangs nicht permanent existieren. Eine allgemeine Klassenorganisation kann nur dann permanent werden, wenn die Verteidigung der unmittelbaren Interessen mit der Möglichkeit der Revolution in der revolutionären Periode zusammenfällt, d.h. in einer Periode, in der die Arbeiterräte gebildet werden. Dies ist der einzige Zeitpunkt in der Geschichte des Kapitalismus, in der die Permanenz dieser Organisation wirklich allgemeine Tatsache ist und eine Konkretisierung der wirklichen Klasseneinheit ausdrückt. Dies ist bei der politischen Par­tei nicht der Fall, die ohne weiteres schon vor diesem Kulminationspunkt entstehen kann, der sich durch die Arbeiterräte auszeichnet. Das ist deshalb möglich, weil ihre Existenz nicht durch den Endpunkt bestimmt wird, sondern schlicht durch eine Phase des ansteigenden Klassenkampfes.
e) Mit der historischen Evolution des Klassenkampfes haben sich einige Funktionen der Partei geändert. Nachfolgend zählen wir einige Beispiele auf:

  • Im Verlauf der Entwicklung des Klassenkampfes, wenn die Arbeiter Erfahrung gesammelt und ein höheres kulturelles Niveau erreicht hatten, büßt die Partei allmählich ihre Rol­le als allgemeiner Erzieher der Klasse ein.
  • Das trifft noch mehr auf ihre organisierende Rolle in der Klasse zu. Eine Arbeiterklasse wie die das britische Proletariat 1864, das dazu in der Lage war, die Initiative bei der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation zu übernehmen, brauchte keinen Vormund, der ihm beibrachte, wie man sich organisiert. Die Vorstellung, "unters Volk zu gehen", zu den Arbeitern zu gehen, um sie zu organisieren, mag in einem rückständigen Land wie Rußland Ende des 19. Jahrhunderts sinnvoll gewesen sein, doch in industrialisierten Ländern wie Großbritannien, Frankreich, etc. verfehlte sie völlig ihr Ziel. Die Gründung der IAA 1864 war nicht das Werk irgendeiner Partei. Größtenteils existierten solche Parteien nicht, und in den seltenen Fällen, wo es sie gab, wie z.B. der Chartismus in Großbritannien oder der Blanquismus in Frankreich, waren sie im völligen Zerfall begriffen.

Die Erste Internationale entsprach einer allgemeinen Organisation viel mehr als Organisationen vom Typ des Bundes der Kommunisten, das heißt dem Typus einer Partei, strikt auf der Grundlage eines kohärenten theoretischen und politischen Programms gruppiert und ausgewählt. Weil die Erste Internationale diese Form annahm, war es möglich, daß diverse Strömungen koexistieren und sich in ihr messen konnten: der marxistische Flügel (Kollektivisten), Ouvrieristen, Proudhonisten, Anarchisten und selbst am Anfang gar so bizarre Strömungen wie die Mazzinisten. Die Internationale war ein Schmelztiegel, in dem Ideen und Strömun­gen geklärt wurden. Eine Partei jedoch ist bereits das Produkt einer Klärung. Deshalb waren die Strömungen in der Ersten Internationalen nur sehr informell. Eine einzige politische Partei im engen Sinne des Wor­tes entstand nach der Auflösung des Bundes der Kommunisten und in der Zeit der Ersten Internationalen 1868: die Eisenacher Sozialdemokratische Partei, eine marxistische Tendenz, 1868 gegründet unter der Führung Wilhelm Liebknechts und August Bebels. Erst 1878 wurde an­läßlich der Wahlen in Frankreich unter der Führung Guesdes und Lafargues unter direkter Mitwirkung von Marx, der ihre politische Plattform schrieb, die Arbeiterpartei gebildet.

Erst seit dem Beginn der 1880er Jahre wurde vor dem Hinter­grund einer sich beschleunigenden Entwicklung des Kapitalismus und des zunehmenden Klassenkampfes das Bedürfnis und die Notwendigkeit für die Bildung von Parteien für den politischen Kampf sichtbar, genau genommen für Organe, die sich von den Gewerkschaften unterschieden, deren Aufgabe es war, die unmittelbaren, ökonomischen Interessen der Arbeiter zu vertreten. In den 1880er Jahren begann überall in den Industrieländern und in den Ländern, in denen die Industrialisierung in Gang kam, ein Prozeß der Parteienbildung im Gefolge der deutschen Sozialdemokratie, die auch die Initiative für die Gründung der Zweiten Internationalen 1889 ergriff.

Die Zweite Internationale war das Ergebnis eines politischen Klärungsprozesses in der Arbeiterbewegung seit der Auflösung der Ersten Internationalen 16 Jahre zuvor und der Vereinigung der marxistischen Bewegung auf interna­tionaler Ebene. Sie proklamierte den "wissenschaftlichen Sozialismus", der 40 Jahre zu­vor von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formuliert worden war. Im Gegensatz zur Ersten Inter­nationalen stellte sie sich nicht mehr zur Aufgabe, Untersuchungen über die Lebensbedingungen der Arbeiter in verschiedenen Ländern durchzuführen oder eine Liste von ökonomischen Forderungen zu erstellen. Dieses Tätigkeits­feld wurde den Gewerkschaften überlassen. Dagegen definierte sie es als ihre Aufgabe, den Kampf um unmittelbare politische Forderungen aufzunehmen: allgemeines Wahlrecht, Versammlungs- und Pressefreiheit,, Teilnahme an den Wahlen, die Kämpfe für politische Reformen, gegen die Kolonialpolitik der Bourgeoisie, gegen ihre Außenpolitik , gegen den Milita­rismus usw. Gleichzeitig setzte sie ihre Arbeit der theoretischen Vertiefung und der Verteidigung der End­ziele der Bewegung, die sozialistische Revolution, fort.

Zu Recht wies Engels in den 80er Jahren in einem seiner Vorworte zum Kommunistischen Manifest darauf hin, daß die Erste In­ternationale ihren Aufgaben in der historischen Periode, in der sie entstanden war, vollkommen gerecht geworden war. Er täuschte sich allerdings, als er die übereilte Schlußfolgerung zog, daß die politische Bewegung der Klasse, die Bildung politischer Parteien in verschiedenen Ländern, solch einen Aufschwung erfahren habe, daß die Arbeiterklasse "keine internationale Organisa­tion mehr benötigt". Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten, ihrer Fehler und trotz ihrer Durchdringung durch den Reformismus (mit den Gewerk­schaften als seine Hauptstütze), der sich letztendlich durchsetzen und den Verlust ihres proletarischen Charakters verursachen sollte, hat auch die Zweite Internationale ein überaus positives Werk in der Klasse verrichtet, eine Arbeit, die eine Errungenschaft der Bewegung bleiben wird, selbst wenn sie nur als beispielloses Terrain für die theoretische Konfrontation und Klärung in einer Reihe von Gebieten diente - als eine Arena für die Konfrontation zwischen den politischen Positionen der Linken und Bernsteins Revisionismus sowie Kautskys Zentrismus. In der Zweiten Internationalen hat die revolutionäre Linke ihre ersten Schritte gemacht und zu kämpfen gelernt.

Wenn die Modernisten und Moralisten aller Schattierungen heute mit Vergnügen eine ausschließlich negative Bilanz der Geschichte ziehen - das heißt, sofern sie überhaupt eine Ahnung von Geschichte haben -, wenn sie den Beitrag der Zweiten Internationalen zur Arbeiterbewegung abqualifizieren, so legen sie damit nur ihre völlige Unkenntnis dessen an den Tag, was eine sich in Entwicklung befindliche historische Bewegung ausmacht. Sie verstehen nicht einmal, daß sie das wenige, was sie wissen, der lebendigen Geschichte der Arbeiterklasse verdanken! Sie gießen das Kind mit dem Bade aus und sehen nicht einmal, daß ihre eigenen Ideen und "Erfindungen", die sie für originell halten, aus dem Abfalleimer der Arbeiterbewegung stammen, aus der utopischen Epoche, die schon lange vergangen ist. Selbst Bastarde haben Eltern, selbst wenn die Eltern sie nicht haben wollten!

Wie die Modernisten ignorieren auch die Bordigisten die lebendige Geschichte der Arbeiterklasse, einer Klasse in Bewegung und in der Entwicklung, mit ihren starken und schwachen Momenten. Anstatt sie zu untersuchen und sie zu begreifen, setzen sie tote Götter an deren Stelle, auf ewig unbeweglich, mumifiziert als das absolute Gute und Böse.
18. Das Wiedererwachen des Proletariats nach einem dreijährigen imperialistischen Massaker und der schändliche Verrat und Tod der Zweiten Internationalen eröffnete eine neue Periode, die es möglich machte, die Klassenpartei zu rekonstituieren. Diese neue Periode gesellschaftlicher Kämpfe, die den rapiden Zusammenbruch von Festungen, die uneinehmbar schienen, von mächtigen Reichen, Monarchien und Militärmaschinerien wie die Rußlands, Österreich-Ungarns und Deutschlands erlebte, stellte nicht einfach einen Moment in der Evolution der Arbeiterbewegung dar, sondern einen qualitativen Sprung in der Geschichte, weil sie ohne Umschweife das Problem der Revolution, der politischen Machtergreifung durch die Arbeiterklasse stellte. Zum ersten Mal in der Geschichte mußte die Arbeiterklasse und ihre erst jüngst gebildeten kommunistischen Parteien auf eine ganze Reihe von lebenswichtigen Fragen antworten, von denen jede eine Existenzfrage war. Und manchmal hatten sie keine Ahnung, was sie tun soll­ten, oder vertraten offen anachronistische oder falsche Auf­fassungen. Nur großmäulige, aufschneiderische Zwerge , die noch nie eine Revolution (nicht einmal von ferne) miterlebt haben (und die proletarische Revolu­tion ist der größte Sprung in der gesamten Geschichte der  Menschheit bis heute), können 60 Jahre später mit erhobenem Zeigefin­ger herablassend und selbstzufrieden auf die Fehler und das Umherirren dieser Giganten zeigen, die es gewagt haben, die Gipfel der kapitalistischen Welt zu erstürmen und entschlossen in den revolutionären Kampf einzutreten.
Ja, die Arbeiterklasse und vor allem die Parteien und die Kommunistische Internationale haben oft im Nebel gestochert, haben improvisiert und schwere Fehler begangen, die der Revolution im Weg gestanden haben. Doch haben sie uns unschätzbare Errungenschaften hinterlassen, eine reiche Erfahrung, die wir sorgfältig untersuchen müssen, um die Fallen zu vermeiden, in die sie liefen, um die Fehler zu vermeiden, die sie machten, und um auf der Grundlage ihrer Erfahrungen adäquatere Antworten auf die Probleme zu geben, die die Revolution stellt. Wir müssen den zeitlichen Abstand zwischen ihnen und uns nutzen, um diese Probleme, wenn auch nur teilweise,  zu lösen - ohne die Tatsache aus den Augen zu verlieren, daß die nächste Revolution neue Probleme mit sich bringen wird, die wir heute noch nicht alle voraussehen können.
19. Um auf das konkrete Problem der Partei und ihrer Funktion in der gegenwärtigen Periode und in der Revo­lution zurückzukommen, können wir eine Antwort vor allem in dem Sinne skizzieren, was eine Partei nicht ist, um dann zu begründen, was sie sein sollte.
a) Die Partei kann nicht von sich behaupten, der einzige und exklusive Träger oder Repräsentant des Klassenbe­wußtseins zu sein. Sie ist für solch ein Monopol nicht prädestiniert. Das Klassenbewußtsein wohnt der Klasse in ihrer Gesamtheit inne. Die Partei ist nur das fortgeschrittenste Organ dieses Bewußtseins und nicht mehr. Dies bedeutet nicht, daß sie unfehlbar ist oder daß sie zu bestimmten Zeit­en nicht hinter dem Bewußtsein anderer Teile oder Fraktionen der Klasse hinterherhinken kann. Die Arbeiterklasse ist nicht homogen, sie strebt danach. Das Gleiche trifft auf das Klas­senbewußtsein zu, das danach strebt, homogener zu wer­den und sich zu verallgemeinern. Aufgabe der Partei ist es - und dies ist eine ihrer Hauptfunktionen -, bewußt zur Beschleunigung  dieses Prozesses beizutragen.
b) Es ist also Aufgabe der Partei, die Klasse zu orientieren, ihre Kämpfe zu befruchten; sie ist kein Führer im Sinne einer Instanz, die für sich allein und anstelle der Klasse Entscheidungen trifft.
c) Aus diesem Grund sehen wir durchaus die Möglichkeit, daß diverse Gruppen (ob sie sich Partei nennen oder nicht, spielt keine Rolle) in der Klasse und ihren Einheitsorganen, den Arbeiterräten, entstehen können.  Die kommunistische Partei darf keinesfalls das Recht beanspruchen, solche Gruppen zu verbieten oder Druck auf sie auszuüben; sie muß alles unter­nehmen, um solchen Versuchen entgegenzutreten.
d) So wie die Klasse in ihrer Gesamtheit etliche mehr oder weniger kohärente, revolutionäre Tendenzen enthalten kann, so erkennt die Partei durchaus die Möglich­keit von Divergenzen und Tendenzen an. Die Kommunistische Par­tei wird kategorisch das Konzept einer mono­lithischen Partei ablehnen.
e) Die Partei kann mitnichten mit einem Rezeptbuch aufwarten, das auf alle Fragen, die sich im Kampf stellen, detaillierte Antworten gibt. Sie ist weder ein technisches, administratives noch ein Exekutivorgan der Klasse. Sie ist und muß ein politisches Organ bleiben. Dieses Prinzip trifft sowohl auf die Kämpfe, die der Revo­lution vorhergehen, als auch auf die Revolution selbst zu. Insbesondere ist es nicht die Rolle der Partei, der "Generalstab" des Aufstandes zu sein.
f) Die Organisations- und Handlungsdisziplin, die die Partei von ihren Mitgliedern verlangt, ist nur im Rahmen einer ständigen Freiheit der Diskussion und der Kritik innerhalb der Grenzen der Plattform der Partei realistisch. Sie darf von Mitgliedern, die ab­weichende Meinungen zu bestimmten wichtigen Positionen haben, nicht verlangen, diese Positionen nach außen darzulegen und zu verteidigen - sie kann sie nicht zwingen, entgegen ihrer Überzeugung Parteisprecher in diesen Fragen zu sei. Dies geschieht aus der Sorge heraus, die Integrität ihrer Mitglieder zu respektieren, wie auch im allgemeinen Interesse der Organisation in ihrer Gesamtheit. Die Verteidigung wich­tiger Positionen der Organisation Genossen zu übertra­gen, die nicht mit ihnen übereinstimmen, führt nur dazu, daß diese Positionen schlecht vertreten werden. Im gleichen Sinn darf die Partei nicht auf Repressionsmaßnahmen zurück­greifen, um auf ihre Mitglieder Druck auszuüben. Die Par­tei lehnt prinzipiell die Anwendung von Gewalt und Zwang oder eines  Zwangsverhältnisses innerhalb der Klasse ab.
g) Die Partei kann als solche nicht die Klasse auffordern, ihr "das Vertrauen zu schenken", ihr die Entscheidungsbefugnis zu übertragen. Die kommuni­stische Partei ist prinzipiell gegen jede Delegierung der Macht durch die Klasse an ein Organ, eine Gruppe oder Partei, die nicht der ständigen Kontrolle der Klasse unterworfen ist. Die kommunistische Partei ist für die wirkliche Praxis der gewählten, jederzeit abwählbaren Delegierten, die jederzeit den Versammlungen verantwortlich gegenüber sind, von denen sie gewählt werden; in diesem Sinne ist sie gegen die Methode der Wahllisten, die von den politischen Parteien präsentiert werden. Jegliche andere Konzeption führt zwangsläufig zu einer substitutionistischen Praxis.
Während es das Recht der Partei ist, den Rücktritt eines ihrer Mitglieder von einem Posten, einem Komitee oder gar einem Staatsorgan zu fordern, in die dieses Mitglied von einer Ver­sammlung gewählt wurde und gegenüber der es verantwort­lich ist, darf sie die Auswechslung dieses Mitgliedes durch ein anderes nicht eigenmächtig durchsetzen.
h) Schließlich hat im Unterschied zu den bürgerlichen Parteien die proletarische Partei nicht die Aufgabe, den Staat zu übernehmen oder ihn zu verwalten. Dieses Prinzip ist eng mit dem Bedürfnis für die Klasse als Gesamtheit verknüpft, ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Übergangsstaat aufrechtzuerhalten. Die Aufgabe dieses Prinzips führt unweigerlich dazu, daß die Partei ihren proletarischen Charakter verliert.
i) Aus all dem Gesagten geht hervor, daß die proletari­sche Partei in unserer Epoche keine Massenpartei sein kann. Da sie nicht die Aufgabe hat, den Staat zu leiten oder die Klasse zu organisieren, da ihre Mitglieder rund um ein Programm ausgewählt sind, das so kohärent ist wie möglich, wird sich die Partei bis zur und in der revolutionären Periode zwangsläufig in der Minderheit befinden. In diesem Sinne muß das KI-Konzept der "revolutionären Massenpartei" - das schon damals falsch und das Produkt einer längst vergangenen Epoche war - kategorisch abgelehnt werden.
20. Die IKS analysiert die Epoche, die mit dem Wiederaufleben der Arbeiterkämpfe 1968 eröffnet wurde, als eine Epoche der historischen Wiederbelebung des Klassenkampfes in Reaktion auf die offene Krise, die nach dem Ende der Wiederaufbauperiode nach dem II. Weltkrieg aufgetreten war. In Übereinstimmung mit dieser Analyse ist sie der Ansicht, daß diese Epoche die Voraussetzungen für die Rekonstituierung der Partei enthält. Jedoch sind es die Menschen, die die Geschichte machen, selbst wenn sie dies unter Bedingungen tun, die unab­hängig von ihrem Willen sind. In diesem Sinne wird die Schaffung der zukünftigen Partei das Ergebnis bewußter, wohlüberlegter Bemühungen sein, denen sich die revolutionären Gruppen schon jetzt verschreiben müssen.
Diese Bemühun­gen erfordern ein klares Verständnis sowohl der allge­meinen Charakteristiken des Prozesses, durch den die Partei gebildet wird - die in allen Perioden gültig sind -, als auch der spezifischen, historisch einmaligen Bedingungen, die für die Entstehung der zukünftigen Partei gelten.
21. Eine der Hauptbesonderheiten bei der Entstehung der zu­künftigen Partei besteht in der Tatsache, daß sie im Gegensatz zur Vergangenheit sofort auf weltweiter Ebene stattfinden wird.
Schon in der Vergangenheit bestanden die politischen Organisationen des Proletariats weltweit, strebten nach einer weltweiten Einheit. Jedoch waren die internationalen Organisationen das Ergebnis einer Umgruppierung von Formationen, die sich mehr oder weniger auf nationaler Ebene und rund um eine Formation konstituierten, die aus einem besonderen nationalen Bereich des Proletariats stammten, der eine Vorrangstellung in der gesamten Arbeiter­bewegung einnahm.
So wurde 1884 die IAA hauptsächlich rund um das englische Pro­letariat konstituiert (die Gründungskonferenz fand in Lon­don statt, wo auch bis 1872 der Sitz des Zentralrates war; und lange Zeit waren die britischen Gewerkschaften das wichtigste Aufgebot der IAA). Großbritannien war damals das höchstentwickel­te Land, der Ort, wo der Kapitalismus am stärksten und konzentriertesten war.
Ebenso wurde die Zweite Internationale hauptsächlich rund um die deutsche Sozialdemokratie gebildet, die die älteste, am weitesten entwickelte und mächtigste Partei  in Europa und auf der Welt war, was vor allem auf die beeindruckende Entwicklung des deutschen Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen war.
Schließlich war der unbestrittene Pol der Dritten Internationalen die bolsche­wistische Partei, nicht wegen der Bedeutung des Kapitalismus Rußlands (der, obgleich er der fünftgrößte Kapitalismus in der Welt war, sehr rückständig war), sondern weil das Proletariat dieses Landes aufgrund besonderer Umstände als Erster (und auch als Einziger) den kapitalistischen Staat gestürzt und die Macht in der großen revolu­tionären Welle nach dem 1. Weltkrieg übernommen hatte.
Die heutige Lage unterscheidet sich grundsätzlich von allem, was in der Vergangenheit vorgeherrscht hat. Einerseits hat die Dekadenz des Kapitalismus die Entstehung neuer Sek­toren des Weltproletariats verhindert, die einen neuen Pol für die gesamte Arbeiterbewegung hätten darstellen können (wie dies mit Deutschland im letzten Jahrhundert der Fall war).
Andererseits hat es im dekadenten Kapitalismus eine beträchtliche Angleichung der unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen gegeben, insbesondere in den fortgeschrittenen Ländern. Nie zuvor in der Geschichte hat es in der kapitali­stischen Welt trotz ihrer unüberwindlichen, nationalisti­schen und Blockspaltungen solch einen hohen Grad an Homogenität, an Wechselbeziehungen zwischen ihren verschiedenen Teilen gegeben - dank u.a. der Entwicklung des Welthandels und des Einsatzes moderner Kommunikationsmittel. Für die Arbeiterklasse bedeutete dies  eine beispiellose Angleichung ihrer Lebenbedingungen und, bis zu einem gewissen Umfang, ihrer politischen Erfahrungen.
Schließlich beinhalten die gegenwärtigen Umstände in der historischen Entwicklung des Klassenkampfes zur Revolu­tion (simultane Zuspitzung der Wirtschaftskrise in allen Ländern und nicht der imperialistischen Kriege wie 1917, ein beachtliches Maß an Einheit der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat), daß diese Entwicklung zu einem höheren Ausmaß an Simultanität, Einheit und Verallgemeinerung tendieren wird.
All diese Bedingungen bedeuten, daß die zukünftige Weltpartei nicht um diesen oder jenen nationalen Sektor des Proletariats gebildet wird, wie in der Vergangenheit, sondern ohne viel Federlesens auf weltweiter Ebene und rund um die klarsten, kohärentesten und am weitesten entwickelten politischen Positionen herum konstituiert wird.
Insbesondere aus diesem Grund ist es heute mehr noch als in der Vergangenheit unabdingbar, daß die verschie­denen Gruppen, die heute existieren, ihre Anstrengungen für eine Konstituierung dieses Pols und in erster Linie für die Klärung proletarischer, politischer Positionen mobilisieren und vereinen.
Diese wichtigen Aufgaben sind ein Hauptbestandteil bei der bewußten und willentlichen Annahme ihrer Verantwortung durch die Revolutionäre im Formierungsprozeß der künftigen Partei.
22. In Übereinstimmung mit dieser Perspektive beharrt die IKS auf der dringenden Notwendigkeit, mit der Isolierung zu brechen, in der sich die bestehenden kom­munistischen Gruppen befinden, die Tendenz zu be­kämpfen, aus den objektiven Notwendigkeiten von gestern Tugenden für heute zu machen. Solch eine Tendenz kann nur das Resultat eines sektiererischen Standpunktes sein. Unsere Aufgabe ist es, eine wirkliche internationale Diskussion unter diesen Gruppen in Gang zu bringen, mit der festen Absicht, Mißverständnisse, Verständnismängel, falsche Interpretationen auszuräumen, die auf ein Bedürfnis dieser oder jener Gruppe nach Polemik oder auf die Unkenntnis der Positionen dieser oder jener Gruppe beruhen. Dies ist der einzige Weg, um eine wirkliche Gegenüberstellung von politischen Positionen zu erreichen und einen Klärungs- und Umgruppierungsprozeß zu eröffnen.
Die IKS ignoriert nicht die gewaltigen Schwierigkeiten, denen sie begegnen wird, wenn sie mit dieser Aufgabe beginnt. Diese Schwierigkeiten sind zum großen Teil auf das Gewicht der furchtbaren Konterrevolution zurück­zuführen, der die Klasse mehr als 40 Jahre lang ausgesetzt war; eine Konterrevolution, die den linken Fraktionen, die aus der Kommunistischen Internationalen hervorgegangen waren, ein Ende bereitet und die organische Kontinuität gebrochen hat, die zwischen den verschiedenen politischen proletarischen Organisationen seit Mitte des letzten Jahrhunderts bestanden hatte. Aufgrund dieses Bruches der organischen Kontinuität wird die zukünftige Partei sich nicht auf die Weise bilden, wie die italienische Fraktion vorausgesehen hatte, nach der die Fraktion die Brücke zwischen der alten und neuen Partei bildet.
Diese Lage macht es noch unerläßlicher, den Konfrontations- und Klärungsprozeß auszuführen, der zur Umgruppierung der kommunistischen Organisationen führt. Die IKS hat versucht, zu einem solchen Prozeß durch Kontakte mit anderen Gruppen im kommunistischen Lager beizutragen; wir haben internationale Konferenzen zwischen proletarischen Gruppen vorgeschlagen und aktiv an ihnen teilgenommen. Wir müssen das Scheitern dieser ersten Anstrengung anerkennen, verursacht vor allem durch die sektiererische Spaltung der Gruppen aus der Hinterlassenschaft der Italienischen Linken, die heute trotz ihrer Anmaßung, die "historische Partei" zu sein, mehr oder weniger sklerotisch sind. Diese "Parteien" (es gibt mittlerweile um die fünf) sind zu einem unwiderruf­lichen Verfall verurteilt, wenn sie an dieser Einstel­lung festhalten.
Die IKS ist überzeugt, daß es keinen anderen Weg gibt. Es ist der Weg, der in der Geschichte der Arbeiterbewe­gung immer gesiegt hat, der Weg von Marx und Engels, von Lenin und Luxemburg, der von BILAN und der internationalen Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren. Es ist der einzige Weg, der Aussichten auf Erfolg hat, und die IKS ist mehr denn je entschlossen, ihn zu beschreiten.
Sommer 1983

 

FUSSNOTEN:

(1) Hier seien nur stellvertretend folgende Texte erwähnt:

  • Punkt 16 unserer Plattform;
  • der Beitrag der IKS zur 2. Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linke, 1978;
  • Die Broschüre der IKS "Kommunistische Organisation und Klassenbewußtsein".

(2) Die irrigen Analysen, die Bordiga vor allem nach 1945 entwickelte, sollten seine eminent wichtige Rolle bei der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens und im Kampf der Linken gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationalen keineswegs schmä­lern. Doch die Anerkennung der Bedeutung seines Beitrages darf nicht als Rechtfertigung für diese irrigen Analysen dienen oder dazu, sie als Heilige Schrift der kommunistischen Positionen zu betrachten.


(Erstabdruck in Internationale Revue Nr. 9, engl. Ausgabe Nr. 35, 1983)
Quell-URL: https://de.internationalism.org/revue/13_parteiundklasse [24]

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [23]

Die Organisationsauffassung der Deutsch-Holländischen Linken

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Für Diskussionsgruppen und Individuen, die heute auf der Grundlage revolutionärer Positionen auftauchen, ist es notwendig, daß ihre Arbeit die Wiederaneignung der Positionen der Kommunistischen Linken beinhaltet, einschließlich der Positionen der deutschen und holländischen Linke. Insbesondere die Letztgenannten haben häufig als erste eine ganze Reihe von grundlegenden Klassenpositionen vertreten: die Ablehnung der gewerkschaftlichen Arbeit und des Parlamentarismus, die Ablehnung der substitutionistischen Konzeption der Partei, die Anprangerung der Einheitsfrontpolitik, die Definition aller sogenannten sozialistischen Staaten als staatskapitalistische Regimes.
Jedoch reicht diese Wiederaneignung unter einem ausschließlich theoretischen Betrachtungswinkel der Klas­senpositionen nicht aus. Ohne eine klare Auffassung  von der revolutionären Organisation sind diese Gruppen und Individuen zur Unwirksamkeit verurteilt. Es reicht nicht aus, sich in Worten und rein individuell als revolutionär zu bezeichnen; man muß die Klassen­positionen organisiert und kollektiv vertreten. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer Organisation, die eine unverzichtbare Funktion in der Klasse hat und als kollektiver Körper handelt, ist die Vorbedingung einer jeden militanten Arbeit. Jedes Zögern oder Unverständnis der Notwendigkeit der Organi­sation wird schwer bestraft werden  und in der Auflösung politischer Kräfte münden. Das trifft insbesondere auf die "rätekommunistischen" Grup­pen zu.
Die Lehren aus der Geschichte der deutschen und hollän­dischen Linke zu ziehen bedeutet, die vitale Notwen­digkeit einer Organisation aufzuzeigen, für die die Theorie keine reine Spekulation ist, sondern eine Waffe, die die proletarischen Massen in der zukünftigen Revolution ergreifen wird.
Der Hauptbeitrag der deutschen Linken - und hauptsächlich der KAPD - bestand nicht darin, die Notwendigkeit der Partei in der Revolution anzuerkennen. Für die KAPD, die 1920 als Partei gegründet wurde, war dies selbstverständlich. Ihr fundamentaler Beitrag bestand darin, daß sie verstand, daß die Funktion als Partei in der dekadenten Periode nicht mehr dieselbe ist. Die Partei war nun nicht mehr Massenpartei, die die Klasse organisierte und sammelte - sondern eine Partei/ein Kern, die/der die aktivsten und bewußtesten proletarischen Kämpfer um sich scharte. Als ein ausgelesener Teil der Klasse mußte die Partei in den Klassenkampf und in den Organen intervenieren, die die Klasse hervorbrachte: Streikkomitees und Arbeiterräte. Die Partei war eine Partei, die für die Revolution kämp­fte und nicht mehr für die schrittweisen Refor­men durch Organe, mit denen das Proletariat nichts mehr zu tun hat (Gewerkschaften, Parlament)  - außer für deren Zerstörung zu arbeiten. Schließ­lich kann die Partei, die ein Teil der Klasse und nicht ihr Repräsentant oder ihr Chef ist, nicht die Klasse in ihrem Kampf um die Ausübung der Macht ersetzen. Die Diktatur der Klasse war die Diktatur der Arbeiterräte, nicht der Partei. Im Gegensatz zu der bordigistischen Vision erzeugte nicht die Partei die Klasse, sondern die Klasse die Partei (1). Das bedeutete  nicht - wie in der populistischen oder mensche­wistischen Auffassung -, daß die Partei  im Dienst der Klasse stünde. Sie war kein Diener, der sich passiv an allem Zögern, allen Abwegen der Klasse anpaßte. Im Gegensatz, sie mußte "durch ihr gesamtes Verhal­ten das Klassenbewußtsein des Proletariats entwickeln, selbst um den Preis eines vorübergehenden äußerlichen und scheinbaren Gegensatzes zu den breiten Massen" ("Thesen über die Rolle der Partei in der Revolution", KAPD, Pkt. 10)
Die KAPD in Deutschland und die KAPN Gorters in Holland hatten nichts gemeinsam mit der Auffassung Rühles, auf den sich heute die "Rätekommunisten" berufen. Rühle und seine Tendenz  in Dresden wurden am Ende des Jahres 1920 aus der KAPD ausgeschlossen. Die KAPD hatte nichts gemein mit den anarchistischen Tendenzen, die behaup­ten, daß jede Partei von Natur aus konterrevolutio­när sei, daß die Revolution nicht eine Partei-, sondern eine Erziehungsfrage sei. Die Auffassungen des Päda­gogen Rühle hatten nichts mit den Positionen der KAPD zu tun. Für die Letztere wurde die Partei nicht aus dem individuellen Willen eines jeden Migtlieds gebildet:  Sie „muß ein programmatisch durchge­arbeitetes, in einheitlichem Wollen zusammengeschweiß­tes, von unten her einheitlich organisiertes und diszi­pliniertes Ganzes sein." (ebenda) Die Partei spielt in der Tat eine entscheidende Rolle in der proletarischen Revolution. Weil sie in ihrem Programm und  in ihren Aktionen den bewußten Willen der Klasse kristallisierte und zusammenbündelte, war sie eine unverzichtbare Waffe der Klasse. Weil die Revolu­tion zunächst ein politischer Akt war, weil sie einen gnaden­losen Kampf gegen die bürgerlichen Tendenzen und Par­teien beinhaltete, die gegen das Proletariat in seinen Massenorganen arbeiteten, war die Partei ein politisches Kampf- und Klärungsinstrument. Diese Auffassung  hat nichts zu tun mit den substitutionistischen Parteiaufassungen. Die Partei wurde von der Klasse erzeugt  und  war folglich ein akti­ver Faktor in der allgemeinen Entwicklung des Klassen­bewußtseins.
Nach der Niederlage der Revolution  in Deutschland und der Degeneration der Revolution in Rußland traten jedoch einige Schwächen der KAPD an die Oberfläche.


VOLUNTARISMUS UND DOPPELORGANISATION
Die KAPD, die just zu dem Zeitpunkt gegründet wurde, als die Re­volution in Deutschland nach der Niederlage von 1919 den Rückzug antrat, endete bei der Idee, daß man das Schwinden des revolutionären Geistes des Proletariats durch eine putschistische Taktik kompensieren kann. Während der März-Aktion in Mitteldeutschland 1921 drängte sie die Arbeiter der Leuna-Werke (in der Nähe von Halle) gegen deren Willen zum Aufstand . Damit verdeutlichte sie ein tiefes Unverständnis der Funktion der Partei, was zu ihrer Auflösung beitrug. Die KAPD hielt noch an der Vorstellung von der Partei als "militärisches Hauptquartier" der Klasse fest, wo die Partei doch vor allem eine politische Avantgarde des gesamten Proletariats ist.
Gefangen in ihrem Voluntarismus vertrat die KAPD angesichts des Zusammenbruchs der Arbeiterräte auch die Idee einer permanenten Doppelorganisation und trug somit zur Konfusion zwischen Einheitsorganisationen der Klasse, die in und für den Kampf entstehen (Vollversammlungen, Streikkomi­tees, Arbeiterräte), und der Organisation der revolutio­nären Minderheiten bei, die in diesen Einheitsorganisa­tionen intervenieren, um deren Denken und Handeln zu befruchten. Indem sie auf die Aufrechterhaltung der "Unionen"  - Fabrikorganisationen, die in der deutschen Revolution entstanden waren und sich eng an die Partei anlehn­ten - zusammen mit der Partei drängte, vermochte sie ihre eigenen Aufgaben nicht mehr zu definie­ren: Entweder wurde sie zu einem Propagandaverband (2), zu einem simplen politischen Anhängsel der Fabrikorganisationen mit ihren stark ökonomistischen Tendenzen oder zu einer Partei leninistischen Typs mit ihrem Transmissions­riemen zur Klasse auf ökonomischer Ebene. Was in beiden Fällen darauf hinauslief, nicht mehr zu wissen, wer was ist und wer was macht (3).
Daß die falschen Auffassungen der KAPD weitgehend zu ihrem Verschwinden Ende der 1920er Jahre beigetragen haben, steht außer Zweifel. Dies sollte jenen Revolutionären heute eine Lehre sein, die, desorientiert vom Aktivismus und Immediatismus, versuchen, ihre numerische Schwäche durch die Schaffung von künstlichen, mit der "Partei" verknüpften "Arbeitergruppen" zu kompensieren. Das ist bei­spielsweise die Auffassung der Communist Workers Organi­sation und Battaglia Comunista. Es gibt jedoch einen erheblichen Unterschied: Während die KAPD sich mit Organen (den Unionen) konfrontiert sah, die willkürliche Versuche waren, die Arbeiterräte, die gerade verschwunden waren, am Leben zu halten, beruht die gegenwärtige Auf­fassung der revolutionären Organisationen, die einen opportunistischen Hang haben, auf reinen Bluff.


DIE ENTSTEHUNG DER PARTEI
Hinter den Fehlern der KAPD auf organisatorischer Ebene steckte die Schwierigkeit, den Rückfluß der revolutionären Welle nach dem Scheitern der März-Aktion zu erkennen und so die richtigen Schlüsse für ihre Aktivitäten in solch einer Lage zu ziehen.
Als eine Organisation mit direktem Ein­fluß auf das Denken und Handeln der Arbeiterklasse kann die revolutionäre Partei nur im Verlauf eines wachsenden Klassenkampfes gegründet werden. Insbesondere die Niederlage und der Rück­fluß der Revolution macht es unmöglich, eine revolutionäre Organi­sation am Leben zu halten, die ihre Funktion als Par­tei voll erfüllen möchte. Wenn solch ein Rückzug des Arbeiterkampfes länger anhält, wenn der Weg für die Bourgeoisie frei ist, um die Lage wieder in die Hand zu bekommen, wird die Partei entweder unter dem Druck der Konterrevolution degenerieren, und es werden aus ihr Fraktionen hervortreten, die die theoretische und politische Arbeit der Partei fortführen werden (wie im Falle der italienischen Fraktion). Oder die Partei wird eine Verminderung ihres Einflusses und ihrer Mitgliederzahlen erleben und  zu einer eher limitierten Organisation werden, deren wesentliche Aufgabe die Vorbereitung des theoretischen Rahmens für die nächste revolutionäre Welle ist. Die KAPD verstand nicht, daß der revolutionäre Gezeitenhub zu wachsen aufgehört hatte. Daher ihre Schwierigkeit, eine Bilanz aus der vorangegangenen Periode zu ziehen und sich auf die neue Periode einzustellen.
Diese Schwierigkeiten führten zu den falschen und inkohärenten Antworten der deutsch-holländischen Linken:

  • zur voluntaristischen Ausrufung der Geburt einer neuen Internationalen wie Gorters Kommunistische Arbeiterinternationale 1922;
  • zum Versäumnis, sich als Fraktion zu konstituieren, um sich stattdessen nach zahllosen Spaltungen zur Partei auszurufen: Der Begriff "Partei" wurde eine bloße Etikette für jede neue Abspaltung, die sich auf wenige Hundert Mitglieder beschränkte, wenn nicht sogar auf noch weniger; (4)

Dieses mangelnde Verständnis sollte dramatische Folgen haben. In der deutschen Linken sollten drei Strömungen gleichzeitig bestehen, während die Berliner KAPD immer schwächer wurde:

  • Die einen scharten sich um Rühles Theorie, derzufolge jede politische Organisation als solche schlecht ist.  Sie versanken in den Individualismus und ver­schwanden von der politischen Bühne;
  • Die anderen - insbesondere jene in der Berliner KAPD, die gegen die anarchistischen Tendenzen in den Unionen ankämpften - neigten dazu, die Arbeiterräte zu abzulehnen und nur noch die Partei zu sehen. Sie entwickelten eine "bordigistische" Vision, bevor das Wort als solches existierte; (5)
  • Schließlich gab es noch jene, die davon ausgingen, daß die Or­ganisation als Partei unmöglich sei. Die Kommunistische Arbeiter-Union (KAU), die aus einer Ab­spaltung der KAPD und den Unionen  (AAU und AAU-E) hervorging, betrachtete sich nicht wirklich als Organisation, sondern als eine lose Union diverser, dezentra­lisierter Tendenzen. Der organisatorische Zentralismus der KAPD wurde aufgegeben.

Letztgenannte Strömung, die von der 1927 gegründeten holländischen GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten) unterstützt wurde, sollte in der holländischen Linken triumphieren.


DIE HOLLÄNDISCHE LINKE: DIE GIK UND DER SPARTACUSBOND
Das Trauma der Degeneration der Russischen Revolution und der bolschewistischen Partei hinterließ tiefe Narben. Die holländische Linke, die das theore­tische Erbe der deutschen Linken aufgriffen hatte, hat daraus nicht ihre positiven Beiträge zur Frage der Partei und Organi­sation der Revolutionäre übernommen.
Sie lehnte die substitutionistische Vision der Partei als Hauptquartier der Klasse ab, war aber nur in der Lage, die allgemeine Organisation der Klasse zu sehen: die Arbeiterräte. Die revolutionäre Organisation wurde nunmehr als bloßer "Propagandaverein" für die Arbeiterräte aufgefaßt.
Das Konzept der Partei wurde entweder verworfen oder seines Inhaltes entleert. So ging Pannekoek davon aus, daß "eine Partei jetzt eine Organisation be­deutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will" (Partei und Arbeiterklasse, 1936). Andererseits meinte er, daß "die Parteien - oder Diskussionsgruppen oder Propagandavereinigungen, egal welchen Namen man ihnen gibt - ein ganz anderes We­sen haben als die Organisation politischer Parteien, die wir aus der Vergangenheit kennen." (Die Arbeiterräte, 1946)
Von einer richtigen Idee ausgehend - nämlich daß die Organisation und die Partei im dekadenten Kapitalismus ihre Funktion ändern - , gelangten sie zu einer falschen Schluß­folgerung. Nicht nur, daß nicht mehr gesehen wurde, was die Parteiorganisation in der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus von einer Partei in einer revolutionären Epoche unterscheidet, in einer Zeit des voll ausgereiften Klassenbewußtseins; sie gaben auch die marxisti­sche Vision der politischen Organisation als aktiven Faktor des Klassenkampfes auf.
1. Die unauflöslichen Funktionen der Organisation - Theorie und Pra­xis - wurden getrennt. Die GIK faßte sich nicht als po­litischer Körper mit einem Programm auf, sondern als eine Summe individuellen Bewußtseins, als eine Summe getrennter Aktivitäten. So rief die GIK zur Bil­dung föderaler "Arbeitsgemeinschaften" auf, weil sie Angst hatte, daß eine Organisation entstehen könnte, die durch ihr Programm und durch organisatorische Regeln vereint sein könnte.
"Es ist besser, daß revolutionäre Arbeiter in Tausen­den von kleinen Gruppierungen an der Bewußtwerdung der Klasse arbeiten, als daß ihre Tätigkeit in einer großen Organisation dem Herrschaftsstreben ihrer Führung unterworfen wird" (H. Canne-Mejer, Das Werden einer neuen Arbeiterbewegung, S. 167). Noch gefährlicher war die Definition der Organisation als eine "Meinungsgruppe": Dies öffnete die Tür zum theoretischen Ekklektizismus. Pannekoek zufolge zielte die theoretische Arbeit auf die persönliche Selbsterzie­hung, auf die "angestrengte Selbstaktivität". Aus jedem Kopf käme ein persönlicher Gedanke, ein persönliches Urteil, und "in jedem dieser Gedanken finden wir eine Portion einer mehr oder weniger größeren Wahrheit" (Die Arbeiterräte). Die marxistische Auffassung einer kollektiven Organisationsarbeit, der tatsächliche Ausgangspunkt einer "angestrengten Selbstaktivität", machte einer idealistischen Vision Platz. Der Ausgangspunkt war nun das individuelle Bewußtsein, wie bei der Philosophie Descartes. Pannekoek ging sogar soweit zu sagen, daß das Ziel nicht die Klärung in der Klasse sei, sondern "die eigene Kenntnis der Methode, um zu erkennen, was richtig und gut ist" (ebenda).
Wenn die Organisation nur eine Arbeitsgemeinschaft wäre, wo jedes Mitglied sich eine Meinung bildet, könnte sie genauso gut eine Diskussionsgruppe oder eine "Stu­diengruppe" sein, "die sich selbst die Aufgabe gibt, gesellschaftliche Ereignisse zu analysieren" (Canne-Mejer, op. cit.). Es hat sicherlich ein Bedürfnis nach "Diskussionsgruppen" gegeben, um die politische und theoretische Klärung fortzuführen. Aber dies entsprach einer frühen Entwicklungsstufe der revolutionären Bewegung im vergangenen Jahrhundert. Diese Phase, die von Sekten und getrennten Gruppen dominiert wurde, war eine Übergangsphase: Das Sektierertum und der Föderalismus dieser Gruppen, die aus der Klasse hervorgegangen waren, waren Kinderkrankheiten, die mit dem Auftauchen zentralisierter politischer Organisatio­nen verschwanden. Wie Mattick 1935 schrieb, waren die Ansichten der GiK und Pannekoeks ein Rückschritt:
"Eine föderalistische Organisation kann sich nicht durchsetzen, weil sie der monopolkapitalistischen Si­tuation, in der sich das Proletariat befindet, über­haupt nicht entspricht. Sie wäre noch ein Schritt zurück hinter die alte Bewegung, statt ein Schritt über sie hinaus." (Mattick, Räte-Korrespondenz, Nr. 10-11, Sept. 1935, S. 67)
2. In Wirklichkeit funktionierte die GIK wie eine Födera­tion "unabhängiger Einheiten", die unfähig waren, eine aktive politische Rolle zu spielen. Es lohnt sich, einen Artikel von Canne-Mejer aus dem Jahr 1938 (RADENCOMMUNISMUS, Nr. 3) zu zitieren:
"Die Gruppe der Internationalen Kommunisten hatte keine Statuten, keine obligatorischen Mitgliedsbeiträge, und an ihren 'internen' Treffen konnten ande­re Genossen anderer Gruppen teilnehmen. Deshalb konnte man nie die genaue Zahl ihrer Mitglieder wis­sen. Es gab niemals eine Abstimmung, sie war nicht nötig, weil man keine Parteipolitik betreiben woll­te. Man diskutierte Probleme und wenn es wichtige Meinungsunterschiede gab, wurden die verschiedenen Standpunkte veröffentlicht- mehr nicht. Ein Mehr­heitsbeschluß blieb ohne Bedeutung. Die Arbeiterklasse selbst sollte entscheiden".
Gewissermaßen hat sich die GIK aus Angst, die Klasse zu ver­gewaltigen, selbst kastriert. Aus Angst, das Bewußtsein eines jeden Mitglieds durch Organisationsregeln zu vergewaltigen oder die Klasse zu vergewaltigen, indem ihr die eigenen Positionen aufgezwungen werden, negierte sich die GIK  als militanter Teil der Klasse. In der Tat gibt es ohne regelmäßige finanzielle Mittel keine Möglichkeit, eine Zeitschrift und Flugblätter während des Krieges herauszubringen. Ohne Statuten gibt es keine Regeln, die die Organisation in die Lage versetzen, unter allen Bedingungen zu funktionieren. Ohne Zentralisierung durch gewählte Exekutivorgane gibt es keine Möglichkeit, das Leben und die Aktivitäten der Organisation in allen Perioden aufrechtzuerhalten, insbesondere in Zeiten der Illegalität, wenn die Notwendigkeit, sich der Repression zu stellen, die strikteste Zentralisierung erfordert; und in Zeiten des ansteigenden Klassenkampfes wie heute keine Möglichkeit, zentralisiert weltweit in der Klasse zu intervenieren.
Diese Irrwege der rätekommunistischen Strömung, gestern mit der GIK, heute mit den informellen Gruppen, die ihre Treue zum Rätekommunismus geltend machen, stützen sich auf die Auffassung, daß die Organisation kein aktiver Faktor in der Klas­se sei. "Indem man die Klasse entscheiden läßt", fällt man der Vorstellung anheim, die revolutionäre Organisation stehe "im Dienste der Klasse" - ein bloßer Vervielfältiger und keine politische Gruppe, die gelegentlich, selbst in der Revolution, gegen die Strömung schwimmen muß, gegen die Vorstellungen und Aktionen der Klasse . Die Organisation ist keine Widerspiegelung dessen, "was die Arbeiter denken" (6); sie ist ein kollektiver Organismus, der die historische Vision des Weltprole­tariats in sich trägt, die nicht darin besteht, was die Klasse in diesem oder jenen Moment denkt, sondern was sie zu tun gezwungen wird: die Verwirklichung der Ziele des Kommunismus..
Es ist daher kaum verwunderlich, daß die GIK 1940 ver­schwand. Das theoretische Werk der GIK wurde vom Spartacusbond fortgeführt, der aus einer Spaltung der Partei Sneevliets 1942 entstand (siehe dazu den Artikel in INTERNATIONALE REVE, Nr. 9, engl., franz., span. Ausgabe: "Der Bruch mit dem Spartacusbond"). Trotz einer klaren Auffassung von der Funktion der Organisation - der Bond erkannte die unverzichtbare Rolle einer Partei in der Revolution als aktiver Faktor in der Entwicklung des Bewußtseins an - und seiner Funktionsweise - der Bond hatte Statuten und Zentralorgane - wurde er schließlich doch von den alten Vorstellungen der GIK über die Organisation beherrscht.
Heute liegt der Spartacusbond im Sterben und Daad en Gedachte - die 1965 aus dem Bond austrat - ist ein Wetterbericht über die Arbeiterkämpfe. Die holländische Linke als revolutionäre Strömung ringt mit dem Tod. Ihr theoretisches Vermächtnis wird daher nicht durch sie selbst an die neuen, in der Klasse entstehenden re­volutionären Elemente überliefert werden. Dieses Vermächtnis zu verstehen und darüber hinaus zu gehen ist die Aufgabe von revolutio­nären Organisationen und nicht von Induviduen oder Diskussionsgruppen.
"Rätekommunistische" Organisationsauffassungen sind jedoch nicht verschwunden, wie wir in etlichen Ländern sehen können. Eine kritische Bilanz der Or­ganisationsauffassung der deutschen und holländischen Linke zu ziehen verschafft uns den Beweis nicht für den den Bankrott der revolutionären Organisationen, sondern im Gegenteil für ihre unverzichtbare Rolle, um die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und sich auf die zukünftigen Kämpfe vorzube­reiten.
Ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Bewegung, doch ohne revolutionäre Organisation kann es keine revolutionäre Theorie geben. Dies nicht zu ver­stehen führt Individuen wie auch informelle Gruppen ins Nichts. Es macht die Bahn frei für einen Verlust an Überzeugung in eben jene Möglichkeit einer Revolution.
CH
(aus International Review, Nr.37, 4/1984, Ch.)


FUSSNOTEN
(1) "... daß man überhaupt nicht von einer Klasse spre­chen kann, solange nicht eine Minderheit dieser Klasse danach strebt, sich als politische Partei zu organi­sieren" (aus "Partei und Klasse", Bordiga).
(2)  Ein Gedanke, der von Franz Pfemfert, Rühles Freund, Chefredakteur der Zeitschrift DIE AKTION und ein Mitglied der KAPD, vertreten wurde.
(3) Michaelis, ein ehemaliger Lehrer der KAPD und Mitglied der KAU 1931, sagte: "In der Praxis wurde die Union selbst eine zweite Partei (...) die KAP sammelte später die gleichen Elemente um sich wie die Union".
(4) 1925 gab es in Deutschland drei KAPDs: eine Berliner Tendenz und zwei Essener Tendenzen. Dieser Fehler, der eine Tragödie für das proletarischer Lager in Europa damals war, wiederholte sich 1943 in Italien in Form einer Farce, als inmitten der Konterrevolution die Internationalistische Kommunistische Partei um Damen und Maffi gegründet wurde. Mittlerweile gibt es vier ‚Parteien‘ in Italien, die sich alle auf die Italienische Linke berufen. Dieser Größenwahn kleiner Gruppen, die sich selbst ‚ Partei‘ nennen, dient lediglich dazu, den eigentlich Begriff der Partei ins Lächerliche zu ziehen, und ist ein Hindernis im schwierigen Umgruppierungsprozeß der Revolutionäre, der die wichtigste subjektive Vorbedingung für die Entstehung einer wirklichen Weltpartei des Proletariats in der Zukunft ist.
(5) Der gleiche Michaelis gab 1931 zu: „Das ging sogar soweit, daß für viele Militanten die Arbeiterräte nur als möglich betrachtet wurden, wenn sie die Linie der KAPD akzeptierten.“
(6) In derselben Ausgabe von RADENCOMMUNISME heißt es: „Wenn es einen wilden Streik gab, brachten die Streikenden mit Hilfe der Gruppe Flugblätter heraus; Letztere stellten sie her, auch wenn sie nicht mit ihrem Inhalt völlig einverstanden waren.“

Quell-URL: https://de.internationalism.org/revue/dnlorgaauffassung [25]

Die Gefahr des Rätekommunismus

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Die IKS hat immer das Prinzip vertreten, ihre eigenen internen Debatten der Öffentlichkeit zu unterbreiten, sobald eine ausreichende Klärung stattgefunden hat, damit der Standpunkt der gesamten Organisation vorgestellt werden kann. Theoretische und politische Debatten sind nicht für den internen Gebrauch reserviert, sie sind mehr als ein Denkprozeß um seiner selbst willen. Eine revolutionäre Organisation, die diesen Namen verdient, lehnt sowohl den Monolithismus, der die Debatten zurückhält und erstickt, als auch den Zirkelgeist ab, der die Debatte beiläufig, undiszipliniert betreibt. Die Kampforganisation des Proletariats ist ein politischer Organismus, der von der Klasse hervorgebracht wird, sodaß Letztere nicht nur interessiert, sondern auch direkt in die theoretische und politische Auseinandersetzung der Organisation involviert ist, die sie ins Leben rief. Die Debatten in einer revolutionären Organisation dürfen nicht vor der Klasse verheimlicht werden, denn eine revolutionäre Organisation hat keine Geheimnisse vor der Arbeiterklasse zu verbergen. Die Geheimpolitik war für die bakunistischen Sekten im 19. Jahrhundert typisch, aber sie entsprach nie der Politik der marxistischen Organisationen. Der "geheime" Charakter dieser Sekten führte zwangsläufig zu einer Politik der Finten und Manöver. Die Geheimorganisation der Allianz der sozialistischen Demokratie Bakunins in der Ersten Internationalen war Ausdruck eines Verhaltens, das dem Proletariat fremd ist.
Marxistische Organisationen haben stets ermöglicht, daß in ihren Publikationen interne Divergenzen zum Ausdruck kommen, um ein noch schärferes Bewußtsein des Proletariats bezüglich seines Emanzipationskampfes zu bewirken. Die Bolschewiki - zumindest bis sie 1921 Fraktionen in ihrer Organisation verbaten -, die KAPD und die italienische Kommunistische Linke haben immer dieses Ziel verfolgt. Nicht um in der Manier der degegerierten "Rätekommunisten" "Ansichten" für das Proletariat zur passiven Kenntnisnahme wiederzugeben, sondern um die Debatten zielstrebig zu orientieren und darzulegen, damit die Praxis der Klasse frei von vermeidbaren Fehlern und Verzögerungen ist.
Diese Funktionsweise der marxistischen Organisation geht natürlich aus ihrer Funktion in der Klasse hervor: nämlich ein aktiver Bestandteil in der Praxis des Proletariats zu sein. Die IKS lehnt sowohl die "Meinungsgruppen" des Rätekommunismus, die nur zum Eklektizismus und zur Auflösung der Organisation in der Passivität führen, als auch die monolithischen Organisationen des "Bordigismus" ab, deren internes Leben erstickt und paralysiert wird, indem jegliche Minderheitsposition geächtet wird. In beiden Fällen kann das Unverständnis der Funktion der Organisation nur zu ihrer Auflösung führen. Das Verschwinden der größten rätekommunistischen Organisationen wie auch die Auflösung der Internationalen Kommunistischen Partei (IKP) sind der Preis für dieses Unverständnis.

Die IKS ist nicht rätekommunistisch

Im Gegensatz zu den grundlosen Behauptungen von BATTAGLIA COMUNISTA (BC) oder COMMUNIST WORKERS' ORGANISATION (CWO), die erst kürzlich die Errungenschaften der KAPD in den Mülleimer geworfen und ihre bordigistischen "Sympathien" entdeckt hat (nachdem sie nur mit größter Mühe von der IKS aus dem rätekommunistisch-libertären Sumpf von SOLIDARITY gezogen worden war), stammt die IKS nicht aus dem Rätekommunismus ab. Sie ist gegen den Rätekommunismus gebildet worden. Die Existenz von INTERNACIONALISMO in Venezuela wurde durch eine theoretische und politische Auseinandersetzung mit der rätekommunistischen Tendenz von PROLETARIO(1) Ende der 1960er Jahre ermöglicht und konsolidiert.
REVOLUTION INTERNATIONALE (RI) in Frankreich wurde geboren, um angesichts eines rätekommunistischen Milieus, das damals besonders vorherrschend war, die Notwendigkeit für eine kämpferische revolutionäre Organisation und damit für eine Umgruppierung der Revolutionäre zu demonstrieren. Nach anfänglichem Zögern, die Notwendigkeit der revolutionären Partei anzuerkennen(2), hat RI seither unablässig die Bedeutung einer Umgruppierung hervorgehoben, ohne die die Grundlagen der Partei nicht geschaffen werden können. Die Umgruppierung von RI, der Organisation der Rätekommunisten von Clermont Ferrand und den CAHIERS DU COMMUNISME DES CONSEILS (Rätekommunistische Hefte) 1972 war keine rätekommunistische Umgruppierung, sondern eine Umgruppierung auf der marxistischen Grundlage der Anerkennung der unersetzlichen Rolle der Organisation in der Klasse. Sie wurde erst nach langen Diskussionen möglich, dank derer die rätekommunistischen Konfusionen der Gruppen aus Clermont und Marseille überwunden wurden. Mangels einer organischen Kontinuität mit der deutschen und italienischen Linken war es damals unvermeidbar, daß die Gruppen, die aus dem Gärungsprozeß nach 1968 hervorkamen, nach den Haupterrungenschaften der Kommunistischen Linke zu suchten. In Anbetracht des Stalinismus und des Linksextremismus sowie unter dem Einfluß eines antiautoritären, alles in Frage stellenden Milieus waren sie voll den Auswirkungen der organisationsfeindlichen, anti-bolschewistischen rätekommunistischen Ideologie ausgesetzt. RI (und ab 1975 die IKS) hat in Frankreich, dann in Großbritannien und in den USA eine geduldige Arbeit gegen diese Ideologie geleistet, die dazu tendierte, die Diskussionsgruppen zu penetrieren, und die infolge einer Anti-Reaktion gegen auf den Stalinismus zur Ablehnung der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung führte. Erst mit der Anerkennung des proletarischen Charakters der Russischen Revolution im Januar 1974 brach die Gruppe WORLD REVOLUTION (WR) mit dem Rätekommunismus. Das Gleiche trifft - nach Diskussionen mit RI und INTERNACIONALISMO - auf INTERNATIONALISM in den USA zu.
Sicher mußte die IKS auch in ihren eigenen Reihen bordigistische Vorstellungen über die Rolle der Partei und ihr Verhältnis zum Staat bekämpfen, der aus der Revolution hervorgeht (3). Von der Gruppe PARTI DE CLASSE 1972 bis zur Tendenz, die sich 1979 anschickte, zur GCI zu werden, hat die IKS bewiesen, daß ihr Kampf gegen die falschen Organisationsauffassungen weder ein Rückschritt zum Rätekommunismus noch ein Abgleiten in den Neo-Bordigismus à la BC und CWO bedeutete. Wenn der politische und theoretische Kampf in ihrer Presse sich vornehmlich gegen den Bordigismus und den Neo-Bordigismus richtete, so geschah dies, weil das Verschwinden des rätekommunistischen Milieus - das seinem Wesen nach organisationsfeindlich ist - einer Strömung wie die IKP das Feld überließ, deren Entwicklung die direkte Folge ihrer opportunistischen Kapitulationen war. In gewisser Weise war die Entwicklung des Bordigismus der Preis, den das revolutionäre Milieu für das fortschreitende Verschwinden der rätekommunistisch orientierten Gruppen bezahlen mußte, die sich im Sumpf der Konfusion verflüchtigt hatten. Aber gleichzeitig wirkte der Bordigismus der IKP als reale Abschreckung gegenüber neuen Elementen und den aus den Boden schießenden Diskussionsgruppen. Ihre Auffassung von einer monolithischen Partei (die ihrer Terminologie zufolge "kompakt und mächtig" ist), die in der Revolution ihre Diktatur und den "roten Terror" ausüben werde, hat dem Bild der Partei faktisch Schaden angetan. Unfähig, wie BILAN eine Bilanz der Konterrevolution zu ziehen, um daraus die Lehren für die Funktion und die Funktionsweise der Organisation zu ziehen, stattdessen einen Dialog "mit den Toten" und "mit Stalin" vorziehend (4), war die IKP und die Nebenprodukte des Bordigismus nur Wasser auf die organisationsfeindlichen Mühlen des Rätekommunismus. Als Strömung ist der Bordigismus  das Vehikel der alten substitutionistischen Auffassungen, die in der revolutionären Bewegung der Vergangenheit vorherrschend waren. Die IKS hat diese Auffassungen beharrlich bekämpft und wird sie auch in Zukunft bekämpfen. Nun ist zwar zumindest theotisch der Rätekommunismus, seitdem er sich politisch auf organisierte Weise geäußert hatte, gegen den "Substitutionismus", aber dies bedeutet mitnichten, daß die IKS auf der Seite des Rätekommunismus steht.
Die IKS hatte in der Tat oft Gelegenheit, rätekommunistische Fehler und Abwege bis in unsere Reihen hinein zu bekämpfen. Angesichts aktivistischer, arbeitertümelnder Auffassungen, die sich vor allem in ihrer Sektion in Großbritannien breit machten, war die IKS gezwungen, im Januar 1982 eine Außerordentliche Konferenz der gesamten Organisation einzuberufen, um die Auffassung der IKS über die Entwicklung und Funktion der revolutionären Organisation aufs neue zu bekräftigen, nicht um sie neu zu schaffen.
Leider kommen rätekommunistische Ideen weiterhin eher auf indirekte Weise - und dies ist umso gefährlicher - in unserer Organisation zum Ausdruck. So wurde Anfang 1984 eine Debatte über die Rolle des Klassenbewußtseins außerhalb offener Kämpfe eröffnet. Nur zögerlich wurde, mit dem Wiederaufleben des Klassenkampfes im Herbst 1983, das Ende des Rückflusses nach Polen (1981-82) erkannt. Dieser Wiederaufschwung veranschaulichte deutlich eine Reifung des Bewußtseins in der Klasse, die sich außerhalb offener Kämpfe unter der Oberfläche vollzog (5).
Obgleich diese Frage für die IKS nicht neu war, wurde in der Organisation eine Debatte über die Frage des Klassenbewusstseins eröffnet. Sie setzte auf militante Weise die Arbeit fort, die in der Broschüre "Kommunistische Organisation und Klassenbewusstsein" zuwege gebracht worden war. Sie griff die klassische Unterscheidung des Marxismus (6) auf und unterschied zwischen zwei Dimensionen des Bewußtseins: seiner Tiefe und seiner Ausdehnung. Auf diese Art will die IKS mehrere grundlegende Punkte verdeutlichen:

  • Die Kontinuität und die Entwicklung des Bewusstseins in der Klasse in seiner Ausdehnung und Vertiefung manifestiert sich durch eine unterirdische Reifung und kann durch die Existenz eines kollektiven Bewusstseins erklärt werden.
  • Das Klassenbewusstsein hat zwangsläufig eine Form (politische Organisationen und Einheitsorganisationen) und einen Inhalt (Programm und Theorie); es findet seinen höchst entwickelten - auch wenn nie vollendeten - Ausdruck in den revolutionären Organisationen, die von der Arbeiterklasse ausgeschieden werden.
  • Dieses Bewußtsein reift unter den Arbeitern nicht individuell, sondern kollektiv heran; es manifestiert sich nicht auf immediatistische, sondern auf historische Weise.
  • Im Gegensatz zu den größenwahnsinnigen Behauptungen des Bordigismus befindet sich das Klassenbewußtsein nicht im exklusiven Besitz der Partei; es existiert zwangsläufig in der Klasse, da ohne seine Existenz die revolutionäre Organisation nicht existieren könnte.
  • Entgegen der "ultra-demokratistischen" Demagogie der Rätekommunisten behauptet die IKS, daß der höchste Ausdruck des Bewußtseins nicht die Arbeiterräte sind - die sich nur sehr ungleichmäßig und mit vielen Fehlern behaftet entfalten -, sondern die revolutionäre politische Organisation, in der sich der Schatz der gesamten historischen Erfahrungen des Proletariats in kristallisierter Form befindet. Sie ist die höchst entwickelte und konzentrierte Form des kollektiven Gedächtnisses des Proletariats, das lediglich in einem diffusen Zustand in der Klasse vor der revolutionären Periode existiert, den Augenblick, in dem die Klasse sich dieses Gedächtnis am stärksten wiederaneignet.

Im Verlaufe dieser Debatte mußte die IKS Positionen bekämpfen, die entweder die Idee einer unterirdischen Reifung ablehnten oder die unerlässliche Rolle der revolutionären Organisationen unterschätzten, indem sie die Dimensionen des Klassenbewußtseins nicht zur Kenntnis nahmen (7).
Die Mehrheit der IKS, die nochmals bekräftigte, daß es ohne Partei keine Revolution geben kann, da die Revolution zwangsläufig revolutionäre Parteien hervorbringt, bekräftigte des weiteren, daß diese Parteien nicht den Arbeiterräten hinterherlaufen, sondern ihre bewußteste Avantgarde sind. Eine Avantgarde zu sein verschafft ihnen keine Rechte, sondern die Pflicht, der Verantwortung gerecht zu werden, die aus ihrem höheren theoretischen und programmatischen Bewußtsein herrührt.
Infolge dieser Debatte - die bislang noch nicht abgeschlossen ist - hat die IKS bei Genossen, die der Minderheit angehören, eine Tendenz zur Versöhnung mit dem Rätekommunismus festgestellt ("zentristische" Schwankungen gegenüber den rätekommunistischen Ideen). Obgleich diese Genossen das Gegenteil behaupten, sind wir der Ansicht, daß der Rätekommunismus heute schon die größte Gefahr für das revolutionäre Milieu darstellt. Und mehr noch als der Substitionismus wird er eine große Gefahr für die Intervention der Partei in den zukünftigen revolutionären Kämpfen sein.


Ist der Substitutionismus in der Zukunft die größte Gefahr?

A. Die objektiven Grundlagen des Substitutionismus

Wenn wir von Substitutionismus sprechen, meinen wir damit die Praxis revolutionärer Gruppen, die vorgeben, die Klasse zu führen und die Macht in ihrem Namen zu übernehmen. In diesem Sinn sind die Linksextremisten keine substitutionistischen Organisationen: ihre Aktivitäten bezwecken nicht, sich an die Stelle der Klassenaktivitäten zu setzen, sondern sie von innen zu zerstören, um die Vorherrschaft des Kapitalismus zu bewahren. Im eigentlichen Sinn begehen sie keine substitutionistischen Fehler, sondern zielen darauf ab, die Kontrolle über den Klassenkampf zu übernehmen, um ihn in aus der Bahn zu werfen und der bürgerlichen Ordnung zu unterwerfen (Parlamentarismus, gewerkschaftliche Arbeit).
Der Substitutionismus ist im Grunde ein tödlicher Fehler, der sich im Lager der Arbeiterklasse vor 1914 und daraufhin 1920 in der Kommunistischen Internationalen verbreitet hatte. Vom Anspruch, die Klasse auf militärische Weise zu führen (siehe die "militärische Disziplin", die auf dem Zweiten Kongreß proklamiert wurde), war es nur ein kleiner Schritt zum Konzept der Diktatur der Partei, die die Arbeiterräte ihrer Substanz beraubte. Doch dieser Schritt, der zunehmend zur Konterrevolution führte, konnte nur unter bestimmten historischen Bedingungen vollzogen werden. Zu ignorieren bzw. zu vergessen, daß solche Auffassungen selbst in den Reihen der deutschen Linken existierten, bedeutet, nicht die Wurzel des Substitutionismus als spezifisches Phänomen zu begreifen:
a) Das Vermächtnis der sozialdemokratischen Parteikonzeption - die Partei als einmaliger Träger des Bewußtseins, das von außerhalb, von "bürgerlichen Intellektuellen" (s. Kautsky und der Lenin des Was tun?) in die "disziplinierte Armee" des Proletariats injiziert wird - lastete schwer auf der gesamten damaligen revolutionären Bewegung. Und es wog dort umso schwerer, wo es auf einen fruchtbaren Boden stieß, wie in den unterentwickelten Ländern - Rußland und Italien beispielweise -, wo die Partei als eine Art "Generalstab" begriffen wurde, der die Klasseninteressen repräsentierte und dem daher auch die Macht in ihrem Namen anvertraut wurde.
b) Solche Fehler konnten in einer Zeit des zahlenmäßigen Wachstums des Proletariats Fuß fassen, als dieses unter Schwierigkeiten die Illusion der ländlichen und handwerklichen kleinbürgerlichen Auffassungen hinter sich gelassen hatte und durch die Aktionen der politischen Organisationen des Proletariats politisch erzogen wurde. In Ermangelung einer reichhaltigen revolutionären Tradition, die es politisch hätte reifen und eine politische Kultur erwerben lassen, nahmen vor 1914 die Aufgaben der Organisierung und Erziehung der Klasse einen wichtigen Platz in der Arbeit proletarischer Parteien ein. Die Auffassung, daß die Partei der "Generalstab" der Klasse sei und den Arbeitern das politische Bewußtsein vermittle, stieß vor allem in den Ländern auf ein Echo, wo es der revolutionären Bewegung noch an Reife fehlte, vor allem weil ihre Aktionen in striktester Klandestinität stattfanden, was eine straffe Zentralisierung und Disziplin erforderte.
c) Substitutionistische Ideen stellten vor 1914 noch ein Fehler innerhalb der revolutionären Bewegung dar. Schon die Ereignisse von 1905, die die schöpferische Spontanität der Klasse unglaublich schnell durch die Entfaltung der Massenstreiks enthüllten, zeigten die Unrichtigkeit solcher Auffassungen. Lenin selbst zögerte nicht lange, die These aufzugeben, die er in "Was tun?" vertreten hatte. Die Revolution von 1905 führte in der kommunistischen Linken Europas und vor allem auf Seiten Pannekoeks zu einer Infragestellung der Auffassung Kautskys. Sie zeigte die entscheidende Bedeutung der Selbstorganisation des Proletariats, die keinesfalls von einem sozialdemokratischen "Generalstab" oder von den Gewerkschaften ins Leben hätten gerufen werden können. Die Änderung der Taktik, die Pannekoek in der gewerkschaftlichen und parlamentarischen Taktik hervorgehoben hatte, weil sie nunmehr in den Hintergrund rücken sollten, verdeutlichte eine tiefgreifende Veränderung der Funktion der revolutionären Organisation.
d) Es ist falsch, Lenin und die Bolschewisten vor 1917, ja vor 1920 als Theoretiker des Substitutionismus betrachten. Die Bolschewiki wurden 1917 - mit den linken Sozialrevolutionären - von den Arbeiterräten an die Macht gebracht. Der Aufstand, an dem viele Anarchisten in den Roten Garden teilnahmen, fand unter der Führung und Kontrolle der Arbeiterräte statt. Erst viel später, nämlich mit der Isolierung der Russischen Revolution und dem Beginn des Bürgerkrieges, wurde die Diktatur der Partei theoretisiert - im Namen des "Leninismus" . Der Substitutionismus in Russland, wo die Arbeiterräte durch die blutsaugerische Einheitspartei ihres Inhalts entleert wurden, war weniger das Ereignis eines vorab existierenden Willens der Bolschewiki, sondern vielmehr der Isolation der Russischen Revolution von der Revolution in Westeuropa.
e) Die Strömung der italienischen Linkskommunisten hat - im Gegensatz zu den Behauptungen der Rätekommunisten, die eine Verbindung zwischen "Leninismus" und "Bordigismus" ("Bordigo-Leninismus") herstellen - zusammen mit Bordiga, selbst 1920 die Auffassung abgelehnt, das Bewußtsein komme von außerhalb des Proletariats via "bürgerlicher Intellektueller". Aus Bordigas Sicht war die Partei zuerst ein Teil der Klasse; die Partei ist das Ergebnis eines organischen Wachstums aus der Klasse, in der das Programm und der militante Wille zu einem Ganzen zusammenfließen. In den 30er Jahren hat BILAN die auf dem 2. Kongreß der KI (1920) vertretene Auffassung von der "Diktatur der Partei" abgelehnt. Erst die tiefgreifende Regression der Italienischen Linken nach 1945 unter dem Einfluß Bordigas führte zu einer Rückkehr der Theorie des Substitutionismus, die nach 1923 unter dem Begriff "Leninismus" zusammengefasst worden war. Eben diese Ablehnung der Auffassung einer "Diktatur der Partei" war im Herbst 1952 einer der Gründe für die Spaltung, die die heute noch bestehende Gruppe BATTAGLIA COMUNISTA hervorbrachte.

B. Eine geringere Gefahr

Heute stellen die substitutionistischen Auffassungen eine geringere Gefahr als früher dar aufgrund:

  • des profunden theoretischen Denkprozesses in der deutschen, italienischen und holländischen Linken in 1930er Jahren, selbst wenn dies nur teilweise in jeder dieser linken Gruppierungen geschah. Dieser Denkprozeß führte zu einer Bilanz der Russischen Revolution und ermöglichte es, die Wurzeln der Konterrevolution zu begreifen;
  • der stalinistischen Konterrevolution, die besonders im Proletariat der entwickelten Länder zu einer noch scharfsinnigeren Kritik an jenen politischen Organisationen führte, die seinen Reihen entstammten, aber Verrat begehen sollten. Gestärkt durch seine historische Erfahrung, wird das Proletariat den politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse berufen, nicht mehr blind und naiv sein Vertrauen schenken;
  • der Unmöglichkeit einer Revolution in den rückständigen Ländern, solange sich das Epizentrum der Weltrevolution im Herzen der Industrieländer Westeuropas nicht manifestiert hat. Das Schema einer isolierten Revolution, die aus einem imperialistischen Krieg in einem Land resultiert, wo sich die Bourgeoisie wie in Rußland 1917 in einem Zustand der Schwäche befindet, wird sich nicht mehr wiederholen. Weil die kommunistische Revolution von morgen aus einer Wirtschaftskrise hervorkommt, die jedes Land betrifft - und nicht nur die besiegten -, und sich um die massiertesten und politisch gebildetsten Sektoren der Klasse konzentriert, wird sie bewusster denn je sein. Das Proletariat kann sich nur international organisieren und wird sich selbst nur insoweit in seinen Parteien wiedererkennen, als Letztere ein Teil der internationalen Arbeiterräte sein werden, die nicht aus einer "französischen" oder einer "deutschen" Revolution hervorgehen werden, sondern aus einer wirklich internationalen Revolution. Die geographische Isolierung der Revolution in einem einzelnen Land, die ein objektiver Faktor des Substitutionismus war, ist heute nicht mehr möglich. Die wirkliche Gefahr wird ihre Isolierung auf der Ebene eines einzelnen Kontinents sein. Aber selbst in diesem Fall könnte es eine Vorherrschaft einer nationalen Partei wie in Rußland nicht geben: die Internationale (die kommunistische Weltpartei) wird sich in den internationalen Arbeiterräten entwickeln.

Das bedeutet natürlich nicht, daß die Gefahr des Substitutionismus für immer verschwunden ist. In Momenten des Rückzugs in einer revolutionären Periode - die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken wird, wie das Beispiel der deutschen Revolution zeigt - können das unvermeidbare Zaudern und selbst die vorübergehende Erschöpfung des Proletariats im Verlaufe eines langen und zerstörerischen Bürgerkrieges ein fruchtbarer Boden sein, auf dem das giftige Unkraut des Substitutionismus, Putschismus und Blanquismus keimen kann. Andererseits wird die Reife des revolutionären Milieus, in dem es schon vorher eine gnadenlose Aussonderung von Organisationen geben wird, die sich als "Hirn" oder "Generalstab" der Klasse ausgeben, ein entscheidender Faktor im energischen Kampf gegen diese Gefahr sein.


Die Bedingungen für das Auftreten und die Kennzeichen des Rätekommunismus

Doch wenn der Substitutionismus vor allem eine Gefahr in den Rückzugsphasen der revolutionären Welle war, so ist der Rätekommunismus eine weitaus größere Gefahr, vor allem in einer Aufstiegsphase der revolutionären Welle und erst recht auf ihrem Höhepunkt, wenn das Proletariat schnell und mit größter Entschlossenheit handeln muß. Diese schnelle Reaktionsfähigkeit, dieses geschärfte Gespür für Entscheidungen gipfelt in dem Vertrauen, das es in die Programme und die Losungen der Parteien zeigt. Daher ist der rätekommunistische Geist der Unentschlossenheit und des Hinterherschwänzelns, der die kleinste Aktion des Arbeiter umschmeichelt, in diesem Zeitraum besonders gefährlich. Die rätekommunistischen Tendenzen, die sich zwischen 1919 und 1921 im deutschen Proletariat äußerten, sind kein Ausdruck der Stärke des Proletariats gewesen. Obgleich sie nicht direkt für die Niederlage verantwortlich waren, spiegelten sie dennoch eine große Schwäche der Klasse wider. Aus diesen Schwächen eine Tugend zu machen, wie es die Rätekommunisten tun, ist der sicherste Weg, um die Revolution der Zukunft in eine Niederlage zu führen.
Entgegen dem äußeren Schein entstand der Rätekommunismus nicht als eine Variante des Anarchismus, der vor allem in den unterentwickelten Ländern Wurzeln schlug, wo das Proletariat  gerade mühsam aus einem bäuerlichen und handwerklichen Stand hervortrat. Der Rätekommunismus entstand innerhalb eines alteingesessenen Proletariats, das bereits durch den Klassenkampf geschärft und stark politisiert ist sowie kollektiv und frei von kleinbürgerlichem Individualismus agiert.
Die rätekommunistischen Tendenzen entfalteten sich zunächst in der KPD (Spartakus), dann in der KAPD nach ihrer Gründung im April 1920. Auch wenn Rühle (Ex-IKD), das Sprachrohr dieser Tendenzen, in der KAPD außerhalb Sachsens letztendlich gänzlich isoliert wurde, stießen die rätekommunistischen Ideen im radikalen Proletariat überall in Deutschland auf Widerhall. Der Ausschluß Rühles und seiner sächsischen Gesinnungsgenossen im Dezember 1920 aus der KAPD verhinderte nicht die schnelle Verbreitung der rätekommunistische Thesen, die von den zum Teil Hunderttausende von Arbeitern umfassenden Einheits-Arbeiterunionen (AAU-E) übernommen wurden.
Die Merkmale des deutschen Rätekommunismus, die man heute zum großen Teil wiederfindet, waren:

  • die Ablehnung jeglicher politischen Partei des Proletariats als "bürgerlich". "Die Partei ist ihrem Wesen nach bürgerlich. Sie stellt die klassische Organisationsform für die Repräsentation der Interessen der Bourgeoisie dar. Sie entwickelte sich in einen Zeitraum, als die Bourgeoisie an die Macht kam. Die Parteien entstanden mit dem Parlamentarismus." (Von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution, 0. Rühle, 1924). Hier bringt Rühle den berechtigten Haß des Proletariats gegen den Parlamentarismus zum Ausdruck; dabei versteht er aber nicht, daß die Funktion der revolutionären Partei sich im dekadenten Kapitalismus ändert, was die KAPD dagegen vollkommen verstanden hatte;
  • die Ablehnung des Zentralismus als Ausdruck der Diktatur einer Klasse. "Das bürgerliche Wesen wird organisch durch den Zentralismus ausgedrückt" (O.Rühle, ebenda). Die Rätekommunisten greifen hier die Formen als solche an und glauben so das Auftreten einer neuen "Kaste von Chefs" verhindern zu können. Indem sie die Dezentralisierung propagieren und den "Antiautoritarismus" kultivieren, unterstützen sie nur den Mangel an wirklicher Kontrolle der Arbeiter über die Organisationen, die sie gründen. Der Antizentralismus, mit dem die "Einheits"-Anhänger Rühles aufwarteten, verhinderte nicht, daß die AAU-E unter die Herrschaft von Intellektuellen und Künstlern um "Die Aktion" (Franz Pfempfert insbesondere) geriet, die faktisch selbsternannte Chefs waren;
  • der Lokalismus, eine Begleiterscheinung des Antizentralismus, der zwangsläufig zur Beschränkung auf den Fabrik-Operaismus führte. Die Fabrik wurde zum winzigen Universum der Unionisten (die AAU stand der KAPD nahe, wie auch die AAU-E) und somit zu einer Festung gegen den Einfluß der Parteien. Der Fabrikarbeiterkult ging einher mit einem Anti-Intellektualismus; die "intellektuellen" Mitstreiter (und Nicht-Arbeiter) der KAPD standen im Verdacht, die Rolle der "Führer" anzustreben, indem sie sich an die Stelle der spontanen Initiative der Arbeiter setzten;
  • die Verwechslung der Arbeiterräte mit den politischen Organisationen, was die Arbeiterbewegung um etliche Jahrzehnte zurückwarf - zurück zur Ersten Internationalen, in der es Gewerkschaften, Parteien, Kooperativen, etc. gab. So hatten die Arbeiterunionen ein revolutionäres Programm, das von der KAP inspiriert war, waren jedoch eine seltsame Mischung, halb-politisch, halb-gewerkschaftlich. Solch ein Ausmaß an Konfusion führte zwangsläufig zu einem revolutionären Neo-Syndikalismus. Es ist kein Zufall, daß die AAU-E - die Rühle und Pfempfert nahestand - schnell begann, mit den Anarchosyndikalisten der FAUD zusammenzuarbeiten;
  • schließlich das Abgleiten des politischen Rätekommunismus in einen Semi-Anarchismus der schlimmsten Art - den Individualismus. Rühle selbst glitt zunehmend in einen anarchistischen Anti-Marxismus ab und hielt Marx eine cholerisch-verstockte Haltung gegenüber Bakunin vor. Sein Individualismuskult führte zur Pädagogik des individuellen Arbeiters, zum Geist des "Fabrikschornsteins", um den ironischen Ausdruck der KAPD zu benutzen, die so den sächsischen Individualismus bezeichnete.

 

Die Gefahr des Rätekommunismus in der Revolution

Der Rätekommunismus spiegelt nur die Schwächen der Arbeiterklasse wider. Er war zunächst eine negative Reaktion, mit der die Klasse vom blinden Vertrauen in ihre alten Organisationen - die zunehmend in die Hände des Opportunismus fielen und schließlich in der Konterrevolution versanken - zu einer Haltung des Argwohns gegenüber jeglichen politischen Organisation überging. Die rätekommunistischen Tendenzen in Deutschland in der Revolution standen in direkter Proportion zum naiven Vertrauen, das die in den Räten organisierten Arbeiter im November-Dezember 1918 der Sozialdemokratie schenkten, die sich anschickte, in den nächsten drei Jahren die Arbeiter zu massakrieren. In Anbetracht dessen, daß die Arbeiter glaubten, hier handle es sich schlicht um den Verrat von "Führern - und scheidet nicht jede Organisation dieses "Gift" der Führer aus? -, mußten sich zwangsläufig parteifeindliche und "antiautoritäre" Tendenzen entwickeln. Die Neigung unter den Industriearbeitern, auf die lokalen Betriebsorganisationen und korporativen Gewerkschaften(Bergarbeitergewerkschaft, Seeleutegewerkschaft 1919) zurückzufallen, war nicht ein Ausdruck der wachsenden Stärke einer Klasse, die sich nach den Massakern vom Januar 1919 wieder erholte, sondern das Produkt einer enormen Schwäche, einer fürchterlichen Orientierungslosigkeit.
Weil er sich in einem hochindustrialisierten Land entfaltete, das ein Schlüsselland für die Weltrevolution war, war der Klassenkampf in Deutschland viel charakteristischer für die zukünftige kommunistische Revolution als die Russische Revolution. Die typisch rätekommunistischen Reaktionen, wonach das Proletariat in den Räten den revolutionären Organisationen mit größtem Mißtrauen begegnen wird, müssen von der revolutionären Partei mit größter Entschlossenheit bekämpft werden.
Diese Reaktionen werden um so stärker sein, da die stalinistische Konterrevolution und das Image der Einheitsparteien in den osteuropäischen Ländern die Klasse - über ein gesundes Mißtrauen gegenüber den linken Parteien hinaus - gegenüber jeder revolutionären Organisation mißtrauisch gemacht haben. Solche Reaktionen erklären - neben dem staatlichen Totalitarismus, der jede revolutionäre Massenorganisation unmöglich macht - den Mangel an kämpferischem, politischem Engagement in der Klasse. Trotz der wachsenden Resonanz, die ihre Positionen und Interventionen finden, stoßen revolutionäre Militanten unweigerlich auf Vorurteile wie: "Die Revolution mit Parteien, auch mit revolutionären, führt zur Diktatur". Es stimmt, daß der Bordigismus mit seiner Auffassung von der alleinigen Partei, die den "roten Terror" durch die Gewalt in der Klasse ausüben wird, mit seiner verabscheuenswürdigen Unterstützung des Massakers an den Arbeitern und Matrosen von Kronstadt nur die rätekommunistischen Reflexe in der Klasse verstärkt. Man kann sogar behaupten, daß der Bordigismus und der Neo-Bordigismus die besten Rekrutierungsbüros des Rätekommunismus sind.
Die revolutionären Organisationen und besonders die IKS müssen sich dessen bewußt sein, daß ihre organisierten Aktionen in den zukünftigen Räten auf Schwierigkeiten stoßen werden. Es wird anfangs oft genug geschehen, daß ihnen das Wort verboten wird, weil sie in Parteien organisiert sind. Die Bourgeoisie wird mit Hilfe ihrer gefährlichsten Agenten, den Basisgewerkschaftern, nicht darin nachlassen, die organisationsfeindlichen Gefühle der Arbeiter zu verstärken, ihre arbeitertümelnden Reflexe, indem sie die revolutionären Organisationen als Organisationen von "Intellektuellen" darstellen, die die Klasse dirigieren wollen, um selbst die Macht zu übernehmen. So wie Rosa Luxemburg 1918 könnten die Nicht-Arbeiter-Militanten, unter dem Vorwand, daß sie keine Arbeiter seien, durchaus davon ausgeschlossen werden, zu den Räten zu sprechen.
Die rätekommunistische Gefahr in den revolutionären Ereignissen darf nicht unterschätzt werden. Sie könnte tödlich sein. In dem Maße wie organisationsfeindliche Ideen überwiegen, wird das Proletariat anfällig sein für wohl durchdachte Provokationen der Bourgeoisie. Der Kult der "antiautoritären" Minderheiten kann zum furchtbarsten Putschismus für die Klasse führen. Das Mißtrauen gegenüber dem Programm und der revolutionären Theorie, die angeblich das Bewußtsein des einzelnen Arbeiters vergewaltigen, kann nur die kleinbürgerliche, individualistische Theorie begünstigen, die von den zahllosen, durch Krise und Arbeitslosigkeit proletarisierten Kleinbürgern getragen wird. Schlimmer noch, dieses Mißtrauen begünstigt den Einfluß der bürgerlichen Ideologie, die die herrschende Ideologie ist.


Schon heute eine wirkliche Gefahr im revolutionären Milieu

Der Rätekommunismus ist - auch wenn er sich erst in den revolutionären Ereignissen voll manifestieren wird - schon heute eine Gefahr. Er bedroht im wesentlichen das schwache revolutionäre Milieu, eine Folge der fehlenden organischen Kontinuität mit den revolutionären Organisationen der Vergangenheit. Er stellt in sich selbst viele gleichermaßen negative Formen dar:

  • Der immediatistische Aktionismus führt unwiderruflich in den libertären Sumpf, wenn nicht gar zu den Linksextremisten. Die ICO in Frankreich und ARBETARMAKT in Schweden sind letztendlich infolge ihres ouvrieristischen Aktionismus verschwunden, der dem Linksextremismus nahe kommt. ARBETARMAKT zerfiel unter dem Druck der kleinbürgerlichen, dann bürgerlichen Ideologie und glitt ab in ein Neo-Basisgewerkschaftstum.
  • Das Konzept der Arbeits- und Studiengruppen führt zu einer Infragestellung der militanten Rolle der Revolutionäre; man betrachtet sich eher als Studierzirkel, der den Klassenkampf von der Haupttribüne aus betrachtet. Diese Gruppen stellen letztendlich die revolutionäre Rolle des Proletariats in Frage und verfallen leicht dem Pessimismus oder dem Modernismus. Die Abenteuer des Barrot-Zirkels ("Le mouvenent communiste") sprechen für sich; sie sind durchtränkt von Konfusionen, die vom im vollen Zerfall befindlichen Kleinbürgertum zusammengebraut werden.
  • Die "anti-bolschewistische" Ideologie –  die die gesamte revolutionäre Vergangenheit der Bolschewiki bewußt leugnet - kann nur zu einer Infragestellung der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung und gar zur Infragestellung des Marxismus führen. Die Entwicklung der Gruppe POUR UNE INTERVENTION COMMUNISTE (PIC) in Frankreich  ist symptomatisch hierfür. Vom primitivem Aktivismus glitt man über zu einem akademischen Studierzirkel. Bald wurde - mit Ausnahme der "polnischen Linken"(8), dem Steckenpferd einiger Mitstreiter der PIC -  die gesamte revolutionäre Bewegung so dargestellt, als sei sie vom Parteigeist besudelt. Marx selbst wird zum Hauptschuldigen für all die Sünden der Arbeiterbewegung bei der "Erfindung" des Parteikonzeptes (sic!) gemacht. Schlimmer noch, diese ganze "antibolschewistische" Reaktion kann nur zu Kompromissen mit dem Linkssozialismus führen (siehe die Auflösung der PIC in CAHIERS SPARTACUS, Herausgeber diverser, meist sozialistischer Broschüren).
  • Die Unterschätzung der Rolle der Organisation, die sich auf die Ansicht stützt, daß das Bewußtsein der Arbeiter genauso entwickelt - wenn nicht sogar entwickelter - sei wie das Bewußtsein der Organisation, führt zur Verleugnung der Organisation als militanten Bestandteil der Klasse. Diese Unterschätzung ist wahrhaft selbstmörderisch für die Militanten, die in Organisationen oder Zirkeln rätekommunistische Ideen vertreten. Dies ist die Gefahr, die alle Gruppen bedroht, welche sich auf den Rätekommunismus stützen.

Selbst wenn der Rätekommunismus heute aufgelöst ist und in Westeuropa eine durcheinander gewürfelte Kollektion von Zirkeln hinterlassen hat, die auf unklaren und zutiefst organisationsfeindlichen Positionen beruhen, hat seine Ideologie überlebt. Die Diskussionsgruppen, die in den letzten Jahren in Skandinavien (Dänemark) und in Mexiko entstanden sind, sind besonders anfällig gegenüber diesen Auffassungen. Es ist selbstverständlich, daß die IKS solche Gruppen nicht außer Acht läßt und tatenlos mit ansieht, wie sie sich in ihrer Konfusion verrennen. Sie ist sich bewußt, daß der organische Bruch mit den Organisationen der Kommunistischen Linken viele sehr konfuse Gruppen hervorbringen wird, die sich auf den Rätekommunismus berufen und von einer individualistischen, kleinbürgerlichen, rätekommunistischen Ideologie gezeichnet sind. Die IKS hat - nachdem sie infolge der Auflösung der IKP zum einzigen revolutionären Pol auf internationaler Ebene geworden ist - eine enorme Verantwortung zu schultern, um solche Zirkel dazu zu veranlassen, sich in Richtung einer  kämpferischen, marxistischen Anschauung zu entwickeln. Solche Zirkel, die oft aus der Kleinbourgeoisie mit all den Vorurteilen und Vorlieben des studentisch-akademischen Milieus kommen, sind besonders anfällig gegenüber dem rätekommunistischen Gedankengut. Die IKS kann diese Elemente nur zur Übernahme einer proletarischen revolutionären Auffassung bewegen (wie sie dies in Schweden und Holland gemacht hat), wenn sie in ihrer Vorstellung einer  zentralisierten Kampforganisation unnachgiebig bleibt und die rätekommunistischen Konzepte ohne das geringste Zögern oder Schwanken bekämpft.
Diese rätekommunistische Gefahr stellt nicht nur eine Bedrohung für die konfusen Gruppen oder die Diskussionskreise dar; sie kann selbst in den Reihen jener Gruppen auftreten, die sich auf die italienische Linke berufen, wie BC und nun auch jenes politische Chamäleon namens CWO. Ihre Auffassung einer politischen Doppelorganisation - die Partei (der obligatorische Größenwahn) zusammen mit dem Phantom der Fabrikgruppen - erinnert an die Konzeptionen der KAPD mit ihren Fabrikorganisationen - mit dem einen Unterschied, daß man, wenn man sich auch nur den geringsten Sinn für Proportionen erhalten hat, zum Schluß kommt, daß CWO und BC  im Vergleich zum Riesen KAPD Zwerge sind. In Zukunft könnte die Logik des Bluffs der Fabrikgruppen sie dazu führen, aus purem Mitläufertum ihre politischen Organisationen aufzulösen, sie eines kleinen Echos in der Klasse zuliebe zu simplen Anhängseln dieser Gruppen zu machen. Trotz ihrer prinzipiellen Feindschaft gegenüber der KAPD - BC mehr aus Ignoranz, die CWO als die Allzwecklösung der politischen Kehrtwende eher aus Opportunismus - sind diese beiden kleinen, vor eigener Wichtigkeit geradezu platzenden Gruppen gut damit beraten, voller Demut die Geschichte der KAPD zu studieren. Aufgrund der Doppelorganisation begann sich die KAPD schließlich 1929 aufzulösen, wobei der größere Teil sich in einer aktivistischen Union (der KAU) organisierte, während der Rest der KAPD, von nun gegenüber jeder Doppelorganisation mißtrauisch, nicht mehr zusammenbrachte als eine kleine Gruppe. Das Mitläufertum von BC und CWO im Verhältnis zu nationalistischen Organisationen aus dem Iran wie "Komala" und die Kommunistische Partei Irans spricht nicht für die Fähigkeit dieser Organisationen, nachdrücklich einen unnachgiebigen programmatischen und organisatorischen Rahmen aufrechtzuerhalten.
Die rätekommunistische Gefahr beschränkte sich daher nicht nur auf die Leugner der Partei; sie kann selbst eine politisch gewappnete Organisation wie die IKS bedrohen. Sie ist um so gefährlicher, weil der Rätekommunismus sich oft nicht beim Namen nennt und hinter  einer formalen Anerkennung des zentralisierten organisatorischen und programmatischen Rahmens versteckt.
Die IKS muß wachsamer denn je sein, um ihre kämpferische Funktion in der Klasse zu erfüllen. Sie ist davon überzeugt, daß ihre Funktion unersetzbar ist und daß sie der höchste Ausdruck des Klassenbewußtseins ist. Ihre zentralisierte Funktionsweise ist entscheidend für die Aufrechterhaltung ihres programmatischen Rahmens, den die Kommunistische Linke überliefert hat.
Die IKS ist, wie die KAPD und BILAN, von der entscheidenden Rolle der Partei in der Revolution überzeugt. Ohne eine revolutionäre Partei, die das Ergebnis einer langen Umgruppierungsarbeit und einer politischer Auseinandersetzung ist, kann die proletarische Revolution nicht siegen. Heute kann jegliche Unterschätzung der Rolle der Organisation, jede Verneinung der Notwendigkeit der Partei in der Revolution nur zur Desintegration des ohnehin schwachen revolutionären Milieus beitragen.
Die rätekommunistische Gefahr ist eine Bedrohung, gegenüber der die IKS besonders gut gewappnet sein muß. Wenn die IKS auf die Gefahr rätekommunistischer Unschlüssigkeiten aufmerksam macht, die nicht offen auftreten, heißt dies nicht, daß sie nun einer Art von "Bordigismus" oder "Leninismus" anheimgefallen ist.
Die Existenz der IKS ist die Frucht aller kommunistischer Fraktionen der Vergangenheit. Sie verteidigt deren positive Errungenschaften sowohl gegen die Gruppen der rätekommunistischen Tendenz wie auch gegen die bordigistischen Gruppen, ohne ihre negativen Seiten zu übernehmen: den Substitutionismus in der Russischen Revolution, die Leugnung der Partei in der holländischen Linken, die Doppelorganisation in der deutschen Linke. Die IKS ist keine Organisation der Vergangenheit . Sie ist weder "rätekommunistisch" noch "bordigistisch", sondern das aktuelle Ergebnis der langen Geschichte der internationalen kommunistischen Linken. Nur durch einen politischen Kampf ohne Konzessionen und gegen jegliches Zögern hinsichtlich ihrer Funktion und ihres Platzes im Klassenkampf wird die IKS sich ihren Vorgängern als ebenbürtig erweisen  und gar über sie hinausgehen.
Chardin

aus International Review, Nr. 40, 1985, auf Deutsch erschienen in Internationale Revue Nr. 9

(1) Siehe "Bulletin d'Etudes et de Discussion", 1974.
(2) Die erste Nummer von RI manifestiert rätistische Tendenzen. Aber 1969 wurde auf der nationalen Konferenz von ICO ein sehr klarer Text über die Notwendigkeit einer Partei vorgestellt (RI, Nr. 3, alte Serie).
(3) Siehe die Broschüre "Kommunistische Organisation und Klassenbewußtsein".
(4) "Dialog mit den Toten" und "Dialog mit Stalin" (sic!) sind Titel aus Bordigas Broschüre.
(5) Resolution der IKS vom Januar 1984: "Zwischen den Phasen offener Kämpfe vollzieht sich eine unterirdische Reifung des Klassenbewußtseins (der 'alte Maulwurf' Marx zufolge), die sowohl in der Vertiefung und Klärung der politischen Positionen revolutionärer Organisationen als auch in einem Denk- und Klärungsprozeß in der gesamten Klasse, in einer Loslösung von den bürgerlichen Mystifizierungen zum Ausdruck kommt".
(6) Siehe Marx, "Die deutsche Ideologie". Marx spricht von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Revolution. "Zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins ist eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann" (MEW, Bd 3, S. 70).
(7) Hier sind einige Auszüge aus der Resolution vom Januar 1984 (die einige "Enthaltungen" und Vorbehalten seitens einiger Genossen provoziert hatte).
"Selbst wenn sie Teil einer einzigen Einheit sind und auf sich gegenseitig einwirken, ist es falsch, das Klassenbewußtsein mit dem Bewußtsein der Klasse oder in der Klasse gleichzusetzen, d.h. seine Ausdehnung zu einem gegebenen Zeitpunkt (...) Man muß unterscheiden zwischen dem, was auf eine Kontinuität in der historischen Bewegung des Proletariats zurückzuführen ist - die fortschreitende Erarbeitung ihrer politischen Positionen und ihres Programms - und dem, was mit den jeweiligen Umständen verknüpft ist - die Ausdehnung ihrer Assimilierung und ihres Einflusses in der Klasse".
(8) Diese Genossen beweisen lediglich, daß sie die Geschichte nicht gut kennen. Die bolschewistische Partei, der sie vorwerfen, zu zentralisiert gewesen zu sein, war weitaus weniger zentralisiert als die polnische Linke, die SDKPIL.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Rätekommunismus [26]

Internationale Revue - 1988

  • 2824 reads
  

Internationale Revue 10

  • 2361 reads

20 Jahre seit Mai 68: Die Entwicklung des proletarischen politischen Milieus 1968-1977 (Teil 1 und 2)

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Mai 1968: Zehn Millionen streikende Arbeiter in Frankreich kündigten nachhaltig die Rückkehr des Proletariats auf die Bühne der Geschichte an und eröffneten eine Welle von Kämpfen, die sofort eine internationale Dimension annahmen und bis Mitte der 70er Jahre sich in nahezu jedem Land auf dem Planeten bemerkbar machten.
Seit Jahrzehnten, seit dem Scheitern der revolutionären Welle, die 1917 begonnen hatte und Ende der 1920er Jahre abgeebbt war, hatte der Kampf des Proletariats nicht mehr solch eine Kraft und Breite erreicht. Nach 40 Jahren der Konterrevolution, in der der Triumph der Bourgeoisie durch eine bis dahin nie gekannte ideologische Herrschaft zum Ausdruck kam, in der Theorien über die Integration des Proletariats, seine Verbürgerlichung, sein Verschwinden als revolutionäre Klasse das Denken der Intellektuellen auf ihrer Suche nach Neuheiten beherrschten, in welcher der Sozialismus mit den finsteren stalinistischen Diktaturen und ihren "Drittwelt"-Karikaturen identifiziert wurde, in der die Dschungel Südamerikas und Indochinas als die Zentren der Weltrevolution dargestellt wurden, hat das Wiedererwachen des Proletariats das Pendel der Menschheit bewegt. Ein Riegel sprang auf, der Riegel der Konterrevolution. Ein neuer geschichtlicher Zeitraum war eröffnet worden.
Der wiedererstarkende Klassenkampf polarisierte die Unzufriedenheit, die sich seit Jahren nicht nur in der Arbeiterklasse aufgestaut hatte, sondern auch in vielen anderen Schichten der Gesellschaft. Der Vietnam-Krieg, der sich ewig hinzog und zuspitzte, die ersten Angriffe der Krise, die Mitte der 60er Jahre nach all den euphorischen Jahren des Nachkriegswiederaufbaus wieder zurückkehrte - all das rief ein tiefes Unbehagen in der Jugend hervor, die mit der Illusion eines triumphierenden Kapitalismus aufwuchs, der frei von Krisen  und voller Verheißungen in einer glänzenden Zukunft war. Die Revolte der Studenten auf den Campus überall auf der Welt gab der bürgerlichen Propaganda ein Mittel in die Hand, um den Klassenkampf zu kaschieren, aber sie gab auch ein verzerrtes Echo eines neuen politischen Denkprozesses wieder, der im Proletariat stattfand. Dies spiegelte sich im wiedererwachenden Interesse in der Klasse an ihrer Geschichte, ihrer Theorien und somit am Marxismus wider. "Revolution" wurde zum Modewort.
Brutal, als sei sie über ihre eigene Kraft erstaunt,verschaffte sich eine neue Generation von Arbeitern Geltung auf der Bühne der Weltgeschichte. Als ein Ergebnis dieser Dynamik, mit jugendlichem Überschwang, aber auch in größter Konfusion, ohne Erfahrung, ohne Verbindung zu den revolutionären Traditionen der Vergangenheit, ohne wirkliche Kenntnis der Geschichte ihrer Klasse und stark beeinflußt von der kleinbürgerlichen Protestbewegung, entstand ein neues politisches Milieu des Proletariats. Eine neue Generation von Revolutionären wuchs mit Enthusiasmus und ... Unerfahrenheit heran.
Wenn wir über das proletarische Milieu sprechen, schließen wir sicherlich nicht die Organisationen mit ein, die behaupten, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, aber in Wirklichkeit Ausdrücke der "Linken" des kapitalistischen Staatsapparates sind, deren Aufgabe es ist, die Arbeiterklasse zu kontrollieren, sie hinters Licht zu führen und ihre Kämpfe zu sabotieren. Dabei spielt es keine Rolle, welche Illusionen die Arbeiterklasse in diese Organisationen haben mag. Wir beziehen uns hier nicht nur auf die "sozialistischen" und "kommunistischen" Parteien, die seit langem in die Räderwerke des Staatsapparates integriert sind, sondern auch auf ihre maoistischen Nacheiferer, die nur ein später Auswuchs der Stalinismus sind, und auf die Trotzkisten, deren Aufgabe von Klassenpositionen im zweiten imperialistischen Weltkrieg, deren Unterstützung  für einen imperialistischen Block gegen den anderen sie endgültig außerhalb des proletarischen Lagers stellte. Obgleich diese linksextremistischen Gruppen 1968 und danach einen bestimmenden Einfluß ausübten und in den Mittelpunkt rückten, gehören sie aufgrund ihrer Vergangenheit nicht der Arbeiterklasse und ihres politischen Milieus an. Darüber hinaus war es die Reaktion auf das politische Verhalten dieser Gruppen der bürgerlichen "Linken", die anfangs die Grundlage für die Wiederbelebung des proletarischen Milieus legte, auch wenn in der Konfusion und dem Wirrwarr in jener Periode linksextremistisches Gedankengut schwer auf der Geburt dieses neuen, proletarischen Milieus lastete.
Seit den Ereignissen des Mai 68 sind zwanzig Jahre vergangen; zwanzig Jahre, in denen die Wirtschaftskrise den Weltmarkt verheerte, das Feld des Gesellschaftslebens umgrub, Illusionen der Wiederaufbauperiode wegfegte. Zwanzig Jahre, in denen der Klassenkampf Höhen und Tiefen durchlief. Zwanzig Jahre, in denen das proletarische Milieu seine Wurzeln hat wiederfinden müssen und nach der notwendigen Klärung für eine wirksame Intervention strebte.
Welche Entwicklung gab es in diesen zwanzig Jahren im politischen Milieu? Welche Bilanz kann man heute ziehen? Welche politischen Früchte hat die 68er Generation hinterlassen? Welche Perspektiven können wir verfolgen, um die Zukunft zu befruchten?


DAS POLITISCHE PROLETARISCHE MILIEU VOR 1968

Die politischen Gruppen, die der Erdrosselung durch die Konterrevolution vor den Umwälzungen Ende der 60er Jahre widerstanden hatten und ihre revolutionären Positionen bei Wind und Wetter aufrechtgehalten hatten, bestanden aus einer bloßen Handvoll von Individuen. Diese Gruppen definierten sich im Verhältnis zu ihren politischen Vorfahren. Es gab im Kern zwei große Strömungen, die von den Fraktionen abstammten, welche in den 20er Jahren gegen die politische Degeneration der Dritten Internationalen gekämpft hatten:

  • die Tradition der sog. "holländischen" und "deutschen" Linken (1), die durch politische Gruppen wie den "Spartacusbond" (2) in Holland oder durch mehr oder weniger formelle Zirkel wie den um Paul Mattick in den USA vertreten wurde. ICO (Information Correspondance Ouvrière) in Frankreich oder DAAD EN GEDACHTE in Holland, die Anfang der 60er Jahre erschienen, waren die degenerierten Früchte dieser Tradition des "Rätekommunismus" sind, die in den 30er Jahren hauptsächlich von der GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten) vertreten wurde. Diese Strömung, die in politischer Kontinuität zu den theoretischen Auffassungen Otto Rühles in den 20er Jahren und Anton Pannekoeks sowie Canne Meijers in den 30er Jahren stand, zeichnete sich durch ein weitgehendes Unverständnis für die Gründe des Scheiterns der Russischen Revolution und der Degeneration der Kommunistischen Internationalen aus, was sie dazu verleitete, ihren proletarischen Charakter zu verneinen und die Notwendigkeit für die politische Organisation des Proletariats zu leugnen.
  • die Tradition der sog. "italienischen" Linken, deren organisatorische Kontinuität von der PCInt (Partito Comunista Internazionalista) (3) ausgedrückt wurde, die 1945 um Onorato Damen und Amadeo Bordiga gegründet wurde, und BATTAGLIA COMUNISTA veröffentlichte. Eine Reihe von Spaltungen, deren bedeutsamste die Abspaltung um Bordiga 1952 war und die jene Gruppe ins Leben rief, die  PROGRAMMA COMUNISTA publizieren sollte (4), führte zum Dasein etlicher, virtueller "PCInt"s, unter denen wir die Gruppe erwähnen sollten, die IL PARTITO COMUNISTA herausbringt. Obgleich diese Organisationen eine organisatorische Kontinuität mit den kommunistischen Fraktionen der Vergangenheit aufrechterhalten konnten, berufen sie sich paradoxerweise nicht auf das Werk jener Gruppe, die in den 30er Jahren das höchste Niveau an politischer Klarheit ausgedrückt hatte, die diese Tradition erreicht hatte. Diese Ablehnung des politischen Beitrags, der von BILAN geleistet worden war(5), war Ausdruck einer Schwächung der politischen Kontinuität. Dies sollte sich in einer dogmatischen Rigidität manifestieren, die die Notwendigkeit für eine Klärung bestritt, die Jahrzehnte der kapitalistischen Dekadenz auferlegt haben. Sinnbild für diese Haltung waren Bordiga und die PCInt (Programma), die auf die Unveränderlichkeit (Invarianz) des Marxismus seit... 1848 bestanden. Ihre Kritik an den falschen Positionen der Dritten Internationalen war völlig unzureichend; dies drückte sich in äußerst wolkigen und oftmals falschen Positionen in solch zentralen Punkten wie der nationalen oder Gewerkschaftsfrage aus. Die völlig korrekte Entschlossenheit, mit der sie die Notwendigkeit der Partei verteidigten, nahm bei diesen Gruppen karikaturhafte Formen an, namentlich bei Bordiga, der dazu neigte, die Partei als die Antwort auf alle Probleme, mit denen das Proletariat konfrontiert ist, als ein universelles Wundermittel, das das Proletariat nur noch akzeptieren muß, zu begreifen und darzustellen. Von diesen Gruppen bestand nur die IKP (PROGRAMMA) auf internationaler Ebene, insbesondere in Frankreich und in Italien, während die anderen nur in Italien existierten.

In dieser Tradition der italienischen Linken muss auch INTERNACIONALISMO in Venezuela berücksichtigt werden, 1964 auf Initiative früherer Mitglieder von BILAN (1928-1939) (4) und INTERNATIONALISME (1945-1953) gegründet(6). Obgleich INTERNACIONALISMO keine wirklich organisatorische Kontinuität darstellte, war diese Gruppe der klarste Ausdruck der politischen Kontinuität mit den Errungenschaften von BILAN und später INTERNATIONALISME, die die Aufgabe theoretischer Aufarbeitung fortgesetzt hat. Zwar berief sich INTERNACIONALISMO ausdrücklich auf die Beiträge von BILAN und der Italienischen Linken, doch vermochte sie sich auch kritisch - wie dies zuvor BILAN und INTERNATIONALISME getan hatten -  mit den Beiträgen anderer Fraktionen der internationalen kommunistischen Linken Angang des 20. Jahrhunderts zu bereichern. Dies wird deutlich in der Klarheit ihrer Positionen in der Frage der Dekadenz des Kapitalismus, in der nationalen und Gewerkschaftsfrage wie auch über die Rolle der Partei. Es ist sicherlich kein Zufall, daß INTERNACIONALISMO die einzige Gruppe war, die das historische Wiederaufleben des Klassenkampfes vorausssah.
Dieses Porträt des politischen Milieus vor 1968 wäre nicht vollständig, wenn es nicht jene Gruppen miteinbezieht, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Reaktion auf den Verrat der trotzkistischen IV. Internationalen gegründet wurden und die aus dieser Strömung hervorgegangen waren. Besonders die Gruppe FOR (7), die um Benjamin Perret und G. Munis gebildet wurde, sowie SOCIALISME OU BARBARIE um Cardan-Chaulieu seien hier erwähnt. Diesen Gruppen, die aus einer politischen Tradition, dem Trotzkismus, hervorgegangen waren, die an der Degeneration der Dritten Internationalen beteiligt war und das Klassenterrain verlassen hatte, indem sie das zweite weltweite, imperialistische Gemetzel unterstützt hatte, haben eine Besonderheit, die auf ihren Ursprung zurückzuführen ist: ihr mangelndes Verständnis der Degeneration der Revolution in Rußland und der ökonomischen Grundlagen des Staatskapitalismus in einer Zeit der kapitalistischen Dekadenz. Dies führte dazu, daß sie über das Ende der Wirtschaftskrisen des Kapitalismus theoretisierten und sich so von den Fundamenten eines marxistischen, materialistischen Verständnisses der Gesellschaftsentwicklung abschnitten. SOCIALISME OU BARBARIE gab ausdrücklich das Proletariat und den Marxismus auf, um eine verschwommene Theorie zu entwickeln, in welcher der grundlegende Widerspruch der Gesellschaft nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Bourgeoisie und Proletariat war, sondern in dem ideologischen Verhältnis zwischen Führern und Geführten! Mit der Ablehnung des revolutionären Charakters des Proletariats verlor SOCIALISME OU BARBARIE seine Daseinsberechtigung als politische Organisation und verschwand Anfang der 60er Jahre. Jedoch sollte der schädliche Einfluß seiner Theorien nicht nur unter den Intellektuellen, sondern auch im politischen Milieu, insbesondere in der ICO und ihrer Randerscheinung, der Situationistischen Internationalen, erhebliche Auswirkungen haben. Was die Gruppe FOR anbelangt, so verfiel sie nie solchen Extremen, doch ihre Weigerung, die Wirklichkeit der Wirtschaftskrise zur Kenntnis zu nehmen, schwächte ihre politischen Positionen insgesamt, ließ sie doch damit jegliche unerlässliche Kohärenz vermissen.


DIE ZERBRECHLICHKEIT DES MILIEUS NACH 1968

Die Ereignisse rund um den Klassenkampf und insbesondere die Streiks im Mai 68 in Frankreich, der "heiße Herbst" in Italien 1969, die Unruhen in Polen 1970 lösten aufgrund ihres internationalen Echos einen Denkprozeß innerhalb der Arbeiterklasse und in der Gesellschaft insgesamt aus und erweckten so neues Interesse für die revolutionäre Theorie des Marxismus. Getragen von dieser internationalen Welle des Klassenkampfes, entstand - in größter Konfusion, aber alle auf der Suche nach einer revolutionären Kohärenz - eine Vielzahl von kleinen Gruppen, Zirkeln oder Komitees. Aus dieser informellen Bewegung sollte das neue politische Milieu entstehen.
Die konkrete Konfrontation mit der Sabotage und den Winkelzügen jener, die sich als die leidenschaftlichsten Interessensvertreter des Proletariats  ausgaben, war ein entscheidender Faktor in der brutalen Bewußtwerdung über den arbeiterfeindlichen Charakters der Gewerkschaften und der "linken" Parteien. Diese Infragestellung des proletarischen Charakters der Gewerkschaftsorganisationen, der Sozialistischen Parteien, die Teil der nicht mehr existierenden Zweiten Internationalen waren, der stalinistischen KPs und ihrer linksextremistischen Nacheiferer, ob maoistisch oder trotzkistisch, war das unmittelbare Ergebnis des Klassenkampfes, der einen enthüllenden Charakter hatte. Jedoch konnte diese Intuition für grundlegende politische Positionen des Proletariats nicht die tiefgreifende politische Zerbrechlichkeit dieser neuen Generation verbergen, die revolutionäre Positionen aufgriffen, ohne eine wirkliche Kenntnis der Vergangenheit der Arbeiterklasse, ohne jegliche Verbindung zu den früheren Organisationen der Klasse zu haben, ohne militante Erfahrung und stark beeinflußt von den kleinbürgerlichen Illusionen, die von der Studentenbewegung verbreitet wurden. Das Gewicht von Jahrzehnten der Konterrevolution war beträchtlich. "Lauf, Genosse, die Alte Welt ist hinter dir her", verlangten die Rebellen von 1968. Aber wenn die Ablehnung der "alten Welt" es auch ermöglichte, sich einigen Klassenpositionen anzunähern, wie in der Frage des kapitalistischen Charakters der Gewerkschaften, der linken Parteien, der sog. "sozialistischen Vaterländer", so führte es im gleichen Atemzug häufig zu einer Ablehnung der unverzichtbaren Errungenschaften des Proletariats, an erster Stelle  des revolutionären Charakters des Proletariats, aber auch des Marxismus, der vergangenen Organisationen des Proletariats, der Notwendigkeit einer politischen Organisation, etc. Zunächst waren die Ideen, die auf das breiteste Echo in einem von jugendlicher Unreife und Unerfahrenheit gekennzeichneten Ambiente stießen, die Ideen jener "radikalen" Strömungen wie die Situationistische Internationale, die die Theorien von Sozialismus und Barbarei auf den neuesten Stand gebracht haben und und als radikalste Stimme in der Studentenbewegung auftraten. Indem sie den Kampf der Arbeiter in der Revolte der kleinbürgerlichen Schichten aufgehen ließ, ihn mit dem radikalen Reformismus des Alltagslebens gleichstellte und eine clevere Mischung zwischen Marx und Bakunin herzustellen versuchte, kehrte die Situationistische Internationale dem Marxismus den Rücken zu, um - mit einem Jahrhundert Verspätung- zu den Illusionen des Utopismus zurückzukehren.
Und so geschah es auch mit dem "Modernismus" (8), der in seiner dezidierte Suche nach dem Neuen und mit seiner Ablehnung des Alten darin endete, Theorien wiederzuentdecken, die historisch obsolet waren. Aber während die "modernistische" Strömung der Arbeiterklasse grundsätzlich fremd ist, ist der Rätekommunismus (9) historisch gesehen ein Teil des proletarischen politischen Milieus. Insbesondere die ICO in Frankreich war typisch für diese Tendenz, die sich auf die Beiträge der "deutschen" und "holländischen" Linke berief. In Kontinuität mit den Fehlern der "holländischen" Linken in den 30er Jahren theoretisierte sie die Ablehnung der Notwendigkeit für das Proletariat, sich mit einer politischen Organisation auszustatten. Diese Position sollte sehr beliebt sein, weil nach Jahrzehnten einer triumphierenden Konterrevolution und des Verrats durch proletarische Organisationen, die dem Druck der Bourgeoisie erlegen waren und in den kapitalistischen Staat integriert wurden, weil nach Jahren antiproletarischer Winkelzüge durch Organisationen, die im Namen der Arbeiterklasse zu sprechen behaupteten, das Proletariat gegenüber jeglicher Art von Organisation äußerst mißtrauisch geworden war. Diese Tendenz gipfelte in der Furcht vor der Organisation als solcher. Allein das Wort schon versetzte die Leute in Angst und Schrecken.
Anfangs sollte die ICO das wiederentstehende politische Milieu in Frankreich und selbst international  (stießen die Ereignisse vom Mai 68 doch auf weltweites Echo) polarisieren. Sie trug zur Verbreitung und Wiederaneignung der proletarischen Erfahrungen der früheren Revolutionäre (insbesondere der KAPD in Deutschland) bei, wenn auch nur bruchstückhaft und deformiert. An den von der ICO organisierten Konferenzen beteiligten sich viele Gruppen, so in Frankreich die CAHIERS DU COMMUNISME DE CONSEIL aus Marseille, die GROUPE CONSEILLISTE aus Clermont-Ferrand, REVOLUTION INTERNATIONALE aus Toulouse, der GLAT, LA VIELLE TAUPE, NOIR ET ROUGE, Archinoir. An der Brüsseler Konferenz 1969 nahmen belgische und italienische Gruppen wie auch "Prominente" wie Daniel CohnBendit und Paul Mattick teil. Doch dieser dynamische Antrieb im Milieu fand unter dem Druck des Klassenkampfes statt und nicht dank der politischen Kohärenz der ICO. Mit dem Abflauen der Arbeiterkämpfe in Frankreich Anfang der 70er Jahre sollten die partei- und organisationsfeindlichen Auffassungen der ICO immer schwerer auf einem unreifen politischen Milieu lasten. Während die ICO anfangs für die proletarischen Positionen Gruppen und Elemente anziehen konnte, die mit dem Anarchismus und dem intellektuellen Akademismus gebrochen hatten, trat mit dem Abflauen der Streiks das Gegenteil ein: nun wurde die ICO vom anarchistischen und "modernistischen" Geschwür angezogen. Schließlich verschwand die ICO 1971.
Diese Entwicklung der lCO ist ganz typisch für die Dynamik des Rätekommunismus im internationalen politischen Milieu, auch wenn außerhalb Frankreichs dieses Phänomen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung einsetzte. Mit ihrer Ablehnung der Notwendigkeit einer Organisation, ihrer Ablehnung des proletarischen Charakters der Russischen Revolution, der bolschewistischen Partei und der Dritten Internationalen stellten die Theorien des Rätekommunismus eine Quelle der Desorientierung und des Zerfalls im aufkeimenden proletarischen Milieu dar, die es von seinen wirklichen historischen Wurzeln abschnitt und es seiner organisatorischen und politischen Mittel zur Ausübung einer langfristigen Arbeit beraubte. Der Rätekommunismus schwächte die revolutionären Energien der Klasse.
Alle proletarischen Gruppen, die Ende der 60er Jahre aus jugendlicher Begeisterung entstanden, waren mehr oder weniger geprägt durch den schädlichen Einfluß des Modernismus und Rätekommunismus. Wer redete nicht alles vom Ende der Krisen im Staatskapitalismus, von den bösen Bolschewiki, vom unausweichlichen Schicksal jeder Partei, das Proletariat zu verraten, und über die revolutionäre Militanz als höchste Stufe der Entfremdung? Damals waren solche Reden Mode und verschwanden, wie Moden sich ändern. Der unvermeidbare Klärvorgang, der mit dem Abflauen des Klassenkampfes eintrat, fegte nicht nur die Illusionen beiseite und erzwang eine notwendige politische Klärung, sondern führte auch zum Verschwinden der schwächsten politischen Gruppen. In der ersten Hälfte der 70er Jahre kam es zu einem regelrechten Massaker: das Aus der Situationistischen Internationalen, deren nur einen kurzen Frühling lang geschienen hatte, das Aus der ICO, gestorben auf dem trostlosen Feld der Kritik des Alltaglebens; Abgang von POUVOIR, NOIR ET ROUGE und VIELLE TAUPE in Frankreich; LOTTA CONTINUA und POTERE OPERAIO in Italien, die erst teilweise von der maoistischen Variation des Linksextremismus weggebrochen waren, faktischer Abgang von SOLIDARITY in Großbritannien ... und die Liste ließe sich natürlich noch fortsetzen. Mit dem Rückfluss im Klassenkampf legte die Geschichte unweigerlich Zeugnis ab und fällte ihr Urteil.
Die verschiedenen, aus der italienischen Linken hervorgegangenen IKPs, die sich als unfähig  erwiesen, zu begreifen, daß das Wiedererstarken des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre das Ende der Konterrevolution bedeutete, und die vollkommen die Bedeutung der Streiks unterschätzten, die vor ihren Augen abliefen, waren nicht in der Lage, die Funktion zu erfüllen, für die sie ins Leben gerufen worden waren: im Klassenkampf zu intervenieren und in den Prozeß der Formierung eines politischen Milieus einzugreifen. Diejenigen, die behaupteten, die organische und politische Kontinuität mit den revolutionären Organisationen der Jahrhundertwende zu repräsentieren, und die das entstehende politische Milieu hätten stärken sollen, indem sie den notwendigen Wiederaneignungsprozeß der proletarischen Errungenschaften der Vergangenheit beschleunigen, jene, die schon heute behaupten, die Klassenpartei zu sein, waren bis Mitte der 70er Jahre fast völlig abwesend. Sie schliefen in dem Glauben, daß die lange Nacht der Konterrevolution noch andauerte, und klammerten sich an den "heiligen Gesetzestafeln" des kommunistischen Programms fest. Die IKP (Programma), als einzige Organisation wirklich auf internationaler Ebene bestehend, behandelte die Elemente, die sich tastend auf der Suche nach revolutionärer Kohärenz begaben, nur mit überheblicher Verachtung. Und die IKP (Battaglia Comunista), die der politischen Diskussion eher zugeneigt war, blieb ängstlich in Italien versteckt. Obgleich die politischen Positionen dieser Gruppen zur Parteifrage, die sie grundsätzlich vom Rätekommunismus unterschied, zunächst das politische Milieu nicht auf die gleiche Art polarisieren konnten wie Strömungen wie die ICO, hat ihre relative Abwesenheit das zerstörerische Gewicht des Rätekommunismus auf diese jungen, unreifen revolutionären Energien nur noch verstärken können.
Schließlich sollte nur jene Gruppe Früchte tragen, die oberflächlich als die "schwächste" der aus der italienischen Linken hervorgegangenen Strömungen erschien, weil sie isoliert in Venezuela war, die aber sicherlich nicht die schwächste Strömung auf politischer Ebene war, worauf es uns am meisten ankommt. Auf Initiative von Mitgliedern von INTERNACIONALISMO, die nach Frankreich eingewandert waren, wurde die Gruppe REVOLUTION INTERNATIONALE inmitten der Mai-Unruhen 1968 in Toulouse gegründet. Diese kleine Gruppe, die in der Vielzahl der damals entstehenden Gruppen nahezu unterzuging, sollte - weil es in ihr frühere Mitstreiter der "italienischen" Linken, von BILAN und INTERNATIONALISME gab, die eine unersetzliche politische Erfahrung mitbrachten - eine positive Rolle angesichts der Zerfallstendenzen spielen, die in einem neuen politischen Milieu wirksam waren, welches unter dem gefährlichen Einfluß des Rätekommunismus litt. Dies sollte sich insbesondere in der Umgruppierungsdynamik konkretisieren, die REVOLUTION INTERNATIONALE  zu verkörpern imstande war.


DIE DYNAMIK DER UMGRUPPIERUNG UND DAS GEWICHT DES SEKTIERERTUMS

Und so war innerhalb dieses neuen Milieus, das von allerlei Arten von Konfusionen beherrscht war, eine Tendenz aufgetaucht, die gegen den Zerfallsprozeß ankämpfte, der ein Ausdruck des Gewichts der rätekommunistischen Ideen war. Der Wille zur politischen Klärung, das Bemühen um die Wiederaneignung der politischen Errungenschaften des Marxismus wurde in der Verteidigung der Notwendigkeit der politischen Organisationen und in einer Kritik der rätekommunistischen Fehler verdeutlicht. Seit ihrer Gründung widmete sich REVOLUTION INTERNATIONALE (RI) dieser Aufgabe: die Verteidigung der revolutionären Prinzipien hinsichtlich der Organisationsfrage, aber auch die Anregung eines kohärenten Rahmens zum Verständnis der Klassenpositionen und der Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert im Spiegel der Theorie der Dekadenz des Kapitalismus, die von Rosa Luxemburg und BILAN bereichert worden war, sowie der Untersuchungen über den Staatskapitalismus von INTERNATIONALISME. Dies ermöglichte eine größere Klarheit über den proletarischen Charakter der Russischen Revolution, der bolschewistischen Partei, der Dritten Internationalen - Fragen, die im Milieu nach '68 mit größtem Nachdruck gestellt wurden. Darüber hinaus fanden die solideren politischen Fundamente von RI ihren Ausdruck im Verständnis der Ereignisse vom Mai 68: zwar verteidigte RI die historische Bedeutung der Arbeiterkämpfe, die sich international entfalteten, aber sie widersetzte sich auch den maßlosen Übertreibungen jener Elemente in der rätekommunistisch-modernistischen Strömung, die die kommunistische Revolution als eine unmittelbare Möglichkeit betrachteten und somit den Boden bereiteten für die zukünftige Demoralisierung. Auch wenn anfangs ihr Publikum sehr begrenzt war und sie in einem Meer von rätekommunistischen Vorstellungen unterging, stellte RI einen Pol der Klarheit im damaligen politischen Milieu dar. In Frankreich war sie dank ihrer Beteiligung an den von der ICO organisierten Treffen in der Lage, den rätekommunistischen Konfusionen entgegenzutreten und die Entwicklung anderer Gruppe zuzuspitzen. Der damals stattfindende Klärungsprozeß ermöglichte eine Dynamik in Richtung einer Umgruppierung, die 1972 in dem Zusammenschluß der Groupe CONSEILLISTE aus Clermont-Ferrand und CAHIERS DU COMMUNISME DE CONSEIL um RI führte.


Die Umgruppierungsdynamik und die Gründung der IKS (10)

Auf internationaler Ebene gab es die gleiche Dynamik. Mit dem Rückgang der Kämpfe nahmen die Debatten innerhalb des proletarischen politischen Milieus an Fahrt auf; und hier spielten RI und INTERNACIONALSIMO eine entscheidende Rolle bei der Klärung. Die Auseinandersetzung mit den rätekommunistischen Auffassungen verschärfte sich und drängte zahlreiche Gruppen zum Bruch mit ihrer ersten, libertär-rätekommunistischen Liebe. In den USA wurde INTERNATIONALISM in engem Kontakt mit INTERNACIONALISMO gegründet; Diskussionen mit RI standen am Anfang der Gründung von WORLD REVOLUTION in Großbritannien und sollten auch einen großen Einfluß auf Gruppen wie WORKERS' VOICE und REVOLUTIONARY PERSPECTIVES haben. In Belgien schlossen sich unter dem direkten Einfluß von RI (und dann der IKS) drei Gruppen zusammen, um INTERNATIONALISME zu gründen; ebenso bildeten sich in Italien und Spanien auf der Grundlage der Kohärenz von RI RIVOLUZIONE INTERNAZIONALE und ACCION PROLETARIA.
Der Appell von INTERNATIONALISM (USA) zur Gründung eines internationalen Netzwerkes von Kontakten zwischen den bestehenden proletarischen Gruppen half die theoretische und politische Klärung zu beschleunigen. In dieser Dynamik wurde 1974 eine internationale Konferenz abgehalten, die der Vorbote der Gründung der IKS 1975 war und sie vorbereitete. Es schlossen sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Plattform zusammen: INTERNACIONALISMO (Venezuela), REVOLUTION INTERNATIONALE (Frankreich), INTERNATIONALISM (USA), WORLD REVOLUTION (Großbritannien), INTERNATIONALISME (Belgien), ACCION PROLETARIA (Spanien), RIVOLUZIONE INTERNAZIONALE (Italien). In sieben Ländern existierend, die anarcho-rätekommunistischen Auffassungen ablehnend, die den Einfluß des Lokalismus kaum verhüllten, sollte die IKS auf einer international zentralisierten Grundlage funktionieren - nach dem Abbild der Arbeiterklasse, die keine besonderen Interessen in Abhängigkeit des Landes hat, in dem sie sich vorfindet.


Der Zerfall des Linksextremismus und die Entwicklung der IKP (Programm)

Die Welle des Klassenkampfes, die 1968 explosionsartig einsetzt hatte, verlangsamte sich Anfang der 70er Jahre. Die herrschende Klasse, zunächst überrascht von den Entwicklungen, reorganisierte ihren Apparat der politischen Mystifizierung, um der Arbeiterklasse wirksamer entgegenzutreten. Diese Wendung in der Lage, die zur Auflösung des rätekommunistischen Milieus führte, was sich an ihrem Immediatismus zeigte, verursachte auch gewisse Auflösungserscheinungen unter den maoistischen und trotzkistischen Gruppen. Letztere wurden durch etliche Spaltungen erschüttert, von denen einige versuchten, sich in Richtung revolutionärer Positionen zu bewegen. Doch schwer gezeichnet von ihrer Vergangenheit, waren sie unfähig, sich wirklich ins proletarische Milieu zu integrieren. So geschah es mit den beiden Abspaltungen von LUTTE OUVRIERE in Frankreich, UNION OUVRIERE und COMBAT COMMUNISTE. Die erstgenannte machte, nachdem sie anfangs vom FOR beeinflußt gewesen war, eine rasante Reise quer durch das proletarische Milieu, um sich schlußendlich im Modernismus zu verflüchtigen, während die zweite sich von Natur aus als unfähig erwies, um mit dem "radikalen" Trotzkismus zu brechen.
Diese Dynamik, in der eine Reihe von Elementen, mehr demoralisiert als politisch geläutert, aus den Gruppen des Linksextremismus hervorkamen, sollte sich mit dem Rückgang des Klassenkampfes Mitte der 70er Jahre intensivieren. Vor diesem Hintergrund durchlief die IKP (Programma Comunista) eine gewisse Entwicklung. Nachdem sie den Klassenkampf Ende der 60er fast völlig verpaßt hatte, erwachte die bordigistische IKP Anfang der 70er Jahre aus ihrer Erstarrung, behandelte jedoch das sich formierende politische Milieu mit arroganter Verachtung, während sie gleichzeitig eine opportunistische Rekrutierungspolitik gegenüber jenen Elementen begann, die nicht vollständig mit dem Linksextremismus gebrochen hatten. Auf der Grundlage falscher Positionen in solch wichtigen Fragen wie die nationale und die Gewerkschaftsfrage schlug die IKP während der 70er Jahre einen immer opportunistischeren Kurs ein. Sie unterstützte die nationale Befreiung in Angola, den Terror der Roten Khmer in Kambodscha und die "palästinensische Revolution". Und je mehr sich das linksextremistische Geschwür in ihr ausbreitete, desto aufgeblasener wurde die IKP.
Ende der 70er Jahre war die IKP (Programma) die wichtigste Gruppe innerhalb des proletarischen politischen Milieus. Doch wenn die IKP damals der vorherrschende Pol im politischen Milieu war, dann nicht nur wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer wirklich internationalen Existenz. Der Rückfluß des Klassenkampfes verstärkte die Zweifel an den revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse und verschuf den substitutionistischen Auffassungen der Partei eine neue Anziehungskraft, die sich auch in Reaktion auf das offenkundige Scheitern der organisationsfeindlichen Auffassungen der Rätekommunisten entwickelt hatten. Der Bordigismus, der die Partei als das Allheilmittel gegen all die Schwierigkeiten einer Klasse theoretisiert, die als im wesentlichen trade-unionistisch dargestellt wird sowie angeführt und organisiert werden müsse, so wie eine Armee von einem Generalstab organisiert wird - dieser Bordigismus genoss ein wiedererwachtes Interesse, von dem die IKP profitierte. Doch abgesehen von der IKP sollte sich das gesamte politische Milieu rund um die absolut notwendige Debatte über Rolle und Aufgaben der kommunistischen Partei polarisieren.


Das Gewicht des Sektierertums

Doch wenn die IKP (Programma) die größte Organisation des proletarischen Milieus in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war, so war sie mitnichten das Ergebnis einer Dynamik zur Klärung und Umgruppierung. Im Gegenteil: ihre Ausdehnung fand auf der Grundlage eines wachsenden Opportunismus und eines Sektierertums statt, das permanent theoretisiert wurde. Die IKP betrachtete sich als die einzige bestehende proletarische Organisation und verweigerte die Diskussion mit anderen Gruppen. Die Entwicklung der bordigistischen IKP war nicht ein Ausdruck der Stärke der Klasse, sondern ihrer vorübergehenden Schwächung, hervorgerufen durch den Rückgang der Streiks. Leider beschränkte sich das Sektierertum nicht nur auf die IKP Bordigas, obgleich sie ihn bis ins Absurde theoretisiert hatte. Es lastete auf dem gesamten proletarischen Milieu und drückte seine Unreife aus. Dies findet insbesondere seinen Ausdruck in:

  • der Tendenz einiger Gruppen, zu glauben, allein auf der Welt zu sein, und das Vorhandensein eines politischen, proletarischen Milieus zu leugnen. Wie die IKP entwickelten zahllose Sekten in der bordigistischen Tradition diese Haltung;
  • einer Tendenz, besorgter darum zu sein, sich in zweitrangigen Punkten abzugrenzen,um die eigene Existenz zu rechtfertigen, statt sich der Konfrontation mit dem politischen Milieu zu stellen, um den Klärungsprozeß voranzubringen. Diese Haltung ging in der Regel einher mit einer tiefgreifenden Unterschätzung der Bedeutung des proletarischen Milieus und der Debatten, die es animierte. Ein Beispiel hierfür war die Art und Weise, wie REVOLUTIONARY PERSPECTIVES (RP) einen Rückzieher auf dem Weg zur Umgruppierung mit WORLD REVOLUTION in Großbritannien 1973 machte. RP argumentierte, daß es eine "fundamentale"  Divergenz gebe: Laut RP war die bolschewistische Partei nach 1921 nicht mehr proletarisch. Die "Fixierung" von RP auf diese Frage war nur ein Vorwand. Dies zeigte sich einige Jahre später, als RP (nun in Gestalt der CWO) diese Position aufgab. Doch zog sie nie die Konsequenzen aus dem vorherigen Scheitern der Umgruppierung in Großbritannien;
  • einer Tendenz zu verfrühten und vorzeitigen Spaltungen, wie die Abspaltung der PIC, die 1973 aus aktivistischen und immediatistischen Gründen aus RI austrat und bald darauf eine rätekommunistische Richtung einschlagen sollte. Allerdings waren nicht alle Spaltungen grundlos. So war die Abspaltung der GCl  1978 von der IKS insofern gerechtfertigt, als die Genossen, die die GCI (11) bilden sollten, mit der Kohärenz der IKS in solch fundamentalen Fragen wie die Rolle der Partei und das Wesen der Klassengewalt gebrochen und im Kern bordigistische Positionen bezogen hatten. Dennoch bringt diese Spaltung auch das Gewicht des Sektierertums zum Ausdruck, griff die GCI doch auf eine ganze Reihe der sektierischen Konzeptionen des PCI zurück;
  • einer Tendenz zum Sektierertum, die paradoxerweise in den Umgruppierungsversuchen zum Ausdruck kam, die die Bemühungen der IKS nachäfften. So initiierte die PIC eine Reihe von äußerst konfusen Konferenzen, auf denen versucht wurde, Gruppen zusammenzubringen, die eher durch den Anarchismus denn durch revolutionäre Positionen geprägt waren. Die Fusion von WORKERS' VOICE und REVOLUTIONARY PESPECTIVES zur CWO (12) war, obwohl sie eine positive Bewegung in Richtung Umgruppierung ausdrückte, ebenfalls vom sektiererischen Verhalten geprägt, das die CWO trotz der Ähnlichkeit ihrer Positionen gegenüber der IKS an den Tag gelegt hatte.

Das Gewicht des Sektierertums innerhalb des politischen Milieus war das Resultat des Bruchs, der durch 50 Jahre der Konterrevolution, des Vergessens der Erfahrungen vergangener Revolutionäre in den Fragen der Umgruppierung und der Gründung der kommunistischen Partei hervorgerufen wurde - eine Situation, die sich in der zweiten Hälfte der 70er durch den Rückfluss des Klassenkampfes noch verschärfte. Doch weil das politische Milieu keine automatische Widerspiegelung des Klassenkampfes ist, sondern der Ausdruck eines bewußten Willens, gegen die Schwächen in der Klasse anzukämpfen, ist die Entschlossenheit der verschiedenen Gruppen des Milieus, sich mit der Aussicht auf die Umgruppierung revolutionärer Kräfte  auf einen Klärungsprozeß einzulassen, ein konkretes Maß ihrer politischen Klarheit über die erhebliche Verantwortlichkeit, derer sich die Revolutionäre in der gegenwärtigen revolutionären Periode gegenübersehen.
Unter diesen Umständen markierte der Aufruf von BC zur Einberufung von Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linken nach einer langen Zeit der äußersten Verschwiegenheit einen positiven Schritt für das gesamte Milieu, das mit dem vorübergehenden Rückgang des Klassenkampfes schwer unter den Auswirkungen von Sektierertum und Zersplitterung gelitten hatte.
Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir die weitere Entwicklung des politischen Milieus Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre verfolgen. Es war eine Zeit, die sich durch das Abhalten von Konferenzen und deren Scheitern auszeichnete, durch die Krise, die diese Situation im Milieu bewirkte, und den daraus resultierenden, brutalen Klärvorgang, insbesondere durch das Auseinanderbrechen der IKP. Wir werden anschließend untersuchen, wie das Milieu auf die Entwicklung einer neuen Welle von Kämpfen ab 1983 und auf die Aufgaben reagierte, die auf die Revolutionäre warteten.

JJ.  7.März 1988


(1) Eine Vorbemerkung: natürlich können wir im Rahmen dieses Artikels nicht den Werdegang und die Positionen aller in diesem Artikel erwähnten Gruppen umreißen. Viele Gruppen sind mittlerweile auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Deshalb beschränken wir uns auf die Gruppen aus der linkskommunistischen Tradition und auf jene, die noch existieren.
(2) "Spartakusbond", siehe IR Nr. 38,39. Über die "Holländischen Linke" siehe IR: 30, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 52.
(3) "Partito Comunista Internazionalista", 1945 gegründet, veröffentlicht BATTAGLIA COMUNISTA und PROMETEO. Siehe zum Beispiel IR: 36,40,41. Adresse: PROMETEO, Casella Postale 1753, 20100 Milano, Italien
(4) "Parti Communiste Internationale", Abspaltung von PCInt 1952, veröffentlichte auf Französisch LE PROLETAIRE und PROGRAMME COMMUNISTE und in den 70er Jahren auch auf Deutsch "Kommunistisches Programm" und "Der Proletarier", siehe u.a. IR 32,33,34,36, auch deutsche Ausgabe IR 3.
(5)) BILAN, Zeitschrift der "italienischen Linken", 1928 gegründet, veröffentlicht von 1933-38, siehe die Broschüre der IKS zur Italienischen Linken, u.a. IR, Nr. 47
(6) INTERNATIONALISME, Zeitschrift der Kommunistischen Linken Frankreichs, 1945-52. Siehe die Neuveröffentlichung von Artikeln in der IR. Siehe auch: Die Kommunistische Linke Italiens.
(7) "Ferment Ouvrier Revolutionnaire", die ALARME publiziert. BP 329, 75624 Paris Cedex 13. Siehe IR, Nr. 52
(8) Zum "Modernismus" siehe div. Artikel in WELTREVOLUTION.
(9) Zum "Rätekommunismus" siehe "Internationale Revue", Sonderausgabe zur Organisationsfrage.
(10) Siehe IR-Sonderausgabe zur Organisationsfrage.
(11) GCI, BP 54, BCL, 31 Bruxelles, Belgien, siehe dazu Artikel in dieser IR.
(12) CWO, PO Box 145, Head Post Office, Glasgow, GB, siehe IR: 39,40,41.

 


Die Entwicklung des proletarischen politischen Milieus 1968-1977 (Teil 2)

 

Mitte der 70er Jahre war das politische proletarische Milieu zwischen zwei Strömungen polarisiert, die das Ergebnis der karikaturartigen Theoretisierung der Schwächen (und nicht der Stärken) der Fraktionen der italienischen und deutsch-holländischen Linken waren - besonders hinsichtlich einer Frage, die für ein nach Jahrzehnten der Verbannung von der historischen Bühne wiederauftauchendes Milieu entscheidend war: die Organisationsfrage. Auf der einen Seite gab es die rätekommunistische Strömung, die dazu tendierte, die Notwendigkeit der Organisation abzulehnen, und auf der anderen Seite die bordigistische Strömung, repräsentiert insbesondere durch die die IKP (Programm), die die Partei zum Allheilmittel für die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse machte. Die Rätekommunisten hatten ihre Sternstunde in den Wirren der Ereignisse von '68 und den nachfolgenden Jahren, aber mit dem Zurückweichen des Klassenkampfes Mitte der 70er Jahre bekamen sie es mit allen möglichen Problemen zu tun. Dagegen stieß die bordigistische Strömung, die in der Zeit sich entwickelnder Kämpfe so auffällig zurückhaltend gewesen war, mit dem Abebben der Kämpfe auf ein größeres Echo, insbesondere unter jenen Elementen, die vom Linksextremismus herkamen. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre brach der rätekommunstische Pol zusammen, während die IKP (Programm) sich arrogant nach vorne drängte: sie war die Partei, und außerhalb ihrer existierte nichts.
Das politische proletarische Milieu war äußerst zersplittert und gespalten. Die Frage, die sich ihm mit wachsender Dringlichkeit stellte - eine Frage, die eng mit der Organisationsfrage verknüpft ist -, war die Notwendigkeit, Kontakte zwischen den existierenden Gruppen auf der Grundlage einer revolutionären Kohärenz zu knüpfen, um den Klärungsprozeß zu beschleunigen, der für die Umgruppierung revolutionärer Kräfte unverzichtbar ist. In Kontinuität mit der Arbeit von REVOLUTION INTERNATIONALE zeigte die IKS 1974/75 das weitere Vorgehen; das Manifest, das sie 1976 veröffentlichte, war ein Appell an die gesamte proletarische Bewegung, in diesem Geist tätig zu werden:
"Mit ihren noch immer bescheidenen Mitteln hat sich die Internationale Kommunistische Strömung der langwierigen und schweren Arbeit der Umgruppierung der Revolutionäre auf Weltebene um ein klares und kohärentes Programm verpflichtet. Dem Monolithismus der Sekten den Rücken zukehrend, ruft sie die Kommunisten aller Länder auf, sich der ungeheuren Verantwortung bewußt zu werden, die auf ihnen lastet, die falschen Streitereien aufzugeben und die künstlichen Spaltungen zu überwinden, die die alte Gesellschaft ihnen aufgezwungen hat. Die IKS ruft sie auf, sich diesen Bemühungen anzuschließen, um vor den entscheidenden Kämpfen die internationale, vereinigte Organisation der Avantgarde zu konstituieren.
Als bewußteste Fraktion der Klasse müssen die Kommunisten ihr das weitere Vorgehen zeigen, indem sie sich die Losung 'Revolutionäre aller Länder, vereinigt Euch!' zu eigen machen"
(Manifest der IKS).
Vor diesem Hintergrund eines im Umbruch  und in der Klärung befindlichen politischen Milieus, das tief gezeichnet war durch Zersplitterung und Sektierertum, lud BATTAGLIA COMUNISTA zu einer internationalen Konferenz von Gruppen der kommunistischen Linken ein.(1)
1972 hatte sich BATTAGLIA COMUNISTA geweigert, sich dem Aufruf von INTERNATIONALISM (USA) anzuschließen, das den Aufbau einer internationalen Korrespondenz mit der Perspektive einer internationalen Konferenz vorgeschlagen hatte, ein Appell, der die Dynamik in Gang gesetzt hatte, die 1975 zur Formierung der IKS führte. Damals, im Nachgang von 1968, antwortete BC, daß:

  • "man kann nicht in Betracht ziehen kann, daß es eine reale Weiterentwicklung des Klassenbewußtseins gab,
  • selbst das Aufblühen von Gruppen nur die Malaise und die Revolte der Kleinbourgeoisie zum Ausdruck bringt,
  • wir uns eingestehen müssen, daß die Welt noch unter der Knute des Imperialismus steht".

Was führte zur nachfolgenden Verhaltensänderung? Eine grundlegende Frage für BC: die "Sozialdemokratisierung" der stalinistischen KPs! BC nahm die "eurokommunistische" Wende der KPs, eine rein konjunkturelle "Wende" Mitte der 70er Jahre, wie wir jetzt im Nachhinein sehen können, als einen Grund für ihre neue Haltung gegenüber dem politischen Milieu. Um über diese grundlegende Frage zu diskutieren, schlug BC die Einberufung einer Konferenz vor. Darüber hinaus gab es kein einziges politischen Kriterium für die Definierung des proletarischen Milieus im Einladungsschreiben von BC, und BC schloß von dieser Einladung alle Organisationen des proletarischen Milieus in Italien aus, so z.B. die IKP (Programma Comunista) oder Il Partito Comunista. Trotz der Orientierung auf die Abhaltung von Konferenzen wollte Battaglia "Herr im eigenen Haus" bleiben.
Dennoch reagierte die IKS trotz dieses Mangels an Klarheit im Aufruf, in Übereinstimmung mit den Orientierungen, die sie in ihrer eigenen Geschichte verkörperte und nochmals bekräftigt im Manifest, das Januar 1976 veröffentlicht wurde, positiv auf diesen Aufruf und zog mit BC an einem Strang, um diese Konferenz zu fördern, indem sie politische Kriterien vorschlug, die die Organisationen des proletarischen Milieus von jenen der Bourgeoisie abgrenzten; indem sie appellierte, den Aufruf auch an die Gruppen zu richten, die BC "vergessen" hatte; indem sie diese Konferenz innerhalb einer Dynamik in Richtung einer politischen Klärung innerhalb des kommunistischen Milieus verortete, dem notwendigen Schritt zur Umgruppierung der Revolutionäre.


DIE DYNAMIK DER INTERNATIONALEN KONFERENZEN DER GRUPPEN DER KOMMUNISTISCHEN LINKEN

Die erste Konferenz (4)

Mehrere Gruppen stimmten dem Aufruf von BC prinzipiell zu: der FOR (Fomento Obrero Revolucionario) aus Frankreich und Spanien, ARBETAMAKT aus Schweden, die CWO aus Großbritannien (5), die PIC aus Frankreich. Aber es blieb bei einer rein verbalen Zustimmung; allein die IKS nahm neben BC aktiv an der ersten Konferenz teil, während alle anderen unter Berufung auf mehr oder weniger berechtigte Gründe - welche aber alle eine Unterschätzung der Bedeutung der Konferenzen widerspiegelten - durch ihre Abwesenheit glänzten.
Was die Apostel des Rätekommunismus und des Bordigismus - SPARTAKUSBOND (Holland) und die IKP (Program) (6) - anbelangt, so waren sie nicht interessiert an solchen Konferenzen und suchten Zuflucht in einer splendid isolation des Sektierertums.
Aber: obwohl faktisch nur zwei Organisationen (BC und IKS) an dieser ersten Konferenz  teilnahmen (was die traurige Realität des vorherrschenden Sektierertums widerspiegelte), war sie ein großer Schritt nach vorn für das gesamte proletarische Milieu.
Weit entfernt davon, eine geschlossene Debatte zwischen zwei Organisationen zu sein, demonstrierte diese erste Konferenz dem gesamten proletarischen Milieu, daß es möglich war, einen Rahmen für die Konfrontation und Klärung von divergierenden Positionen zu schaffen. Die Bedeutung der debattierten Fragen beweist dies zu Genüge:

  • die Analyse der Wirtschaftskrise und der Entwicklung des Klassenkampfes,
  • die konterrevolutionäre Funktion der sog. "Arbeiterparteien", SPs und KPs, sowie ihrer linksextremistischen Anhängsel,
  • die Rolle der Gewerkschaften,
  • das Problem der Partei,
  • die gegenwärtigen Aufgaben der Revolutionäre,
  • Schlußfolgerungen zur Bedeutung dieses Treffens.

Jedoch bestand eine große Schwäche dieser und der nachfolgenden Konferenz in der Unfähigkeit, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Debatten zu veröffentlichen, die stattgefunden haben. So wurde der Entwurf einer gemeinsamen Erklärung, der von der IKS vorgeschlagen wurde und der die deutlich gewordenen Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten, namentlich in der Gewerkschaftsfrage, zusammenfaßte, von BC ohne einen alternativen Vorschlag abgelehnt.
Die Veröffentlichung der Konferenztexte, Beiträge und der Diskussionsprotokolle in zwei Sprachen (italienisch und französisch) stieß im proletarischen Milieu auf ein großes Interesse und verlieh der durch die erste Konferenz angeregten Dynamik einen weiteren Auftrieb.
Dies sollte sich anderthalb Jahre später, Ende 1978, konkretisieren, als die zweite Konferenz abgehalten wurde.


Die zweite Konferenz (7)

Diese Konferenz war besser vorbereitet und organisiert als die erste, sowohl in politischer wie in organisatorischer Hinsicht. So folgte die Einladung präziseren politischen Kriterien:

  • "Anerkennung der Oktoberrevolution als eine proletarische Revolution,
  • Anerkennung des Bruchs mit der Sozialdemokratie, der durch den I.und II. Kongreß der Kommunistischen Internationalen vollzogen wurde,
  • uneingeschränkte Ablehnung des Staatskapitalismus und der Selbstverwaltung,
  • Ablehnung aller Kommunistischen und Sozialistischen Parteien als bürgerliche Parteien,
  • Orientierung in Richtung einer Organisation von Revolutionären, die sich auf die marxistische Doktrin und Methodologie als Wissenschaft des Proletariats bezieht".

Diese Kriterien - die gewiss unzureichend sind für die Erstellung einer politischen Plattform für eine Umgruppierung und deren letzter Punkt sicherlich präzisiert werden muß - reichen jedoch völlig aus, um das proletarische Milieu abzugrenzen und den Rahmen für eine fruchtbare Diskussion zu entwickeln.
An den Debatten der zweiten Konferenz, die November 1978 abgehalten wurde, nahmen fünf proletarische Organisationen teil: die IKP (Battaglia Comunista) aus Italien, die CWO aus Großbritannien, der NUCLEO COMUNISTA INTERNAZIONALISTA aus Italien, FOR KOMUNISMEN aus Schweden und die IKS, die seinerzeit Sektionen in neun Ländern hatte. Die Gruppe IL LENINISTA schickte Textbeiträge zur Konferenz, ohne selbst physisch präsent sein zu können, und ARBETAMAKT aus Schweden und die OCRIA aus Frankreich erklärten ihre rein verbale Unterstützung der Konferenz. Der FOR war ein etwas besonderer Fall. Nachdem er der ersten Konferenz seine volle Unterstützung angediehen sowie Texte für die zweite geliefert hatte und selbst erschienen war, um teilzunehmen, führte er zu Konferenzbeginn ein Schauspiel auf: unter dem Vorwand, nicht mit der Tagesordnung einverstanden zu sein, weil sie einen Punkt über die Wirtschaftskrise enthielt, deren Existenz er in surrealistischer Manier leugnet, verschaffte er sich einen spektakulären Abgang. Was die Epigonen des Rätekommunismus und des Bordigismus angeht,  so hielten sie ihre ablehnende Haltung gegenüber den Konferenzen aufrecht: der SPARTAKUSBOND aus Holland, imitiert von der PCI in Frankreich, weil er die Notwendigkeit der Partei verneinte, die PCIs (Programm und II Partito Comunista in Italien), weil sie alle sich selbst als einzig bestehende Partei betrachteten und somit außer ihr keine andere proletarische Organisation bestehen konnte.
Die Tagesordnung der Konferenz spiegelt den militanten Geist wider, der von ihr animiert wurde:

  • die Entwicklung der Krise und der Perspektiven, die sie dem Kampf eröffnet,
  • die Position der Kommunisten gegenüber den sog. nationalen "Befreiungsbewegungen",
  • die Aufgaben der Revolutionäre in der gegenwärtigen Periode.

Die zweite internationale Konferenz der Gruppen der kommunistischen Linken wurde ein Erfolg, nicht nur weil es eine größere Zahl der teilnehmenden Gruppen gab, sondern auch weil sie es ermöglichte, die politischen Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen teilnehmenden Gruppen deutlicher zu umreißen. Indem die verschiedenen anwesenden Gruppen in die Lage versetzt wurden, sich besser kennenzulernen, bot die Konferenz einen Diskussionsrahmen, der es ermöglichte, falsche Debatten zu vermeiden und die Klärung der realen Divergenzen voranzutreiben. In diesem Sinne war die Konferenz ein Schritt vorwärts innerhalb der Perspektive einer Umgruppierung der Revolutionäre, die - obgleich nicht unmittelbar, kurzfristig in Aussicht - mit Sicherheit in Anbetracht der zersplitterten Lage des proletarischen Milieus nach Jahrzehnten der Konterrevolution auf der historischen Tagesordnung steht .
Jedoch lasteten die politischen Schwächen, unter denen das proletarische Milieu litt, auch schwer auf den Konferenzen. Das kam insbesondere im Unvermögen der Konferenzen zum Ausdruck, das Schweigen zu überwinden - d.h. die Fähigkeit der teilnehmenden Gruppen, zu einer kollektiven Position in den diskutierten Fragen zu gelangen, um herauszustellen, wo man in der Diskussion angelangt war. Die IKS schlug Resolutionen zu diesem Zweck vor, aber abgesehen vom NCI stieß sie damit bei den anderen anwesenden Organisationen und namentlich bei BC und CWO auf Ablehnung. Dieses Verhalten spiegelte das Klima des Mißtrauens wider, das das kommunistische Milieu befallen hat, selbst jene Teile, die am offensten für solch eine Konfrontation sind, und bremst den so dringend benötigten politischen Klärungsprozeß.
Unter diesen Umständen überraschte es nicht, daß der Vorschlag der IKS, über eine Resolution abzustimmen, die das Sektierertum der Gruppen kritisiert, welche sich weigerten, an den Konferenzen teilzunehmen, von den anderen Gruppen abgelehnt wurde. Offensichtlich hatte dies einen wunden Punkt berührt.
Diese Schwächen konkretisierten sich leider nach der zweiten Konferenz in den Polemiken, die BC und die CWO vom Stapel ließen und die die IKS ungeniert als "opportunistisch" bezeichneten sowie die Existenz eines Problems des Sektierertums leugneten. Ihnen zufolge war die Kritik am Sektierertum nur ein Mittel, um die bestehenden politischen Divergenzen zu leugnen. Diese Position von BC und CWO begreift nicht, daß das Sektierertum eine eigene politische Frage ist, weil sie eine wesentliche Frage aus den Augen verliert: die Rolle der Organisation in einem ihrer entscheidendsten Aspekte, nämlich in ihrem Wirken für die Umgruppierung der Revolutionäre. Indem die Gefahr des Sektierertums geleugnet wird, waren diese Gruppen schlecht gewappnet, um damit in den eigenen Reihen fertigzuwerden, was sich leider deutlich auf der dritten Konferenz manifestieren sollte.


Die dritte Konferenz (9)

Die dritte Konferenz fand im Frühjahr 1980 zu einem Zeitpunkt statt, als die Arbeiterkämpfe des vorherigen Jahres unter Beweis gestellt hatten, daß der Rückfluß der Arbeiterkämpfe Mitte der 70er Jahre gestoppt war; zu einer Zeit, als die Intervention der russischer Truppen in Afghanistan die Realität eines drohenden Weltkrieges aufzeigte, der schlaglichtartig die Verantwortung der Revolutionäre beleuchtete.
Neue Gruppen schlossen sich der Dynamik der Konferenzen an: der NUCLEI LENINISTI INTERNAZIONALISTA, der das Ergebnis der Fusion des NCI mit IL LENINISTA in Italien war, die schon mit der zweiten Konferenz assoziiert waren; die GROUPE COMMUNISTE INTERNATIONALISTE, die 1979 auf typisch bordigistische Art und Weise aus der IKS ausgetreten war, L'EVEIL INTERNATIONALISTE aus Frankreich, der aus einem Bruch mit dem sich nun in einem Zustand fortschreitenden Zerfalls befindlichen Maoismus herauskam, die MARXIST WORKERS' GROUP aus den USA, die sich der Konferenz anschloß, ohne sich an ihr direkt beteiligen zu können. Doch trotz eines wachsenden Echos, die die Konferenzen innerhalb des revolutionären Milieus hatten, scheiterte die dritte internationale Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken.
Der Aufruf der IKS an die Konferenz, vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan eine gemeinsame Resolution über die Gefahr des imperialistischen Krieges zu verabschieden, wurde von BC, CWO und, etwas später, L'EVEIL abgelehnt, denn obgleich die verschiedenen Gruppen eine gemeinsame Position zu dieser Frage hatten, wäre es ihnen zufolge "opportunistisch" gewesen, solche eine Resolution anzunehmen, weil "wir Differenzen in der Frage der Rolle der revolutionären Partei von morgen haben". Die Logik dieser brillianten, "nicht-opportunistischen" Argumentationsweise lautete also: wenn revolutionären Organisationen sich nicht über alle Fragen einigen können, dann dürfen sie auch nicht über jene sprechen, in denen sie sich schon seit langem einig sind. Die Besonderheiten jeder Gruppe überwiegen aus Prinzipiengründen das, was alle Gruppen gemeinsam vertreten. Und genau dies ist es, was wir mit Sektierertum meinen. Das Schweigen, der Mangel an jeglicher kollektiven Stellungnahme der Gruppen auf den drei Konferenzen waren die klarste Demonstration der Hilflosigkeit, in die das Sektierertum führt.
Zwei Debatten standen auf der dritten Konferenz auf der Tagesordnung:

  • An welchem Punkt ist die Krise des Kapitalismus angelangt und welche Perspektiven leiten sich daraus ab?
  • Perspektiven für eine Entwicklung des Klassenkampfes und die daraus resultierenden Aufgaben für die Revolutionäre.

Die Debatte über den zweiten Tagesordnungspunkt leitete eine Diskussion über die Rolle der Partei ein, die einer der Punkte gewesen war, die auf der zweiten Konferenz diskutiert wurden. Diese Frage ist eine der schwierigsten und wichtigsten, vor denen die heutigen revolutionären Gruppen stehen, insbesondere in Hinblick auf die Würdigung einer historischen Erfahrung, die seit Russischen Revolution (und durch sie) gesammelt worden war.
Und dennoch weigerten sich BC und die CWO aus Ungeduld, aus Angst oder (und dies ist leider am wahrscheinlichsten) aus jämmerlicher opportunistischer Taktik - auch wenn sie selbst auf den vorhergehenden Konferenz erklärt hatten, daß diese Frage "lange Diskussionen erfordert" -, die Debatte über die Parteifrage fortzusetzen. Die "spontaneistischen" Konzeptionen der IKS als Vorwand benutzend, erklärten sie die Frage für geschlossen und machten ihre Position zu einem Teilnahmekriterium für die Konferenzen, wodurch sie den Ausschluß der IKS und damit auch die Auflösung der Konferenzen provozierten. Indem sie die Dynamik zerschlugen, die es ermöglicht hatte, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Teilen des proletarischen Milieus wiederherzustellen und das gesamte Milieu in die Richtung einer Klärung zu drängen, die für die Umgruppierung der revolutionären Kräfte erforderlich ist, trugen die CWO und BC eine große Verantwortung für die  Verfestigung der Schwierigkeiten für das Milieu als unvermeidliches Resultat aus alledem.
Die CWO und BC zeigten also die gleiche Verantwortungslosigkeit wie die GCI, die sich an der dritten Konferenz nur beteiligt hatte, um das Prinzip einer Konferenz schlechthin anzuprangern und schamlos um neue Mitglieder zu buhlen.
Der Ausbruch des Massenstreiks in Polen drei Monate nach dem Scheitern der Konferenz beleuchtete schlaglichtartig die Verantwortungslosigkeit dieser Gruppen, die zu glauben scheinen, daß sie nur im Verhältnis zu ihrem eigenen Ego existieren, und die dabei vergessen, daß die Arbeiterklasse sie für die Verwirklichung der Bedürfnisse der Klasse hervorgebracht hat. Diese "kompromißlosen" Parteivertreter vergessen, daß es nicht die Aufgabe dieser Partei ist, sich in sektiererischer Manier auf sich selbst zu beziehen, sondern im Gegenteil den Willen zur politischen Auseinandersetzung zu zeigen, damit der Klärungsprozeß innerhalb des proletarischen Milieus beschleunigt und so ihre Fähigkeit zur Intervention in der Klasse gestärkt wird.
Die vierte (Pseudo-)Konferenz, die 1982 stattfand, hatte nichts mehr mit der Dynamik zu tun, die die ersten drei geprägt hat. Die CWO und BC hatten einen Dritten im Bunde gefunden, die UCM, die spätere "Kommunistische Partei des Iran". Diese nationalistische Gruppe, die sich nur unzureichend vom Stalinismus gelöst hatte, war sicherlich ein fundierterer Gesprächspartner für BC und die CWO als die IKS - möglicherweise weil sie eine "korrekte" Position über die Partei vertrat, anders als die IKS? Das Sektierertum ist ein Wechselbalg: es führt zum plattesten Opportunismus und schließlich zur Aufgabe von Prinzipien.


Die Bilanz der Konferenzen

Die erste Errungenschaft der Konferenzen besteht darin, daß sie überhaupt stattgefunden haben.
Die internationalen Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linken waren besonders bedeutende Momente in der Entwicklung eines internationalen proletarischen politischen Milieus, das nach 1968 entstanden war. Sie ermöglichten es, einen Diskussionsrahmen zwischen den verschiedenen Gruppen zu schaffen, die sich direkt an ihrer Dynamik beteiligten, und führten so zu einer positiven Klärung der Debatten, die das Milieu als Ganzes animierten und einen politischen Bezugspunkt für alle Organisationen und Individuen anboten, die auf der Suche nach einer politischen Kohärenz waren. Die Bulletins, die nach jeder Konferenz in drei Sprachen veröffentlicht wurden und etliche schriftliche Beiträge sowie die Protokolle aller Diskussionen enthielten, bleiben eine unverzichtbare Referenz für all die Gruppen und Individuen, die seitdem revolutionäre Positionen angenommen haben.
In diesem Sinne stellten diese Konferenzen trotz ihres letztendlichen Scheiterns einen eminent fruchtbaren Moment in der Entwicklung eines proletarischen politischen Milieus dar, dank derer die verschiedenen Gruppen sich besser kennenlernen und einen Rahmen schaffen konnten, der einen positiven Klärungsprozeß möglich machte, welcher sich in der Entwicklung einer Dynamik zur Umgruppierung konkretisierte. (So nahm diese Dynamik innerhalb der Konferenzen Gestalt an in der Fusion von NCI und IL LENINISTA zu NLI; in der Aussiebung von Elementen von ARBETAMAKT und aus der Mehrheit der Gruppe FUR KOMMUNISMEN in Schweden, die sich auf die IKS zubewegten und später ihre Sektion in diesem Land gründeten; in der Annäherung zwischen BC und CWO, die sich später zusammentaten, um das INTERNATIONALE BÜRO FÜR DIE REVOLUTIONÄRE PARTEI zu gründen.)
Die positive Rolle der Konferenzen und das wachsende Echo, das sie fanden, manifestierte sich nicht nur in der steigenden Zahl der teilnehmenden Gruppen. Sie zeigten allen Gruppen im Milieu auch den Wert solcher Treffen an und  gaben ein Beispiel, wie dabei vorzugehen ist. Die Konferenz von Oslo im September 1977, an der skandinavische Gruppen und auch die IKS teilnahmen, war ein Beweis dafür;  auch wenn sie auf einer weitaus vageren Grundlage abgehalten wurde, drückte sie ein Bedürfnis innerhalb des internationalen proletarischen Milieu aus.
Doch mit dem Rückfluß ließ sich der positive Beitrag der Konferenzen am klarsten an der Lücke, die ihr Verschwinden hinterließ, und an der Krise des politischen Milieus ablesen, die dem Scheitern der dritten Konferenz folgte.


DIE KRISE DES PROLETARISCHEN POLITISCHEN MILIEUS

Zur gleichen Zeit, als die Konferenzen stattfanden, war das politische Milieu von einem zweifachen Phänomen geprägt: einerseits vom Zusammenbruch der rätekommunistischen Strömung, die zu Anfang des Jahrzehnts ein dominierender Pol gewesen war, und andererseits von der Entwicklung der IKP (Programm) zur größten Organisation des proletarischen Milieus.


Die politische Degeneration der bordigistischen IKP

Wenn die IKP (Programm) zur entwickeltsten Organisation des politischen Milieus wurde, dann nicht nur aufgrund ihrer internationalen Präsenz in einer Reihe von Ländern (Italien, Frankreich, Schweiz, Spanien mit Veröffentlichungen auf Französisch, Englisch, Spanisch, Arabisch, Deutsch), sondern auch aufgrund ihrer politischen Positionen, die in einer Zeit des Rückgangs im Klassenkampf nicht nur bei jenen auf offene Ohren stießen, die vom Zerfall des Linksextremismus produziert wurden, sondern auch innerhalb des schon bestehenden proletarischen Milieus. Die Unfähigkeit des "Rätekommunismus", dem Rückzug des Klassenkampfes zu trotzen, war eine konkrete Demonstration des Bankrotts, in den man stürzt, wenn man die Notwendigkeit für eine politische Partei der Arbeiterklasse ablehnt. Das Beharren der IKP auf die Notwendigkeit der Partei ist völlig korrekt. Doch sie hatte eine gänzlich karikaturhafte, "substitutionistische" Auffassung, derzufolge die Partei alles und die Klasse gar nichts war. Dieses Konzept wurde in den dunkelsten Jahren der Konterrevolution nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebrütet, als die ausgeblutete Arbeiterklasse so verblendet wie nie zuvor war; es war faktisch die Theoretisierung der Schwäche des Proletariats. Die Partei wurde als das Allheilmittel für all die Schwierigkeiten des Klassenkampfes dargestellt. In einer Zeit, in der sich der Kampf auf dem Rückzug befand, spiegelte das wachsende Echo, auf die die IKP-Position in der Parteifrage stieß, die Zweifel an der Arbeiterklasse wider. Diese Zweifel an den revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse sollten im wachsenden opportunistischen Abgleiten der IKP einen unübersehbaren Ausdruck finden. Da die Arbeiter der entwickelten Länder angeblich von den Dividenden des Imperialismus profitierten, die ihnen als Prämie für ihre Passivität ausgezahlt würden, erblickte die IKP eine Weiterentwicklung des revolutionären Potentials lediglich in der Peripherie des Kapitalismus, in den sog. "nationalen Befreiungskämpfen". Diese nationalistischen Neigungen verleiteten die IKP dazu, den Terror der Roten Khmer in Kambodscha, die nationalistischen Kämpfe in Angola und die "palästinensische Revolution" (zusammen mit der PLO) zu unterstützen, während in Frankreich zum Beispiel die Priorität, die die IKP den Kämpfen der "Gastarbeiter" einräumte, dazu tendierte, das Gewicht der nationalistischen Illusionen zu verstärken. Die falschen Konzeptionen des Bordigismus zur Frage der Partei, zur nationalen Frage, aber auch zur Gewerkschaftsfrage öffneten der Penetration durch die herrschende Ideologie Tür und Tor, der die IKP gerade verfällt. Die Weiterentwicklung des Bordigismus zum politischen Hauptpol innerhalb des proletarischen Milieus war der Ausdruck und die Theoretisierung des zurückweichenden Klassenkampfes. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, daß die IKP (Programm), die lieber den bürgerlichen Linksextremisten die Tür öffnet, statt mit dem revolutionären kommunistischen Milieu zu diskutieren, den Preis für diese Haltung zu zahlen hatte, nämlich mit einer beschleunigten politischen Degeneration, mit einer Aufgabe der Prinzipien selbst, die bei ihrer Entstehung noch Pate gestanden hatten.


Die Debatten innerhalb des proletarischen Milieus zu Beginn der 80er Jahre

Wenn die IKP (Programm) ihre Positionen bis zur Karikatur vorantrieb, so waren die abwegigen Ansichten, die ihnen zugrundelagen und die von den Streitfragen in der Dritten Internationalen stammten, auch in den allgemeinen Konzeptionen anderer Gruppen vorhanden (auch wenn sie nicht dasselbe Ausmaß an Abwegigkeit erreichten). Das trifft insbesondere auf jene zu, die, wie die IKP Bordigas, ihren Ursprung in unterschiedlichem Maße in dem PARTITO COMUNISTA INTERNAZIONALISTA haben, der hauptsächlich in Italien nach dem Zweiten imperialistischen Weltkrieg gegründet wurde: z.B. der PCInt (Battaglia), der der Fortsetzer mit den klarsten revolutionären Prinzipien ist; der PCI (Il Partito), der sich von KOMMUNISTISCHES PROGRAMM 1973 loslöste, oder der NCI.
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Debatten auf den Konferenzen sich um die gleichen grundlegenden Fragen drehten - die Partei, die Gewerkschaften, die nationale Frage -, denn sie waren die Fragen der Stunde, bestimmt von der Weltlage und der eigenen Geschichte des proletarischen Milieus. Auf den Konferenzen stand die NLI (NCI und IL Leninista) den bordigistischen Positionen am nächsten; BATTAGLIA machte Zugeständnisse in der nationalen und Gewerkschaftsfrage gegenüber diesen Konzepten. Hinsichtlich der Parteifrage haben wir gesehen, daß sie als ein Vorwand für die Sabotage der Dynamik der Konferenzen benutzt wurde, während die CWO im Verlaufe der Treffen eine Entwicklung durchschritt, die sie von einer der IKS sehr ähnlichen Plattform zu den Konzeptionen von BATTAGLIA führte.


Die Beschleunigung der Geschichte Anfang der 80er Jahre und der Klärungsprozess innerhalb des politischen Milieus

Nach dem Scheitern der Konferenzen sah sich Anfang der 80er Jahre ein zutiefst gespaltenes proletarisches Milieu mit einer mächtigen Beschleunigung der Geschichte konfrontiert. Diese war gekennzeichnet durch:

  • die internationale Entwicklung von Arbeiterkämpfen, die dem Rückfluß ein Ende setzten, welcher der Welle von Kämpfen nach 1968 gefolgt war, und die im Sommer 1980 ihren Höhepunkt erreichten - im Massenstreik von Polen, seiner brutalen Niederschlagung und damit einem weiteren Rückfluß des internationalen Klassenkampfes;
  • die Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Supermächten mit der russischen Intervention in Afghanistan und der intensiven Kriegspropaganda sowie der Beschleunigung des Rüstungswettlaufs;
  • die Vertiefung der Weltwirtschaftskrise; die Rezession in den USA 1982, die schlimmste seit den 30er Jahren, stürzte die ganze Weltwirtschaft in die Rezession.

Einigen Leuten mögen die Lehren der Geschichte entgangen sein, doch vor der Geschichte selbst gibt es kein Entkommen. Es kam zwangsläufig zu einem politischen Klärvorgang innerhalb des proletarischen Milieus; die historische Erfahrung fällte ihr Urteil.
Die Welle von Kämpfen, die Ende der 70er Jahre ausbrachen, warf konkret die Notwendigkeit für die Intervention der Revolutionäre auf.
Der Kampf der Stahlarbeiter in Lothringen und im Norden Frankreichs im Jahre 1979, der Streik der Stahlkocher in Großbritannien 1980 und schließlich der Massenstreik in Polen 1980 stießen alle auf einen radikalisierten Gewerkschaftsapparat, auf die Basisgewerkschafter. Die Kämpfe endeten in Sackgassen und Niederlagen; der Sieg Solidarnoscs stand für die Schwächung der Arbeiterklasse, die schließlich die Repression ermöglichte. Der Fehlschlag der internationalen Welle und der brutale Rückfluß, der ihr folgte, stellten das proletarische politische Milieu auf die Probe.
Während das Scheitern der Konferenz das proletarische Milieu um die Möglichkeit brachte, über einen Ort zu verfügen, wo die Konfrontation von politischen Positionen fortgesetzt werden konnte, drückte sich der Klärungsprozeß nicht in einer Dynamik in Richtung Umgruppierung aus. Im Gegenteil, mit der Beschleunigung der Geschichte fand die politische Selektion in einem Vakuum statt, durch das Ausbluten militanter Energien, die im Debakel von Organisationen gefangen sind, welche unfähig sind, auf die Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu antworten. Das proletarische politische Milieu war in eine Krisenphase eingetreten (10).


Die Frage der Intervention:
Die Unterschätzung der Rolle der Revolutionäre und des Klassenkampfes

Angesichts der Notwendigkeit zu intervenieren reagierte das proletarische Milieu auf zersplitterte Weise und legte dabei eine tiefe Unterschätzung der Rolle der Revolutionäre an den Tag. Die Interventionen der IKS in den Arbeiterkämpfen, insbesondere bei den Ereignissen in Denain und Longwy in Frankreich, gerieten in den Mittelpunkt der Kritik des gesamten proletarischen Milieus(11), hatten aber zumindest das Verdienst, daß sie überhaupt stattfanden. Abgesehen von der IKS glänzte das politische Milieu vor allem durch seine Abwesenheit in den Arbeiterkämpfen: die IKP (Programm) z.B., d.h. die größte Organisation, die sich in der vorausgegangenen Phase durch ihren Aktivismus hervorgetan hatte, konnte den Klassenkampf vor ihren Augen nicht erkennen. Hypnotisiert von ihren Träumen über Kämpfen von der sog. Dritten Welt, setzte sie ihr Abgleiten in das Gewerkschaftstum fort.
Die schwache Intervention des politischen Milieus brachte seine tiefgreifende Unterschätzung des Klassenkampfes zum Ausdruck, seine Unerfahrenheit und sein mangelndes Verständnis des Klassenkampfes. Besonders in der Gewerkschaftsfrage wurde dies deutlich, nicht nur durch die politischen Zugeständnisse gegenüber dem Gewerkschaftstum, die in unterschiedlichem Maße von den Gruppen  ausgedrückt wurden, die aus der PCInt von 1945 hervorgegangen waren, sondern auch durch die Neigung, die Bedeutung und den positiven Charakter der Kämpfe, die im Gange waren, zu ignorieren, schlicht und einfach weil sie nicht dem Gewerkschaftsgefängnis oder dem "ökonomischen" Terrain entkommen seien. So stimmten paradoxerweise die rätekommunistischen und jene aus der IKP seit 1945 hervorgegangenen Tendenzen in ihrer Leugnung der Bedeutung der Arbeiterkämpfe wegen der noch vorhandenen gewerkschaftlichen Kontrolle überein. KOMMUNISTISCHES PROGRAMM, BATTAGLIA COMUNISTA und viele andere Gruppen, wie beispielsweise der FOR, leugneten weiterhin die Entwicklung der Klassenkämpfe seit 1968 und behaupteten, daß die Konterrevolution noch immer herrsche. Die CWO stach dabei besonders hervor, als sie während der Kämpfe in Polen zum Aufstand aufrief (Revolution Now); diese bedenkliche, einmalige Überschätzung spiegelte nur das gleiche Unverständnis wider, das das politische Milieu außerhalb der IKS unglücklicherweise  dominierte.


Die Explosion der IKP (Programm)

Die Niederlage in Polen und das internationale Zurückweichen des Klassenkampfes richteten, zusammen mit dem Einbruch der Rezession 1982, großen Schaden in einem Milieu an, das seine historischen Aufgaben nicht verstanden hatte. Am meisten erfaßt von der Krise des politischen Milieus wurden zunächst all jene Gruppen, die von Anfang an die Dynamik der Konferenzen abgelehnt hatten. SPARTAKUSBOND aus Holland und die PIC in Frankreich (sowie ihr Nachfolger mit dem ungeeigneten Namen KOMMUNISTISCHER WILLE) wurden durch diese Beschleunigung der Geschichte wie Strohhalme hinweggefegt, was nur geringe Folgen hatte. Die Explosion der IKP (Programm) 1982 dagegen sollte die Landschaft des politischen Milieus verändern. Die monolithische bordigistische Partei, die "wichtigste" Organisation des Milieus, zahlte den Preis für lange Jahre der politischen Verknöcherung und Degeneration sowie für die sektiererische Isolation, die diesen Prozeß noch beschleunigt hatte. Sie brach unter dem Druck der nationalistischen Elemente um EL OUMANI auseinander; es gab einen brutalen Aderlaß ihrer militanten Kräfte, die in Desorientierung und Demoralisierung versanken. Die IKP ging aus dieser Krise nahezu völlig entkräftet hervor; das Zentrum war zusammengebrochen. Die internationalen Kontakte waren verloren gegangen; was von den Sektionen in der Peripherie geblieben war, war isoliert voneinander. Die IKP war nur noch ein Schatten jener Organisation, die sie einst im proletarischen Milieu gewesen war. Der Untergang der IKP (Programm) markierte den endgültigen Zusammenbruch des Bordigismus als vorherrschenden politischen Pol im proletarischen Milieu.


Die Auswirkungen der Krise auf die anderen Gruppen des proletarischen Milieus

Die Krise des politischen Milieus, deren deutlichster Beweis das Auseinanderbrechen der IKP (Programm) war, reichte viel weiter und erfaßte auch Gruppen, die in unterschiedlichen Maßen an der Dynamik der Konferenzen mitgewirkt hatten.
Die schwächsten Gruppen, jene, die aus unmittelbaren Umständen hevorgegangen waren, ohne echte politische Traition oder Identität, verschwanden mit dem Ende der Konferenzen: ARBETAMAKT in Schweden, L'EVEIL INTERNATIONALISTE in Frankreich, die MARXIST WORKERS' GROUP in den USA usw. Andere, stabilere, weil stärker in einer politischen Traditionen verwurzelte Gruppen, die jedoch während der Konferenzen nicht nur wegen ihrer politischen Positionen, sondern auch, wie der FOR und die GCI,  wegen ihres sektiererischen, unverantwortlichen Verhaltens ihre Schwächen offenbart hatten, erlebten mit der Beschleunigung der Geschichte eine wachsende politische Degeneration:

  • der NLI in Italien schlug den gleichen Weg wie KOMMUNISTISCHES PROGRAMM ein, indem er wiederholt seine Prinzipien in der nationalen und gewerkschaftlichen Frage über Bord warf und immer offener mit dem bürgerlichen Linksextremismus flirtete;
  • was die GCI anging, so näherten sich ihre konfusen, vom Bordigismus angeregten Positionen in der Frage der Klassengewalt der anarchistischen Bewegung an, was weniger paradox war, als es auf dem ersten Blick erscheint;
  • der FOR wurde mit seiner irren Realitätsverweigerung der Wirtschaftskrise dazu verleitet, immer surrealistischere Positionen zu übernehmen, wo die radikale Phrase jegliche Kohärenz ersetzte.

Auch die IKS blieb von den Auswirkungen der Krise des proletarischen Milieus nicht verschont. Das Engagement der IKS in Interventionen führte zu ergiebigen und wichtigen Debatten in ihren Reihen, aber gleichzeitig ermöglichte es der Mangel an organisatorischer Erfahrung, der noch schwer auf der gegenwärtigen Generation von Revolutionären lastet, einem dubiosen Abenteurer namens Chenier, durch heimliche Winkelzüge die Spannungen zu kristallisieren und zum Diebstahl von Organistionsmaterial innerhalb der Organisation anzustacheln. Die wenigen Elemente, die Chenier in seinem Abenteuer folgten, veröffentlichten L'OUVRIER INTERNATIONALISTE, die ihre erste Auflage nicht überlebte. Gleichzeitig stellte sich die COMMUNIST BULLETIN GROUP, die in derselben dubiosen Dynamik durch Elemente entstand, die die Sektion der IKS in Großbritannien verlassen hatten, außerhalb des proletarischen Milieus, indem sie das kriminelle Verhalten Cheniers billigte.


Die opportunistische Gründung des IBRP

Die Gründung des Internationalen Büros für die Revolutinäre Partei (11) 1983, das die CWO aus Großbritannien und die IKP (Battaglia) aus Italien umfaßte, schien vor dem Hintergrund der Krise des proletarischen Milieus eine positive Reaktion zu sein. Während diese Umgruppierung die politische Landschaft auf organisatorischer Ebene klärte, trifft dies jedoch auf der politischen Ebene nicht zu. Diese Umgruppierung ereignete sich in der Dynamik des Scheiterns der Konferenzen, und sie fand zwischen jenen beiden Gruppen statt, die hauptverantwortlich für das Scheitern waren. Sie stand in direkter Kontinuität mit dem Opportunismus und Sektierertums, den diese beide Organisationen auf der dritten Konferenz und später zur Schau stellten.
Um einen echten politischen Beitrag zu leisten, ist es unabdingbar, daß die Dynamik zur Umgruppierung mit politischer Klarheit vor sich geht. Doch dies war bei der "Umgruppierung", aus der das IBRP resultierte, sicherlich nicht der Fall. Die CWO hatte sich von ihrer ursprünglichen Plattform entfernt, die jener der IKS sehr nahekam (was die CWO nicht daran hinderte, sich 1974 jeglicher Umgruppierung mit WORLD REVOLUTION, der späteren Sektion der IKS in Großbritannien,   zu verweigern, mit der Begründung, daß es nach 1921, nach Kronstadt kein proletarisches Leben in der bolschewistischen Partei und in den KPs mehr gegeben habe, ein sektiererischer Vorwand, der später schnell vergessen war), doch die Debatten, die zu diesem Wandel führten, blieben ein Geheimnis für das gesamte politische Milieu. Erst zwei Jahre nach der berühmten vierten Konferenz wurden die Diskussionen veröffentlicht, jedoch brachten auch sie keine wirkliche Klarheit über die politische Entwicklung der beiden Gruppen. Die Plattform des IBRP beinhaltete die gleichen Konfusionen und Zweideutigkeiten, die BC auf den Konferenzen zur Gewerkschaftsfrage, über die nationale Frage, die Möglichkeit des revolutionären Parlamentarismus und natürlich über die Parteifrage und den historischen Kurs an den Tag gelegt hat.
Aber vor allem spiegelte die Gründung des IBRP eine falsche Konzeption der Umgruppierung der Revolutionäre wider. Das IBRP ist ein Kartell bestehender Organisationen und nicht eine neue Organisation, die aus einer Umgruppierung hervorgegangen ist, in der die Kräfte sich um eine gemeinsame Plattform zusammenschließen. In ihm behält jede zugehörige Organisation ihre eigenen Besonderheiten bei. Neben der Plattform des IBRP behält jede Organisation ihre eigene Plattform bei, ohne dabei die bedeutenden Unterschiede zu erklären, die weiterhin bestehen können. Dies ermöglicht, die falsche Homogenität des IBRP zu ermessen, den Opportunismus, der bei seiner Gründung Pate stand.
Die Bildung des IBRP war daher nicht der Vorbote des Endes der Krise des Milieus, deren Verwüstungen sich noch immer bemerkbar machten, oder einer neuen Dynamik zu einer Klärung der revolutionären Kräfte. Sie war nur der Ausdruck einer Neugruppierung der Kräfte des politischen Milieus, die in opportunistischen Konfusion und sektiererischer Isolation stattfand.
1983 hatte sich mit seiner Krise das Gesicht des proletarischen Milieus verändert. Die bordigistische IKP war mehr oder weniger verschwunden; die IKS war die größte Organisation, der vorherrschende politische Pol innerhalb des kommunistischen Milieus und in dem Maße, wie die Geschichte ihr Urteil gefällt hat, ein Pol der Klarheit in den Debatten geworden, die das Milieu anregten. Die IKS ist eine  zentralisierte Organisation auf internationaler Ebene, mit Sektionen in zehn Ländern, die in sieben Sprachen ihre Publikationen herausgibt. Doch auch wenn die IKS zum Hauptpol der Umgruppierung geworden war, heißt das natürlich noch lange nicht, daß sie allein auf der Welt existierte. Trotz der Konfusionen, die bei seiner Gründung bestanden, bildete das IBRP im Vergleich zu den politischen Versäumnissen der anderen Gruppen, die das proletarische Milieu formten, den anderen Pol der Referenz und einer relativen politischen Klarheit in der kommunistischen Bewegung und in ihren Debatten.
Wie wir sehen können, waren die Gruppen, die am besten der Krise des proletarischen Milieus widerstanden haben, jene, die am ernsthaftesten an den internationalen Konferenzen mitgewirkt hatten. Diese Tatsache allein ermöglicht uns, den positiven Beitrag zu ermessen, den sie leisteten, und im Rückblick das Ausmaß des politischen Irrtums abzuschätzen, der sie aus der Bahn warf - ein Irrtum, für den BATTAGLIA und die CWO eine große Verantwortung tragen.
Mitte 1983, nach der kurzen, aber tiefgehenden Phase des Rückflusses des Klassenkampfes nach der Niederlage in Polen, begannen sich die ersten Anzeichen für ein Wiedererstarken des Klassenkampfes bemerkbar zu machen. Wir haben gesehen, wie Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre die Frage der Intervention der Revolutionäre ein echter Lackmus-Test für das proletarische Milieu war - die Kernfrage, die die Geschichte erneut den Revolutionären stellt.
JJ. (aus International Review 54, 3/1988)

(1) Siehe die auf Französisch, Englisch und Italienisch erhältliche Broschüre "Die Kommunistische Linke Italiens".
(2) Siehe die Artikel in IR, Nr. 11-16-17-21-25-2836-37-38-45 usw.
(3) Siehe IR, Nr. 10 und verschiedene KonferenzBroschüren.
(4) zur CWO siehe IR, Nr. 12-17-39.
(5) zu Battaglia Comunista siehe IR, Nr. 13-33-34-36.
(6) Zur IKP (Programm) siehe International Review Nr. 14-23-32-33.
(7) Siehe IR (deutsche Ausgabe) Nr. 4, 5.
(8) Zur Interventionsdebatte siehe IR, Nr. 20-24.
(9) Siehe Broschüren zur 2. Konferenz.
(10) Zur Krise im revolutionären Milieu siehe IR, Nr. 8, englische Ausgabe Nr. 28-32
(11) Zur Bildung des IBRP siehe Nr. 40-41

Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir10/1988_ppm [27]

pm

Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen

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Der immer apokalyptischere Charakter des gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Erde ist weder eine natürliche Fatalität noch das Ergebnis irgendeiner sog. "menschlichen Torheit". Auch ist er kein Kennzeichen, das den Kapitalismus seit seiner Entstehung geprägt hat. Er ist ein Ausdruck der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die, nachdem sie vom 16. Jahrhundert bis Beginn des 20. Jahrhunderts ein mächtiger Faktor in der ökonomischen und politischen Entwicklung war, zu einer immer stärker wirkenden Fessel für ihre weitere Entwicklung geworden ist - gefangen in ihren eigenen Widersprüchen .
Durch diese Polemik mit einer Gruppe namens GCI (1), die behauptet marxistisch zu sein, aber vehement die Idee einer "Dekadenz" ablehnt, wollen wir die Grundlagen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und ihrer brisanten Aktualität Mitte der 80er Jahre unterstreichen, wo das Weltproletariat einmal mehr sein Haupt erhoben hat und entscheidende Schlachten für seine Emanzipation führt.
Warum stellt sich die Menschheit die Frage, ob sie dabei ist, sich in einer wachsenden Barbarei selbst zu zerstören, wo sie doch einen Entwicklungsgrad der Produktivkräfte erreicht hat, der es ihr ermöglichen würde, eine Welt ohne materiellen Mangel aufzubauen, eine vereinigte Gesellschaft, die ihr Leben zum ersten Mal in der Geschichte nach ihren Bedürfnissen, ihrem Bewußtsein, ihren Wünschen  ausrichten könnte?
 Bildet also das Proletariat, die Weltarbeiterklasse, die revolutionäre Kraft, die die Menschheit aus der Sackgasse herausführen kann, in die der Kapitalismus sie getrieben hat? Und warum können die Kampfformen des Proletariats in unserer Epoche nicht mehr die des vergangenen Jahrhunderts sein (gewerkschaftlicher und parlamentarischer Kampf, Kampf um Reformen usw.)?  Es ist unmöglich, sich in der gegenwärtigen historischen Situation zu orientieren und noch weniger eine Vorreiterolle zu spielen sowie eine Orientierung für die Arbeiterkämpfe zu geben, wenn man nicht eine globale, kohärente Auffassung hat, die es ermöglicht, auf diese elementaren wie entscheidenden Fragen zu antworten.
Der Marxismus - der historische Materialismus - ist die einzige Weltanschauung, die dies ermöglicht. Seine klare und einfache Antwort kann mit den folgenden Worten zusammengefaßt werden: genauso wie die anderen vorhergehenden Produktionsweisen  (primitiver Kommunismus, orientalischer Despotismus, Sklavengesellschaft, Feudalismus) ist auch der Kapitalismus kein ewig währendes System.
Die Entstehung des Kapitalismus und seine spätere Beherrschung der Welt waren das Ergebnis einer umfangreichen Evolution der Menschheit und der Weiterentwicklung der Produktivkräfte: die Tretmühle entsprach der Sklavengesellschaft, die Wassermühle dem Feudalismus, die Dampfmaschine dem Kapitalismus, schrieb Marx. Aber nachdem sie einmal einen bestimmten Entwicklungsgrad überwunden haben, sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Seitdem ist die Menschheit in diesen überkommenen Produktionsverhältnissen gefangen, die alle Lebensbereiche in eine wachsende Barbarei stürzen. Das Aufeinanderfolgen von Krisen, Weltkriegen, Wiederaufbau, Krisen während der letzten 80 Jahre ist der klarste Ausdruck dafür. Dies ist die Dekadenz des Kapitalismus. Von nun an besteht der einzige Ausweg in einer vollständigen Zerstörung dieser Gesellschaftsverhältnisse durch eine Revolution, deren Führung nur das Proletariat übernehmen kann, denn es ist die einzige Klasse, die dem Kapital antagonistisch gegenübersteht. Er besteht in einer Revolution, die zu einer kommunistischen Gesellschaft führen kann, weil der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte die materiellen Möglichkeiten für solch ein Unterfangen geschaffen hat.
Solange der Kapitalismus eine historisch fortschrittliche Rolle in der Entwicklung der Produktivkräfte spielte, konnten die Arbeiterkämpfe nicht in einer siegreichen weltweiten Revolution münden, doch konnten sie mit Hilfe der Gewerkschaften und des Parlamentarismus reale Reformen und dauerhafte Verbesserungen der Existenzbedingungen der ausgebeuteten Klasse erwirken. Von dem Punkt an, wo der Kapitalismus in seine dekadente Phase eintrat, wurde die kommunistische Revolution zu einer Notwendigkeit und Möglichkeit, und dies wiederum änderte völlig die Kampfformen des Proletariats, selbst auf der Ebene des Kampfes um die unmittelbaren  Forderungen (Massenstreik).
Seit den Tagen der Kommunistischen Internationalen, die, gegründet auf dem Gipfel der internationalen revolutionären Welle, dem Ersten Weltkrieg ein Ende machte, ist diese Analyse, der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase, zu einem gemeinsamen Erbgut der kommunistischen Strömungen geworden, denen es dank dieses "historischen Kompasses" gelungen war, kompromißlos auf einem kohärenten Klassenterrain zu verbleiben. Die IKS hat diese Erbgut lediglich wieder aufgegriffen und weiterentwickelt, wie es auch von den Strömungen der deutschen, italienischen (BILAN) kommunistischen Linken in den 30er Jahren, dann von der Kommunistischen Linken Frankreichs (INTERNATIONALISME) in den 40er Jahren überliefert und bereichert worden war (2).
Heute, wo sich unter dem Druck einer beispiellosen Wirtschaftskrise seit mehr als fünfzehn Jahren die Manifestationen der Dekadenz beschleunigen und die Klassenantagonismen zuspitzen und das Weltproletariat in die Spur des Kampfes zurückgefunden hat,  dabei mit tausend Widrigkeiten und mit tausend Waffen der herrschenden Klasse konfrontiert, und dies mit einer internationalen Simultaneität, wie sie noch nie da gewesen ist - heute ist es ausschlaggebend, daß revolutionäre Organisationen ihren Aufgaben gewachsen sind.
Weil wir auf entscheidenden Kämpfe zusteuern, ist es heute unverzichtbarer denn je, daß sich die Arbeiterklasse ihre eigene Weltanschauung wiederaneignet, so wie sie im Laufe von zwei Jahrhunderten von Arbeiterkämpfen und theoretischer Arbeit durch ihre politischen Organisationen ausgearbeitet wurde.
Mehr als je zuvor ist es für das Proletariat unerläßlich zu begreifen, daß die gegenwärtige Zunahme der Barbarei, die ununterbrochene Verschärfung seiner Ausbeutung nicht "natürlich" vorbedingt sind, sondern die Konsequenzen aus der kapitalistischen Ökonomie und der gesellschaftlichen Gesetze,  die weiterhin die Welt regieren, obgleich sie seit Anfang dieses Jahrhunderts historisch obsolet geworden sind.
Mehr denn je muß die Arbeiterklasse verstehen, daß die Kampfformen, die sie im 19. Jahrhundert gelernt hatte (Kampf um Reformen, Unterstützung für die Schaffung von großen Nationalstaaten - die Akkumulationspole des sich entwickelnden Kapitalismus ) und die eine Relevanz hatten, als sich die Bourgeoisie historisch noch entwickelte und die Existenz eines organisierten Proletariats innerhalb der Gesellschaft dulden konnte, im dekadenten Kapitalismus nur in die Sackgasse führen können.
Mehr denn je ist es entscheidend, daß die Arbeiterklasse begreift, daß die kommunistische Revolution - deren Träger sie ist - kein versponnener Traum, keine Utopie ist, sondern eine Notwendigkeit und Möglichkeit, deren wissenschaftliche Grundlagen im Verständnis der Dekadenz der herrschenden Produktionsweise liegen, eine Dekadenz, die sich vor unseren Augen verschärft.
"Es gibt keine revolutionäre Praxis  ohne revolutionäre Theorie", sagte Lenin. Diese Aussage muß heute umso mehr bekräftigt werden, da die herrschende Klasse sich nicht mehr ideologisch durch die Erarbeitung von neuen Theorien mit einem Mindestmaß an Stimmigkeit verteidigt, sondern durch eine Art "Nihilismus" des Bewußtseins, der Ablehnung jeder Theorie als "ideologischen Fanatismus". Sich schadlos haltend am gerechtfertigten Mißtrauen der Ausgebeuteten gegenüber den Theorien der "Linken", die, von der Sozialdemokratie bis zum Stalinismus, jahrzehntelang als Instrumente der Konterrevolution benutzt worden waren, unfähig, irgendeine Zukunft in einer zerfallenden gesellschaftlichen Realitat anzubieten, hat die herrschende Klasse nichts anderes anzubieten als eine Vogel-Strauß-Politik: kein Nachdenken, Resignation, Fatalismus.
Als die Bourgeoisie eine historisch revolutionäre Klasse gewesen war, brachte sie Männer wie Hegel hervor, die so entscheidende Türen aufstießen für das Verständnis der Evolution der Menschheit; als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Macht stabilisierte, entwickelte sie sich zurück zu den positivistischen Auffassungen eines Auguste Comtes. Heute bringt sie nicht einmal mehr Philosophen hervor, die mit irgendeinem  Geschichtsverständnis aufwarten könnten. Die herrschende Ideologie ist das Nichts, die Verneinung von Bewußtsein.
Doch so wie diese Verneinung des Bewußtseins ein Ausdruck der Dekadenz ist, die wiederum zu einem Instrument zur Verteidigung der herrschenden Klasse wird, so ist für Revolutionäre ein Bewußtsein ihres historischen Daseins ein entscheidendes Instrument für ihren Kampf.

   

DIE "ANTI-DEKADENTISTEN"

Diese Tendenz zum Nihilismus des Bewußtseins manifestiert sich auch bei proletarischen politischen Gruppen, oft paradoxerweise bei den Gruppen mit einem theoretischen Anspruch.
So veröffentlichte die GCI Ende 1985 in der Nummer 23 ihres Organs LE COMMUNISTE einen Artikel, dessen Inhalt perfekt vom zweiten Teil seines Titels illustriert wird: "Theorien der Dekadenz, Dekadenz der Theorie". Dieser Text, in einer hochtrabenden Sprache und in einem "marxistischen" Duktus geschrieben, Marx und Engels drauflos zitierend, behauptet zu zerstören, was er die "dekadentistischen Theorien" nennt. Deren Vertreter ordnet er ein auf der "Seite all dieser reaktionären Schakale, die von den Zeugen Jehovas über die euro-zentristischen Neo-Nazis und den Anhängern der Moon-Sekte bis hin zu den 'neuen Philosophen'  den Ruf der 'Dekadenz des Westens' ausstießen!" Aber sonst geht's noch?
Diesem Text gelingt das Kunststück, auf fünfzehn Seiten die Hauptmißverständnisse zu komprimieren, die man in der Geschichte der Arbeiterbewegung hinsichtlich der historischen Evolution des Kapitalismus und der objektiven Grundlagen für die Herausbildung einer kommunistischen Gesellschaft finden kann. Das Ergebnis ist ein ebenso spitzfindiger wie unausgegorener Mischmasch, der all die Themen miteinander vermanscht, die Marx so erbittert bekämpft hatte - jene des utopischen Sozialismus, des Anarchismus ... und neuerdings die bordigistische Theorie aus den 50er Jahren über die "Invarianz des Marxismus und der kontinuierlichen Entwicklung des Kapitalismus seit 1848"!
Unsere Absicht hier ist es, die Hauptirrtümer dieses Dokuments zu enthüllen, nicht so sehr wegen  der GCI für sich genommen, deren immer tieferes Absacken in die Inkohärenz wenig Aufmerksamkeit verdient, sondern weil ihre Verteidigung  einiger Klassenpositionen, ihre radikale Sprache und ihre theoretischen Ambitionen Illusionen unter den neuen Elementen, die eine theoretische Kohärenz suchen, verbreiten können - u.a. unter jenen, die aus dem Anarchismus kommen.(3)
Dies wird es uns ermöglichen, einige grundlegende Elemente in der marxistischen Analyse der Evolution von Gesellschaften nochmals zu bekräftigen und so aufzuzeigen, was es mit der Dekadenz des Kapitalismus auf sich hat.

 
GIBT ES EINE HISTORISCHE ENTWICKLUNG? GIBT ES EINE AUFSTEIGENDE PHASE DES KAPITALISMUS?

Die GCI ist nicht bescheiden. Im Stile Dührings, der behauptete, die Wissenschaft umzuwälzen, wälzt die GCI den Marxismus um. Sie will marxistisch sein, vorausgesetzt sie kann all jene in das Lager der "reaktionären Schakale" absondern, die seit der II. Internationalen den Marxismus bereichert haben, indem sie die Ursachen und die Entwicklung der Dekadenz des Kapitalismus untersuchten... und, wie wir sehen werden, indem sie das Werk von Marx selbst ignorieren oder vollkommen zu ändern.
Die große Entdeckung der GCI, die die Bolschewisten, die Spartakisten, die deutsche Linke in der KAPD, die italienische Linke um BILAN - die alle die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus ausgearbeitet und geteilt haben - auf eine Stufe mit den Anhängern der Moon-Sekte stellt - die große Wahrheit der GCI läuft darauf hinaus: es gibt keine Dekadenz des Kapitalismus, weil es nie eine aufsteigende, "fortschrittliche" Phase des Kapitalismus gab. Es gibt keine Barbarei der Dekadenz, weil der Kapitalismus immer schon barbarisch war.
Da muß man erst drauf kommen! Und was ist mit den vor-marxistischen Sozialisten und ihren anarchistischen Nachfahren, die nie verstanden hatten, warum man seine Zeit damit verschwenden soll, über die Gesetze der historischen Entwicklung nachzudenken, da es ausreichte, zu "rebellieren", und der Kommunismus immer auf der Tagesordnung der Geschichte stand: waren es nicht diese Strömungen, die genau dasselbe gegen den Marxismus einwendeten?
Aber knüpfen wir uns die Hauptargumente der GCI etwas näher vor:
"Fast alle Gruppen, die heute behaupten, eine kommunistische Perspektive zu vertreten, klammern sich an der dekadentistischen Vision nicht nur der kapitalistischen Produktionsweise, sondern aller Klassengesellschaften (Wertzyklus), und dies dank zahlloser 'Theorien', die von der 'Sättigung der Märkte' bis zum 'Imperialismus als höchster Stufe des Kapitalismus' reichen, vom 'dritten Zeitalter des Kapitalismus' zur 'realen Vorherrschaft', vom 'Stillstand in der Entwicklung der Produktivkräfte' bis zum 'tendenziellen Fall der Profitrate'... Worauf es uns hier zunächst ankommt, ist der gemeinsame Inhalt all dieser Theorien: die moralisierende und zivilisatorische Vision, die sie beinhalten" ("Theorie der Dekadenz: Dekadenz der Theorien", Le Communiste, Nr. 23, S. 7, Nov. 1985).
Inwiefern drückt die Feststellung, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte wurden, eine "moralisierende und zivilisatorische Auffassung" aus? Weil dies beinhaltet, daß es eine Zeit gab, als dies nicht der Fall war und diese Verhältnisse einen Fortschritt darstellten, einen Schritt vorwärts in der Menschheitsgeschichte. Mit anderen Worten: weil es eine "aufsteigende" Phase des Kapitalismus gegeben habe. Nur war für die GCI dieser "Fortschritt" eine bloße Verstärkung der Ausbeutung:
"... man muß sehen, wie der Gewaltmarsch des Fortschritts und der Zivilisation stets mehr Ausbeutung, die Produktion von Mehrarbeit (und für den Kapitalismus ausschließlich die Umwandlung dieser Mehrarbeit in Mehrwert) in Wirklichkeit die Verstärkung der Barbarei durch die immer totalitärere Herrschaft des Wertes bedeutet hat" (ebenda; die GCI verwendet hier den Begriff "Barbarei", ohne zu wissen, worum es sich handelt; wir kommen später darauf zurück). Daß der Kapitalismus seit seiner Entstehung immer ein Ausbeutungssystem gewesen ist - das höchst entwickelte und unbarmherzigste - ist weder falsch noch neu, doch es dabei zu belassen hieße, sich der idealistischen Sichtweise - der "moralischen" im eigentlichen Sinne des Wortes - anzuschließen, derzufolge nur jene Dinge, die die "soziale Gerechtigkeit" unmittelbar voranbringen, als historischer Fortschritt zählen. Dies erklärt sicherlich nicht, warum die Behauptung, daß das Auftauchen dieser Ausbeutungsweise einen historischen Fortschritt markiert, eine "moralisierende und zivilisatorische Auffassung" ist. Die GCI erklärt:
"Die Bourgeoisie stellte (...) alle vorherigen Produktionsformen als 'barbarisch' und 'primitiv' dar, die mit dem Voranschreiten der historischen Evolution immer 'zivilisierter' werden. Die kapitalistische Produktionsweise ist selbstredend die endgültige und höchste Verkörperung von Zivilisation und Fortschritt. Die evolutionäre Auffassung entspricht also durchaus dem 'gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus'; und es kommt nicht von ungefähr, daß diese Sichtweise auf alle Wissenschaften angewendet wird (d.h. auf all die Teilinterpretationen der Realität vom bürgerlichen Standpunkt aus): Naturwissenschaften (Darwin), Demographie (Malthus), logische Geschichte, Philosophie (Hegel)..." (ebenda)
Am Anfang ihres Textes hatte die GCI in Großbuchstaben den ambitiösen Untertitel: "Erster Beitrag: die Methodologie" gestellt. Der Happen, den wir gerade zitiert haben, ist ein Vorgeschmack darauf, was uns auf diesem Gebiet noch angeboten wird.
"Die Bourgeoisie", stellt die GCI fest, "stellt die kapitalistische Produktionsweise als das finale Ergebnis der Zivilisation und des Fortschritts dar". Daraus schließt sie, "daß die evolutionäre Sichtweise dem gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus entspricht".
Das übertrifft selbst die dümmste Plattheit. Mit solch einer "Methodologie" könnte man sich ebenso fragen, ob die "fixistische" Theorie ("nichts Neues unter der Sonne") nicht dem "gesellschaftlichen Wesen des Proletariats" entspricht. Die Bourgeoisie behauptete, daß die Welt sich bewegt und die Geschichte sich entwicklt. Die GCI leitet daraus ab, daß dies allein deshalb falsch sei, weil die Bourgeoisie es sagt: die Welt bewegt sich also nicht. So abwegig dies auch erscheint, aber genau dazu führt diese "Methode" der GCI, wie wir später in Hinblick auf ihre Vision der "Invarianz" noch sehen werden.
Der Marxismus lehnt natürlich die Vorstellung ab, daß der Kapitalismus das Endergebnis der menschlichen Entwicklung darstellt. Aber er lehnt nicht die Idee ab, daß die Menschheitsgeschichte einer Entwicklung gefolgt ist, die rational erklärt werden kann und deren Gesetze nur entdeckt werden müssen. Zu ihrer Zeit erkannten Marx und Engels das wissenschaftliche Verdienst von Darwin an und erhoben Anspruch auf den rationalen Kern der Hegelianischen Dialektik (Malthus, den die GCI zitiert, hat hier nichts zu suchen). Sie waren in der Lage, hinter diesen Bemühungen, eine Evolution, eine dynamische Vision der Geschichte zu definieren, den Ausdruck des bürgerlichen Kampfes zur Verteidigung ihrer Macht gegen die feudale Reaktion zu sehen, mit all ihren Fortschritten und Beschränktheiten, die damit verbunden sind. . So spricht Engels im Anti-Dühring über Darwin: "Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist." (MEW Bd. 19, S. 205)
Und über Hegel: "Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selber..." (Anti-Dühring, I. Allgemeines, S. 23, MEW 20)
Was der Marxismus an Hegels Sichtweise ablehnt, ist dessen immer noch vorherrschender idealistischer  Charakter (die Darstellung der Geschichte als nichts anderes als die Verwirklichung der Geschichte selbst), seine bürgerlichen Beschränkungen (der kapitalistische Staat als Inkarnation der Vernunft), aber selbstverständlich nicht den Gedanken, daß es eine historische Entwicklung gibt, die notwendige Etappen durchläuft. Im Gegenteil, Marx steht das Verdienst zu, den roten Faden in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften entdeckt und auf dieser Grundlage die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit des Kommunismus gegründet zu haben:
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen (...) in großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." (Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie)

 
STAND DER KOMMUNISMUS SCHON IMMER AUF DER TAGESORDNUNG DER GESCHICHTE ?

In ihrem "anti-dekadentistischen" Delirium meint die GCI, daß jene, die heute die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus vertreten, nur vom Niedergang des Kapitalismus in unserer Epoche  reden, um "pro-kapitalistisch" zu sein... ein Jahrhundert zuvor! "Die Dekadentisten sind also für die Sklaverei bis zu einem bestimmten Datum, pro-feudal bis zum nächsten... pro-kapitalistisch bis 1914! Sie sind aufgrund ihrer Fortschrittsverehrung also jedesmal gegen den Klassenkrieg, den die Ausgebeuteten dem Willen der kommunistischen Bewegung zum Trotz führen und der unglücklicherweise in der 'falschen' Periode ausbricht." (GCI, ebenda, S. 19)
Trotz ihres großspurigen, radikalen Gestus tut die GCI nichts anderes, als die idealistische Auffassung wiederzubeleben, nach der der Kommunismus jederzeit möglich sei.
Wir wollen hier nicht auf die Frage der Besonderheiten des Arbeiterkampfes in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus eingehen, sondern darauf, warum das KOMMUNISTISCHE MANIFEST sagt: "Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also nicht  ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger." (Bourgeois und Proletarier, MEW 4, S. 470) Warum und wie nahmen die Arbeiterkämpfe der folgenden Phase das Ziel der Durchsetzung von Reformen und die "immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter" in Angriff? Warum waren Gewerkschaften, Massenparteien und Sozialdemokratie Ende des 19. Jahrhunderts proletarische Instrumente...? All diesen Kampfformen, die die GCI nicht verstehen kann und ein Jahrhundert später als bürgerlich ablehnt, werden wir uns in einem späteren Artikel widmen, der sich mit der Frage des proletarischen Charakters der Sozialdemokratie befaßt.
Für den Moment ist es wichtiger, die marxistische Geschichtsauffassung und die Bedingungen der kommunistischen Revolution zu verstehen.
Marx und die Marxisten haben sich nie darauf beschränkt zu sagen, der Kapitalismus sei ein Ausbeutungssystem, das zerstört werden müsse und nie hätte bestehen dürfen, da der Kommunismus zu jedem Zeitpunkt möglich sei. Genau in dieser Frage vollzog der Marxismus einen Bruch mit dem "utopischen" oder "sentimentalen" Sozialismus; genau in dieser Frage vollzog der Marxismus auch den Bruch mit dem Anarchismus. Sie war zudem das Thema der Debatte zwischen Marx und Weitling 1846, die in der Konstituierung der ersten marxistischen politischen Organisation mündete: der Bund der Kommunisten. Aus Weitlings Sicht hieß es: "Die Menschheit ist notwendig immer reif oder sie wird es nie." (zitiert bei B. Nicolaevsky, K. Marx, Eine Biographie, S. 115)
Das gleiche Problem war auch der Grund für die Divergenzen zwischen Marx/Engels und der Willich-Schapper-Tendenz innerhalb des Bundes der Kommunisten. Wie Marx formulierte: "An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution."
Was die GCI ablehnt, ist das Konzept des historischen Materialismus, des wissenschaftlichen Sozialismus. So setzte sich Engels im Anti-Dühring mit einem grundlegenden Aspekt der Bedingungen des Kommunismus auseinander:
"Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der frühern geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag lieferte, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen (...) Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte." (Anti-Dühring, II. Theoretisches, S. 262, MEW Bd. 20)
In diesem Sinn sprach Marx von den "Wundern" der Bourgeoisie und dem "großen zivilisatorischen Einfluß des Kapitals". "Erst hat sie (die Bourgeoisie) bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke  vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge." (Marx & Engels, Kommunistische Manifest, MEW Bd.4, S. 465)
"Hence the great civilising influence of capital (etwa: daher der große zivilisatorische Einfluß des Kapitals); seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie (etwa: Naturverehrung) erscheinen. Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zuwerden..." (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, "Das Kapitel vom Kapital", Zweiter Abschnitt: "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals)
Wenn die GCI konsequent wäre, wenn sie sich um ein Mindestmaß an theoretischer Kohärenz bemühen würde, würde sie nicht zögern, nicht nur die Kommunistische Linke, Trotzki, Lenin, Luxemburg und die gesamte II. Internationale in den bürgerlichen Mülleimer zu werfen, sondern auch die alten Marx und Engels, dafür daß sie leidenschaftliche Vertreter dessen waren, was die GCI "evolutionistische" und "zivilisatorische" Konzepte nannte.
Dann vielleicht könnte die Gruppe RAIA, die ihre eigene Vertiefung der "Marx-Bakunin-Frage" unternommen hat, plausibel machen, daß das, was sie vertritt, nichts anderes ist als die alte, fade Leier des Utopismus und Anarchismus, garniert -aus welchen Gründen auch immer - mit marxistischem Wortgeklingel.

 

DIE DEKADENZ DES KAPITALISMUS - "EINE ZEIT DER GESELLSCHAFTLICHEN REVOLUTION"

An welchem Punkt wurde die kommunistische Revolution zu einer historischen Möglichkeit? Marx antwortete:
"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein." (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort)
Der Marxismus nennt keinen Tag, keine Stunde, ab der die kommunistische Revolution objektiv möglich wird. Er legt die allgemeinen Bedingungen - auf der Ebene des Gerüstes der Gesellschaft, die Wirtschaft - fest, die eine "Periode" charakterisieren, eine historische Ära, in welcher der Kapitalismus auf eine qualitativ andere Weise mit seinen eigenen Widersprüchen zusammenstößt und sich in eine Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte umwandelt.
Die Manifestationen dieser neuen historischen Lage treten hauptsächlich auf wirtschaftlicher Ebene auf (Wirtschaftskrisen, Verlangsamung des Wachstums der Produktivkräfte), aber auch in anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens, die letztendlich durch das Wirtschaftsleben der Gesellschaft beeinflußt werden. Marx spricht von "den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten" (Vorwort).
Marx und Engels glaubten mehrfach im Verlaufe der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, daß der Kapitalismus diesen Punkt erreicht hatte, besonders während der großen zyklischen Wirtschaftskrisen, die damals das System erschütterten. Aber sie erkannten jedesmal, daß dies nicht der Fall war. So schrieb Marx 1850 nach der Überwindung der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise von 1848:
"Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig erst entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution überhaupt keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten (...) Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis, sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." (Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 98)     
Tatsächlich waren die Krisen des Kapitalismus noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts Wachstumskrisen, die schnell vom System überwunden wurden. Erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden auffällige und unmißverständliche Symptome ersichtlich, die darauf hindeuteten, daß die Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus eine qualitativ neue Stufe erreicht hatte.
Die revolutionären Marxisten, die Linke der II. Internationalen - dieselben, die jahrelang die revisionistischen Strömungen Bernsteins bekämpft hatten, der die Theorie aufgestellt hatte, daß der Kapitalismus keine Krisen mehr erleben würde und daß man  schrittweise und friedlich zum Sozialismus gelangen könnte - erkannten sofort das Auftreten einer neuen historischen Lage: den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase.
Der Ausbruch der Russischen Revolution und - in ihrem Kielwasser - die Welle internationaler, revolutionärer Kämpfe bestätigten unmißverständlich die marxistische Perspektive.
Auf diese Analyse berufen wir uns heute: eine Analyse, die die vergangenen 70 Jahre, welche von zwei Weltkriegen, zwei Wiederaufbauphasen und zwei großen Weltwirtschaftskrisen (1929-1939 und 1967 bis heute) gekennzeichnet waren - 70 Jahre einer beispiellosen Barbarei auf dem ganzen Planeten -, in Gänze bestätigt haben.

 

EINE SINNLOSE KRITIK

Bei ihrer Ablehnung dieser Analyse schreibt die GCI den "Dekadentisten" eine absurde Idee zu, die sie sich schlicht selbst ausgedacht hat und die sie dann ausführlich kritisiert.
Laut GCI wird in der Analyse der Dekadenz behauptet, daß das System während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus keine Widersprüche gehabt habe; diese Widersprüche tauchten erst in der dekadenten Phase auf. Und sie antwortet: "Es gibt somit  keine zwei Phasen: eine, in welcher der Klassenwiderspruch (mit anderen Worten der Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) nicht existiert -  eine fortschrittliche Phase, in der die 'neue' Produktionsweise  ihre zivilisatorischen Wohltaten ohne Antagonismen entwickelt (...) und eine Phase, in der sie nach der 'fortschrittlichen' Entwicklung ihrer Wohltaten veraltet und zu verfallen beginnt und erst an diesem Punkt das Aufkommen eines Klassenantagonismus beinhaltet."
Dies schrieben wir in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus über diese Frage:
"Marx und Engels hatten den genialen Scharfsinn, in den Wachstumskrisen des Kapitalismus all das Wesentliche dieser Krisen herauszuarbeiten, und sie kündigten somit den zukünftigen Generationen die Grundlagen der tiefgreifenden Zerrüttung der Gesellschaft an. Sie waren zu dieser Einsicht in der Lage, weil eine Gesellschaftsform von Anfang an die Keime all der Widersprüche in sich trägt, die sie in ihren Tod treiben werden. Aber solange diese Widersprüche sich nicht soweit entwickelt haben, daß sie auf ständige Weise ihr Wachstum hemmen, stellen sie selbst die Antriebskraft dieses Wachstums dar." (Die Dekadenz des Kapitalismus, Broschüre der IKS, deutsche Ausgabe, S. 25)
Die GCI weiß nicht, wovon sie redet.

 

DIE  "INVARIANZ"

Nachdem sie mit der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus all die konsequenten marxistischen Strömungen der letzten 50 Jahre über Bord geworfen hat und aus Furcht davor, als anarchistisch betrachtet zu werden, sucht die GCI in den Theorien Bordigas aus den 50er Jahren nach einer "marxistischen" Rechtfertigung für ihr libertäres Geschwafel: es handelt sich um die Theorie der "Invarianz (Unveränderbarkeit) des kommunistischen Programmes seit 1848".
Das Paradoxon ist nur scheinbar eines. Der Anarchismus, der die historische Entwicklung im allgemeinen außer Acht läßt, kann sich mit der bordigistischen Auffassung anfreunden, die unter dem Vorwand der "Invarianz" alle grundlegenden Änderungen ignoriert, die die Evolution des Kapitalismus seit seinen Ursprüngen kennzeichnen.
Doch auch wenn die Theorie Bordigas noch so abwegig ist, so hat sie zumindest das Verdienst, eine gewisse Kohärenz mit den politischen Positionen aufzuweisen, die sie vertritt: der Bordigismus geht davon aus, daß die Kampfformen des 19. Jahrhunderts, wie der gewerkschaftliche Kampf oder die Unterstützung neuer Staatsgründungen, auch in unserer Epoche noch gültig seien. Für die GCI dagegen, die diese Kampfformen ablehnt, wird die Theorie zur Quelle der Inkohärenz. Sie ist gezwungen, die Sozialdemokratie des 19. Jahrhundert dem Lager der Bourgeoisie zuzuordnen und erfindet einen anti-gewerkschaftlichen, anti-parlamentarischen, anti-demokratischen Marx; ein bißchen wie der Stalinismus, der die Geschichte der Russischen Revolution in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen seiner unmittelbaren Politik neu erfand.
Aber schauen wir uns Bordigas Kritik an der Theorie der Dekadenz und der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus etwas näher an, hinter der die GCI ihre anarchistische Rückentwicklung zu verbergen sucht. Bordiga, den die GCI im fraglichen Artikel zitiert, schrieb:
"Die Theorie der aufsteigenden Kurve vergleicht die historische Entwicklung mit einer Sinuskurve: jede Herrschaft, auch die bürgerliche Herrschaft z.B. fängt mit einer aufsteigenden Phase an, erreicht einen Höhepunkt, steigt danach ab bis zu einem Tiefpunkt, von dem an eine neue, andere Herrschaft ihren Aufstieg einleitet. Dies ist die Auffassung des gradualistischen Reformismus, keine Erschütterungen, kein Sprung. Die marxistische Auffassung dagegen kennt (zum Zweck der Klarheit und Genauigkeit) viele aufsteigende, ihren Höhepunkt erreichende  Kurven, denen ein gewalttätiger, fast vertikaler Sturz folgt, und an dessen Ende angelangt, eine neue gesellschaftliche Herrschaft entsteht. Es setzt eine andere, historisch aufsteigende Kurve ein (...) Die geläufige Behauptung, daß der Kapitalismus in seiner niedergehende Kurve sei und nicht mehr aufsteigen könne, enthält zwei Fehler: der eine ist der Fatalismus, der andere der Gradualismus..." (Treffen in Rom, 1951). An anderer Stelle schrieb Bordiga: "Aus Marxens Sicht wächst der Kapitalismus unaufhaltsam über alle Grenzen hinaus..." ("Dialog mit den Toten")
Bevor wir auf die fantasierenden Beschuldigungen des "Gradualismus" und des "Fatalismus" zu sprechen  kommen, wollen wir kurz die Auffassung Bordigas der Wirklichkeit gegenüberstellen.
Zunächst eine wichtige Bemerkung: Bordiga spricht von der auf- oder absteigenden "Kurve" eines Regimes. Eines muß klar sein: wenn Marxisten über eine "aufsteigende" oder "dekadente" Phase sprechen, dann geht es ihnen nicht schlicht um eine statistische Erhebung, um die Produktion als solche zu messen. Wenn man die Entwicklung der Produktion als ein Element ins Auge fassen will, um zu bestimmen, ob eine Produktionsweise in ihrer dekadenten Phase ist oder nicht, - d.h. um festzustellen, ob die Produktionsverhältnisse eine Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte geworden sind oder nicht -, muß man zunächst wissen, um welche Produktion es geht: die Produktion von Waffen oder anderer unproduktiver Güter und Dienstleistungen sind kein Beweis für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, sondern im Gegenteil für ihre Zerstörung. Des weiteren ist nicht das Niveau der Produktion als solches bedeutsam, sondern ihr Entwicklungsrhythmus, und dieser auch nicht absolut gesehen, sondern selbstverständlich im Verhältnis zu den materiellen Möglichkeiten, die von der Gesellschaft erreicht wurden.
Nach dieser Präzisierung sehen wir, daß hinter der Behauptung Bordigas, "die "marxistische Auffassung" (als deren "invarianter" Verteidiger er sich ausgibt) "kennt (...) viele aufsteigende, ihren Höhepunkt erreichende Kurven, denen ein gewalttätiger, fast vertikaler Sturz folgt", zwei falsche Aussagen stecken.
Es ist unwahr zu behaupten, daß dies eine marxistische Auffassung ist. Marx drückte sich sehr klar über das Ende des Feudalismus und die Geburt des Kapitalismus aus, und zwar in einem Text, der hinlänglich bekannt ist:  das Kommunistische Manifest:
"Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt." ("Bourgeois und Proletarier")
Es handelte sich hier allerdings um eine ganz andere Situation als jene, die das Ende des Kapitalismus begleitet, da der Kommunismus nicht innerhalb der alten Gesellschaft errichtet werden kann. Aber im Falle des Feudalismus wie auch des Kapitalismus stellt sich die Frage des Sturzes  der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse, wenn letztere zu einer "Fessel" geworden sind, wenn sie die wirtschaftliche Weiterentwicklung zurückhalten statt weiterbringen.
Ebenso falsch ist es zu behaupten, daß die Geschichte sich entwickelt hat, indem sie dem Schema einer Serie von stetig-wachsenden Kurven folgte. Insbesondere in dem Fall, der uns hier am meisten interessiert - der Kapitalismus.
Man muß entweder mit Blindheit geschlagen oder durch die Propaganda  der dekadenten  Bourgeoisie geblendet sein, um nicht den Unterschied zwischen dem Kapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg und dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu erkennen und dann zu behaupten, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im 20. Jahrhundert nicht eine größere Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte sind, als sie es im 19. Jahrhundert waren.
Wirtschaftskrisen, Kriege, das Gewicht der unproduktiven Ausgaben - all das gab es sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert, doch der Unterschied zwischen beiden Epochen ist quantitativ so groß, daß er zu einer neuen Qualität wird. (Die GCI, die das Wort "dialektisch" überall in ihrem Text benutzt, muß zumindest von der Umwandlung von Quantität in Qualität gehört haben).
Die hemmenden Auswirkungen auf die Entwicklung der Produktivkräfte, hervorgerufen durch die Zerstörungen und die Verschwendung der materiellen und menschlichen Ressourcen in den beiden Weltkriegen, unterscheiden sich qualitativ davon, was zum Beispiel im Krimkrieg (1853-56) oder im deutsch-französischen Krieg (1870-1871) stattfand. Was die Wirtschaftskrisen anbetrifft, sind die zyklischen Krisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum mit jenen von 1929-39 und 1967-87 vergleichbar, weder in ihrer geographischen Ausbreitung noch in ihrer Dauer (siehe dazu den Artikel in Internationale Revue Nr. 8: "Der Kampf des Proletariats im dekadenten Kapitalismus", wo diese Frage gesondert behandelt wird). Was das Gewicht der unproduktiven Kosten und ihrer sterilisierenden Wirkung auf die Produktion angeht, so liegt auch hier ein qualitativer Unterschied im Vergleich zum 19. Jahrhundert vor:

  • die  permanente Rüstungsproduktion, die wissenschaftliche Forschung für militärische Zwecke, der Unterhalt von Armeen (1985 sprachen offizielle Regierungszahlen von weltweit mehr als 1,5 Mio. Dollar Rüstungsausgaben pro Minute!);
  • die unproduktiven Dienstleistungen (Banken, Versicherungen, die meisten staatlichen Verwaltungen, Werbebranche usw.).

Die GCI zitiert einige Zahlen zum Produktionswachstum des 19. und 20. Jahrhunderts, die angeblich das Gegenteil beweisen. Wir können hier nicht in die Einzelheiten gehen (siehe dazu  unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus"). Einige kurze Bemerkungen müssen allerdings gemacht werden.
Die Zahlen der GCI vergleichen die Produktion zwischen 1950 und 1972 mit dem Zeitraum von 1870 und 1914. Das ist eine ziemlich krude Irreführung. Man muß nur vergleichen, was man vergleichen kann, damit das Argument in sich zusammenfällt. Wenn man statt der oben genannten Zeiträume, die den Zeitraum zwischen 1914 und 1949 (zwei Weltkriege und die Krise der 30er Jahre) aus der Dekadenzphase ausklammern, die Periode zwischen 1840 und 1914 mit 1914-1983 vergleicht, schmilzt der Unterschied dahin... Und außerdem bestand die Produktion im 19. Jahrhundert hauptsächlich in der Produktion von Produktionsmitteln  und Konsumgütern, während sie im 20. Jahrhundert einen stetig wachsenden Anteil von Zerstörungsmitteln oder anderen unproduktiven Elementen umfaßt (heute gibt es eine Anhäufung von Zerstörungskraft, die vier Tonnen Dynamit pro Mensch entspricht, und in der "Buchführung" des Staates  wird von einem Bürokraten ausgegangen, der das Äquivalent seines Gehalts produziert). Schließlich und vor allem wird der Vergleich zwischen der tatsächlich realisierten Produktion und dem, was in Anbetracht des technischen Entwicklungsstands in dieser Zeit hätte produziert werden können, völlig außer Acht gelassen.
Aber abgesehen von den Unwahrheiten, die in der Behauptung enthalten sind, daß "der Kapitalismus Marx zufolge  unaufhörlich, über alle Grenzen hinaus wächst", wendet sich die Auffassung Bordigas von den marxistischen, materialistischen Grundlagen der Möglichkeit der Revolution ab.
Wenn der "Kapitalismus unaufhörlich, über alle Grenzen hinauswächst", warum sollten sich dann eines Tages Hunderte von Millionen Menschen dazu entscheiden, in einem Bürgerkrieg ihr Leben zu riskieren, um das eine System durch ein anderes zu ersetzen? Wie Engels sagte:
"Solange eine Produktionsweise sich im aufsteigenden Ast ihrer Entwicklung befindet, solange jubeln ihr sogar diejenigen entgegen, die bei der ihr entsprechenden Verteilungsweise den kürzern ziehn." (Anti-Dühring, Politische Ökonomie, I. Gegenstand und Methode, MEW 20, S. 138)


GRADUALISMUS UND FATALISMUS

Die Theorie des "Gradualismus" behauptet, daß gesellschaftlichen Umwälzungen nur langsam, durch eine Reihe von kleineren Änderungen zustandekommen: "Keine Erschütterungen, keine Sprünge", wie Bordiga sagt. Die Analyse der Dekadenz besagt, daß sie sich durch die Eröffnung einer "Ära von Kriegen und Revolutionen" (Manifest der Kommunistischen Internationale) äußert. Sofern man nicht Kriege und Revolutionen als schmerzlos, als sanften Wechsel darstellt, dreschen Bordiga und die GCI bloß mit Phrasen.
Was die Beschuldigung des "Fatalismus" angeht, so ist diese auch nicht viel ernstzunehmender. (4)
Der Marxismus behauptet nicht, daß die Revolution unausweichlich sei. Er leugnet nicht den Willen als Faktor in der Geschichte, aber er zeigt auf, daß dieser Wille nicht ausreicht, daß er sich in einem materiellen Rahmen verwirklichen muß, der von einer Entwicklung, von einer historischen Dynamik bewirkt wird, welche man berücksichtigen muß, wenn Ersterer seine Wirksamkeit entfalten kann . Die Bedeutung, die der Marxismus dem Verständnis der "wirklichen Bedingungen", den "objektiven Bedingungen" beimisst, ist nicht die Verneinung des Bewußtseins und des Willens, sondern im Gegenteil die einzige konsequente Bestätigung dieser Faktoren. Ein klarer Beweis hierfür ist die Bedeutung, die der kommunistischen Propaganda und Agitation zugeschrieben wird.
Es gibt keine unvermeidliche Entwicklung von Bewußtsein in der Klasse. Die kommunistische Revolution ist die erste Revolution in der Geschichte, in der das Bewußtsein eine wirklich entscheidende Rolle spielt, und sie ist genauso wenig unvermeidlich wie dieses Bewußtsein.
Dagegen folgt die ökonomische Entwicklung objektiven Gesetzen, die, solange die Menschheit unter materiellem Mangel leidet, den Menschen unabhängig von ihrem Willen aufgezwungen werden.
In der Schlacht, die die Linke in der II. Internationalen gegen die revisionistischen Theorien Bernsteins führte, stand die Frage des unvermeidlichen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft im Mittelpunkt der Debatte, was an der Bedeutung ersichtlich wird, die Rosa Luxemburg dieser Frage in Reform oder Revolution? beimaß, einem Werk, das von der gesamten Linken in Deutschland wie in Rußland (besonders von Lenin) begrüßt wurde.
Die "marxistische", religiöse Orthodoxie Bordigas ignoriert Marx und Engels, die furchtlos schrieben:
"Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eigenen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben." (Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals")
".... diese Produktionsweise durch ihre eigne Entwicklung dem Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht." (Anti-Dühring, ebenda)
Der Marxismus behauptet nicht, daß der Triumph der kommunistischen Weltrevolution unvermeidlich ist, sondern daß, wenn das Proletariat sich seiner historischen Aufgabe nicht als ebenbürtig erweist, die Zukunft nicht ein Kapitalismus ist, der "unaufhörlich, über alle Grenzen hinaus wächst", wie Bordiga behauptete, sondern die Barbarei - die reale Barbarei: jene Art, die sich seit 1914 unaufhörlich ausgebreitet hat; die Art, deren Bilder Verdun, Hiroshima, Biafra, den Iran-Irak-Krieg, die letzten zwanzig Jahre eines ununterbrochenen Wachstums in der Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Drohung eines Nuklearkrieges umfaßt, der die menschliche Spezies ausrotten würde.
Sozialismus oder Barbarei: zu begreifen, daß dies die Alternative für die Menschheit ist, heißt, die Dekadenz des Kapitalismus zu begreifen.


R.V.

 

(1) Groupe Communiste Internationaliste: BP 54, BXL 31, 1060 Bruxelles, Belgien,
(2) Die theoretischen Grundlagen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus sind in der Einleitung der Broschüre der IKS zur "Dekadenz des Kapitalismus" dargelegt.
(3) So haben wir eine kleine Gruppe in Belgien gesehen, die den Bruch mit dem Anarchismus anstrebt und noch die "Marx-Bakunin-Frage zu vertiefen" hat, wie sie sich ausdrückt, die aber aus ihrem Elfenbeinturm der Ignoranz und in ihrem ehrfürchtigen Studium der GCI über die Dekadenztheorie richten will:
"Die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus! Aber was zum Teufel will denn diese Theorie aussagen? Kurzum, wir können sie als die wundervollste, fantastischste Geschichte seit dem Alten Testament bezeichnen. Den Propheten der IKS zufolge teilt sich die Lebenslinie des Kapitalismus in zwei unterschiedliche Teile auf. Am schicksalhaften Tag des 4. August 1914 (sic!) (um die genaue Uhrzeit zu erfahren, möge man sich bitte an die Auskunft wenden) hörte das kapitalistische System auf, in seiner 'aufsteigenden Phase' zu sein, und trat in die Phase der furchtbaren, tödlichen Erschütterungen ein, die die IKS mit dem Namen 'Dekadenzphase des Kapitalismus' getauft hat. Offensichtlich haben wir es hier mit einer wahren Psychose zu tun!" (RAIA, Nr. 3, BP 1724, 1000 Bruxelles)
(4) Die GCI scheint nicht den Widerspruch zu bemerken, wenn sie im gleichen Atemzug Bordigas Formulierung aufgreift und behauptet, daß man "den Kommunismus als etwas bereits Geschehenes betrachten" könne!

Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir10/1988_poldekadenz [28]

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [29]

Internationale Revue - 1989

  • 2805 reads
  

Internationale Revue Nr. 11

  • 2280 reads

Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft

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Der Kapitalismus steckt in einer Sackgasse. Jeden Tag erleben wir aufs Neue das Bild einer Gesellschaft, die auf ihre eigene Zerstörung zurast. Seit dem Holocaust des 2. Weltkriegs hat es ununterbrochen Kriege und Massaker in der kapitalistischen Peripherie gegeben. Die Barbarei dieses kapitalistischen Systems, dessen fortgesetzter Todeskampf nur eine Welle von Zerstörun­gen hervorrufen kann, wird jeden Tag offensichtlicher. Die jüngste Serie von "natürlichen" Katastrophen und Unfällen, die Zunahme des Bandenunwesens, des Terroris­mus, des Drogenkonsums und -handels sind alles Ausdrücke dieses allgemeinen Geschwürs, das sich welt­weit immer tiefer in den Körper des Kapitalismus frißt.
Obgleich der Eintritt des Kapitalismus in den Zeitraum seiner Dekadenz die Vorbedingung für seine Zerstörung durch die proletarische Revolution ist, ist die Fortdauer dieser Dekadenz nicht ohne Gefahr für die Arbeiterklasse. Die Ausbreitung der Fäulniserscheinungen des Kapitalismus auf alle  Gesellschaftsschichten droht auch die einzige Klasse zu kontaminieren, die in sich die Zukunft der Menschheit trägt. Da der Kapitalismus am lebendigen Leib verfault, obliegt es nicht den Revolutionären, die Arbeiterklasse in ihrem Elend und Leid zu trösten, indem sie den Schrecken dieser im Zerfall befindlichen Gesellschaft verbergen; im Ge­genteil, sie müssen sein ganzes Ausmaß hervorkehren und die Arbeiter vor dieser täglichen Gefahr der Kontamination warnen.
Die Nachricht von Katastrophen, hervorgerufen durch "Naturphänomene" oder durch Unfälle, die eine Vielzahl von Menschen töten oder verstümmeln, ist Alltag geworden. In den letzten Mona­ten ist kaum eine Woche vergangen, in der nicht die Medien apokalyptische Bilder von Katastrophen veröf­fentlichten, die an einem Tag die unterentwickelten Länder und am nächsten die großen Industrieme­tropolen der westlichen Welt treffen. Solche Ereignisse sind mittlerweile banal geworden; sie betreffen den ganzen Erdball. Nicht nur verschlimmern sie die allgemeine Unsicherheit der Ar­beiterklasse und der Bevölkerung insgesamt; sie werden immer mehr als eine Gefahr empfunden, die die ganze Welt auf ziemlich die gleiche Weise wie ein Nuklearkrieg zu verschlingen droht.


Der Sturz in die Dekadenz: noch mehr Zerstörung durch den Kapitalismus

Sintflutartige Regenfälle in Bangladesch, die im September 1988 mehr als 30 Millionen Menschen in Mitleidenschaft zogen; Dürrekatastrophen im Sahel, die in den letzten Jahren bislang nie ge­kannte Hungersnöte verursacht haben; Hurrikane in der Karibik oder auf der Insel La Reunion, die die Häuser der örtlichen Bevölkerung platt walzten; Erdbeben in Armenien, wo ganze Städte innerhalb weniger Minuten in Schutt und Asche fielen und Zehntausende von Menschen in den Ruinen lebendig begraben wurden - all diese gigantischen Katastrophen, die in den letzten Monaten unterentwickelte Länder verwüstet haben, beschränkten sich je­doch nicht auf die Dritte Welt oder auf den Ostblock.
Sie tendieren dazu, sich auf die höchst industrialisier­ten Regionen der Welt auszudehnen, wie uns die entsetzliche Serie von Zug- und Flugzeugunfällen zeigt, die Hunderte von Opfern im Zentrum der großen städti­schen Zusammenballungen in Westeuropa gefordert ha­ben.
Im Gegensatz zu dem, was die Bourgeoisie uns glauben machen möchte, ist keine dieser Zerstörungen, keiner dieser Verluste an Menschenleben Schicksal, auf irgendein "Gesetz der Serie" oder auf die "unkontrollierbaren Kräfte der Natur" zurückzuführen. Das einzige Ziel dieser "Erklärungen", die der herrschenden Klasse so gut in den Kram passen, ist, ihr System von jeglicher Verantwortung freizusprechen, seine ganze Fäulnis und Barbarei zu verbergen. Denn die wirkliche Ursache hinter all diesen Tragödien, diesem unbeschreiblichen menschli­chen Leid ist der Kapitalismus selbst, und diese entsetzliche Serie von "natürlichen" oder "zufälli­gen" Katastrophen ist nur der spektakulärste Ausdruck einer todgeweihten Gesellschaft, die sich selbst in alle Einzelteile zerlegt.
Diese Tragödien enthüllen vor aller Augen den totalen Zusammen­bruch der kapitalistischen Produktionsweise, die seit dem 1. Weltkrieg in ihre Dekadenz eingetreten ist. Diese Dekadenz bedeutet, daß nach einer Epoche der Prosperität, in der das Kapital in der Lage war, die Produktivkräfte und den gesellschaftlichen Reichtum bis zu einem enormen Ausmaß zu entwickeln, indem der Weltmarkt geschaffen und vereinigt wurde, indem es seine Produktionsweise über den ganzen Planeten ausdehnte, Anfang des 20. Jahrhundert der Kapitalismus seine eigenen historischen Grenzen erreicht hat. Dieser Niedergang des Kapitalismus äußert sich heute da­rin, daß er von nun an immer mehr Zerstörungen und Barbarei, Hungersnöte und Massaker auf der ganzen Welt erzeugt.
Diese Dekadenz erklärt insbesondere, warum die Länder der "Dritten Welt" sich nicht haben entwickeln können: sie sind zu spät auf einem Weltmarkt angekommen, der schon gebildet, aufgeteilt und gesättigt war (siehe unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapita­lismus") . Sie verdammt diese Länder, trotz allen heuchlerischen Geredes über ihre "Entwicklung", dazu, die ersten Opfer der äußersten Barbarei eines sterbenden Kapitalismus zu sein. Sie sind gewissermaßen zum Schauplatz des absoluten Horrors geworden.
Je länger sein Todeskampf dauert, desto schrecklicher treten die hervorstechendsten Merkmale des Kapitalismus in Erscheinung, weil die unlösbaren, inneren Wi­dersprüche des Systems offen zutage treten.
Sicher kann man dem Kapitalismus nicht vorwerfen, für Erdbeben, Hurrikanes oder Dürre verantwortlich zu sein. Er ist jedoch verantwortlich für die Tatsache, daß solche natürlichen Phänomene zu einer gewaltigen gesellschaftlichen Katastrophe, zu einer gigantischen menschlichen Tragödie werden.
Der Kapitalismus besitzt die technischen Fähigkeiten, Menschen auf den Mond zu schicken, monströse Waffen zu entwickeln, die den Planeten mehrfach vernichten können; gleichzeitig ist er nicht in der Lage, die Bevölkerung vor Naturkatastrophen zu schützen, indem Deiche gegen die Auswirkungen von Hurrikanen, erdbebensichere Häuser gebaut oder Wasserläufe geändert werden.
Schlimmer noch, nicht nur kann der Kapitalismus nichts unternehmen, um diese Katastrophen zu verhindern, er ist auch unfähig, ihre verheerenden Auswirkungen abzuschwächen. Was die herrschende Klasse "internatio­nale Hilfe" für die betroffenen Bevölkerungen nennt, ist eine widerwärtige Lüge. Jeder Staat und jede Regie­rung der herrschenden Klasse ist direkt verantwortlich für das Leid von Hunderten von Millionen von Men­schen, die jeden Tag wie die Fliegen sterben, sei es als Opfer von Cholera, Ruhr oder Hunger.
Während Millionen Kinder vom Hungertod bedroht sind, werden in den großen Industriezentren des Kapitalismus alljährlich Millionen Tonnen von Milch vernichtet, um den Zusammenbruch der Marktpreise zu verhindern. In den von Monsunen oder Hurrikanen betroffenen Ländern ist die Bevölkerung dazu verurteilt, um magere Getreiderationen zu kämpfen, wäh­rend die Regierungen der EG-Länder planen, 20 Prozent des nutzbaren Bodens brachzulegen, um die Überpro­duktion zu bekämpfen!
Die entsetzliche Barbarei des dekadenten Kapi­talismus drückt sich nicht nur in seiner Unfähigkeit aus, das Leid der Opfer dieser Naturkatastrophen gegenüber diesen Phänomenen zu lindern. Die permanente, un­lösbare Krise dieses Systems ist selbst eine ge­waltige Katastrophe für die ganze Menschheit, wie wir an der wachsenden Verarmung von Millionen von Menschen sehen können, die auf den Zustand des verzweifelten Elends herabgedrückt werden. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, die gewaltigen Massen der Arbeitslosen in den Produktionsprozeß einzugliedern, beschränkt sich nicht nur auf die Länder der "Dritten Welt". Im Zentrum der höchstindustrialisierten Nationen enthüllt die Verarmung, in die Millionen von Proletarier gestürzt werden, die ganze Fäulnis dieses Systems. Das wird nicht nur an der Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit deutlich, die keine "Wirtschaftspolitik" überwinden kann, sondern auch an der Ausbreitung der Verarmung, die immer mehr Arbeiter trifft, die noch eine Arbeit haben. Im reichsten Land der Welt, den USA, werden Millionen Arbeiter, die zumeist noch eine Vollzeitbeschäftigung haben (und die 15 Prozent der Bevölkerung repräsentieren), zu Obdachlosen gemacht und gezwungen, auf den Bürgersteigen, in Pornokinos (die als einzige Kinos die ganze Nacht aufbleiben) oder in Autos zu schlafen, weil sie sich keine Wohnung leisten können.
Je mehr der Kapitalismus an seiner allgemeinen Überproduktionskrise erstickt, desto weniger ist er der Lage, seinen Ausgebeuteten das Lebensnotwendige sicherzustellen oder den Hunger zu überwinden, der heute in Ländern wie Äthiopien oder im Sudan die Form eines  Völkermordes annimmt. Je weiter er in der Beherrschung von Technik voranschreitet, desto weniger benutzt er sie im Dienste der Sicherheit der Bevölkerung.
Was nützen da vor dem Hintergrund dieser entsetzlichen Wirklichkeit all die "humanitären" Kampagnen für die "Hilfe der Opfer und/oder Hungernden", die von den großen westlichen "Demokratien" inszeniert werden, all die "Solidaritätsappelle" von "Berühmtheiten" aller Art? Wie "wirksam" sind all diese karitativen Unternehmen, die in den fortgeschrittenen Ländern Suppenküchen oder Notunterkünfte für die Obdachlosen betreiben? Welche Bedeutung haben all die jämmerlichen "Unterstützungen", die einige Staaten jenen zukommen lassen, die mittellos sind? Bestenfalls sind all diese Hilfen zusammen genommen nur ein Tropfen auf den heißen Stein von Armut und Hunger. In der Dritten Welt verzögern sie allenfalls die tragischen Konsequenzen für die betroffen Bevölkerungen um einige Wochen. Und wenn sie in die fortgeschrittenen Länder gehen, reichen sie gerade aus, um zu verhindern, daß diese Länder allzu sehr den unterentwickelten gleichen. Tatsächlich sind diese "Hilfen", diese "Solidaritätskampagnen" nichts anderes als ausgemachte Maskeraden, ein schmutzig und zynisches Geschäft, dessen tatsächliche "Wirksamkeit" darin besteht, sich ein "gutes Gewissen" zu erkaufen, die Absurdität und Barbarei der heutigen Welt vergessen zu machen.
Das gute Gefühl und der bürgerliche Humanismus haben jedoch ihre Grenzen. Trotz der Krokodilstränen der Pfaffen und anderer Wohltätigkeitsapostel, trotz der "Hilfsbereitschaft" der Regierungen werden diese Grenzen von der Tatsache diktiert, daß die Bourgeoisie nicht den Gesetzen ihres  Systems entkommen kann. Und dies ist heute um so offensichtlicher, wo doch nach mehr als 70 Jahren Dekadenz diese Gesetze ihrer Kontrolle vollständig entgleiten, wie heute eine Reihe von katastrophalen Unfällen in den Industrieländer beweist.
In den letzten Monaten hat die Häufung von Zugunglücken, insbesondere in den städtischen Ballungsgebieten der höchstentwickelten Länder wie Frankreich oder Großbritannien gezeigt, daß diese Unsicherheit nicht nur die Bevölkerung der unterentwickelten Länder bedroht, sondern überall auf der Welt, in jedem Aspekt des Alltagslebens droht. Und im Gegensatz zu den niederträchtigen Lügen der Bourgeoisie war nicht das Versagen dieses oder jenes Lokführers für die Eisenbahnunglücke wie im Gare de Lyon von Paris im Juni 1988 oder in Clapham Junction in London im Dezember 1988 verantwortlich. Der heruntergekommene Zustand der Produktions- und Verkehrsmittel, durch den täglich Hunderte von Menschen in den höchstentwickelten Ländern getötet oder verstümmelt werden, ist nicht auf schlechtes Wirtschaftsmanagement zurückzuführen.
Diese Kaskade von Unfällen ist nichts anderes als das verheerende Ergebnis der Politik eines jeden Staats, die Produktion zu "rationalisieren".  Bei ihrem uner­sättlichen Streben nach Profit und Konkurrenzfähigkeit angesichts einer sich zuspitzenden Weltwirtschaftskrise kann keine Einsparung, die auf Kosten der Sicherheit der Arbeiter und der Bevölkerung im allgemeinen vorgenommen wird, zu klein sein, um lohnenswert zu sein, was immer es auch an Menschenleben kosten mag. Diese "Rationali­sierung", die im Namen der Produktivität eine immer größere Zerstörung der Produktivkräfte bewirkt, ist tatsächlich vollkommen irrational. Arbeitskraft wird zerstört, nicht nur durch Arbeitslosigkeit, sondern auch durch den Tod und die Verletzungen, die durch die Katastrophen und Arbeitsunfälle verursacht werden, die alle durch dieselbe "Rationalisierung" hervorgerufen werden. Technische Ressourcen werden durch das Schließen von Fabriken zerstört, aber auch durch den materiellen Schaden, der durch all diese "Unfälle" entsteht.
So sind die Zerstörungen, die die Ökologiebewegung auf den "technischen Fortschritt" zurückführt - die zu­nehmende Verpestung von Luft und Wasser, "Unfälle" in Chemiefabriken wie in Seveso (Italien) oder Bophal (Indien), mit mehr als 2.500 Tote im letztegenannten, Ato­munfälle wie in Three Miles Island oder Tschernobyl, die Ölteppiche, die regelmäßig die Flora und Fauna der Küstengebiete zerstören und damit die ozanische Nahrungskette über Jahrzehnte hinaus bedrohen (wie man kürzlich in der Antarktis sehen konnte), die Zerstörung der Ozon­schicht, die jegliches Lebewesen vor der ultravioletten Strahlung schützt, durch FCKW, der Raub­bau am Regenwald des Amazonas, der Hauptsauerstof­fquelle für die Erde - all dies sind Ausdrücke der ir­rationalen, selbstmörderischen Logik des dekadenten Kapitalismus, seiner vollkommenen Unfähigkeit, die Produktivkräfte zu beherrschen, die er in Bewegung gesetzt hat und die jetzt drohen, in den kommenden Jahrhunderten, wenn nicht für immer das ökologische Gleichgewicht auf der Erde umzukippen, das für das Überleben der menschlichen Gattung erforderlich ist.
Und diese selbstmörderische Logik, diese tödliche Ma­schinerie des Kapitalismus, nimmt mit der Massenproduktion von immer ausgeklügelteren Tötungsmaschinen noch verheerendere Ausmaße an. Die fortschrittlichste Technologie ist heute auf die Rüstungsproduktion orientiert, mit der Perspektive noch größerer, umfassenderer Mas­saker als jene, die heute schon - in "Friedenszeiten" - in den sog. unterentwickelten Ländern stattfinden. Es gibt keine Grenzen für den Horror dieses blutigen Monsters, das der dekadente Kapitalismus ist.
Aber all die Zerstörungen, die dieses dahinsiechende System hervorbringt, sind nur die Spitze des Eisbergs. Sie sind nur die grotesken Ausdrücke ei­nes allgemeineren Phänomens, das auf alle Aspekte der ka­pitalistischen Gesellschaft einwirkt. Sie spiegeln nichts anderes wider als die Realität einer auseinanderbrechenden Welt.

Der ideologische Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft

Dieser Zerfall beschränkt sich nicht nur auf die Tat­sache, daß der Kapitalismus ungeachtet all der technologischen Ent­wicklungen immer noch den Gesetzen der Natur unterworfen ist, daß er unfähig ist, die Mittel zu kontrollieren, die er selbst für seine eigene Entwicklung in Bewegung gesetzt hat. Der Zerfall betrifft nicht nur die wirtschaftlichen Grundlagen des Sy­stems. Er schlägt sich auch in all den Aspekten des ge­sellschaftlichen Lebens nieder, und zwar in Form eines ideologischen Zerfalls der Werte der herrschenden Klasse, die bei ihrem Kollaps alle Werte mit sich reißt, welche ein Leben in der Gesellschaft erst möglich machen, und insbesondere durch eine wachsende Atomisierung des Individuums.
Dieser Zerfall der bürgerlichen Werte ist kein neues Phänomen. Er trat schon Ende der 60er Jahre mit dem Auftauchen von Randerscheinungen auf, die damals noch die Illusion verbreiten konnten, daß es möglich sei, kleine Oasen einer anderen Gesellschaft, die auf anderen gesellschaftlichen Verhält­nissen beruht, inmitten des Kapitalismus zu bilden.
Dieser Zerfall der Werte der herrschenden Klasse äußerte sich im Aufkommen von Ideologien wie die der "Kommune" - das Ergebnis der Revolte der kleinbürgerlichen Schichten, die von der Krise und insbesondere vom Zerfall der Gesellschaft betroffen waren - und der Hippiebewegung in den 60er und frühen 70er Jahren, sowie durch eine ganze Reihe von Strömungen, die "eine Rückkehr zur Natur", zum "Leben in der Natur" usw. propagierten. Ihre Existenz auf eine angeblich "radikale" Kritik", eine Infragestellung der Lohnarbeit, der Warenwirtschaft, des Geldes, des Privateigentums, der Familie, der "Konsumgesellschaft" usw. gründend, stellten sich all diese Gemeinschaften als "alternative" oder "revolutionäre" Lösung angesichts des Zusammenbruchs der bürgerlichen Werte und der Atomisierung des Einzelnen dar. Alle rechtfertigten sich mit der Begründung, daß eine bessere Welt geschaffen werden könne, indem man einfach "die Geisteshaltung ändert" und die Gemeinschaftsexperimente verbreitet. Jedoch gingen diese Minderheitsideologien - die auf Sand gebaut waren, da sie von gesellschaftlichen Schichten in die Welt gesetzt wurden, die, anders als das Proletariat, keine historische Zukunft haben - nicht nur damit hausieren, was sich seither angesichts des anschließenden Zusammenbruchs als bloße Illusion erwiesen hat. Ihre Projekte waren in Wirklichkeit nur eine groteske Parodie des primitiven Kommunismus. Diese Nostalgie, diese Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einem archaischen und seit Jahrtausen­den überholten Gesellschaftstyp spiegelte nichts an­deres als eine vollkommen reaktionäre Ideologie wi­der, deren im Kern religiöser Charakter zudem durch die Tatsache deut­lich geworden ist, daß all diese "Reinigungsmotive" fast wortgetreu von mystischen Sekten wie die Moon-Sekte, Hare Krishna , den "Kindern Gottes" u.ä. aufgegriffen wor­den, die seither aus den Ruinen dieser Gemeinschaften aufgestiegen sind.
Heute sind die Gemeinschaften der 60er und 70er Jahre entwe­der durch religiöse Sekten (von denen die meisten durch den kapitalistischen Staat und die Geheimdienste der Großmächte ausgenutzt, wenn nicht gar direkt manipuliert werden) oder durch viel kurzlebigere Phänomene abgelöst worden, wie die riesigen Versammlungen auf Rockkonzerten, die von bürgerlichen Institutionen wie "SOS Racisme" in Frankreich, "Band Aid" oder Amnesty International im Namen der großen humanitären Fragen - dem Hunger in der Welt oder dem Kampf gegen die Apartheid - organisiert werden und die den neuen Generationen nur ein Surrogat der Gemeinschaft und der menschlichen Solidarität anbieten können.
Doch seit einigen Jahren hat sich in den großen Industrieländern der ideologische Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft  in der Entwicklung nihilistischer Ideologien wie die Abart der "Punks" widergespiegelt, die die Leere zum Ausdruck bringen, in welche die Gesellschaft zunehmend gestoßen wird.
Heute erzeugt die wirtschaftliche Sackgasse, in die das kapitalistische System geraten ist, solch ein Elend, solch eine Barbarei, so daß sich einem der Eindruck einer Welt ohne Zukunft, am Rande des Zusammenbruchs aufdrängt; ein Eindruck, der sich in der ganzen Gesellschaft durchzusetzen scheint. Seitdem es seit Anfang der 80er Jahre offensichtlich geworden ist, daß die Menschheit in einer Sackgasse steckt, haben sich all die "alternativen Lösungen" des letz­ten Jahrzehnts in Luft aufgelöst. Der Utopie des "Peace and Love" der Hippie-Gemeinschaften folgte das "No Future" der Punks, der "Hooligans" und der Skinheadbanden, die in den Zentren der Großstädte die Bevölkerung terrorisieren. Nicht mehr die Liebe, der Pazifismus und die verzückte Gewaltlosigkeit der Aussteiger-Ideologien der damaligen Zeit, sondern der Haß, die Gewalt, die Lust, alles kaputtzumachen, treibt nun diese Randgruppen der Jugend an, die einer Welt ohne Hoffnung ausgeliefert sind, einer Welt, die ihnen nichts anderes anzubieten hat als die Perspektive der Arbeitslosigkeit, des Elends und einer wachsenden Barbarei.
Das gesamte gesellschaftliche Leben erstickt heute am widerlichen Verwesungsgeruch dieses Zerfalls herrschender Werte. Die Herrschaft der Gewalt, der "individuellen Cleverness", des "Jeder für sich" hat die gesamte Gesellschaft und besonders die ärmsten Schich­ten mit ihrem Alltagslos der Hoffnungslosigkeit und der Zerstörung befallen: Arbeitslose, die Selbstmord begehen, um dem Elend zu entkommen; Kinder, die vergewaltigt und getötet werden; Rentner, die wegen Kleingeld gefol­tert und umgebracht werden... Die Unsicherheit, die ständige Angst, das Gesetz des Dschungels, der Terrorismus, die sich in den großen industriellen Konzentrationen ausbreiten, sind eine himmelschreiende Manifestation des fortgeschrittenen Stadiums des Zerfalls dieser Gesellschaft.
Was die Medien angeht, so reflektieren und propagieren sie diesen Zerfall. Im Fernsehen, im Kino, die Gewalt ist allgegenwärtig, Blut und Schrecken beflecken tagtäglich die Bildschirme, selbst in den Filmen, die für Kinder bestimmt sind. Auf systematische, obsessive Weise beteiligt sich die gesamte Medienwelt an dem gigantischen Unterfangen der Volksverdummung und besonders der Verdummung der Arbeiter. Dabei sind alle Mittel recht: von der allgemeinen Inbesitznahme des Fernsehbildschirms durch sportliche Spektakel, wo sich mit Anabolika vollgepumpte "Helden" miteinander messen, bis hin zur Aufforderung, an allen möglichen Lotterien und anderen Glücksspielen teilzunehmen, mit Hilfe derer man im Austausch für die Illusion auf ein besseres Leben jenen Menschen Woche für Woche oder gar Tag für Tag Geld aus der Tasche zieht, die vom Elend erdrückt werden. Im Grunde bringt die gesamte "Kulturproduktion" heute die Fäulnis der Gesellschaft zum Ausdruck. Nicht nur das Fernsehen und das Kino, sondern auch die Literatur, die Musik, die Malerei und die Architektur wissen heute nicht weiter, als die Angst, die Verzweiflung, die Zersplitterung des Denkens, die Leere zum Ausdruck zu bringen und zu generieren.
Eine der offenkundigsten Manifestationen dieses Zerfalls heute ist die immer massenhaftere Verbreitung von Drogen. Ihr Konsum hat heute eine ganz neue Dimension angenommen, drückt er doch nicht mehr die Flucht in irgendwelche Hirngespinste aus, wie das in den 60er und 70er Jahren der Fall war, sondern eine wilde Flucht in den Wahnsinn oder in den Selbstmord. Es geht nicht mehr darum, kollektiv den Marihuana-"Joint" kreisen zu lassen und in höheren Regionen zu schweben, wenn dieser Teil der Jugend bei den härteren Drogen hängebleibt, sondern darum, sich prima zu "amüsieren", "sich einen reinzuziehen".
Und jetzt ist die ganze Gesellschaft von diesem Krebs erfaßt, nicht nur die Drogenkonsumenten. Insbe­sondere die Staatsapparate selbst sind heute von innen her von diesem Geschwür zerfressen. Nicht nur die Staaten der "Dritten Welt" wie Bolivien, Kolumbien, Peru, wo der Drogen­export heute zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden ist, sondern auch in den USA, die heute einer der Hauptproduzenten von Cannabis sind, mit einer Ausbeute, die nach Mais und Soja die ihrem Wert nach die drittgrößte Ernteeinnahmen generiert.
Hier erneut stößt der Kapitalismus auf einen unüber­windbaren Widerspruch. Einerseits kann das System den massenhaften Konsum von Drogen nicht tolerieren (allein der Verbrauch in den USA beträgt ca. 250 Mrd. Dollar, d.h. das Äquivalent des US-Verteidigungsetats), da er, Kriminalität, Geisteskrankheiten und Epidemien wie Aids begünstigend, vom strikt ökonomischen Standpunkt aus eine wahre Katastrophe ist. Andererseits ist der Handel mit dieser Ware eine der Hauptstützen des Staats nicht nur in den unterentwickelten Ländern wie Paraguay oder Surinam, sondern gleichermaßen des mächtigsten "demokratischen" Staates der Welt, den USA.
So werden die amerikanischen Geheimdienste zu einem beträchtlichen Teil aus den Cannabis-Exporten finanziert, was soweit geht, daß George Bush, der heute "den Kampf gegen den Drogenmißbrauch" anführt, als ehemaliger CIA-Chef direkt darin verwickelt war. Und diese Korruption, die mit dem Drogengeschäft verknüpft ist, diese Fäulnis, von der heute der kapitalistische Staat mittels der Gangstermethoden seiner Führer lebt, ist keine Besonderheit der drogenproduzierenden Länder. Alle Staaten sind heute direkt damit kontaminiert, wie erst jüngst der Skandal der Geldwäsche der "Narco-Dollars" gezeigt hat, in dem der Ehemann der Ex-Justizministerin eines so "sauberen" Landes wie der Schweiz verwickelt war.
Die Korruption des politischen Apparates der Bourgeoisie entwickelt sich übrigens nicht nur rund um die Drogen: der Fäulnisprozeß schreitet in allen Bereichen voran. Heute vergeht überall auf der Welt kein Tag, keine Woche, kein Monat, an dem nicht ein neuer "Skandal" unter Beteiligung höchster Würdenträger des Staates aufge­deckt wird (und wie üblich enthüllen diese Skandale nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit). Beispielsweise haben wir zur Zeit in Japan eine Situation, in der praktisch alle Regierungsmitglieder, der Pre­mierminister eingeschlossen, in einer riesigen Bestechungsaffäre verwickelt sind. Die Fäulnis ist dergestalt, daß die Bourgeoisie größte Mühe hat, "repräsentable" Politiker zu finden, um die zurückgetretenen Minister zu ersetzen, und wenn sie glaubt, solch "seltenen Vogel" gefunden zu haben, einen "wirklich Unbestechlichen", dann nur, um kurze Zeit später festzustellen, daß er zu den ersten gehörte, die sich großzügig "schmieren" ließen.
Und natürlich ist Japan nicht das einzige hochentwickelte Land, das solche Ereignisse produziert. In einem Land wie Frankreich steht die Sozialistische Partei, deren Wahlkampfthemen traditionell die "großen Geldgeber" angreifen, im Mittelpunkt eines "Insidergeschäfts" (Verwendung geheimer Informationen aus der Umge­bung der Minister, um sich innerhalb weniger Stunden zu bereichern), und es ist ein enger, durch seine Kritik an den "Bestechungsgeldern" bekannt gewordener Freund des Präsi­denten, der zu denen gehört, die am meisten Geld gescheffelt haben. Übrigens ist die Börsenspekulation, die als Mittel für diese Bereicherung dient, selbst ein treibender Faktor im Fäulnisprozeß der kapitalistischen Gesellschaft, steckt doch die Bour­geoisie einen Großteil ihres Kapitals nicht in produk­tive Investitionen, sondern in "Glücksspiele", die dazu gedacht sind, eine schnelle und reiche Rendite abzuwerfen. Immer mehr gleichen die Börsen den Spielhallen von Las Vegas.
Nachdem der Kapitalismus bislang die extremsten Aus­wirkungen seiner eigenen Dekadenz auf die Länder der Peripherie (die unterentwickelten Län­der) abwälzen konnte, schlägt dieser Zerfall jetzt wie ein Bumerang in das Herz des Kapitalismus ein. Und dieser Zerfall, der heute in den großen Industrie­zentren seinen Einzug hält, spart keine gesellschaft­liche Klasse aus, keine Altersgruppe, nicht einmal die Kinder.
Bislang kannte man die Kriminalität und die Kinderkriminalität aus den "Drittwelt"-Ländern, in denen die chronische Wirtschaftsflaute seit Jahrzehnten die Be­völkerung in eine grauenhafte Verarmung und ein allgemeines Chaos stürzt. Heute sind die Kinderprostitution auf den Straßen von Manila oder die Bandenbräuche der Kinder von Bogota keine entfernten und exotischen Geißeln mehr. Selbst im Herzen der er­sten Weltmacht, im höchst entwickelten Bundesstaat der USA, in Kalifornien, tritt vor den Toren von Silicon Valley, einer Region, wo sich die fortgeschrittenste Technologie der Welt sich konzentriert, dieses Phänomen in Erscheinung. Kein anderes Bild kann die unlösbaren Widersprüche des dekadenten Kapitalismus besser verdeutlichen. Einer­seits eine gigantische Anhäufung von Reichtümern, an­dererseits eine furchtbare Verarmung, durch die heute Kinderbanden in ein selbstmörderischen Lebenswandel getrieben werden: junge Mädchen, die gerade erst die Pubertät hinter sich haben, flüchten sich in die Prostitution, wenn sie nicht auf der Suche nach einem Lebensinhalt Mütter werden, Flucht in den Drogenhandel und -konsum, wo acht- bis zehnjährige Kinder in diesen Teu­felskreis des Bandenwesens, des organisierten Tötens getrieben werden (allein in Los Angeles sind nicht weniger als 100.000 Kin­der - Bandenmitglieder, die allein im Jahr 1987 für 387 Morde verantwortlich sind - am Drogenkleinhandel beteiligt).
Aber nicht nur in den USA verbreitet der verwesende Kapitalismus jeden Tag mehr Verzweiflung und den Tod unter der jun­gen Generation. In den großen Industriezentren Westeuropas konnte man in der letzten zehn Jahren neben dem un­geheuren Anwachsen der Jugendkriminalität und der Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen ein An­steigen der Selbstmordrate unter Jugendlichen feststellen, die katastrophale Ausmaße anhenommen hat. So ist Frankreich neben Belgien und der BRD eines der Länder, wo die Selbstmordrate bei Jugendlichen zwischen 15-24 Jahren am höchsten ist. Mit einen offiziellen Durchschnitt von 1.000 Selbstmorden pro Jahr, was 13 Prozent der Todesursachen in dieser Altersgruppe entspricht (während sie in der Gesamtbevölkerung nur 2.5 Prozent ausmachen), haben sich diese Zahlen zwischen 1960 und 1985 verdreifacht. Ohne dabei die fehlgeschlagenen Selbst­mordversuche zu zählen, die in dieser Altersgruppe 10 mal höher sind.
All diese Manifestationen des Zerfalls dieser Gesellschaft, die zuschaut, wie ihre Kinder getötet werden, spiegeln so das atembraubende Bild einer Welt wider, die in ihr eigenes Verderben versinkt. Der Kapitalismus ähnelt einem Organismus, der völlig am Ende ist und dessen künstliche Aufrechterhaltung nur über die Fäulnis seiner Organe möglich ist.

Nur das Proletariat kann die Gesellschaft aus dieser Sackgasse führen

Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft ist kein neues Phänomen. Alle dekadenten Gesellschaften der Vergan­genheit haben dieses Phänomen gekannt. Aber verglichen mit den früheren Produktionsweisen nehmen die Fäulnismanifestationen dieser Gesellschaft das Ausmaß einer in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesenen Barbarei an. Zudem ist der Kapitalismus im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften, in denen mehrere Produktionsweisen gleichzeitig in den verschiedensten Teilen der Welt bestehen konn­ten, ein weltweit bestehendes System geworden, das die ganze Welt seinen eigenen Gesetzen unterworfen hat. Daher verbreiten sich Katastrophen, die den einen oder anderen Teil des Planeten erfassen, unweigerlich auch auf die übrigen Teile, wie zum Beispiel die Ausbreitung von Krankheiten wie AIDS auf allen Kontinenten bezeugt. So droht zum ersten Mal in der Ge­schichte die gesamte Menschheit durch die Manifestierung dieses Zerfallsphänomen verschlungen zu werden. Darüber hinaus ist diese Bar­barei mit der Tatsache verbunden, daß es innerhalb des Kapitalismus keine Möglichkeit für die Entstehung der Fundamente einer neuen Gesellschaft gibt. Während in der Vergangenheit die Gesellschaftsverhältnisse wie auch die Produktionsverhältnisse einer in der Entstehung begriffenen, neuen Gesellschaft sich schon innerhalb der alten, zusammenbrechenden Gesellschaft entfalten konnten (wie dies beim Kapitalismus selbst der Fall war, der sich innerhalb der zerfallenden feudalen Gesellschaft einrichten konnte), ist dies heute nicht möglich. Die einzig mögliche Alternative ist heute der Bau einer neuen Gesellschaft - den Kommunismus - AUF DEN RUINEN DER ALTEN GESELLSCHAFT. Nur der Kommunismus kann die Be­dürfnisse der Menschheit vollkommen befriedigen, und dies dank der Reifung und Beherrschung dieser Produktivkräfte, die durch die Ge­setze des Kapitalismus unmöglich geworden sind. Und die erste Etappe dieser Erneuerung des gesell­schaftlichen Lebens kann nur der Sturz der Macht der Bourgeoisie durch die einzige Klasse sein, die heute der Menschheit eine Zukunft anbieten kann, nämlich das Weltproletariat:
"Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Le­bensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingun­gen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlich­sten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuwei­sende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieteri­sche Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heuti­gen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusam­menfassen, aufzuheben." (K.Marx, „Die heilige Familie“, IV. Kapitel, MEW Bd. S. 389)
Was Marx schon im vorigen Jahrhundert schrieb, in einer Epoche, als der Kapitalismus noch ein blühendes System war, trifft heute umso mehr zu. Angesichts dieses Zerfalls, der das Überleben des Menschen bedroht, kann nur das Proletariat aufgrund seiner Stellung in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen die Menschheit aus ihrer Vorge­schichte herausführen und eine wahrhaft menschliche Ge­meinschaft aufbauen.
Bislang waren die Kämpfe der Klasse, die sich seit den letzten 20 Jahren auf allen Kontinenten entwickelt hatten, in der Lage gewesen, den dekadenten Kapitalismus daran zu hindern, seine Antwort auf die Sackgasse seiner Wirtschaft durch­zusetzen: die Entfesselung der ultimativen Form seiner Barbarei, einen neuen Weltkrieg. Dennoch ist die Arbei­terklasse noch nicht in der Lage, durch revolutionäre Kämpfe ihre eigene Perspektive durchzusetzen und dem Rest der Menschheit diese Zu­kunft zu verdeutlichen, die sie in sich trägt.
Gerade diese gegenwärtige Pattsituation, in der im Augen­blick weder die bürgerliche noch die proletarische Al­ternative sich offen durchsetzen kann, liegt an der Wurzel dieses Phänomens einer kapitalistischen Gesellschaft, die stehenden Fußes verfault, und erklärt das besondere Ausmaß der Barbarei der Dekadenz dieses Systems. Und diese Fäulnis wird sich mit der unerbittlichen Verschärfung der Wirtschaftskrise weiter verschärfen.
Je stärker der Kapitalismus in seiner eigenen Dekadenz versinkt, desto heftiger wird sein Todeskampf, desto weniger wird die Arbeiterklasse der zentra­len Länder des Kapitalismus von all den zerstöreri­schen Auswirkungen der Verwesung dieses Systems verschont werden.
Insbesondere die neuen Arbeitergenerationen sind heute direkt von der Gefahr der Kontamination bedroht, die alle Schichten der Gesellschaft befällt. Die bis zum Selbstmord führende Verzweiflung, die Atomisierung und das "Jeder-für-­sich", die Drogen, die Kriminalität und alle ande­ren Erscheinungsweisen der Marginalisierung - wie die Verlumpung junger Arbeiter, die nie in den Produk­tionsprozeß integriert wurden - sind ebenfalls Geißeln, die einen Druck auf das Proletariat bis hin zur seiner Auflösung, seinem Zerfall ausüben und folglich seine Fähigkeit beeinträchtigen, wenn nicht gar in Frage stellen können, seiner historischen Aufgabe, der Sturz des Kapitalismus, gerecht zu werden.
Der ganze Zerfall, der immer mehr die jungen Genera­tionen infiziert, kann also zum tödlichen Schlag gegen die einzige Kraft werden, die die Zukunft für die Menschheit in ihren Händen hält. Auf dieselbe Weise wie die Entfesselung des ersten imperialistischen Weltkriegs im Herzen der "zivilisierten" Welt "die Frucht jahrzehntelanger Opfer und Mühen von Generationen (...) in wenigen Wochen vernichtet(e), die Kerntruppen des internationalen Proletariats (...) an der Lebenswurzel ergriff" (R. Luxemburg, Junius-Broschüre, 1915, Ges. Werke, Bd. 4, S. 163), kann der verfaulende Kapitalismus in den nächsten Jahren die "junge Blume" des Proletariats, die unsere einzige Stärke, unsere einzige Hoffnung darstellt, niedermähen.
In Anbetracht der Tragweite der Einsätze, die in dieser Lage eines Kapitalismus, der am lebendigen Leib verfault, auf dem Spiel stehen, müssen die Revolutionäre heute das Proletariat  vor der Gefahr der Erschöpfung warnen, von der es bedroht ist. Sie müssen in ihrer Intervention die Arbeiterklasse dazu aufrufen, daß sie in all diesem Zerfall, den sie tagtäglich neben all den ökonomischen Angriffen gegen ihre Lebensbe­dingungen erleidet, einen zusätzlichen Antrieb, eine noch größere Entschlossenheit findet, ihre Kämpfe zu entwickeln und die Einheit ihrer Klasse zu schmieden. Sie muß ebenfalls begreifen, daß ihre Kämpfe gegen das Elend und die Ausbeutung die Wurzel für die Abschaffung der kriegerischen Barbarei in sich tragen, und muß sich bewußt werden, daß die Weiterentwicklung, die Vereinigung ihrer Kämpfe der einzige Weg ist, um die Menschheit aus der kapitalistischen Hölle zu befreien, aus diesem kollektiven Selbstmord, in den der Zerfall dieser al­ten Welt die ganze Gesellschaft zerrt.
Die gegenwärtigen Kämpfe des Weltproletariats um seine Einheit und Klassensolidarität, insbesondere in den großen Industriekonzentrationen Westeuropas, sind der einzige Hoffnungsschimmer inmitten dieser ver­wesenden Welt. Sie allein sind in der Lage, in gewisser Weise eine Ahnung von der menschlichen Gemeinschaft zu verschaffen. Es ist die internationale Generalisierung dieser Kämpfe, die letzendlich die Keime einer neuen Welt zum Erblühen, neue gesellschaftliche Werte zur Geltung bringen kann. Und diese Werte werden sich erst dann auf die ganze Menschheit ausbreiten, wenn die Arbeiterklasse eine Welt geschaffen hat, die sich der Krisen, Kriege, Ausbeutung und all der Zer­fallserscheinungen entledigt hat. Die verzweifelte Lage, der all die nicht-ausbeutenden Teile der Gesellschaft anheimgefallen sind, kann nur dann überwunden werden, wenn die Arbeiterklasse BEWUßT für diese Per­spektive kämpft.
Und das konzentrierteste, erfahrenste Proletariat - das Proletariat Westeuropas - trägt die historische Verantwortung dafür, die Vorreiterrolle in der Weltarbeiterklasse auf ihrem Weg zu diesem Ziel zu übernehmen. Nur der Funke, der aus diesen Kämpfen hervorgehen wird, kann die Flamme der proletarischen Revolution entzünden.

Avril, 22.2.89
 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir/11/1989_zerfall [30]

Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen (Teil 2)

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Die politischen Konsequenzen der Dekadenz
des Kapitalismus

Gewerkschaftskampf, Parlamentarismus, Massenparteien, der Kampf um soziale Reformen, die Unterstützung der Kämpfe um die Bildung neuer Nationalstaaten - all dies sind keine wirksamen Kampfformen der Arbeiterklasse mehr. Die Realität der offenen Krise, von welcher der Kapitalismus erschüttert wird, die Erfahrung der sozialen Kämpfe, die von ihr erzeugt werden, lassen dies Hunderten von Millionen Proletariern auf der ganzen Welt immer deutlicher werden.
Aber wie konnten diese Kampfformen, die im vorigen Jahrhundert für die Arbeiterbewegung so wichtig gewesen waren, in das umgewandelt werden, was sie heute sind?
Es reicht nicht aus, "dagegen" zu sein. Um dauerhaft im Klassenkampf zu intervenieren, um in der Lage zu sein, die Desorientierung durch die bürgerliche Ideologie zu bekämpfen, muß man auch wissen, warum man gegen etwas ist.
Heute versuchen, entweder aus Ignoranz oder um sich das Leben leichter zu machen, einige Gruppen, die zur Schlußfolgerung gelangt sind, daß Gewerkschaftskampf, Parlamentarismus, etc. bürgerlich sind, auf dieses Problem zu antworten, indem sie Zuflucht suchen in anarchistischen oder utopischen Konzepten, die in einer marxistischen Sprache formuliert sind, um sie seriöser zu machen. Eine dieser Gruppen ist die Groupe Communiste Internationaliste (GCI).(1)
Aus der Sicht der GCI hat der Kapitalismus sich seit seinen Anfängen nicht verändert, die Kampfformen des Proletariats ebenso wenig. Warum also sollte das von revolutionären Organisationen formulierte Programm geändert werden? Dies ist die Theorie der "Invarianz" (Unveränderlichkeit).
Für diese Vorsänger der "ewigen Revolte" war der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf, der Kampf um Reformen seit jeher das, was er heute ist - Methoden, um das Proletariat in den Kapitalismus zu integrieren. Die Analyse der Existenz zweier Phasen in der Geschichte des Kapitalismus, denen unterschiedliche Kampfformen entsprechen, sei nichts anderes als eine Erfindung aus den 1930er Jahren, deren Zweck es gewesen sei, das "historische Programm zu verraten", ein Programm, das in einer quasi ewigen Wahrheit zusammengefaßt werden könne: "gewaltsame und weltweite Revolution".
Sie formulieren dies folgendermaßen:
"Diese Theoretisierung über die Eröffnung einer neuen kapitalistischen Phase, die Niedergangsphase, macht es so im Nachhinein möglich, eine formale Kohärenz aufrechtzuerhalten zwischen den 'Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts' (es handelt sich hier natürlich um bürgerliche 'Errungenschaften' der Sozialdemokratie: Gewerkschaften, Parlamentarismus, Nationalismus, Pazifismus, 'der Kampf um Reformen', der Kampf um die Eroberung des Staats, die Ablehnung der revolutionären Aktion...) und, in Anbetracht des 'Epochenwechsels' (eine klassische Argumentationsweise, um all die Revisionen-Verrätereien am historischen Programm zu rechtfertigen), dem Auftreten 'neuer Taktiken', die dieser 'neuen Phase' eigen seien und von der Verteidigung des 'sozialistischen Vaterlandes' durch die Stalinisten über das 'Übergangsprogramm' Trotzkis bis hin zur Ablehnung der gewerkschaftlichen Form des Kampfes zugunsten der 'ultra-linken' Räte (siehe Pannekoek, Die Arbeiterräte) reichten. Alle betrachten die Vergangenheit auf unkritische Weise, insbesondere den sozialdemokratischen Reformismus, der im Handumdrehen gerechtfertigt wird, da er 'in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus' stattgefunden habe...
Was die Kommunisten angeht, so sind sie abermals die 'Iguanodone der Geschichte'(2), jene, für die sich nichts grundsätzlich geändert hat, jene, für die die 'alten Methoden' des direkten Kampfes, Klasse gegen Klasse, der gewaltsamen und weltweiten Revolution, des Internationalismus und der Diktatur des Proletariats gültig bleiben - gestern, heute und morgen."
(LE COMMUNISME, Nr. 23)
Die GCI präzisiert:
"Der Ursprung der Dekadenztheorien (Theorien des 'Epochenwechsels' und der 'Eröffnung einer neuen kapitalistischen Phase', nämlich die ihres 'Niedergangs'...) befindet sich 'eigenartigerweise' in den 1930er Jahren, als Stalinisten (Varga), Trotzkisten (Trotzki selbst), gewisse Sozialdemokraten (Hilferding, Sternberg...) und Akademiker (Grossmann) Theorien darüber formulierten. Nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 begannen einige Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution, Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen." (ebenda)
Es ist schon eine Kunst, soviel Absurditäten in so wenigen Zeilen auszudrücken. Lassen wir zunächst dieses Potpourri beiseite, auf das die GCI sich so häufig bezieht und das überhaupt nichts zur Debatte beiträgt, sondern nur die Oberflächlichkeit ihrer eigenen Argumentationsweise aufdeckt. Die internationale kommunistische Linke (Pannekoek) und die Stalinisten (Varga) in einen Sack zu stecken, weil sie von der Dekadenz des Kapitalismus sprachen, ist ebenso Unfug, wie die Revolution und die Konterrevolution gleichzustellen, nur weil die beiden Begriffe den Klassenkampf behandeln.


Die Ursprünge der Dekadenztheorie

Fangen wir zunächst mit dem an, was eine platte Lüge ist oder im besten Fall Ausdruck der gröbsten Unkenntnis der Arbeiterbewegung: der GCI zufolge war in den 1930er Jahren "im Nachhinein" und auf "eigenartige" Weise die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus entwickelt worden. Wer ein wenig die Geschichte der Arbeiterbewegung und insbesondere des Kampfes gegen den Reformismus kennt, der von der revolutionären Linken in der Sozialdemokratie und in der Zweiten Internationalen geführt wurde, weiß, daß das nicht stimmt.
In dem Artikel "Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen" haben wir ausführlich aufgezeigt, wie die Idee des Vorhandenseins zweier Phasen - einer "aufsteigenden" Phase, in der die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die wirtschaftliche und globale Entwicklung der Gesellschaft anregen, und einer "dekadenten" Phase, wo diese Verhältnisse zu einer "Fessel" für diese Entwicklung werden und eine "Epoche der Revolution" eröffnet wird - im Mittelpunkt der materialistischen Betrachtungsweise der Geschichte steht, wie sie von Marx und Engels von 1847 an im Kommunistischen Manifest und danach definiert wurde. Wir haben darauf hingewiesen, daß die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus einen Kampf gegen all die utopistischen, anarchistischen Strömungen führten, die bewußt eine solche Unterscheidung der historischen Phasen außer Acht ließen und in der kommunistischen Revolution ein ewig gültiges Ideal sahen, das jederzeit verwirklicht werden könne, und nicht eine Umwälzung, die allein durch die Entwicklung der Produktivkräfte und ihrem Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen historisch notwendig und möglich wird.
Aber Marx und Engels mußten vor allem jene bekämpfen, die nicht sahen, daß der Kapitalismus sich noch in seiner aufsteigenden Phase befand. Gegen Ende des Jahrhunderts mußte sich die die Linke der Sozialdemokratie - insbesondere durch die Stimme Rosa Luxemburgs - mit der gegenläufigen Tendenz der Reformisten auseinandersetzen, die beharrlich leugneten, daß sich der Kapitalismus der Phase seiner Dekadenz näherte. So schrieb Rosa Luxemburg 1898 in "Reform oder Revolution":
"Hat die Entwicklung der Industrie ihren Höhepunkt erreicht und beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der 'absteigende Ast', dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: Erstens verschlimmern sich die objektiven Konturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist; zweitens greift das Kapital selbst, um sich für die Verluste auf dem Weltmarkt zu entschädigen, auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes zurück (...) England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweiten Stadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduziert sich aber notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, und auch diese wird immer schwieriger." ("Sozialreform oder Revolution", R. Luxemburg, 1899, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 391)
Diese Zeilen wurden nicht "im Nachhinein" - wie es die GCI behauptet - geschrieben, und auch nicht nachdem der Erste imperialistische Weltkrieg den unwiderlegbaren Beweis gebracht hatte, daß der Kapitalismus endgültig in die dekadente Epoche eingetreten war. Diese Zeilen wurden fünfzehn Jahre zuvor verfaßt. Und Rosa Luxemburg begann eindeutig die politischen Konsequenzen - hier in Bezug auf die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Arbeit - zu erkennen, die solch ein "Epochenwechsel" für die Arbeiterbewegung zur Folge hat.
Die GCI behauptet, daß "nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 (...) einige Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution (begannen), Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen".
Die GCI ist sich offensichtlich nicht im Klaren darüber, daß inmitten dieser revolutionären Welle die III. Internationale gegründet wurde, deren Grundlage die Analyse des Eintritts des Kapitalismus in seine neue Phase war:
"Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats." (Manifest der Kommunistischen Internationalen) Und innerhalb dieser Kommunistischen Internationalen führte die kommunistische Linke ihrerseits den Kampf gegen die Mehrheitstendenzen, die nicht alle politischen Konsequenzen für die Kampfformen des Proletariats in dieser neuen historischen Epoche verstanden hatten.
Die deutsche kommunistische Linke, die KAPD, nahm beispielsweise auf dem Dritten Kongreß der KI 1921 folgendermaßen dazu Stellung:
„Das Proletariat dazu aufzufordern, sich im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz an den Wahlen zu beteiligen, heißt innerhalb des Proletariats die Illusion verstärken, dass die Krise durch parlamentarische Mittel überwunden werden könnte."
In den 1930er Jahren waren es nicht nur die "Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution", sondern auch die proletarische Avantgarde, die sich bemühte, die Lehren aus der vergangenen revolutionären Welle zu ziehen, und "Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen". So schrieb die Zeitschrift BILAN, hinter der sich Elemente der kommunistischen Linken Italiens, Belgiens und Frankreichs zusammengetan hatten:
"Die kapitalistische Gesellschaft kann infolge des Wesens der ihrer Produktionsform innewohnenden Widersprüche ihre historische Aufgabe nicht mehr erfüllen: die Produktivkräfte entwickeln und die Produktivität der menschlichen Arbeit kontinuierlich und fortschreitend weiterzuentwickeln. Der Zusammenprall zwischen den Produktivkräften und ihrer privaten Aneignung, der zuvor nur sporadisch war, ist permanent geworden; der Kapitalismus ist in seine allgemeine Zerfallskrise eingetreten." (Mitchell, BILAN, Nr. 11, Sept. 1934)(3)
Die GCI ignoriert oder verfälscht die Geschichte der revolutionären Bewegung. In beiden Fällen beweisen ihre Behauptungen über den "Ursprung der Dekadenztheorien" die Bodenlosigkeit ihrer Argumentation und die Unseriosität ihrer Methode.


Die Invarianz des Programms oder: "Der Marxismus der Dinosaurier"

Befassen wir uns mit dem Argument der GCI, demzufolge es "Verrat am historischen Programm" bedeutet, wenn man einer Änderung der Kampfmethoden des Proletariats das Wort redet.
Das Programm einer politischen Bewegung fußt auf der Definition einer Gesamtheit von Mitteln und Zielen, die diese Bewegung vorschlägt. In diesem Sinn beinhaltet das kommunistische Programm Elemente, die tatsächlich seit dem "Kommunistischen Manifest" ständig vorhanden waren, dessen Abfassung den Revolutionen von 1848 entsprach, in denen das Proletariat zum ersten Mal als eigenständige politische Kraft auf der Bühne der Geschichte trat. Das Gleiche trifft auf die Definition des allgemeinen Ziels - die kommunistische Weltrevolution - oder des Hauptmittels zur Erreichung dieses Ziels - der Klassenkampf und die Diktatur des Proletariats - zu.
Aber das kommunistische Programm ist nicht nur dies. Es beinhaltet ebenso die unmittelbaren Ziele und die konkreten Mittel zu ihrer Durchsetzung, die Organisationsformen, die Kampfformen, die notwendig sind, um das Endziel zu erreichen.
Diese konkreten Elemente werden direkt durch die konkrete historische Situation vorbestimmt, innerhalb derer der Klassenkampf stattfindet.
"Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat KEINEN AUGENBLICK geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programm im Stiche gelassen werden könnte." ("Sozialreform oder Revolution", Luxemburg, Bd. 1/1, S. 433)
Aus der Sicht der GCI läßt das kommunistische Programm dies alles außer Acht; es beschränkt sich allein auf den Kampfruf:"Man muß die Weltrevolution immer und überall machen". Darauf beschränkt, könnte das Programm als unabänderlich aufgefaßt werden; aber in diesem Fall wäre es nicht mehr ein Programm, sondern eine Absichtserklärung.
Was die praktische Anwendung angeht, falls dieses "Programm" eine hätte, ließe sie sich darin zusammenfassen, daß die Proletarier in die Endschlachten geschickt werden, unabhängig von den jeweiligen historischen Bedingungen und Kräfteverhältnissen. Mit anderen Worten: es ist der Weg ins Massaker.
Marx hatte diese Art von Tendenzen schon innerhalb des Bundes der Kommunisten bekämpft:
„Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15,20,50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen." (15.09.1850).
Ein Programm, das nicht versucht, die Besonderheiten einer jeden historischen Situation und die entsprechenden proletarischen Verhaltensweisen zu definieren, ist nichts wert.
Außerdem wird das kommunistische Programm ständig durch die Praxis des Klassenkampfes bereichert. Entscheidende Fragen wie die Unmöglichkeit für das Proletariat, den bürgerlichen Staat zu seinem Gunsten zu erobern, oder die Kampf- und Organisationsformen des Proletariats für die Revolution haben infolge von Erfahrungen, wie die Pariser Kommune 1871 oder die Russische Revolution von 1905, Änderungen im kommunistischen Programm zur Folge gehabt.
Die Verweigerung jeglicher Modifikationen am Programm, der ständigen Bereicherung, bezogen auf die Evolution der objektiven Bedingungen, und der praktischen Erfahrungen der Klasse bedeutet nicht, dem Programm "treu zu bleiben", sondern es zu zerstören und in Gesetzestafeln zu verwandeln. Die Kommunisten sind keine Dinosaurier, und ihr Programm ist kein Fossil.
Das kommunistische Programm zu bereichern, es zu modifzieren, wie es die konsequentesten Revolutionäre stets gemacht haben, um sich in die Lage zu versetzen, auf jede allgemeine historische Situation eine Antwort zu haben, um die Ergebnisse der revolutionären Praxis zu integrieren, heißt nicht, das "Programm zu verraten", sondern ist die einzig konsequente Haltung, um aus ihm ein wirkliches Werkzeug für die Klasse zu machen.(4)


Der idealistische Standpunkt des Anarchismus und die marxistische Methode

Für die GCI besteht das schlimmste Verbrechen der "Dekadentisten" darin, "aus einer formellen Kohärenz mit den 'Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts' eine Theorie zu machen." Und die GCI präzisiert: "Es handelt sich hier wohlgemerkt um bürgerliche 'Errungenschaften' der Sozialdemokratie". Die Hauptgefahr der Dekadenztheorie bestehe darin, "die vergangene Geschichte und hauptsächlich den sozialdemokratischen Reformismus unkritisch zu gutzuheißen, der im Handumdrehen gerechtfertigt wird, indem er in der 'aufsteigenden Phase des Kapitalismus' lokalisiert wird".
Die GCI sagt: "Die historische Funktion der Sozialdemokratie ist es nicht, den Kampf für die Zerstörung des Systems zu organisieren (was das invariante Programm der Kommunisten ist), sondern die durch die Konterrevolution atomisierten Arbeitermassen zu organisieren und zu erziehen, damit sie bestmöglich am System der Lohnsklaverei teilnehmen." (LE COMMUNIST, Nr. 23, S. 18)
Wir werden in einem zukünftigen Artikel eingehender auf die Klassennatur der Sozialdemokratie und der II. Internationalen um die Jahrhundertwende zurückkommen. Um aber darüber sprechen zu können, muß man zunächst auf die absurde Simplifizierung der GCI antworten, derzufolge sich für den Arbeiterkampf seit seinen Anfängen "nichts geändert habe".
Die GCI wirft der Soziademokratie tatsächlich vor, nicht "den Kampf für die Zerstörung des Systems (was das invariante Programm der Kommunisten ist)" organisiert zu haben, sondern den gewerkschaftlichen, parlamentarischen Kampf für Reformen, der nie etwas anderes gewesen sei als ein Mittel, um die Arbeiter zur Mitwirkung im System zu bewegen.
Aber die gewerkschaftliche Arbeit oder den Parlamentarismus abzulehnen, weil es sich um Kampfformen handelte, die nicht sofort zur "Zerstörung des Systems" führen, ist eine rein idealistische Vorgehensweise, die sich nur auf ewige Ideale stützt und nicht auf die konkrete Wirklichkeit der objektiven Bedingungen des Klassenkampfes. So faßt man die Arbeiterklasse nur als "revolutionäre" Klasse auf und vergißt dabei, daß sie im Gegensatz zu allen anderen Klassen der Vergangenheit auch eine ausgebeutete Klasse ist.
Der Kampf für unmittelbare Forderungen und der revolutionäre Kampf sind zwei Momente ein und desselben Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Kapital; der Kampf um die Zerstörung des Kapitalismus ist nichts anderes als die konsequente Durchführung des Kampfs für unmittelbare Forderungen gegen die Angriffe des Kapitals bis zu seiner letzten Konsequenz. Diese beiden Aspekte des Kampfes sind jedoch nicht identisch. Und man kann nur zu einer vollkommen hohlen Auffassung des Arbeiterkampfes kommen, wenn man diesen doppelten Charakter außer Acht läßt.
Jene, die, wie die Reformisten, in der Arbeiterklasse lediglich ihren Charakter als ausgebeutete Klasse sehen und ihren Kampf nur als Kampf um unmittelbare Forderungen betrachten, haben eine statische, unhistorische, bornierte Auffassung. Doch jene, die in der Arbeiterklasse nur eine revolutionäre Klasse sehen, dabei ihren Charakter als Ausgebeutete und folglich den unmittelbaren Charakter des gesamten Arbeiterkampfes ignorierend, sprechen von einem Phantom.
Als die marxistischen Revolutionäre die Form des gewerkschaftlichen oder parlamentarischen Kampfes in der Vergangenheit verwarfen, geschah dies niemals im Namen dieses hohlen und klassenlosen Radikalismus, der den Anarchisten zueigen ist und der Bakunin 1869 dazu veranlasste, im "Revolutionären Katechismus" zu schreiben, daß die Organisation "alle ihre Mittel und ihre ganze Kraft darauf lenken (muß), die Not und die Leiden des Volkes zu steigern und zu intensivieren, bis schließlich seine Geduld erschöpft ist und es zu einem allgemeinen Aufstand getrieben wird".
Der Anarchismus stützt sich auf den Standpunkt eines Ideals der abstrakten "Revolte". Für die Tageskämpfe der Arbeiterklasse hat er nur eine "souveräne Verachtung" übrig, wie Marx in "Das Elend der Philosophie" über Proudhon schrieb. Der Marxismus geht vom Standpunkt einer Klasse und ihrer Interessen, sowohl der historischen wie der unmittelbaren, aus. Wenn die revolutionären Marxisten zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Gewerkschaftsarbeit, der Parlamentarismus, der Kampf um Reformen nicht mehr gültig sind, dann geschieht das nicht, weil sie damit den Kampf um Forderungen aufgegeben hätten, sondern weil sie wissen, daß dieser Kampf nicht mehr erfolgreich und wirksam sein kann, wenn er sich der alten Formen bedient.
Dies war die allgemeine Herangehensweise Rosa Luxemburgs, als sie davon ausging, daß mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine "dekadente Phase" der Gewerkschaftskampf "doppelt schwierig" werden würde, als sie feststellte, daß die Gewerkschaftsbewegung im fortgeschrittensten Land in dieser Epoche, Großbritannien, „sich dabei notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, auch diese wird immer schwieriger, reduziert" (Sozialreform oder Revolution, S. 392).
Dies war auch die Vorgehensweise der KAPD, als sie die Teilnahme an den Wahlen ablehnte, nicht weil "Wahlen schmutzig sind", sondern weil die Mittel des Parlamentarismus nicht mehr dazu dienten, den Auswirkungen der Krise des Kapitalismus, d.h. dem Elend der Arbeiterklasse, zu trotzen.
Solange die Entwicklung des Kapitalismus mit einer dauerhaften Verbesserung der Existenzbedingungen der Arbeiterklasse einherging, solange der Staat keine totalitäre Macht über das gesellschaftliche Leben ausübte, konnten und mußten die Tageskämpfe gewerkschaftliche und parlamentarische Formen annehmen. Die objektiven Bedingungen, als der Kapitalismus seinen historischen Höhepunkt erreichte, schufen eine Art wirtschaftliches und politisches Terrain, auf dem die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse mit den Bedürfnissen der Entwicklung eines Kapitals zusammenfielen, das weltweit expandierte und einen reellen Profit erzielte.
Es ist illusorisch zu glauben, daß solch eine Situation endlos andauern würde, was Grundlage für die Entwicklung des "Reformismus" ist - diese bürgerliche Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung, derzufolge die kommunistische Revolution unmöglich und nur eine fortschrittliche Reform des Kapitalismus zugunsten der Arbeiterklasse durchführbar sei.
Vom marxistischen Standpunkt aus hat die Ablehnung des Kampfes für Reformen im Kapitalismus - letztendlich - stets auf der Unmöglichkeit derselben gestützt. Rosa Luxemburg formulierte dies 1898 mit den folgenden Worten:
„Der Arbeiterschutz z.B. liegt ebenso im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten als Klasse wie der Gesellschaft im ganzen. Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten Höhepunkt erreicht, dann fangen an die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die der ökonomischen Evolution auch im kapitalistischen Sinne auseinanderzugehen." ("Reform oder Revolution", ebenda, S. 395).
Was sich mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Phase seiner Dekadenz geändert hat, das ist die Unmöglichkeit, echte, dauerhafte Verbesserungen zu erlangen. Aber dies fand nicht isoliert statt. Die Dekadenz des Kapitalismus ist auch ein Synonym für den Staatskapitalismus, für das Aufblähen des Staatsapparats, der die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse völlig umgewälzt hat.
Wir können hier nicht all die Aspekte der Umwälzung aufgreifen, die der Eintritt des Kapitalismus in eine neue historische Phase für das gesellschaftliche Leben im allgemeinen und für den Klassenkampf im besonderen beinhaltete. Wir verweisen den Leser auf den Artikel "Der Kampf des Proletariats im dekadenten Kapitalismus" (in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 8).
Was uns als wichtig zu betonen erscheint, ist die Tatsache, daß für die Marxisten die Formen des Kampfes der Arbeiterklasse von den objektiven Bedingungen abhängen, unter denen dieser stattfindet, und nicht von abstrakten Prinzipien der ewigen Revolte.
Nur indem man sich auf die objektive Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stützt, das in seiner historischen Dynamik erfaßt werden muß, kann man die Richtigkeit einer Strategie, einer Kampfform überprüfen. Außerhalb dieser materiellen Basis bewegt sich jede Stellungnahme zu den Mitteln des proletarischen Kampfes auf dünnem Eis; es öffnet die Tür zur Orientierungslosigkeit, sobald die oberflächlichen Formen der "ewigen Revolte" - die Gewalt, die Anti-Legalität - in Erscheinung treten.
Die GCI ist dafür eine offenkundige Manifestation. Wenn man nicht versteht, warum bestimmte Kampfformen im aufsteigenden Kapitalismus gültig waren, begreift man auch nicht, warum sie es nicht mehr im dekadenten Kapitalismus sind. Dadurch, daß sich ihre politischen Maßstäbe nur auf ein "Gegen-alles-sein-was-an-die-Sozialdemokratie-erinnert" stützten, dadurch, daß sie glaubt, daß die "Anti-Demokratie" ein ausreichender Maßstab ist, meint die GCI zu der Einschätzung zu kommen, daß eine Organisation wie die stalinistischen nationalistischen Guerillas Perus, der "Leuchtende Pfad", aufgrund ihrer Bewaffnung und ihrer Weigerung, sich an den Wahlen zu beteiligen, "zunehmend als die einzige Struktur erscheint, die den immer mehr zunehmenden direkten Aktionen des Proletariat in den Städten und auf dem Land eine Kohärenz verschafft, während all die anderen Gruppen der Linken sich objektiv gegen all die Interessen der Arbeiter im Namen der Verurteilung des Terrorismus im allgemeinen und der Verteidigung der Demokratie insbesondere vereinigen" (LE COMMUNISME, Nr. 25, S. 48-49).
Die GCI konstatiert, daß "all die Dokumente, die der Leuchtende Pfad veröffentlicht hat, auf striktester stalinistisch-maoistischer Grundlage fußen" und daß dieser meint, der Kampf in Peru finde in dem "gegenwärtigen Zeitraum des Anti-Imperialismus und anti-feudalen Kampfes statt". Aber dies hält die GCI nicht von der Schlußfolgerung ab: "Wir haben keine Anlaß, um den Leuchtenden Pfad (oder die PCP, wie er sich selbst beschreibt) als eine bürgerliche Organisation im Dienste der Konterrevolution zu betrachten." (ebenda)
Was der GCI zur Einschätzung des Klassencharakters einer politischen Organisation oder jeder anderen Wirklichkeit des Klassenkampfes fehlt, sind nicht "Anlässe", sondern die marxistische Methode, die materialistische Geschichtsauffassung -, in der die Vorstellung von historischen Phasen eines Systems (aufsteigende und niedergehende) ein unverzichtbarer Bestandteil ist.

RV

Fußnoten:
(1) Siehe Artikel in INTERNATIONALE REVUE, Nr.10 „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen".
(2)Iguanodon: fossiles Dinosaurierreptil, das in der Kreidezeit lebte.
(3) Die GCI erkennt in einer kurzen Notiz in dem erwähnten Artikel an, dass Luxemburg, Lenin und Bukharin in der Tat „Dekadenztheorien" vertreten haben. Aber sie behauptet, dass es ihnen nicht darum ging, „eine Phase von mehr als 70 Jahren zu definieren". Das ist wiederum eine Verfälschung: aus der Sicht der Linken in der 2. Internationale, die auch die 3. Internationale gründete, war das Stadium, in das der Kapitalismus eingetreten war, nicht mehr ein weiteres unter vielen, dem neue, aufsteigende folgen würden. Für sie alle war die neue Epoche eine „letzte Phase", die „höchste Stufe" des Kapitalismus, aus der es keinen anderen Ausweg für die Gesellschaft mehr geben würde als Barbarei oder Sozialismus.
(4) Gegen all die religiösen Einstellungen gegenüber dem lebendigen Instrument einer lebendigen Klasse berufen wir uns auf die Einstellung von Marx und Engels, die nach der Pariser Kommune erklärten, dass ein Teil des Kommunistischen Manifests überholt sei; auf die von Lenin, der 1917 in den Aprilthesen darauf bestand, dass ein Teil des Programms der Partei neu gefasst werden müsste.


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Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [29]

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