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Internationale Revue - 2008

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Internationale Revue 41

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Internationale Revue Nr. 41

Editorial - USA: Die Lokomotive der Weltwirtschaft ... fährt auf den Abgrund zu

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Es sind wahrlich harte Zeiten für die Weltwirtschaft seit der anhaltenden Immobilienkrise, die während des letzten Jahres in den USA ausbrach. Die Situation war seit dem Beginn der offenen Krise des Kapitalismus Ende der 1960er Jahre noch nie so heikel wie heute, auch wenn die herrschende Klasse all ihre Mittel einsetzt, um die Auswirkungen einzudämmen:

- Die Immobilienkrise in den USA hat sich in eine weltweite Finanzkrise ausgeweitet, begeleitet durch den schallenden Lärm über die Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen und europäischen Banken.[i] Diejenigen Bankinstitute, welche nicht scheiterten, schafften es nur mit Hilfe von Rettungsszenarien durch den Staat. Und es gibt grosse Ängste, dass viele Banken, die aus verschiedenen Gründen kurz vor dem Abgrund standen, in einer potentiellen Krisensituation stecken, was wiederum die Gefahr eines noch größeren Finanzkrachs birgt.

- Die Zeichen stehen deutlich auf einer Verlangsamung der ökonomischen Aktivitäten, wenn man die Rezession, in einigen Ländern, darunter den USA, betrachtet. Die herrschende Klasse hat die verschiedenen Rezessionen mit denen sie seit den 1970er Jahren konfrontiert war, mit einer verstärkten Verschuldung überwunden. Der Aufwand war jedes Mal größer, der Effekt jedes Mal geringer. Wird sie ein erneutes Mal die kommende Rezession austricksen können, wenn dazu lediglich das Mittel einer enormen Erhöhung der weltweiten Verschuldung existiert und damit das Risiko eines Zusammenbruchs des internationalen Kreditsystems?

- Das Sinken der Börsenkurse mit gelegentlich brutalen Einbrüchen erschüttert das Vertrauen in die Grundlage der Börsenspekulation, deren Erfolge es zeitweise erlaubt haben, die Probleme der realen Ökonomie zu verschleiern. Diese Erfolge haben stark zur Erhöhung der Profitrate vieler Unternehmen seit Mitte der 1980er Jahre beigetragen und sie bilden die Basis eines verankerten Mythos, der aber heute in Frage gestellt wird, dass unabhänging von allen unvorhergesehenen Risiken die Börsenkurse nichts anderes als steigen würden.

- Die Militärausgaben, das sieht man deutlich in den USA, bilden eine immer unüberwindbarere Bürde für die Wirtschaft. Sie können nicht einfach willentlich zurückgeschraubt werden. Sie sind die Konsequenz des immer größeren Gewichtes, welches der Militarismus in der Gesellschaft einnimmt. Denn durch die immer unlösbarer werdenden ökonomischen Probleme ist jede Nation gezwungen, die Flucht nach vorne in den Krieg zu ergreifen.

- Die erneute Inflation ist für die Bourgeoisie in zweifacher Weise ein Schreckgespenst. Einerseits ist sie eine Bremse für den Warenhandel, weil sie immer schwerer vorhersehbare Schwankungen des Warenhandels mit sich bringt. Auf der anderen Seite, weil sie noch mehr als die Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe durch Arbeitslosigkeit, den Verteidigungskampf der Arbeiterklasse um eine Erhöhung der Löhne gegen die Erhöhung der Preise und damit eine Generalisierung der Arbeiterkämpfe über die Sektoren hinweg hervorruft. Die Instrumente, über welche die Bourgeoise heute noch verfügt, um der Inflation entgegenzuwirken, die harte Sparpolitik und die Ausgabenreduktion des Staates, werden konsequent eingesetzt, doch sie verschärfen lediglich den Kurs in Richtung Rezession.

Die heutige Situation ist nicht einfach eine Wiederholung all der Auswirkungen der Krise seit Ende der 1960er Jahre. Sie ist eine Konzentration der Krise in einer viel geballteren und explosiveren Form und führt zu einer ökonomischen Katastrophe neuer Schärfe, die das System in Frage stellt. In den vergangenen Jahrzehnten war es oft die Aufgabe der mächtigsten Wirtschaftsmacht der Welt, die Lokomotive zu spielen und Rezessionen zu vermeiden oder zu überwinden. Heute aber ist der Effekt, den die USA auf die gesamte Welt hat, ein umgekehrter: hin zur Rezession und auf den Abgrund zu.

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise in den USA

George Bush ist gewiss der größte Optimist in den USA und vielleicht ist er mit diesem Optimismus alleine, wenn man die wirtschaftliche Situation des Landes betrachtet. Am 28. Februar, in Gewissheit des Risikos einer Verlangsamung der Wirtschaft, erklärte der Präsident: „Ich denke nicht, dass wir einer Rezession entgegen gehen (...). Ich glaube, dass die Grundlagen unserer Wirtschaft in guter Gesundheit sind (...), dass das Wachstum anhält und auch noch in einer robusteren Art anhalten wird als heute. Wir haben immer noch einen starken Dollar auf unserer Seite."[ii] Zwei Wochen später, am 14. März in einer Sitzung von Ökonomen in New York, wiederholte der Präsident seinen optimistischen Standpunkt und sprach sein Vertrauen in die „schlagfertige" Kapazität der US-Wirtschaft aus. Dies am selben Tag, als die US-Staatsbank und die JP Morgan Bank sich zusammenrauften, um einen Rettungsplan für die Bear Stearns Bank, eine große Börsenanlage-Bank an der Wall Street, auf die Beine zu stellen, die durch einen massiven Anlagenrückzug von Seiten ihrer Klienten betroffen war. Ein Szenario, das an die große Depression von 1929 erinnert. Am selben Tag spielte sich zudem folgendes ab: Der Preis für ein Fass Öl erreichte eine Rekordhöhe von 111 Dollar, und dies trotz höherem Angebot als herrschender Nachfrage; die Regierung kündigte eine Intensivierung der Immobilienpfändungen um 60% für den Februar an; der Stand des Dollars gegenüber dem Euro erreichte ein Rekordtief. Auch die realitätsferne Negierung der Wirklichkeit des Herrn Bush lässt nicht übersehen, wie die angebliche Prosperität durch den Immobilienboom und die Immobilienblase der letzten Jahre den Weg in eine ökonomische Katastrophe eröffnet hat. Im wirtschaftlich mächtigsten Land der Welt, sowie auf internationaler Ebene, ist die Wirtschaftskrise wieder in den Brennpunkt gerückt.

Die Immobilienkrise: Symptom eines Systems in permanenter Krise

Seit Beginn des Jahres 2007, als die ersten Anzeichen für ein Ende des Immobilienbooms manifest werden, diskutiert die Clique der bürgerlichen Ökonomen über die Möglichkeit einer Rezession in den USA. Seit Anfang 2008 tauchen immer mehr „pessimistische" Wirtschaftsprognosen auf, die schon von einer Rezession seit Dezember 2007 ausgehen, gegenüber den „Optimisten", welche auf ein Wunder warten. Zwischen den beiden Lagern befinden sich jene, die sich nicht auf die Äste hinauslassen und behaupten, dass sich „die Wirtschaft sowohl in die eine als auch in die andere Richtung entwickeln" könne. Doch die Situation hat sich in den vergangenen Monaten dermaßen schnell zugespitzt (außer vielleicht für Herrn Bush), dass es kaum mehr Platz gibt für Optimismus oder „Zentrismus". Heute sind sie sich einig darüber, dass die schönen Zeiten vorüber sind. Mit anderen Worten: Die US-Ökonomie befindet sich heute in einer Rezession, oder zumindest an deren Beginn.

Dass die Bourgeoisie die Schwierigkeiten des US-amerikanischen Kapitalismus anerkennt, ändert aber kaum etwas an ihrem Verständnis über die wirkliche Lage des gesamten Systems. Die gebräuchliche Beschreibung einer Rezession von Seiten der herrschenden Klasse ist folgende: ein negatives Wirtschaftswachstum während zwei aufeinander folgenden Quartalen. Das National Bureau of Economic Research verwendet eine andere Definition, welche einen Hauch brauchbarer ist. Es definiert die Rezession als einen bedeutsamen und anhaltenden Niedergang aller wirtschaftlichen Aktivitäten, sichtbar an den Einkünften, dem Beschäftigungsgrad, dem Warenverkauf und der industriellen Produktion. Auf der Basis dieser Definition kann die herrschende Klasse eine Rezession nur erkennen, wenn sie schon eine gewisse Zeit andauert, und oft erst dann, wenn das Schlimmste schon vorbei ist. Nach gewissen Aussagen müsse man dann noch einige Monate warten, bis man, diesen Kriterien folgend, wisse, ob bereits eine Rezession herrsche oder ob sie erst beginne.

All die Prognosen, welche die Wirtschaftsseiten der Zeitungen füllen, sind sehr trügerisch. Sie tragen nur dazu bei, den katastrophalen Zustand des amerikanischen Kapitalismus zu verschleiern, der sich in den kommenden Monaten nur verschlechtern kann und dann wohl als das offizielle Datum des Eintritts der Wirtschaft in die Rezession dargestellt werden wird.

Es ist wichtig zu sehen, dass die gegenwärtige Krise keinesfalls eine ansonsten „gute Gesundheit" der US-amerikanischen Wirtschaft widerspiegelt, die gerade eine schlechte Phase in einem ansonst normalen Zyklus von Expansion und Rezession durchmacht. Was wir heute erleben, sind Erschütterungen eines Systems, das sich in einer permanenten Krise befindet und das ab und zu durch trügerische Heilmittel kurze Momente der Erholung erlebt, die dann den nächsten Absturz noch schlimmer machen.

Das ist die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus - und des Kapitalismus insgesamt - seit dem Ende der 1960er Jahre und der Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise. Während vier Jahrzehnten, durch Phasen des Aufschwungs und der offiziell anerkannten Rezession hat die gesamte Wirtschaft den Schein, dass sie funktioniere, nur dank staatskapitalistischer Maßnahmen auf den Ebenen der Geld- und der Steuerpolitik aufrecht erhalten können, die die Regierungen gezwungen sind zu ergreifen, um die Auswirkungen der Krise zu bekämpfen. Aber die Lage ist nicht statisch geblieben. Während all diesen Jahren der Krise und der Staatsinterventionen zu deren Management hat die Wirtschaft so viele Widersprüche angehäuft, dass heute eine reale Gefahr einer wirtschaftlichen Katastrophe besteht, wie sie in der Geschichte des Kapitalismus noch nie zu sehen war.

Nach dem Zerplatzen der Internet- und Technologieblase 2000-2001 hat sich die Bourgeoisie in eine neue Blase geflüchtet, diejenige des Immobilienmarktes. Obwohl die Spitzenbereiche des industriellen Sektors, wie die Autoindustrie oder die Flugzeugherstellung, weiterhin Pleiten erlebten, schaffte der Immobilienboom der letzten fünf Jahre die Illusion einer expandierenden Ökonomie. Doch dieser Boom hat sich nun in einen Krach verwandelt, der das ganze Gebäude des kapitalistischen Systems erschüttert und der in der Zukunft Auswirkungen haben wird, die noch niemand voraussehen kann.

Nach den jüngsten Daten sind sämtliche Transaktionen im privaten Immobilienbereich ins Trudeln geraten. Die Erstellung von Neubauten ist schon um rund 40% zusammengebrochen im Vergleich zum Kulminationspunkt im Jahr 2006, und die Verkäufe sind noch schneller abgesackt, was einen Preiseinbruch nach sich gezogen hat. Der Preis der Häuser ist im ganzen Land um 13% gesunken seit dem Höhepunkt 2006, und es wird erwartet, dass er um weitere 15 bis 20% fallen wird, bis er die Talsohle erreicht hat. Der Immobilienboom hinterlässt eine gewaltige Anzahl von leerstehenden Wohnungen, die nicht verkauft worden sind - ungefähr 2,1 Millionen, also etwa 2,6% der Gesamtzahl im ganzen Land. Im letzten Jahr waren die Zwangsversteigerungen im Großen und Ganzen auf die Subprime-Hypothekarkredite beschränkt, die Leuten gewährt worden waren, denen im Grunde genommen die Mittel fehlten, um sie zurück zu bezahlen. Etwa ein Viertel dieser Darlehen befanden sich im letzten November im Zahlungsstopp. Die Zahlungsunfähigkeit beginnt jetzt aber zunehmend auch diejenigen zu ergreifen, deren finanzielle Lage noch relativ gut ist. Im November befinden sich 6,6% der Schuldner im Zahlungsverzug, wenn nicht sogar im Verfahren der Zwangsversteigerung. Ein schlechtes Vorzeichen ist, dass der Höhepunkt der Immobilienzwangsversteigerungen stattfindet, noch bevor die Zinssätze auf den Hypothekarkrediten erhöht werden. Mit dem Zusammenbruch der Immobilienpreise, der mit der Krise einhergeht, erlaubt der Wert der Häuser vieler Leute nicht mehr die Rückzahlung ihrer Hypothekarschulden, so dasss ihnen der Verkauf des Hauses nicht nur keinen Gewinn einbrächte, sondern ihnen sogar noch eine Schuld aufbürdete. Das führt zu einer Situation, in welcher es finanziell gesehen klüger ist, seine Verpflichtungen loszuwerden, indem man Privatkonkurs erklärt.

Das Platzen der Immobilienblase zieht den Finanzsektor in Mitleidenschaft. Bis jetzt hat die Immobilienkrise bei den größten Finanzinstituten Verluste von mehr als 170 Milliarden Dollar verursacht. Milliarden von Dollar an Börsenwerten sind vernichtet, die Wall Street erschüttert worden. Unter den Großen, die 2007 mindestens ein Drittel ihres Wertes verloren haben, kann man Fannie Mae, Freddie Mac, Bear Stearns, Moody's und Citigroup nennen.[iii] MBIA, eine Gesellschaft, die sich auf die Garantie der finanziellen Gesundheit anderer Gesellschaften spezialisiert hat, hat fast drei Viertel ihres Wertes verloren! Verschiedene Firmen, die im Bereich der Hypothekarkredite tätig und an der Börse besonders hoch kotiert gewesen sind, sind bankrott gegangen.

Und dies ist erst der Anfang. Mit der zu erwartenden Zunahme der Zwangsversteigerungen in den nächsten Monaten werden die Banken weitere Verluste einstecken müssen, und die plötzliche Knappheit an Krediten (der credit crunch) wird sich weiter zuspitzen, was auch die anderen Bereiche der Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen wird.

Von der Immobilienkrise zur Kreditkrise

Außerdem stellt die Finanzkrise, die mit den Hypothekarkrediten zusammenhängt, nur die Spitze des Eisbergs dar. Die unvorsichtigen Kreditpraktiken, die den Immobilienmarkt beherrscht haben, gelten auch in den Bereichen der Kreditkarten und des Autokredits, in denen sich die Probleme ebenfalls ausbreiten. Und genau diese Bereiche stellen den Kern der gegenwärtigen „Gesundheit" des Kapitalismus dar. Sein kleines, ja nicht zu verratendes Geheimnis ist die Perversion des Kreditmechanismus mit dem Zweck, dem Mangel an zahlungsfähigen Märkten zu begegnen, auf denen er seine Waren verkaufen muss. Der Kredit ist wesentlich das Mittel geworden, die Wirtschaft künstlich aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass das System unter dem Gewicht seiner historischen Krise zusammenbricht. Ein Mittel, das bereits seine Grenzen und Risiken offenbart hat: Schon in den 80er Jahren folgte die Finanzkrise der Pleite der Staaten in Lateinamerika, die mit gewaltigen Darlehen eingedeckt worden waren, die sie nie und nimmer zurückzahlen konnten; der Zusammenbruch der asiatischen Tiger und Drachen in den Jahren 1997 und 1998 stellte eine Wiederholung der Geschichte dar. In der Tat war die Immobilienblase selbst eine Reaktion auf das Platzen der Internetblase und ein Versuch, diesen Schlamassel zu überwinden.

Die derzeitige Finanzkrise hat ganz andere Ausmaße, die sich aus der schleichenden Spekulation ergeben, welche die Immobilienblase begleitet hat. Es handelt sich dabei nicht um eine nebensächliche Spekulation eines Investors, der ein Haus kauft, um es bei steigenden Preisen gleich wieder mit Gewinn weiter zu verkaufen. Das ist eine Lappalie. Was ins Gewicht fällt, ist vielmehr die Spekulation im großen Stil, die alle Finanzinstitute durch Verbriefung[iv] und Verkauf von Hypothekarforderungen an den Börsen betreiben. Die Mechanismen dieser Abläufe werden nicht genau durchschaut, sie ähneln in vielerlei Hinsicht dem Ponzi-Trick.[v] Was diese gewaltige Spekulation aufzeigt, ist das Ausmaß, in dem die Wirtschaft eine „Kasino-Wirtschaft" geworden ist, in der das Kapital nicht mehr in der realen Produktion investiert, sondern für Wetten eingesetzt wird.

Die derzeitige Krise enthüllt den Betrug des Liberalismus und die Wirklichkeit des Staatskapitalismus

Die amerikanische Bourgeoisie stellt sich gerne als ideologischen Weltmeister des Liberalismus dar. Diese Haltung ist ihrerseits höchst ideologisch. Die Wirtschaft ist durch und durch geprägt von der staatlichen Intervention. Darum geht es in der gegenwärtigen „Debatte" der Bourgeoisie über die Art und Weise, wie die in Bedrängnis geratene Wirtschaft zu verwalten sei. Grundsätzlich wird nichts Neues vorgeschlagen. Dieselben alten währungs- und steuerpolitischen Maßnahmen werden angewandt in der Hoffnung, die Wirtschaft damit zu stimulieren.

Was gegenwärtig gemacht wird, um die Krise abzufedern, läuft auf die altbekannte Methode hinaus - die alten Programme des schnellen Geldes und einfachen Kredits werden lanciert, um der Wirtschaft wieder etwas Boden unter den Füssen zu verschaffen. Die amerikanische Antwort auf den credit crunch (Kreditklemme) lautet: noch mehr Kredit! Die amerikanische Notenbank hat nun seit September 2007 fünfmal den Zinssatz gesenkt und scheint bereit, dies ein weiteres Mal an der für März vorgesehenen Sitzung zu tun. Da die Notenbank weiß, dass dieses Heilmittel nichts ausrichtet, hat sie ihre Intervention auf den Kapitalmärkten erhöht und den an flüssigen Mitteln notleidenden Finanzinstituten billiges Geld angeboten - 200 Milliarden Dollar zusätzlich zu den im letzten Dezember schon angebotenen Milliarden.

Das Weiße Haus und der Kongress haben ihrerseits auch schnell Ankurbelungsmaßnahmen (unter der Bezeichnung „economic stimulus package") vorgeschlagen, die im Wesentlichen auf Steuerreduktionen für Familien und -nachlasse für Unternehmen hinauslaufen und ein Gesetz beinhalten, das die Epidemie der ausbleibenden Schuldentilgung bei Hypotheken eindämmen und den ausgebluteten Immobilienmarkt wiederbeleben soll. Doch angesichts des Ausmaßes der Immobilien- und Finanzkrise wird die Lösung einer massiven staatlichen Sanierung des ganzen Immobiliendebakels immer ernsthafter in Betracht gezogen. Die ungeheuren Kosten einer solchen Maßnahme würden die Summen, die der Staat 1990 zur Rettung der Saving and Loans Industry (Sparkassensystem) zur Verfügung stellte - 124,6 Milliarden Dollar -, als lächerlich erscheinen lassen.

Wie groß die Anstrengungen des Staates, die Krise zu verwalten, schließlich sein werden, bleibt abzuwarten. Offensichtlich ist, dass der Spielraum der Bourgeoisie für ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen je länger je enger wird. Nach Jahrzehnten des Krisenmanagements führt die amerikanische Bourgeoisie eine sehr kranke Wirtschaft. Der gewaltige staatliche und private Schuldenberg, das Bundeshaushaltsdefizit, die Zerbrechlichkeit des Finanzsystems und das enorme Außenhandelsdefizit - all das treibt die Schwierigkeiten der Bourgeoisie, dem Zusammenbruch des Systems zu begegnen, auf die Spitze. In der Tat haben die herkömmlichen Mittel der Regierung, um der Wirtschaft ein wenig neues Leben einzuhauchen, bis jetzt nichts gefruchtet. Im Gegenteil scheinen sie die Krankheit zu verschlimmern, die sie angeblich heilen sollen. Trotz den Anstrengungen der Notenbank, die Kreditvergabe zu entkrampfen, den Finanzsektor zu stabilisieren und den Immobilienmarkt wieder zu beleben, sind Kredite schwierig zu erhalten und teuer. Die Wall Street befindet sich pausenlos auf einer Achterbahn mit gewaltigen Ausschlägen und einer vorherrschenden Tendenz nach unten.

Außerdem trägt die Notenbank-Politik des billigen Geldes zum Wertverlust des Dollars bei, der alle Wochen neue Negativrekorde gegenüber dem Euro und anderen Währungen aufstellt und die Preise der Waren wie des Erdöls steigen lässt. Die Erhöhung der Preise für Energie, Nahrungsmittel und andere Waren, während sich gleichzeitig die Wirtschaft verlangsamt, treibt die Angst bei den „Experten" vor einer „Stagflationsphase" der amerikanischen Wirtschaft an. Die derzeitige Inflation schränkt bereits den Konsum der Bevölkerung ein, die versucht, mit Einkommen zu leben, die nicht steigen und die Arbeiterklasse und andere Sektoren der Bevölkerung zwingen, den Gurt enger zu schnallen.

Die Angriffe gegen die Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten

Die Nachricht des amerikanischen Arbeitsdepartements vom 7. März, dass 63.000 Arbeitsplätze im Land im Laufe des Monats Februar verloren gingen, alarmierte den Bourgeois. Natürlich nicht deshalb, weil er sich über das Schicksal der entlassenen Arbeiter Sorgen macht, sondern weil dieser starke Abbau die schlimmsten Albträume der Wirtschaftsexperten von der Vertiefung der Krise bestätigt. Es war der zweite Beschäftigungsrückgang in Folge und der dritte im Privatsektor. Wie eine Art schlechter Witz auf Kosten der Arbeitslosen mutet an, dass die Quote der Gesamtarbeitslosigkeit von 4,9 auf 4,8% zurückging. Wie war dies möglich? Es geschah aufgrund eines statistischen Tricks, den die Bourgeoisie benützte, um die Zahl der Arbeitslosen zu tief zu veranschlagen. Für die amerikanische Regierung bist du nur dann ein Arbeitsloser, wenn du keine Arbeit hast und während dem vergangenen Monat aktiv einen Arbeitsplatz gesucht hast und bereit bist, im Zeitpunkt der Umfrage zu arbeiten. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen unterschätzen denn auch erheblich die Beschäftigungskrise. Sie ignorieren die Millionen amerikanischer Arbeiter, die „entmutigt" sind, nachdem sie ihre Arbeit verloren und die Hoffnung aufgegeben haben, eine neue zu finden; die folglich in den letzten 30 Tagen vor der Umfrage keine neue Stelle gesucht haben; oder die zwar arbeiten wollen, aber zu entmutigt sind, es zu versuchen, da die Anstellung zu erdrückend ist; oder die schlicht nicht für die Hälfte des früheren Lohnes arbeiten wollen; oder (auch dies Millionen) die ganztags arbeiten wollen, aber nur Teilzeitarbeitsstellen finden. Wenn man all diese Arbeiter in die Arbeitslosenstatistiken aufnehmen würde, wäre die Quote deutlich höher. Um die Arbeitslosenziffern noch weiter nach unten zu frisieren, wird seit dem geschickten Trick der Statistiker Ronald Reagans das Militärpersonal in den Vereinigten Staaten zur Arbeitskraft des Landes gerechnet (zuvor ist die Arbeitslosigkeit nur ins Verhältnis zur zivilen Arbeitskraft gestellt worden). Diese Manipulation lässt die Zahl der „Beschäftigten" um etwa zwei Millionen ansteigen.

Der derzeitige Zustand der amerikanischen Wirtschaft lässt Katastrophales für die Ökonomie auf Weltebene befürchten. Die wichtigste Volkswirtschaft der Welt wird auch ihre Mitstreiter hinunter ziehen. Es gibt keine wirtschaftliche Lokomotive, die den Taucher der USA wettmachen und die Weltwirtschaft auf Kurs halten könnte. Der Rückgang des Kredits wird den Welthandel untergraben, der Zusammenbruch des Dollars wird die Importe der USA einschränken, was wiederum die wirtschaftliche Lage der anderen Länder verschlimmern wird. Die Angriffe auf die Lebensbedingungen des Proletariats werden überall brutaler. Wenn es in diesem düsteren Panorama einen Lichtblick gibt, so ist es die durch diese Lage vorangetriebene Rückkehr des Proletariats auf den Boden des Klassenkampfs gegen den Kapitalismus; die Arbeiterklasse wird gezwungen, sich gegen die verheerenden Auswirkungen der kapitalistischen Krise zu Wehr zu setzen.

Die Perspektive der Beschleunigung und Vertiefung der Krise des Kapitalismus geht einher mit der Aussicht auf eine Entwicklung des Klassenkampfs, der seinerseits über die Schritte, die das Proletariat seit der historischen Wiederaufnahme der Klassenkämpfe Ende der 1960er Jahre getan hat, hinausgehen muss.

 

ES/JG, 14. März 2008

 



[i] Siehe dazu unseren Artikel in der Internationalen Revue Nr. 40 „Finanzkrise: Von der Liquiditätskrise zur Liquidierung des Kapitalismus!"

 

[ii] Ein schlecht platzierter Optimismus scheint das Markenzeichen amerikanischer Präsidenten zu sein. Auch Richard Nixon erklärte 1969, zwei Jahre bevor die Krise die USA zwang die Bindung an den Dollar und das gesamte System von Bretton Woods aufzulösen, folgendes: „Wir haben endlich gelernt eine moderne Wirtschaft zu entwickeln die ein kontinuierliches Wachstum erlaubt". Einer seiner Vorgänger, Calvin Coolidge, hatte vor dem amerikanischen Kongress am 4. Dezember 1928 (also kurz vor der Krise von 1929) erklärt: „Kein je versammelter US-Kongress der den Stand der Nation betrachtetet konnte je eine komfortablere Situation wie die heutige feststellen...(Das Land) kann die Gegenwart mit Befriedigung betrachten und der Zukunft mit Optimismus entgegensehen."

 

[iii] Dieser Artikel ist unmittelbar vor der Ankündigung geschrieben worden, dass Bear Stearns - die fünftgrößte Handelsbank der USA - an JP Morgan Chase zu 2 Dollar pro Aktie verkauft wird, was bedeutet, dass die Bank 98% ihres einstigen Wertes verloren hat.

 

[iv] Verbriefung bedeutet die Verwandlung von Forderungen (zukünftigen Zahlungen) oder Eigentumsrechten in handelbare Wertpapiere.

 

[v] Im englischen Sprachraum wird mit „Ponzi Scheme" (Ponzi-Trick) ein Schneeballsystem bezeichnet. Charles Ponzi war ein Immobilienbetrüger in Kalifornien. Ein Schneeballsystem ist ein Geschäftsmodell, bei dem ständig mehr Leute mitmachen müssen, damit es funktioniert. Gewinne für die Teilnehmer entstehen dadurch, dass neue Teilnehmer einsteigen und Geld investieren.

 

Geographisch: 

  • Vereinigte Staaten [1]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [2]

Mai 68 und die revolutionäre Perspektive Die weltweite Studentenbewegung in den 1960er Jahren

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Im Januar 1969 erklärte der Präsident der USA, Richard Nixon, bei seiner Amtsübernahme: „Wir haben endlich gelernt, eine Wirtschaft so zu gestalten, dass ihr ständiges Wachstum sichergestellt ist.“ Rückblickend können wir sehen, in welchem Maße dieser Optimismus durch die Wirklichkeit brutal widerlegt wurde. Schon zu Beginn seiner zweiten Amtszeit, vier Jahre später, schlitterten die USA in die schlimmste Rezession seit dem 2. Weltkrieg. Dieser folgten viele andere, die alle jeweils verheerender waren als die vorhergehenden. Aber was weltfremden Optimismus angeht, so war Nixon ein Jahr zuvor von einem viel erfahreneren Staatschef übertroffen worden – dem General de Gaulle, seit 1958 Präsident der französischen Republik und Führer des „freien Frankreich“ während des 2. Weltkriegs. Hatte der große Führer in seiner Neujahresansprache nicht erklärt: „Ich begrüße das Jahr 1968 mit großer Ruhe und Frieden“. In seinem Falle vergingen keine vier Monate, bevor der Optimismus verflogen war. Vier Monate reichten, bis die Ruhe des Generals der größten Verwirrung wich. De Gaulle musste nicht nur einer gewalttätigen und massiven Studentenrevolte entgegentreten, sondern auch dem größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. 1968 war also nicht nur kein Jahr der Ruhe und des Friedens für Frankreich, sondern es war und bleibt bis heute das Jahr mit den größten Erschütterungen seit dem 2. Weltkrieg. Aber nicht nur in Frankreich kam es in jenem Jahr zu großen Erschütterungen. Zwei Autoren, denen man keinen Vorwurf der Beschränkung des Blickes auf Frankreich machen kann, der Engländer David Caute und der Amerikaner Mark Kulansky, machen dazu eindeutige Aussagen: „1968 war das turbulenteste Jahr seit dem
Ende des 2. Weltkriegs. Reihenweise kam es zu Aufständen in Amerika und Westeuropa, bis hin zur Tschechoslowakei. Durch sie wurde die Weltnachkriegsordnung in Frage gestellt.“
[i] „Zuvor hatte es kein Jahr wie 1968 gegeben. Und wahrscheinlich wird es ein Jahr mit solchen Ereignissen nicht mehr geben. Zu einer Zeit, als die Nationen und Kulturen noch gespalten und sehr unterschiedlich waren, (…) tauchte ein rebellischer Geist spontan auf der ganzen Welt auf. Zuvor hatte es schon andere Revolutionsjahre gegeben: 1848 zum Beispiel; aber im Gegensatz zu 1968 waren die Ereignisse auf Europa beschränkt geblieben…“[ii] Während gegenwärtig 40 Jahre nach diesem „heißen Jahr“ in mehreren Ländern eine wahre Flut von Berichten in der Presse und im Fernsehen zu diesem Thema präsentiert wurde, müssen die Revolutionäre auf die wichtigsten Ereignisse von 1968 zurückkommen, nicht so sehr um diese hier detailliert und erschöpfend wieder aufzurollen, sondern um die wirkliche Bedeutung dieser Ereignisse herauszuarbeiten[iii]. Insbesondere müssen sie gegenüber einer heute sehr weit verbreiteten Idee Stellung beziehen, die auch auf der Umschlagseite des Buches von Kurlansky aufgegriffen wird: „Sowohl Historiker als auch Politikwissenschaftler – die Experten der Sozialwissenschaften auf der ganzen Welt sind sich darin einig, dass man zwischen einem Vor-1968 und einem Nach-1968 unterscheiden kann.“ Um es gleich vorweg zu sagen, wir teilen diese Einschätzung, aber sicher nicht aus den gleichen Gründen, wie man sie immer wieder hört: Weil es zu einer „sexuellen Befreiung“, der „Frauenbefreiung“, der Infragestellung familiärer autoritärer Strukturen, der „Demokratisierung“ bestimmter Institutionen (wie der Universität), der Entwicklung neuer Kunstformen usw. gekommen sei. Deshalb wollen wir in diesem Artikel die wirklichen Umwälzungen aufzeigen, die aus der Sicht der IKS im Jahre 1968 stattfanden.

Neben einer ganzen Reihe von als solchen schon wichtigen Ereignissen (wie z.B. die Tet-Offensive der Vietcong im Februar, welche zwar schlussendlich von der US-Armee abgewehrt wurde, dennoch deutlich machte, dass die USA den Krieg in Vietnam niemals gewinnen könnten oder auch der Einmarsch sowjetischer Panzer in der Tschechoslowakei im August 1968) war das Jahr 1968 – wie Caute und Kurlansky hervorheben – durch diesen „Geist der Rebellion, welcher auf der ganzen Welt zu spüren war, geprägt“. Bei dieser Infragestellung der bestehenden Ordnung muss man zwischen zwei Komponenten unterscheiden, die sowohl unterschiedliche Ausmaße als auch unterschiedliche Bedeutungen annahmen.

Es handelte sich einerseits um die Studentenrevolte, die fast alle Länder des westlichen Blocks erfasste, und die sich in einem gewissen Maße gar bis in die damaligen Ostblockstaaten ausbreitete. Die andere Komponente war der massive Kampf der Arbeiterklasse, der sich im Jahre 1968 im Wesentlichen nur in einem Land, Frankreich, entwickelte.

In diesem ersten Artikel werden wir ausschließlich diese erste Komponente untersuchen, nicht weil sie die wichtigste wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Sie entfaltete sich lediglich vor den Arbeiterkämpfen. Der Kampf der Arbeiter sollte eine besondere historische Bedeutung erlangen, die weit über die Bedeutung der Studenten-revolten hinausging.

Die Studentenbewegung – weltweit

Im mächtigsten Land der Erde, den USA, entfalteten sich damals ab 1964 die massivste und radikalste Bewegung jener Zeit. Insbesondere an der Universität Berkeley, im Norden Kaliforniens, breiteten sich die Studentenproteste zum ersten Mal in größerem Umfang aus. Die von den Studenten erhobene Hauptforderung war die der „free speech movement“ (Bewegung für Redefreiheit) zugunsten der freien politischen Äußerung in den Universitäten.

Gegenüber den gut ausgerüsteten Anwerbern der US-Armee wollten die protestierenden Studenten Propaganda gegen den Vietnamkrieg und gegen die Rassentrennung betreiben (all dies spielte sich ein Jahr nach dem „Marsch für die Bürgerrechte“ am 28.8.1963 in Washington ab, auf dem Martin Luther King seine berühmte Rede „I have a dream“ hielt). Anfänglich reagierten die Behörden sehr repressiv, insbesondere durch den Einsatz von Polizeikräften gegen die „Sit-ins“, die friedliche Besetzung der Uniräume, wobei 800 Studenten verhaftet wurden. Anfang 1965 gestattete die Universitätsleitung politische Aktivitäten an der Uni, die damit zu einem Hauptzentrum des Studentenprotestes in den USA wurden. Gleichzeitig wurde damals Ronald Reagan 1965 unerwartet zum Gouverneur von Kalifornien mit der Parole gewählt „Räumen wir mit der Unordnung in Berkeley auf“. Die Bewegung erlebte einen mächtigen Auftrieb und radikalisierte sich in den darauf folgenden Jahren durch die Proteste gegen die Rassentrennung, für die Verteidigung der Frauenrechte und vor allem gegen den Vietnamkrieg. Während gleichzeitig viele junge Amerikaner, vor allem Studenten, scharenweise ins Ausland flüchteten, um einer Einberufung nach Vietnam zu entgehen, wurden die meisten Universitäten des Landes zum Schauplatz von Antikriegsbewegungen, während gleichzeitig die gewaltsamen Aufstände in den schwarzen Ghettos der Großstädte aufflammten (der Anteil junger Schwarzer, die in den Vietnamkrieg geschickt wurden, lag viel höher als der nationale Durchschnitt der nach Vietnam-Einberufenen).

Diese Protestbewegungen wurden oft grausam unterdrückt. So wurden Ende 1967 952 Studenten zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie sich geweigert hatten, der Einberufung nach Vietnam Folge zu leisten. Am 8. Februar 1968 wurden 3 Studenten während einer Demonstration für die Bürgerrechte in Süd Carolina getötet. 1968 breiteten sich die Bewegungen am stärksten aus. Im März besetzten schwarze Studenten in der Universität Howard in Washington vier Tage lang das Uni-Gelände. Vom 23. bis 30. April 1968 wurde die Columbia-Universität von New York aus Protest gegen die Zusammenarbeit mit dem Pentagon und aus Solidarität mit den Bewohnern des schwarzen Ghettos von Harlem besetzt. Die Unzufriedenheit und Radikalisierung nahmen weiter durch die Ermordung Martin Luther Kings am
4. April weiter zu, die zahlreiche gewalttätige Zusammenstöße in den schwarzen Ghettos des Landes auslösten. Die Besetzung der Columbia-Universität war einer der Höhepunke der Studentenproteste in den USA, was wiederum neue Zusammenstöße hervorrief.

Im Mai traten die Studenten von 12 Universitäten in den Streik, um gegen den Rassismus und den Vietnamkrieg zu protestieren. Im Sommer geriet Kalifornien in den Sog der Bewegung. Zwei Nächte lang kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Studenten in der Universität Berkeley, wonach der Gouverneur Kaliforniens, Ronald Reagan, den Notstand ausrief und ein Ausgehverbot verhängte. Diese neue Welle von Zusammenstößen erreichte ihren Höhepunkt nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem 22. und 30. August in Chicago, als es während der Konferenz der Demokratischen Partei zu großen gewaltsamen Auseinandersetzungen kam.

Die Revolten der amerikanischen Studenten breiteten sich in der gleichen Zeit auf viele andere Länder aus.

Auf dem amerikanischen Kontinent selbst traten die Studenten in Brasilien und in Mexiko am aktivsten auf den Plan.

Immer wieder kam es 1967 in Brasilien zu Kundgebungen gegen die brasilianischen und amerikanischen Regierungen. Am 28. März griff die Polizei gegen Studenten ein und tötete einen von ihnen, Luis Edson; mehrere wurden schwer verletzt, von denen wiederum einer einige Tage später verstarb. Das Begräbnis von Luis Edson am 29. März schlug in eine gewaltige Demonstration um. Von der Universität Rio de Janeiro, welche in einen unbefristeten Streik trat, dehnte sich die Bewegung über die Universitäten in Sao Paulo aus, wo Barrikaden errichtet wurden. Am 30. und 31. Märzen fanden erneut Kundgebungen im ganzen Land statt. Am 4. April wurden in Rio ca. 600 Menschen verhaftet. Trotz einer heftigen Repression und massenhafter Verhaftungen fanden fast täglich Demonstrationen bis Oktober 1968 statt.

Einige Monate später wurde Mexiko erfasst. Ende Juli brach in Mexiko Stadt eine Studentenrevolte aus. Als Reaktion setzte die Polizei Panzer ein. Der Polizeichef der Hauptstadt rechtfertige die Repression folgendermaßen : Man muss einer „subversiven Bewegung“ entgegentreten, welche „am Vorabend der 19. Olympischen Spiele dazu neigt, eine Atmosphäre der Feindschaft gegenüber unserer Regierung zu erzeugen.“ Die Repression ging weiter und wurde sogar noch verschärft. Am 18. September wurde das Universitätsgelände von der Polizei besetzt. Am 21. September verhaftete die Polizei im Verlaufe von neuen Zusammenstößen in der Hauptstadt 736 Personen. Am 30. September wurde die Universität Veracruz besetzt. Am 2. Oktober schließlich ließ die Regierung auf eine Studentendemonstration mit ca. 10.000 Teilnehmern auf dem Platz der Drei Kulturen in Mexiko schießen; dabei kamen paramilitärische Kräfte ohne Uniform zum Einsatz. Bei dieser Niederschlagung, die als „das Massaker von Tlatelolco“ in Erinnerung blieb, wurden mindestens 200 Teilnehmer getötet, mehr als 500 schwer verletzt und über 2000 verhaftet. Dem Präsidenten Díaz Ordaz gelang es somit, die am 12. Oktober begonnenen Olympischen Spiele „in Ruhe“ durchzuführen. Nach der „Zwangspause“ der Olympischen Spiele setzten die Studenten ihre Bewegung jedoch noch einige Monate lang fort.

Aber nicht allein der amerikanische Kontinent wurde von dieser Welle von Studentenrevolten ergriffen. Tatsächlich waren alle Kontinente betroffen.

So kam es in Asien in Japan zu besonders spektakulären Bewegungen. Seit 1963 fanden gewalttätige Demonstrationen gegen die USA und den Vietnamkrieg statt, die hauptsächlich von den Zengakuren (Nationaler Verband der autonomen Komitees der japanischen Studenten) getragen wurden. Am Ende des Frühjahrs 1968 erreichten die Studentenproteste die Schulen und Universitäten. Ein Schlachtruf lautete: „Wandeln wir den Kanda [Universitätsviertel von Tokio] in ein Quartier Latin um.“ Nachdem sich der Bewegung Arbeiter angeschlossen hatten, erreichte diese im Oktober 1968 ihren Höhepunkt. Am 9. Oktober prallten in Tokio, Osaka und Kyoto Polizisten und Studenten aufeinander – 80 Menschen wurden verletzt, 188 verhaftet. Das Antiaufstandsgesetz wurde verabschiedet – dagegen protestierten ca. 800.000 Menschen auf der Straße. Als Reaktion auf das Eingreifen der Polizei in der Tokioter Uni gegen die Besetzung derselben traten am 25. Oktober 6000 Studenten in den Ausstand. Mitte Januar 1969 fiel dann allerdings die Tokioter Uni, die letzte Bastion der Studentenbewegung.

In Afrika ragten insbesondere zwei Länder heraus: Senegal und Tunesien.

Im Senegal prangerten die Studenten den Rechtsdrall der Regierung und den neokolonialen Einfluss Frankreichs an und forderten die Umstrukturierung der Universitäten. Am 29. Mai 1968 wurde der Generalstreik der Studenten und Arbeiter von Léopold Sédar Senghor, Mitglied der ‚Sozialistischen Internationale’ mit Hilfe der Armee niedergeschlagen. Bei der Repression wurde in der Uni Dakar ein Mensch getötet und 20 verletzt. Und am 12. Juni wurde erneut bei einer Studenten- und Schülerdemo in den Vororten von Dakar ein Mensch getötet.

In Tunesien fing die Bewegung 1967 an. Am 5. Juni wurde bei einer Demonstration gegen die USA und Großbritannien, welche beschuldigt wurden, Israel gegen die arabischen Staaten zu unterstützen, das Amerikanische Kulturzentrum verwüstet und die britische Botschaft angegriffen. Ein Student, Mohamed Ben Jennet, wurde verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 17. November protestierten Studenten zahlreich gegen den Vietnamkrieg. Vom 15.–19. März 1968 traten die Studenten in den Streik und forderten die Freilassung Mohamed Ben Jennets. Schließlich wurde die Bewegung durch eine Reihe von Verhaftungen niedergeschlagen.

... Europa ...

Aber in Europa entfaltete sich die reifste und spektakulärste Bewegung.

In Großbritannien fing es schon Ende 1966 in der sehr respektablen „London School of Economics“ an zu brodeln, die eine Hochburg der bürgerlichen Wirtschaftsschulen ist, als die Studenten gegen die Nominierung einer Persönlichkeit zum Präsidenten ihrer Schule protestierten, die für ihre Beziehungen zum rassistischen Regime des damaligen Rhodesiens und Südafrikas bekannt war. Später wurde die LSE immer wieder von Protestbewegungen heimgesucht. So gab es beispielsweise im März 1967 ein sit-in von fünf Tagen gegen Disziplinarmaßnahmen, in deren Anschluss, dem amerikanischen Vorbild folgend, eine „Freie Universität“ gebildet wurde. Im Dezember fanden in der Regent Street Polytechnic und im Holborn College of Law and Commerce Sit-ins statt, welche eine Studentenvertretung in der College Leitung forderten. Im Mai wurde die Universität Essex, das Hornsey College of Art in Hull, Bristol und Keele besetzt ; diesen folgten andere Bewegungen in Croydon, Birmingham, Liverpool, Guildford und im Royal College of Arts.

Die spektakulärsten Demonstrationen (an denen sich viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Auffassungen beteiligten) waren die gegen den Vietnamkrieg: Im März und Oktober 1967, im März und Oktober 1968 (letztere war die zahlenmäßig größte); alle führten zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Dabei gab es jeweils Hunderte von Verletzten und Verhaftungen vor der US-Botschaft am Grosvenor Square.

In Belgien zogen die Studenten von April 1968 an mehrfach auf die Straße, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren und Verbesserungen des Bildungswesens zu fordern. Am 22. Mai wurde die Freie Universität Brüssel besetzt und zur für das „Volk offenen Universität“ erklärt. Das Gelände wurde Ende Juni wieder geräumt, nachdem der Akademische Rat der Uni auf einige ihrer Forderungen eingegangen war.

In Italien wurden ab 1967 immer mehr Universitäten besetzt, auch gab es regelmäßig Zusammenstöße zwischen Polizei und Studenten. Die Universität Rom wurde im Februar 1968 besetzt. Die Polizei räumte das Gelände; daraufhin zogen die Studenten zu den Gebäuden der Architektur in der Villa Borghese. Schließlich kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen, die unter dem Namen “Schlacht von Valle Grulia” bekannt wurden. Gleichzeitig protestierten spontan Beschäftigte der Industriebranchen, in denen die Gewerkschaften schwach waren (in dem Marzotto-Werk in Venezien). Darauf hin proklamierten die Gewerkschaften einen eintägigen Generalstreik in der Industrie, an dem sich viele Beschäftigte beteiligten. Schließlich bedeuteten die Wahlen im Mai das Ende der Bewegung, die schon ab dem Frühjahr abflachte.

Im Spanien Francos entfaltete sich ab 1966 eine Welle von Arbeiterstreiks und Universitätsbesetzungen. 1967 schwoll die Bewegung weiter stark an; sie setzte sich bis ins Jahr 1968 fort. Studenten und Arbeiter zeigten sich jeweils solidarisch, wie z.B. am 27. Januar 1967, als 100.000 Demonstranten gegen die brutale Repression gegen die Teilnehmer an einer Demonstration in Madrid protestierten, bei denen die Studenten, die sich ins Gebäude der Wirtschaftswissenschaften zurückgezogen hatten, sich mit der Polizei sechs Stunden lang Auseinandersetzungen lieferten. Die Behörden setzten alle Mittel gegen die Protestierer ein. Die Presse wurde kontrolliert, die Mitglieder der Bewegung und im Untergrund tätige Gewerkschafter wurden verhaftet. Am 28. Januar 1968 errichtete die Regierung in jeder Uni eine “Universitätspolizei”. Diese konnte jedoch die Studentenbewegung nicht an der Fortsetzung ihres Widerstandes gegen den Vietnamkrieg und das Franco-Regime hindern. Darauf hin wurde die Universität von Madrid im März geschlossen.

Von allen Ländern Europas war die Studentenbewegung in Deutschland am stärksten.

In Deutschland entstand Ende 1966 eine „Außerparlamentarische Opposition“, insbesondere als Reaktion auf die Beteiligung der Sozialdemokratie an der Regierung. Die APO stützte sich insbesondere auf studentische Vollversammlungen, in denen man in hitzigen Debatten über Mittel und Wege des Protestes stritt. An vielen Universitäten bildeten sich – dem US-Vorbild folgend – Diskussionsgruppen, als Gegenpol zur „etablierten“, bürgerlichen wurde die „kritische Universität“ gegründet. In dieser Phase wurde eine alte Tradition der Debatte, der Diskussionen in öffentlichen Vollversammlungen zum Teil wiederbelebt. Auch wenn sich viele durch den Drang zum spektakulären Handeln angezogen fühlten, blühte wieder das Interesse an Theorie, an der Geschichte revolutionärer Bewegungen auf und der Mut an den Gedanken der Überwindung des Kapitalismus auf. Bei vielen keimte Hoffnung auf andere Gesellschaft auf. Die Protestbewegung in Deutschland galt international als am „theo-retischsten, am meisten in den Diskussionen in die Tiefe gehend, am politischsten“.

Parallel zu diesen Diskussionen fanden zahlreiche Protestkundgebungen statt. Der Vietnamkrieg war sicherlich die Haupttriebkraft in einem Land, dessen Regierung die US-Militärmacht voll unterstützte, welches aber auch vom 2. Weltkrieg nachhaltig geprägt worden war. Am 17./18. Februar 1968 wurde in West-Berlin ein Internationaler Vietnam-Kongress mit anschließender Demonstration von 12.000 Teilnehmern abgehalten. Aber die seit 1965 einsetzenden Demonstrationen prangerten ebenso den Aufbau der Notstandsgesetze an, welche den Staat mit umfassenden Rechten der Militarisierung im Inneren und verschärfter Repression ausstatten sollten. Die 1966 in die Große Koalition eingetretene SPD bestand auf diesem Vorhaben in Fortsetzung ihrer alter Tradition von 1918–1919, als sie die blutige Niederschlagung des deutschen Proletariats angeführt hatte. Am 2. Juni 1967 wurde eine Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin mit der größten Brutalität vom „demokratischen“ deutschen Staat, welcher beste Beziehungen mit diesem blutrünstigen Diktator unterhielt, angegriffen. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen wurde dabei von einem Zivilpolizisten der Student Benno Ohnesorg hinterrücks erschossen (der Polizist wurde nachher freigesprochen). Nach diesem Mord wurde die Stimmung gegen die Protestierenden weiter aufgeheizt, insbesondere gegen ihre Führer. Die Bild-Zeitung forderte: „Stoppt den Terror der Jungroten jetzt!“ Bei einer vom Berliner Senat organisierten „Pro-Amerika-Demonstration“ am 21. Februar 1968 trugen Teilnehmer Plakate mit der Aufschrift „Volksfeind Nr. 1: Rudi Dutschke“, die prominenteste Führerpersönlichkeit der Protestbewegung. Bei dieser Kundgebung wurde ein Passant mit Dutschke verwechselt, Demonstrationsteilnehmer drohten diesen totzuschlagen. Eine Woche nach der Ermordung von Martin Luther King in den USA erreichte schließlich in Deutschland am „Gründonnerstag“ 11. April die Hetzkampagne ihren Höhepunkt nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin durch einen jungen Attentäter, der durch die Springer-Presse aufgestachelt worden war. Die darauf folgenden Osterunruhen richteten sich hauptsächlich gegen die Springer-Presse. Mehrere Wochen lang spielte die Studentenbewegung in Deutschland den Bezugspunkt für die meisten Länder Europas, bevor sich dann die Blicke auf Frankreich richteten.

… und in Frankreich

Die Hauptepisode der Studentenrevolten in Frankreich begann am 22. März 1968 in Nanterre in einem westlichen Vorort von
Paris.

Als solche waren die Ereignisse jenes Tages nichts Besonderes. Um gegen die Verhaftung eines linksextremen Studenten der Universität Nanterre zu protestieren, der unter dem Verdacht stand, an einem Attentat gegen ein Büro von American Express in Paris zu einem Zeitpunkt beteiligt gewesen zu sein, als in Paris viele gewalttätige Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg stattfanden, hielten 300 seiner Kommilitonen ein Treffen in einem Hörsaal ab. 142 von ihnen beschlossen die nächtliche Besetzung des Gebäudes des Akademischen Rates der Universität. Die Studenten der Uni Nanterre hatten nicht zum ersten Mal ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht. So war es kurz zuvor schon zu einem Konflikt zwischen Studenten und Polizisten wegen des Zugangs zu einem Studentinnenheim gekommen, dessen Zugang den männlichen Studenten verboten war. Am 16. März 1967 hatte eine Versammlung von 500 Studenten, ARCUN, die Abschaffung der Hausordnung beschlossen, die unter anderem besagte, dass die Studentinnen (auch die Volljährigen, was damals erst mit 21 Jahren der Fall war) weiterhin als Minderjährige anzusehen seien. Daraufhin hatte die Polizei am 21. März 1967 auf das Verlangen der Uni-Verwaltung hin das Studentinnenwohnheim umzingelt, um dort 150 Studenten festzunehmen, die sich in deren Gebäude befanden und sich in der obersten Etage verbarrikadiert hatten. Aber am nächsten Tag waren die Polizisten selbst von mehreren Tausend Studenten umzingelt worden. Diese hatten daraufhin den Befehl erhalten, die verbarrikadierten Studenten ohne irgendeine Belästigung abziehen zu lassen. Aber sowohl dieser Vorfall als auch andere Demonstrationen der Studenten, in denen sie ihre Wut abließen, insbesondere gegen den im Herbst 1967 verkündeten „Fouchet-Plan“ der Universitätsreform, blieben ohne Folgen. Nach dem 22. März 1968 verlief aber alles anders. Innerhalb weniger Wochen sollte eine Reihe von Ereignissen nicht nur zur größten Studentenmobilisierung seit dem Krieg führen, sondern auch zum größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung.

Bevor sie das Gebäude verließen, beschlossen die 142 Besetzer des Akademischen Rates der Uni die Bildung einer Bewegung des 22. März (M22), um so die Agitation aufrechtzuerhalten und sie voranzutreiben. Es handelte sich um eine informelle Bewegung, der zu Beginn die Trotzkisten der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und die Anarchisten (zu ihnen gehörte unter anderem Daniel Cohn-Bendit) angehörten; Ende April traten ihnen die Maoisten der Union der marxistisch-leninistischen kommunistischen Jugend (UCJML) bei. Insgesamt beteiligten sich in den darauf folgenden Wochen ca. 1200 Studenten daran. An den Wänden der Universität tauchten mehr und mehr Plakate und Graffitis auf: “Professoren, Ihr seid alt und Eure Kultur ebenso.”; “Lasst uns leben!”, “Nehmt Eure Wünsche für Wirklichkeit!” Die M22 kündigte für den 29. März einen Tag der “kritischen Universität” an und trat damit in die Fußstapfen der deutschen Studenten. Der Universitätsrektor beschloss die Schließung der Universität bis zum 1. April, aber die Agitation flammte sofort wieder nach der Öffnung der Universität auf. Vor 1000 Studenten erklärte Cohn-Bendit: “Wir wollen nicht die zukünftigen Manager der kapitalistischen Ausbeutung sein.” Die meisten Lehrenden reagierten ziemlich konservativ: Am 22. April verlangten 18 von ihnen, darunter “linke Dozenten”, “Maßnahmen und Mittel, damit die Agitatoren entlarvt und bestraft” werden. Der Rektor beschloss eine Reihe von Repressionsmaßnahmen, insbesondere gestattete er der Polizei freien Zugang und Bewegungsfreiheit auf dem Unigelände. Gleichzeitig hetzte die Presse gegen die “Wütenden”, die “Sekten” und “Anarchisten”. Die “Kommunistische” Partei Frankreichs hieb in die gleiche Kerbe: Am 26. April kam Pierre Juquin, Mitglied des Zentralkomitees, zu einem Treffen in Nanterre: “Die Störenfriede, die wohlbetuchte Muttersöhnchen sind, hindern die Arbeiterkinder daran, ihre Prüfungen abzulegen.” Er konnte seine Rede nicht zu Ende bringen, sondern musste stattdessen die Flucht antreten. In der Humanité vom 3. Mai, hetzte dann Georges Marchais, die Nummer 2 der PCF, wiederum: “Diese falschen Revolutionäre müssen energisch entlarvt werden, denn objektiv dienen sie den Interessen der Macht der Gaullisten und der großen kapitalistischen Monopole.”

Auf dem Unigelände in Nanterre kam es immer häufiger zu Schlägereien zwischen linksextremen Studenten und Faschisten aus der Gruppe Occident, die aus Paris angereist waren, um “Bolschewiki zu verprügeln”. In Anbetracht dieser Lage beschloss der Rektor am 2. Mai die Universität erneut zu schließen, die danach von der Polizei abgeriegelt wurde. Die Studenten von Nanterre beschlossen am darauf folgenden Tag eine Versammlung im Hof der Universität Sorbonne abzuhalten, um gegen die Schließung der Universität und gegen die disziplinarischen Maßnahmen gegen 8 Mitglieder der M22, darunter Cohn-Bendit, durch den Akademischen Rat zu protestieren.

An dem Treffen nahmen nur 300 Leute teil. Die meisten Studenten bereiteten aktiv ihre Jahresabschlussprüfungen vor. Aber die Regierung, die die Agitation endgültig auslöschen wollte, wollte zu einem großen Schlag ausholen, als sie die Besetzung des Quartier Latin (Univiertel in Paris) und die Umzingelung der Sorbonne durch die Polizei anordnete. Die Polizei drang zum ersten Mal seit Jahrhunderten in die Universität Sorbonne ein. Den Studenten, die sich in die Sorbonne zurückgezogen hatten, wurde freies Geleit zugesagt. Doch während die Studentinnen unbehelligt abziehen konnten, wurden die Studenten systematisch in Polizeiwagen verfrachtet, sobald sie das Unigelände verlassen hatten. In Windeseile versammelten sich Hunderte von Studenten auf dem Platz der Sorbonne und beschimpften die Polizisten. Die Polizei schoss mit Tränengas auf die Studenten. Die Studenten wurden gewaltsam vom Platz vertrieben, aber im Gegenzug fingen immer mehr Studenten an, die Polizisten und ihre Fahrzeuge einzukreisen. Die Zusammenstöße dauerten an jenem Abend vier Stunden: 72 Polizisten wurden verletzt, 400 Demonstranten verhaftet. In den darauf folgenden Tagen riegelte die Polizei das Gelände der Sorbonne vollständig ab. Gleichzeitig wurden vier Studenten zu Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Politik der “entschlossenen Hand” bewirkte jedoch das Gegenteil dessen, was die Regierung von ihr erhoffte: Anstatt die Agitation zu beenden, wurde diese
noch massiver. Ab Montag, dem 6. Mai kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit den um die Sorbonne zusammengezogenen Polizeikräften und den zahlenmäßig immer größer werdenden Demonstrationen, zu denen von der M22, UNFEF (Studentische Gewerkschaft) und Snesup (Gewerkschaft des Uni-Lehrkörpers) aufgerufen wurde. Bis zu 45.000 Studenten beteiligten sich an ihnen mit dem Schlachtruf “Die Sorbonne gehört in die Hände der Studenten”, “Bullen raus aus dem Quartier Latin”, und vor allem “Befreit unsere Genossen”. Den Studenten schlossen sich immer mehr Schüler, Lehrer, Arbeiter und Arbeitslose an. Am 7. Mai überschritten die Demonstrationszüge überraschenderweise die Seine und zogen die Champs-Elysées entlang und drangen bis in die Nähe des Präsidentenpalastes vor. Die Internationale wurde unter dem Triumphbogen angestimmt, dort wo man meistens die Marseillaise hört oder Totengeläut. Die Demonstrationen griffen auch auf einige Provinzstädte über. Die Regierung wollte einen Beweis für ihren guten Willen zeigen und öffnete die Universität von Nanterre am 10. Mai. Am Abend des gleichen Tages strömten Zehntausende von Demonstranten im Quartier Latin zusammen und fanden sich den Polizeikräften gegenüber, die die Sorbonne abgeriegelt hatten. Um 21 Uhr fingen einigen Demonstranten an, Barrikaden zu errichten (insgesamt wurden ca. 60 errichtet). Um Mitternacht wurde eine Delegation von drei Studenten (unter ihnen Cohn-Bendit) vom Rektor der Akademie von Paris empfangen. Der Rektor stimmte der Wiedereröffnung der Sorbonne zu, konnte aber keine Versprechungen hinsichtlich der Freilassung der am 3. Mai verhafteten Studenten machen. Um zwei Uhr morgens starteten die CRS (Bürgerkriegspolizei) den Sturm auf die Barrikaden, nachdem sie zuvor viele Tränengasgeschosse auf sie gefeuert hatten. Die Zusammenstöße verliefen sehr gewalttätig; Hunderte von Menschen wurden auf beiden Seiten verletzt. Mehr als 500 Demonstranten wurden verhaftet. Im Quartier Latin bekundeten viele Anwohner ihre Sympathie mit den Demonstranten; sie ließen sie in ihre Wohnungen rein oder spritzten Wasser auf die Straße, um sie vor dem Tränengas und den anderen Geschossen der Polizei zu schützen. All diese Ereignisse, insbesondere die Berichte über die Brutalität der Repressionskräfte, wurden im Radio permanent von Hunderttausenden Menschen verfolgt. Um sechs Uhr morgens ‚herrschte Ordnung’ im Quartier Latin, das wie von einem Tornado durchpflügt schien.

Am 11. Mai war die Empörung in Paris und in ganz Frankreich riesengroß. Die Menschen strömten überall zu spontanen Demonstrationszügen zusammen. Diesen schlossen sich nicht nur Studenten sondern Hunderttausende anderer Demonstranten mit unterschiedlichster Herkunft an, insbesondere junge Arbeiter oder Eltern von Studenten. In der Provinz wurden viele Universitäten besetzt; überall auf den Straßen, auf den Plätzen fing man an zu diskutieren und verurteilte die Haltung der Repressionskräfte.

In Anbetracht dieser Entwicklung kündigte der Premierminister Georges Pompidou abends an, dass vom 13. Mai an die Polizeikräfte aus dem Quartier Latin abzuziehen, die Sorbonne wieder zu öffnen und die verhafteten Studenten freizulassen sind.

Am gleichen Tag riefen die Gewerkschaftszentralen, die CGT eingeschlossen (die bis dahin die ‚linksextremen’ Studenten angeprangert hatten), sowie einige Polizeigewerkschaften zum Streik und Demonstrationen für den 13. Mai auf, um gegen die Repression und die Regierungspolitik zu protestieren.

Am 13. Mai fanden in allen Städten des Landes die größten Demonstrationen seit dem 2. Weltkrieg statt. Die Arbeiterklasse beteiligte sich massiv an der Seite der Studenten. Einer der am meisten verbreiteten Schlachtrufe lautete “10 Jahre, das reicht” (man bezog sich auf den 13. Mai 1958, als De Gaulle wieder die Macht übernommen hatte). Am Ende der Demonstrationen wurden fast alle Universitäten nicht nur von den Studenten besetzt, sondern auch von vielen jungen Arbeitern. Überall ergriff man das Wort. Die Diskussionen begrenzten sich nicht nur auf die universitären Fragen oder die Repression. Man fing an, alle möglichen gesellschaftlichen Fragen aufzugreifen: die Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung, die Zukunft der Gesellschaft.

Am 14. Mai gingen die Diskussionen in vielen Betrieben weiter. Nach den gewaltigen Demonstrationen am Vorabend, die den ganzen Enthusiasmus und ein Gefühl der Stärke zum Vorschein gebracht hatten, war es schwierig die Arbeit wieder aufzunehmen, so als ob nichts passiert wäre. In Nantes traten die Beschäftigen von Sud-Aviation in einen spontanen Streik und beschlossen die Besetzung des Werkes. Vor allem die jüngeren Beschäftigten trieben die Bewegung voran. Die Arbeiterklasse war auf den Plan getreten.

Die Bedeutung der Studentenbewegung der 1960er Jahre

Ein Merkmal dieser ganzen Bewegung war natürlich vor allem die Ablehnung des Vietnamkrieges. Aber während man eigentlich hätte erwarten können, dass die stalinistischen Parteien, die mit dem Regime in Hanoi und Moskau verbunden waren, wie zuvor bei den Antikriegsbewegungen während des Koreakrieges zu Beginn der 1950er Jahre, die Führung dieser Bewegung übernehmen würden, geschah dies nicht. Im Gegenteil; diese Parteien verfügten praktisch über keinen Einfluss, und sehr oft standen sie im völligen Gegensatz zu den Bewegungen.[iv] Dies war eines der Merkmale der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre; es zeigte die tiefgreifende Bedeutung auf, die ihr zukommen sollte. Diese Bedeutung werden wir jetzt aufzuzeigen versuchen. Dazu müssen wir natürlich unbedingt die damaligen Themen der studentischen Mobilisierung in
Erinnerung rufen.

Die Themen der Studentenrevolte in den 1960er Jahren in den USA ...

Wenn der Widerstand gegen den Vietnamkrieg der USA der wichtigste und weitest verbreitete Mobilisierungsfaktor in allen Ländern der westlichen Welt war, ist es sicherlich kein Zufall, dass die Studentenrevolten im mächtigsten Land der Erde einsetzten. Die Jugend in den USA wurde direkt und unmittelbar mit der Frage des Krieges konfrontiert, da in ihren Reihen junge Männer rekrutiert wurden, die zur Verteidigung „der freien Welt“ in den Krieg geschickt wurden. Zehntausende amerikanische Jugendliche haben für die Politik ihrer Regierung ihr Leben gelassen; Hunderttausende sind verletzt und verstümmelt aus Vietnam zurückgekehrt, Millionen bleiben ihr Leben lang geprägt durch das, was sie in diesem Land erlebt haben. Abgesehen von dem Horror, den sie vor Ort durchgemacht haben, wurden viele mit der Frage konfrontiert: Was machen wir eigentlich in Vietnam? Den offiziellen Erklärungen zufolge waren sie dorthin geschickt worden, um die ‚Demokratie’, ‚die freie Welt’ und die ‚Zivilisation’ zu verteidigen. Aber was sie vor Ort erlebten, widersprach völlig den offiziellen Rechtfertigungen: Das Regime, das sie angeblich verteidigen sollten, die Regierung in Saigon, war weder ‚demokratisch’ noch ‚zivilisiert’. Sie war eine Militärdiktatur und extrem korrupt. Vor Ort fiel es den Soldaten sehr schwer nachzuvollziehen, dass sie die ‚Zivilisation’ verteidigten, wenn von ihnen verlangt wurde, dass sie sich selbst wie Barbaren verhalten sollten, die unbewaffnete arme Bauern, Frauen, Kinder und Alte terrorisieren und umbringen sollten. Aber nicht nur die Soldaten vor Ort waren von den Schrecken des Krieges angeekelt, sondern dies traf auch auf wachsende Teile der US-Jugend insgesamt zu. Junge Männer fürchteten nicht nur in den Krieg geschickt zu werden, und junge Frauen fürchteten nicht nur den Verlust ihrer Freunde, sondern man erfuhr auch immer mehr von den rückkehrenden „Veteranen“, oder ganz einfach durch das Fernsehen von der Barbarei, die dort herrschte.[v] Der schreiende Widerspruch zwischen den offiziellen Reden der US-Regierung von der ‚Verteidigung der Zivilisation und der Demokratie’, auf die sich die US-Regierung berief und ihr tatsächliches Handeln in Vietnam war einer der wichtigsten Faktoren, der zur Revolte gegen die Autoritäten und die traditionellen Werte der US-Bourgeoisie führte.[vi] Diese Revolte hatte in einer ersten Phase die Hippie-Bewegung mit hervor gebracht, eine gewaltlose und pazifistische Bewegung, die sich auf ‚Flower power“ (Macht der Blumen) berief, und von der ein Slogan lautete: „Make Love, not War“ (Macht Liebe, nicht Krieg). Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass die erste größere Studentenmobilisierung an der Universität Berkeley entstand, d.h. in einem Vorort von San Francisco, das damals das Mekka der Hippies war.

Die Themen und vor allem die Mittel dieser Mobilisierungen ähnelten noch dieser Hippie-Bewegung: „Sit-in“; eine gewaltlose Methode, um die „Free Speech“ (Redefreiheit) für politische Propaganda an den Universitäten zu fordern, insbesondere auch um die ‚Bürgerrechte’ der Schwarzen zu unterstützen und die Rekrutierungskampagnen der Armee, die in den Universitäten stattfanden, anzuprangern. Jedoch stellte wie in anderen Ländern später auch, insbesondere 1968 in Frankreich, die Repression in Berkeley einen wichtigen Faktor der ‚Radikalisierung’ der Bewegung dar. Von 1967 an, nach der Gründung der Youth International Party (Internationalen Partei der Jugend) durch Abbie Hoffman und Jerry Rubin, der eine kurze Zeit bei der Bewegung der Gewaltlosen mitgewirkt hatte, gab sich die Bewegung der Revolte eine ‚revolutionäre’ Perspektive gegen den Kapitalismus. Die neuen ‚Helden’ der Bewegung waren nicht mehr Bob Dylan oder Joan Baez, sondern Leute wie Che Guevara (den Rubin 1964 in La Havanna getroffen hatte). Die Ideologie dieser Bewegung war unglaublich konfus. Es gab anarchistische Bestandteile (wie den Freiheitskult, insbesondere die sexuelle Freiheit oder Freiheit des Drogenkonsums), aber auch stalinistische Bestandteile (Kuba und Albanien wurden als Beispiele gepriesen). Die Aktionen ähnelten sehr denen der Anarchisten – wie Lächerlichmachen und Provokationen. So bestand eine der ersten spektakulären Aktionen des Tandems Hoffman-Rubin darin, Bündel Falschgeld in der New Yorker Börse zu verteilen, woraufhin sich die dort Anwesenden wie wild auf sie stürzten, um welche zu ergattern. Und während des Kongresses der Demokratischen Partei im Sommer 1968 schlugen sie als Präsidentenkandidaten das Schwein Pegasus vor[vii], während sie gleichzeitig bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Polizei vorbereiteten. Zusammenfassend kann man zu den Hauptmerkmalen der Proteste, welche sich in den 1960er Jahren in den USA ausbreiteten, sagen, dass sie sich sowohl gegen den Vietnamkrieg als auch gegen die Rassendiskriminierung, gegen die ungleiche Behandlung der Geschlechter und gegen die traditionelle Moral und die Werte Amerikas wandten. Wie die meisten der Beteiligten feststellten (als sie sich wie revoltierende Bürgerkinder verhielten), waren diese Bewegungen keineswegs Regungen der Arbeiterklasse. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einer ihrer ‚Theoretiker’, der Philosophieprofessor Herbert Marcuse, meinte, die Arbeiterklasse sei ‚integriert’ worden, und dass die revolutionären Kräfte gegen den Kapitalismus unter anderen Gesellschaftsschichten zu finden seien, so beispielsweise die Schwarzen, die Opfer der Rassendiskriminierung waren, die Bauern der Dritten Welt oder revoltierende Intellektuelle.

… und in den anderen Ländern

In den meisten anderen Ländern des Westens ähnelten die Studentenbewegungen der 1960er Jahre stark denen der USA: Verwerfung der US-Intervention in Vietnam, Revolte gegen die Autoritäten, insbesondere die akademischen Autoritäten, gegen die Autorität im Allgemeinen, gegen die traditionelle Moral, insbesondere gegen die Sexualmoral. Dies ist einer der Gründe, weshalb die stalinistischen Parteien, die ein Symbol des Autoritären waren, keinen Widerhall unter den Revoltierenden finden konnten, obgleich sie die US-Intervention in Vietnam heftig an den Pranger stellten. Dabei wurden die von den USA bekämpften militärischen Kräfte in Vietnam, welche als ‚anti-kapitalistisch’ auftraten, total vom sowjetischen Block unterstützt. Es stimmt, dass der Ruf der UdSSR sehr stark unter der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 gelitten hatte, und dass das Bild des alten Apparatschiks Breschnew keine großen Träume aufkommen ließ. Die Revoltierenden der 1960 Jahre hingen lieber Poster von Ho Chi Minh (ein alter Apparatschik, der aber eher vorzeigbar war und als ‚heldenhafter’ erschien) und am liebsten noch das romantische Photo von Che Guevara auf (ein anderes Mitglied einer stalinistischen Partei, aber halt ‚exotischer’) oder von Angela Davis (sie war auch Mitglied der stalinistischen Partei der USA, aber sie hatte den doppelten Vorteil eine Schwarze und Frau zu sein, und zudem noch genau wie Che Guevara ‚gut’ auszusehen).

Diese Komponente, sowohl gegen den Vietnamkrieg gerichtet zu sein und als ‚libertär’ zu erscheinen, tauchte ebenfalls in Deutschland auf. Die berühmteste Figur der Bewegung, Rudi Dutschke, stammte aus der ehemaligen DDR, wo er sich als junger Mann schon gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes geäußert hatte. Seine ideologischen Bezugspunkte waren der ‚junge Marx’ sowie die Frankfurter Schule (der Marcuse angehörte), und auch die Situationistische Internationale (auf die sich die Gruppe „Subversive Aktion“, deren Berliner Sektion er 1962 gründete, berief).[viii]

Während der Diskussionen, die sich von 1965 an in den deutschen Universitäten entfalteten, stieß die Suche nach einem “wahren anti-autoritären Marxismus” auf einen großen Erfolg. Damals wurden viele Texte der Rätebewegung wieder aufgelegt.

Die Themen und Forderungen der Studentenbewegung, die sich 1968 in Frankreich entfaltete hat, waren im Wesentlichen die gleichen. Im Laufe der Entwicklung wurde der Widerstand gegen den Vietnamkrieg durch eine Reihe von Slogans in den Hintergrund gedrängt, die situationistisch oder anarchistisch inspiriert waren (oder gar surrealistisch), und die man immer häufiger auf den Mauern lesen konnte („Die Mauern haben das Wort“). Die anarchistische Ausrichtung wurde insbesondere in folgenden Slogans deutlich:

„Die Leidenschaft der Zerstörung ist eine schöpferische Freude.“ (Bakunin)

„ Es ist verboten zu verbieten.“

„Freiheit ist das Verbrechen, das alle Verbrechen beinhaltet.“

„Wahlen sind Fallen für Dumme.“

„Frech und unverschämt zu sein, ist die neue revolutionäre Waffe.“

Diese wurden durch jene Forderungen ergänzt, die zur „sexuellen Revolution“ aufriefen:

„Liebt euch aufeinander liegend!“

„Knöpft euer Gehirn so oft auf wie euren Hosenschlitz!“

„Je mehr ich Liebe mache, desto mehr habe ich Lust die Revolution zu machen. Je mehr ich die Revolution mache, desto mehr habe ich Lust Liebe zu machen.“

Der Einfluss des Situationismus spiegelte sich in Folgendem wider:

„Nieder mit der Konsumgesellschaft!“

„Nieder mit der Warengesellschaft des Spektakels!“

„Schaffen wir die Entfremdung ab!“

„Arbeitet nie!“

„Seine Wünsche für die Wirklichkeit nehmen, denn ich glaube an die Wirklichkeit meiner Wünsche.“

„Wir wollen keine Welt, in der die Sicherheit nicht zu verhungern eingetauscht wird mit dem Risiko vor Langeweile zu sterben.“

„Langeweile ist konterrevolutionär.“

„Wir wollen leben ohne Stillstand und uns grenzenlos amüsieren.“

„Seien wir realistisch, verlangen wir das Unrealistische!“

Übrigens tauchte auch die Generationenfrage (die in den USA und in Deutschland sehr präsent war) in verschiedenen Slogans (oft auf sehr schändliche Weise) auf:

„Lauf Genosse, die alte Welt liegt hinter dir!“

„Die Jungen machen Liebe, die Alten machen obszöne Gesten.“

Im Frankreich des Mai 68, wo Barrikaden errichtet wurden, hörte man auch Slogans wie:

„Die Barrikaden versperren die Straßen, aber öffnen den Weg.“

„Der Abschluss allen Denkens ist der Pflasterstein in deiner Fresse, CRS [Bürgerkriegs-polizei].”

„Unter dem Pflasterstein liegt der Strand.“

Die größte Verwirrung, die in dieser Zeit vorzufinden war, kommt durch die beiden folgenden Slogans zum Ausdruck:

„Es gibt kein revolutionäres Denken. Es gibt nur revolutionäre Handlungen.“

„Ich habe etwas zu sagen, aber ich weiß nicht was.“

Das Klassenwesen der Studentenbewegung der 1960er Jahre

Diese Slogans wie die meisten, die in den anderen Ländern zirkulierten, zeigen deutlich, dass die Studentenbewegung der 1960er Jahre keineswegs das Wesen der Arbeiterklasse widerspiegelte, auch wenn es in verschiedenen Ländern (wie natürlich in Frankreich, und auch in Italien, Spanien oder im Senegal) den Willen gab, eine Brücke zu den Arbeiterkämpfen zu schlagen. Diese Herangehensweise spiegelte übrigens eine gewisse Überheblichkeit gegenüber der Arbeiterklasse wider, die mit einer gewissen Faszination für den Arbeiter als Blaumann durchmischt war, welcher der Held von schlecht verdauten Texten der Klassiker des Marxismus war. Im Kern war die Studentenbewegung der 1960er Jahre kleinbürgerlicher Natur. Einer der klarsten Aspekte neben ihrem anarchisierenden Erscheinungsbild war der Wille „das Leben sofort umzuwälzen“. Die Ungeduld und das “alles sofort” waren die Merkmale einer gesellschaftlichen Schicht wie des Kleinbürgertums, die in der Geschichte keine Zukunft haben.

Der ‚revolutionäre’ Radikalismus der Führung dieser Bewegung, sowie die Gewaltverherrlichung, die von einigen Teilen der Bewegung betrieben wurde, spiegelt ebenfalls ihr kleinbürgerliches Wesen wider. Die ‚revolutionären’ Anliegen der Studenten von 1968 waren zweifelsohne aufrichtig, aber sie waren stark geprägt von einer Sicht der Welt aus einer Dritten-Welt-Perspektive (Guevarismus und Maoismus) sowie vom Antifaschismus. Die Bewegung hatte eine romantische Sichtweise der Revolution, ohne auch nur die geringste Vorstellung von der wirklichen Entwicklung der Bewegung der Arbeiterklasse zu haben, die zur Revolution führt. Die Studenten in Frankreich, die sich für „revolutionär“ hielten, glaubten, dass die Bewegung des Mai 68 schon die Revolution war, und die Barrikaden, die Tag für Tag errichtete wurden, wurden als die Erben der Barrikaden von 1848 und der Kommune von 1871 dargestellt.

Eines der Merkmale der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre war der „Generationenkonflikt“, der sehr große Graben zwischen der neuen Generation und der ihrer Eltern, denen verschiedene Vorwürfe gemacht wurden. Insbesondere die Tatsache, dass
diese hart hatte schuften müssen, um Armut und auch Hunger zu überwinden, die durch den 2. Weltkrieg entstanden waren. Man warf ihr vor, dass sie sich nur um ihr materielles Wohlergehen kümmerte. Deshalb feierten die Fantastereien über die „Konsumgesellschaft“ und Slogans wie „Arbeitet nie!“ solche Erfolge. Als Nachfolger einer Generation, die von der Konterrevolution voll getroffen worden war, warf die Jugend der 1960er Jahre der älteren Generation vor, sich den Ansprüchen des Kapitalismus unterworfen und angepasst zu haben. Im Gegenzug verstanden viele Eltern nicht und hatten Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass ihre Kinder Verachtung für die Opfer zeigten, die sie hatten erbringen müssen, um ihren Kindern bessere wirtschaftliche Verhältnisse zu ermöglichen, als sie sie selbst erlebt hatten.

Aber dennoch gab es einen wirklichen ökonomischen Bestimmungsgrund für die Studentenrevolte der 1960er Jahre. Damals gab es keine größere Bedrohung durch Arbeitslosigkeit oder durch prekäre Arbeitsbedingungen nach dem Studium, wenn man die Lage mit der heute vergleicht. Die Hauptsorge der studentischen Jugend war damals, dass sie nicht mehr den gleichen sozialen Aufstieg würde machen können wie die vorhergehende Akademikergeneration. Die Generation von 1968 war die erste Generation, die mit einer gewissen Brutalität mit dem Phänomen der „Proletarisierung der Führungskräfte“ konfrontiert wurde, welches von den Soziologen der damaligen Zeit eingehend untersucht wurde. Dieses Phänomen hatte sich seit einigen Jahren ausgebreitet, noch bevor die Krise offen in Erscheinung trat, sobald die Studentenzahl beträchtlich zugenommen hatte (so war zum Beispiel die Zahl der Studenten in Deutschland von 330.000 auf
1.1 Millionen zwischen 1964–1974 gestiegen). Diese Zunahme entsprach den Bedürfnissen der Wirtschaft aber auch dem Willen und der Möglichkeit der Generation ihrer Eltern, ihren Kindern eine bessere wirtschaftliche und soziale Lage als ihre eigene angedeihen zu lassen.

Unter anderem hatte diese massenhafte Zunahme der Studenten die wachsende Malaise hervorgerufen, die auf den Fortbestand von Strukturen und Praktiken an den Universitäten zurückzuführen war, welche aus einer Zeit stammten, in der nur eine Elite die Uni besuchen konnte, und in der stark autoritäre Strukturen vorherrschten.

Während die Studentenbewegung, welche 1964 einsetzte, sich in einer Zeit des „Wohlstandes“ des Kapitalismus entfaltete, sah die Lage 1967 schon anders aus, als die wirtschaftliche Situation sich schon sehr stark verschlechtert hatte – wodurch die studentische Malaise vergrößert wurde. Dies war einer der Gründe, weshalb die Bewegung 1968 ihren Höhepunkt erlebte. Und dies erklärt auch, warum im Mai 1968 die Arbeiterklasse auf den Plan trat und die Bewegung anführte. Darauf werden wir in einem nächsten Artikel eingehen.

Fabienne


[i] David Caute, 1968 dans le monde, Paris, Laffont, 1988, übersetzt aus Sixty-Eight: The Year of the Barricades, London, Hamilton 1988. Es erschien in den USA ebenso unter dem Titel „The Year of the Barricades – A Journey through 1968, New Yorker: Harper & Row, 1988.

[ii] Mark Kurlansky, 1968: l‘année qui ébranla le monde. Paris: Presses De La Cite, 2005 ; übersetzt aus 1968: The Year That Rocked the World. New York: Ballan-tine Books, 2004.

[iii] Einige unserer territorialen Publikationen haben schon oder werden noch Artikel über die Ereignisse in den jeweiligen Ländern veröffentlichen.

[iv] Studentenbewegungen griffen 1968 auch auf stalinistische Regime über. In der Tschechoslowakei waren sie Teil des „Prager Frühlings“, welcher von einem Teil der stalinistischen Partei propagiert wurde. Sie können nicht als eine Bewegung angesehen werden, die das Regime infragestellten. In Polen nahm die Bewegung einen anderen Charakter an. Am 8. März wurden Studentenproteste gegen das Verbot einer als Russland-feindlichen angesehenen Aufführung von der Polizei unterdrückt. Im März stieg die Spannung weiter an. Immer mehr Universitäten wurden von den Studenten besetzt, immer mehr wurde demonstriert. Unter der Führung des Innenministers, General Moczar, Anführer der „Partisanenströmung“ in der stalinistischen Partei, wurden sie brutal unterdrückt, während gleichzeitig die Juden in der Partei auf-grund von „Zionismusvorwürfen“ herausgeschmissen wurden.

[v] Während des Vietnamkrieges waren die US-Medien den Militärbehörden nicht unterworfen. Diesen „Fehler“ beging die US-Regierung während der Auslösung des Irakkrieges 1991 und 2003 nicht mehr.

[vi] Solch ein Phänomen wiederholte sich nicht mehr nach dem 2. Weltkrieg. Die US-Soldaten hatten ebenfalls eine Hölle er-lebt, insbesondere jene, die 1944 in der Normandie gelandet waren, aber fast alle Soldaten und die Bevölkerung insgesamt waren angesichts der Barbarei des Nazi-Regimes bereit, diese Opfer zu bringen

[vii] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die französischen Anarchisten einen Esel für die Parlamentswahlen nominiert.

[viii] Für eine zusammenfassende Darstellung der politischen Positionen des Situationismus siehe unseren Artikel: „Guy Debord – Der zweite Tod der Situa-tionistischen Internationale“ in Revue Internationale, Nr. 80.

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [3]

Vor 60 Jahren: Eine Konferenz revolutionärer Internationalisten

  • 3410 reads

Die IKS hielt 2007 ihren 17. Kongress ab. Zum ersten Mal seit 1979 konnte dieser Kongress wieder Delegationen anderer internationalistischer Gruppen willkommen heißen, welche buchstäblich aus verschiedensten Ecken der Welt (von Brasilien bis Südkorea) angereist waren. Wie wir im Artikel über die Arbeit des Kongresses[i] festgehalten haben, ist diese Praxis keine Erfindung der IKS. Wir tun damit nichts anderes, als die Haltung wieder aufzunehmen, welche wir bereits bei unserer Gründung 1975 hatten und die wir von der Kommunistischen Linken und besonders von der Französischen Kommunistischen Linken (Gauche Communiste de France, GCF), geerbt haben. Dies zeigt der Artikel auf, den wir hier wiederveröffentlichen und der ursprünglich in INTERNATIONALISME, Nr. 23, anlässlich einer Konferenz von Internationalisten im Mai 1947 – also genau 60 Jahre vor unserem
17. Kongress – publiziert wurde.
[ii]

Die Konferenz von 1947 wurde vom holländischen Communistenbond Spartacus, einer „rätekommunistischen“ Gruppe, ins Leben gerufen. Diese Gruppe hatte den Krieg von 1939-45 trotz all der brutalen Repressalien, die sie wegen ihrer Beteiligung an Arbeiterkämpfen unter dem Besatzungsregime erdulden musste, überlebt.[iii] Die Konferenz wurde in einem für die wenigen Revolutionäre, welche an den proletarischen internationalistischen Prinzipien festhielten und den Kampf für die bürgerliche Demokratie oder das „sozialistische Vaterland“ Stalins zurückwiesen, außerordentlich düsteren Moment der Geschichte abgehalten. 1943 hatte eine Streikwelle in Norditalien Anlass zur Hoffnung gegeben, dass der Zweite Weltkrieg auf dieselbe Weise wie der Erste enden wird: mit einem Aufstand, der diesmal nicht nur den Krieg beenden, sondern auch den Weg zu einer neuen proletarischen Revolution eröffnen sollte, die den Horror des Kapitalismus für immer beseitigt. Doch die herrschende Klasse hatte ihre Lehren aus 1917 gezogen, und der Zweite Weltkrieg endete mit einer systematischen Zerschlagung der Arbeiterklasse, bevor sie sich erheben konnte. In Italien wurden die ArbeiterInnen in ihren Quartieren von der deutschen Besatzungsmacht blutig unterdrückt, der Aufstand in Warschau durch deutsche Truppen unter den „wohlwollenden“ Blicken des sowjetischen Gegners[iv] niedergeschlagen und die deutschen Arbeiterbezirke unter einem Bombenhagel amerikanischer und britischer Flugzeuge begraben. Dies sind nur einige Beispiele. Die GCF realisierte, dass in dieser Zeit der Weg zur Revolution nicht unmittelbar offen stand, und schrieb im Rahmen der Vorbereitungen der Konferenz an den Communistenbond Spartacus:

„Es war in einem gewissen Sinne logisch, dass die Abscheulichkeiten des Krieges die Augen öffnen und neue Revolutionäre hervorbringen würden. Ein Resultat war hier und dort das Entstehen von kleinen Gruppen, welche trotz ihren unvermeidbaren Konfusionen und ihrer politischen Unreife eine ernste Anstrengung unternahmen, die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse wieder auf die Beine zu stellen.

Der Zweite Weltkrieg endete nicht wie der Erste in einer Welle von revolutionären Klassenkämpfen. Ganz im Gegenteil. Nach einigen schwachen Anstrengungen erlitt das Proletariat eine schwere Niederlage, welche einen weltweiten reaktionären Kurs eröffnete. Unter solchen Bedingungen bestand die Gefahr, dass die schwachen Gruppen, welche gegen Kriegsende entstanden waren, weggespült wurden oder zerbrachen. Mit der Schwächung einiger dieser Gruppen und mit dem Verschwinden anderer, wie die ‚Communistes Révolutionnaires‘ in Frankreich, haben wir diesen Prozess schon erlebt“.[v]

Die GCF hatte keine Illusionen über die Möglichkeiten dieser Konferenz: „In einer Zeit wie der unsrigen, in einer Zeit der Reaktion und des Rückschritts steht es nicht an, neue Parteien oder gar eine neue Internationale zu gründen – so wie es die Trotzkisten und Konsorten machen –, denn die Hochstapelei solch künstlicher Konstruktionen hat immer nur dazu geführt, noch größere Verwirrung in der Arbeiterklasse zu stiften“.[vi] Die GCF betrachtete die Konferenz deshalb aber keinesfalls als eine Zeitverschwendung. Ganz im Gegenteil stellte sie einen lebenswichtigen Schritt dar, um das Überleben der internationalistischen Gruppen zu sichern: „Keine Gruppe besitzt die ‚absolute und ewige Wahrheit‘ und keine Gruppe wird allein fähig sein, dem schrecklichen historischen Kurs von heute zu widerstehen. Das Leben der Gruppen und ihre ideologische Entwicklung hängen direkt von den Beziehungen ab, die sie untereinander aufbauen können, vom Austausch der Standpunkte, von der Konfrontation der Ideen und der Debatte, die sie international entwickeln können.

Diese Aufgabe scheint uns von größter Wichtigkeit für die Genossen in der heutigen Zeit zu sein, und aus diesem Grund haben wir uns dafür ausgesprochen. Wir werden alles daran setzen, den Kontakt aufrechtzuerhalten, weitere Treffen zu organisieren und die Korrespondenz zu erweitern“.[vii]

Der historische Kontext

Die Konferenz war vor allem von Bedeutung, weil sie nach sechs schrecklichen Jahren des Krieges, der Repression und Isolation das erste internationale Treffen unter Revolutionären darstellte. Doch der historische Kontext – die Periode von „Reaktion und Rückschritt“ – war stärker als die Initiative von 1947. Das Resultat der Konferenz fiel denn auch sehr mager aus. Im Oktober 1947 schrieb die GCF dem Communistenbond und bat ihn um die Organisierung einer zweiten Konferenz, die mit einem Diskussionsbulletin vorbereitet werden sollte. Doch von Letzterem wurde lediglich eine Nummer erstellt, und die zweite Konferenz fand nie statt. In den folgenden Jahren zerfielen die meisten teilnehmenden Gruppen. Auch die GCF, welche auf einige isolierte Genossen zusammenschrumpfte, die ihren Kontakt so gut wie möglich brieflich aufrechterhielten.[viii]

Heute ist der historische Kontext ein ganz anderer. Nach Jahren der Konterrevolution bewies die Welle von Streiks, die den Ereignissen von 1968 in Frankreich folgte, dass die revolutionäre Klasse wieder auf die Bühne der Geschichte zurückgekehrt war. Doch
diese Kämpfe konnten der Stärke der kapitalistischen Angriffe während den 1980er Jahren nicht trotzen und endeten abrupt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Es folgte darauf die schwierige Periode der 1990er Jahre, gekennzeichnet durch Entmutigung und Verwirrung innerhalb der Arbeiterklasse und ihren revolutionären Minderheiten. Doch mit dem neuen Jahrtausend kam wieder Bewegung auf. Einerseits entwickelte sich in den letzten Jahren ein Kampf der Arbeiterklasse um die Stärkung des Solidaritätsprinzips. Gleichzeitig bewies die Anwesenheit der zum 17. Kongress der IKS eingeladenen Gruppen die Entwicklung eines weltweiten politischen Nachdenkens unter den kleinen Minderheiten, die internationalistische Positionen aufrechterhalten und Kontakt untereinander herzustellen versuchen.

In dieser Situation ist die Erfahrung von 1947 wichtig und aktuell. Wie eine Saat, die über den Winter unter der Erde verborgen bleibt, stellt sie ein Potenzial für die Internationalisten von heute dar. In dieser kurzen Einführung wollen wir die wichtigsten Lehren der Konferenz von 1947 und der Beteiligung der GCF daran beleuchten.

Die Notwendigkeit politischer Kriterien für die Beteiligung an der Konferenz

Seit dem Verrat der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften 1914 und noch mehr seit den 1930er Jahren, als die kommunistischen Parteien - gefolgt von den Trotzkisten in den 1940er Jahren - denselben Weg einschlugen, gab es ein Haufen Gruppen und Parteien, welche behaupteten, der Arbeiterklasse anzugehören, deren wirklicher Existenzgrund aber kein anderer als die Unterstützung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse und ihres Staates war. Aus diesem Grund schrieb die GCF 1947: „Es geht nicht um Diskussionen im Allgemeinen, sondern um ein Treffen, das die Diskussion zwischen revolutionären proletarischen Gruppen ermöglicht. Dies bedingt notwendigerweise eine Unterscheidung auf der Basis politischer ideologischer Kriterien. Um jegliche Unklarheiten und Schwankungen zu vermeiden, ist es notwendig, diese Kriterien so klar wie möglich zu formulieren“.[ix]Die GCF formulierte vier Kriterien:

1. den Ausschluss der Trotzkisten aufgrund ihrer Unterstützung des russischen Staates und ihrer Beteiligung am imperialistischen Krieg von 1939-45 auf der Seite der demokratischen und stalinistischen imperialistischen Länder;

2. den Ausschluss derjenigen Anarchisten (in diesem Fall der französischen
anarchistischen Föderation), welche sich an der Volksfront, der kapitalistischen spanischen Regierung von 1936–38 und unter der Fahne des Antifaschismus von 1939-45 an der Résistance beteiligt hatten;

3. den Ausschluss aller Gruppen, die, aus welchem Grund auch immer, am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten;

4. die Anerkennung der Notwendigkeit, „den bürgerlichen Staat mit Gewalt zu zerschlagen“, und damit auch die Anerkennung der historischen Bedeutung der Oktoberrevolution von 1917.

Nach der Konferenz wurden die Kriterien von der GCF in ihrem Brief vom Oktober 1947 auf zwei reduziert:

1. „Entschlossenheit für den Kampf für die proletarische Revolution durch die gewaltsame Zerstörung des bürgerlichen Staates und den Aufbau des Sozialismus“;

2. „die Ablehnung jeglicher Akzeptanz gegenüber der Beteiligung am Zweiten imperialistischen Weltkrieg und all den ideologischen Korruptionen, die damit einher gehen, wie die Ideologien des Faschismus und Antifaschismus und ihre nationalen Versatzstücke (die französische Résistance, die nationale und koloniale Befreiung) und ihre politischen Seiten (die Verteidigung der UdSSR, der Demokratien oder des europäischen Nationalsozialismus)“.

Wie wir sehen, sind diese Kriterien auf die Frage des Krieges und der Revolution ausgerichtet, und sie bleiben unseres Erachtens bis heute gültig.[x] Was sich verändert hat, ist der historische Kontext, in dem sie sich heute stellen. Für die Generationen, die heute politisch aktiv werden, sind der Zweite Weltkrieg und die Russische Revolution längst vergangene Ereignisse, die man lediglich aus Geschichtsbüchern kennt. Aber sie bleiben dennoch bedeutend für die revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse und für das Engagement für die Sache des Proletariats. Denn die heutigen Generationen sind durch die notwendige Denunzierung all der Kriege, die den Planeten zerstören (Irak, Israel-Palästina, Tschetschenien, Atomversuche in Nordkorea, usw.), wieder direkt mit der Frage des Krieges konfrontiert.

Die Frage der Revolution stellt sich heute mehr durch die notwendige Entlarvung der himmelschreienden Verfälschungen à la Chavéz als durch einen direkten Bezug zur Russischen Revolution von 1917.

Es existiert heute keine Gefahr einer faschistischen Mobilisierung der Arbeitermassen in einen imperialistischen Krieg, auch wenn es Länder gibt (vor allem im ehemaligen Ostblock), die unter faschistischen Banden leiden, welche, mehr oder weniger durch den Staat gesteuert, die Bevölkerung terrorisieren und für die Revolutionäre ein Problem darstellen. Als Resultat ist auch der Antifaschismus unter den heutigen Bedingungen kein Hauptelement zur ideologischen Kontrolle der Arbeiterklasse, wie dies während des Krieges von 1939–45 der Fall war, als der Antifaschismus als Mittel zur Mobilisierung der Arbeiter hinter den demokratischen Staat diente. Doch auch heute wird er eingesetzt, um die Arbeiter von der Verteidigung ihrer eigenen Klasseninteressen abzubringen.

Die Haltung gegenüber dem Anarchismus

Eine wichtige Diskussion vor und während der Konferenz war die Haltung, die es gegenüber dem Anarchismus einzunehmen galt. Für die GCF war klar: „Wie die Trotzkisten oder jede andere Bewegung, welche mit dem Argument, ein Land (wie Russland) oder eine bürgerliche Herrschaftsform gegenüber der anderen (die Verteidigung der Republik und Demokratie gegen den Faschismus) verteidigen zu müssen, am imperialistischen Krieg teilgenommen haben (oder nehmen), findet die anarchistische Bewegung keinen Platz in dieser Konferenz revolutionärer Gruppen“. Der Ausschluss der Anarchisten war keinesfalls davon bestimmt, dass sie Anarchisten waren, sondern durch ihre Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig und wird verdeutlicht durch die Tatsache, dass die Konferenz von einem Anarchisten präsidiert wurde (wie wir in einer „Korrektur“ des Berichts in INTERNATIONALISME, Nr. 24 nachlesen können).

Die Heterogenität der anarchistischen Bewegung ist heute derart groß, dass diese Frage nicht mehr in einer derart einfachen Weise beantwortet werden kann. Unter der Bezeichnung „Anarchisten“ finden wir heute Gruppen, die sich von den Trotzkisten lediglich in der „Parteifrage“ unterscheiden, aber in allen anderen Fragen (bis hin zur Forderung nach einem „palästinensischen Staat“!) die trotzkistischen Positionen unterstützen. Andererseits gibt es wirklich internationalistische Gruppen, mit denen Kommunisten nicht nur eine gute politische Debatte führen, sondern auch gemeinsame Aktivitäten auf der Basis des Internationalismus unternehmen können.[xi] Unserer Ansicht nach gibt es heute absolut keinen Grund, Debatten mit Gruppen oder Individuen abzulehnen, nur weil sie sich als „Anarchisten“ bezeichnen.

Einige andere Punkte

Wir wollen zum Schluss drei andere wichtige Punkte der Konferenz unterstreichen:

– Der erste ist das Vermeiden jeglicher grandioser und leerer Erklärungen: Die Konferenz blieb bezüglich ihrer Wichtigkeit und ihrer Möglichkeiten auf dem Boden. Das bedeutet nicht, dass die GCF damals die Formulierung gemeinsamer Positionen für unmöglich gehalten hätte - ganz im Gegenteil. Doch nach sechs Jahren Krieg konnte die Konferenz nicht mehr sein als eine erste Kontaktaufnahme, bei der unvermeidlich „die Diskussionen nicht genügend vorangekommen waren, um irgendwelche wohlklingenden Resolutionen zu verabschieden“. Heute müssen Revolutionäre sich ihrer enormen Verantwortung bewusst sein, aber gleichzeitig realistisch bleiben bezüglich ihrer Möglichkeiten und Kräfte, mit denen sie ihre Arbeit leisten können.

– Der zweite Punkt ist die Wichtigkeit der Gewerkschaftsfrage. Unserer Ansicht nach ist die Gewerkschaftsfrage seit langem geklärt. Doch dies war nicht vollumfänglich der Fall für die GCF, welche sich 1947 gerade erst die Positionen der Deutsch-Holländischen Linkskommunisten in dieser Frage angeeignet hatte. 1947, genau wie auch heute, lag hinter der Gewerkschaftsfrage das Problem der Kampfmethode. Die Kampfmethode und die Haltung gegenüber den Gewerkschaften ist eine brennende Frage für die Arbeiterklasse und die Revolutionäre auf der ganzen Welt.[xii]

– Drittens wollen wir den Abschnitt wiederholen, den wir zu Beginn des Artikels zitiert haben: „Keine Gruppe besitzt die ‚absolute und ewige Wahrheit‘ (…) Das Leben der Gruppen und ihre ideologische Entwicklung hängen direkt von den Beziehungen ab, die sie untereinander aufbauen können, vom Austausch der Standpunkte, von der Konfrontation der Ideen und der Debatte, die sie international entwickeln können“. Dies ist für uns ein Leitfaden für die kommenden Jahre und ein Grund, weshalb der 17. Kongress der IKS der Frage der Debattenkultur einen derart großen Platz einräumte.[xiii]

IKS, 6. Januar 2008

(Anmerkung: Im nachfolgend abgedruckten Text sind die Fußnoten a und b am Ende des Dokumentes aus dem Original von 1947. Die Fußnoten 1 und 2 am Seitenende haben wir jetzt angefügt, um zwei historische Aspekte kurz zu


[i] Siehe Internationale Revue Nr. 40

[ii] Die in diesem Artikel zitierten Texte sind vollumfänglich in unserer auf Französisch publizierten Broschüre La Gauche Communiste de France zu finden.

[iii] Siehe unser Buch Die Deutsch-Holländische Linke, vor allem das vorletzte Kapitel. Der Communistenbond Spartacus hatte seine Wurzeln in der Marx-Lenin-Luxemburg Front, welche mit aller Kraft an den Streiks der holländischen Arbeiter von 1941 teilnahm, die sich gegen die Deportation von Juden durch die deutsche Besatzungsmacht richteten. Sie verteilten während des Krieges selbst in deutschen Kasernen Flugblätter mit dem Aufruf zur Verbrüderung.

[iv] Es war ein Entscheid Churchills, „die Italiener in ihrem Saft schmoren zu lassen“. Stalin stoppte den Vormarsch der Roten Armee vor den Toren Warschaus, am anderen Ufer der Weichsel, bis das Gemetzel durch die deutschen Truppen abgeschlossen war.

[v] Publiziert in INTERNATIONALISME Nr. 23. Die Hervorhebung ist aus dem Originaltext. Die Communistes Révolutionnaires entstammten der RKD, einer Gruppen österreichischer Trotzkisten, welche nach Frankreich geflüchtet waren. Sie waren die einzige Delegation am Kongress von Périgny, die sich der Gründung der 4. Internationale widersetzte und sie als „Abenteurertum“ bezeichnete.

[vi] ebenda

[vii] ebenda

[viii] Es ist hier nicht der Platz , um die Nachkriegsgeschichte des Communistenbond Spartacus niederzuschreiben. Siehe dazu unser Buch Die Deutsch-Holländische Linke. Hier nur einige Meilensteine: Bald nach der Konferenz von 1947 übernahm der Communistenbond deutlich „rätistische“ Orientierungen in der Organisationsfrage, in der Art der früheren GIC (Groepen van Internationale Communisten). 1964 spaltete sich die Gruppe, und es entstanden der Spartacusbond und Daad en Gedachte (Tat und Gedanke), die vorwiegend von Cajo Brendel angeregt wurde. Der Spartacusbond schlug nach 1968 einen aktivistischen Kurs ein und verschwand 1980. Daad en Gedachte folgte der Logik des Rätismus, um schlussendlich 1989 aufgrund eines Mangels an Beiträgen für ihre Zeitschrift zu verschwinden.

[ix] ebenda

[x] Dies war auch 1976 unsere Haltung, als die Gruppe Battaglia Communista einen Aufruf zu einer Konferenz linkskommunistischer Gruppen machte, aber keinerlei Kriterien für die Teilnahme vorschlug. Wir begrüßten den Aufruf, insistierten aber gleichzeitig: „Damit dieser Vorstoß ein Erfolg wird, damit er wirklich zu einer Annäherung unter den Revolutionären beiträgt, ist es notwendig klare politische Kriterien aufzustellen, die als Basis und Rahmen dienen, damit die Diskussion und die Gegenüberstellung von Ideen fruchtbar und konstruktiv wird“. (siehe Internationale Revue Nr. 40 (engl., franz., span.): „Die Gründung des IBRP, ein opportunistischer Bluff“.

[xi] Die IKS führte verschiedene Debatten und unternahm auch gemeinsame Aktivitäten mit der in Moskau ansässigen KRAS-AIT.

[xii] Siehe auf unserer Website den Artikel zu den Kämpfen in der MEPZA auf den Philippinen.

[xiii] Siehe unsere Artikel über den 17. Kongress der IKS (Internationale Revue Nr. 40) und über die Debattenkultur (in dieser Ausgabe).

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [4]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [5]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [6]

Dokument von 1947: Eine internationale Konferenz revolutionärer Gruppen

  • 3211 reads

Am 25. und 26. Mai hat eine internationale Konferenz für den Kontakt unter den revolutionären Gruppen stattgefunden. Die Konferenz wurde nicht nur aus Sicherheitsgründen nicht groß im Voraus angekündigt, wie wir das von stalinistischer und sozialistischer Seite gewohnt sind. Die Teilnehmer der Konferenz sind sich vollumfänglich der schrecklichen konterrevolutionären Periode, die zurzeit das Proletariat heimsucht, sowie der eigenen Isolation bewusst –unvermeidlich in einer Zeit der sozialen Reaktion. Sie geben sich auch nicht den spektakulären Bluffs hin, die so ganz nach dem Geschmack – nach dem schlechten Geschmack – all der trotzkistischen Gruppen sind.

Diese Konferenz versuchte nicht, sich unmittelbare, konkrete Ziele zu setzen, die in der gegenwärtigen Zeit nicht realistisch sind. Auch versuchte sie nicht, irgendwelche willkürlichen Strukturen im Gewande einer Internationale zu schaffen oder flammende Aufrufe an die Arbeiterklasse zu verfassen. Das einzige Ziel war die Wiederaufnahme des Kontaktes unter den verstreuten revolutionären Gruppen und die Konfrontation ihrer Ansichten über die heutige Situation und die Perspektive des Kampfes der Arbeiterklasse.

Durch die Initiative zu dieser Konferenz hat der Communistenbond Spartacus aus Holland (besser bekannt unter dem Namen RätekommunistenA) die unselige Isolation durchbrochen, in der die Mehrheit der revolutionären Gruppen lebt, und die Klärung einiger gewisser Fragen ermöglicht.

Die Teilnehmer

Folgende Gruppen waren auf der Konferenz vertreten und haben an der Debatte teilgenommen:

– Holland: der Communistenbond Spartacus;

– Belgien: die Gruppen aus Brüssel und Gent, die sich auf den Communistenbond Spartacus beziehen;

– Frankreich: die Gauche Communiste de France und die Gruppe Prolétaire;

– Schweiz: die Gruppe Klassenkampf.[i]

Darüber hinaus nahmen Genossen etlicher revolutionärer Gruppierung entweder persönlich oder durch schriftliche Interventionen an den Debatten der Konferenz teil.

Es gilt auch einen langen Brief zu erwähnen, den die Sozialistische Partei Großbritanniens an die Konferenz adressierte, in dem sie ausführlich ihre spezifischen politischen Positionen formulierte.

Auch die FFGC[ii] sandte einen kurzen Brief, in welchem sie der Konferenz „erfolgreiche Arbeit“ wünschte, aber schrieb, dass sie wegen Zeitmangel und dringender Aufgaben nicht an der Konferenz teilnehmen könne.B

Die Arbeit der Konferenz

Folgende Tagesordnung wurde als Diskussionsrahmen für die Konferenz angenommen:

1. die gegenwärtige Periode;

2. die neuen Kampfformen der Arbeiterklasse (von den alten zu den neuen Kampfformen);

3. Aufgaben und Organisation der revolutionären Avantgarde;

4. Staat – Diktatur des Proletariates – Arbeiterdemokratie;

5. konkrete Fragen und Schlussfolgerungen (Übereinkunft über die internationale Solidarität, Kontakte, internationaler Informationsaustausch usw.).

Diese erste Konferenz war nicht gut genug vorbereitet. Es stand ihr zuwenig Zeit zur Verfügung, und die Tagesordnung erwies sich als viel zu ambitiös, um vollständig absolviert zu werden. Lediglich auf die ersten drei Punkte der Tagesordnung konnte genügend eingegangen werden. Jeder dieser Punkte löste interessante Diskussionen aus.

Natürlich wäre es übertrieben gewesen, zu erwarten, dass dieser Meinungsaustausch Einmütigkeit erzielt. Die Teilnehmer dieser Konferenz hegten keinesfalls solche Ansprüche. Dennoch kann man feststellen, dass die leidenschaftlichen Debatten eine größere Übereinstimmung als erwartet zeitigten.

Beim ersten Punkt der Tagesordnung, der allgemeinen Analyse der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus, hat die Mehrheit der Beiträge die Theorien von James Burnham über die unmittelbare Möglichkeit einer Revolution und die Notwendigkeit, sie anzuführen, abgelehnt. Ebenfalls wurde die Idee zurückgewiesen, nach der die kapitalistische Gesellschaft aufgrund einer möglichen Weiterentwicklung der Produktion fortdauern könne. Die gegenwärtige Periode wurde als die Periode des dekadenten Kapitalismus und der permanenten Krise bezeichnet, die ihren kulturellen und politischen Ausdruck im Staatskapitalismus findet.

Die Frage, ob die Gewerkschaften und die Beteiligung am Parlamentarismus in der heutigen Zeit für die Arbeiterklasse als Organisationsform und Aktionsfeld noch von Nutzen ist, hat eine lebendige und interessante Diskussion ausgelöst. Es ist bedauernswert, dass die Tendenzen, welche diese Formen des Klassenkampfes noch immer befürworten und deren überholten und antiproletarischen Charakter übersehen, nicht an der Konferenz teilnahmen, um ihre Position darzulegen. Dies gilt vor allem für den PCInt in Italien. Die Belgische Fraktion und die Autonome Föderation von Turin waren anwesend, doch ihre Überzeugung gegenüber diesen Positionen, die sie noch kürzlich verteidigt hatten, war dermaßen ins Schwanken geraten, dass sie es vorzogen, sich auf der Konferenz nicht dazu zu äußern.

Die Debatte drehte sich daher nicht um eine mögliche Verteidigung der Gewerkschaften und des Parlamentarismus als Formen des proletarischen Kampfes, sondern diskutierte ausschließlich die historischen Gründe, die Erklärung, warum es unmöglich ist, solche Formen des Kampfes in der gegenwärtigen Zeit weiterhin zu benutzen. In der Frage der Gewerkschaften wurde die Diskussion erweitert; sie drehte sich nicht ausschließlich um die Frage der Organisationsform als solche, die lediglich ein zweitrangiger Aspekt ist. Die Diskussion untersuchte vielmehr die Ziele, die den Kampf zu korporatistischen und ökonomischen Teilforderungen führen, welche im heutigen dekadenten Kapitalismus nicht mehr verwirklicht werden können; noch weniger können sie als Grundlage für eine Mobilisierung der Klasse dienen.

Die Frage der Fabrikkomitees oder Fabrikräte als neue Einheitsorganisation der Arbeiterklasse enthüllt nur ihre volle Bedeutung, wenn sie eng und untrennbar mit den Zielen verknüpft wird, vor denen das Proletariat heute steht. Das Ziel sind nicht ökonomische Reformen im Rahmen des kapitalistischen Regimes, sondern ist eine soziale Umwälzung des kapitalistischen Systems.

Der dritte Punkt der Tagesordnung – Aufgaben und Organisation der revolutionären Avantgarde – griff die Fragen auf, ob eine politische Klassenpartei notwendig ist oder nicht, welche Rolle dieser Partei im Emanzipationskampf der Arbeiterklasse spielt und wie das Verhältnis zwischen der Partei und der Klasse aussieht. Leider konnten diese Fragen nicht so ausführlich besprochen werden, wie wir es uns wünschten.

Die kurze Diskussion darüber erlaubte es den verschiedenen Tendenzen lediglich, ihre Positionen über diese Fragen grob darzulegen. Alle fühlten, dass damit eine entscheidende Frage angeschnitten wurde für eine eventuelle Annäherung unter den verschiedenen revolutionären Gruppen sowie auch für die Zukunft und den Erfolg des Proletariats in seinem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus. Diese grundlegenden Fragen konnten nur gestreift werden und erfordern weitere Diskussionen zur Vertiefung und Präzisierung. Doch es ist wichtig festzustellen, dass, auch wenn es auf dieser Konferenz Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Rolle einer Organisation von bewussten kommunistischen Militanten gab, die Rätekommunisten und auch die anderen Teilnehmer die Notwendigkeit einer solchen Organisation – ob sie nun Partei genannt wird oder nicht – nicht ablehnten, damit der Sozialismus am Ende triumphiert. Diese Übereinstimmung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Wir hatten auf der Konferenz nicht genügend Zeit, um auf die anderen Punkte der Tagesordnung einzugehen. Gegen Ende fand eine sehr wichtige Diskussion über den Charakter und die Funktion der anarchistischen Bewegung statt. In der Diskussion über die Gruppen, die zu den nächsten Konferenzen eingeladen werden sollten, wurde die – trotz ihrer revolutionären Phraseologie – sozial-patriotische Rolle der anarchistischen Bewegung im Krieg von 1939-45 zur Sprache gebracht. Es wurde festgestellt, dass ihre Beteiligung am Partisanenkampf für die „nationale Befreiung und Demokratie“ in Frankreich, Italien und noch heute in Spanien ein logisches Resultat ihrer Beteiligung an der bürgerlichen „republikanischen und antifaschistischen“ Regierung Spaniens und am imperialistischen Krieg von 1936-38 in Spanien ist.

Unserer Auffassung, dass die anarchistische Bewegung wie die Trotzkisten oder alle anderen Tendenzen, die sich am imperialistischen Krieg beteiligten und noch beteiligen – sei es im Namen der Verteidigung eines Landes (Verteidigung Russlands) oder sei es im Namen der Verteidigung einer bürgerlichen Herrschaftsform gegen eine andere (Verteidigung der Republik und der Demokratie gegen den Faschismus) -, keinen Platz auf einer Konferenz revolutionärer Gruppen hat, wurde von den meisten Teilnehmern zugestimmt. Lediglich der Vertreter der Gruppe Prolétaire sprach sich für die Einladung gewisser nicht-orthodoxer Tendenzen aus dem anarchistischen und trotzkistischen Lager aus.

Schlussfolgerung

Wie schon gesagt, wurde die Konferenz beendet, ohne die Tagesordnung vollständig diskutiert zu haben, ohne praktische Beschlüsse und ohne die Annahme irgendwelcher Resolutionen. Es konnte auch nicht anders sein. Dies nicht so sehr, um die, wie einige Genossen es ausdrückten, religiöse Zeremonie am Ende einer jeden Konferenz zu vermeiden, die in einer Schlussabstimmung über Resolutionen besteht, die nicht viel bedeuten. Unserer Auffassung nach lag dies eher daran, dass die Diskussionen nicht genügend entwickelt waren, um die Abstimmung über eine Resolution zu ermöglichen.

Die Skeptiker und jene, die es nicht gut mit uns meinen, mögen denken: „Also war diese Konferenz nichts anderes als ein Treffen, auf dem dieselben alten Diskussionen wieder aufgegriffen wurden, und daher kaum der Rede wert“. Nichts könnte falscher sein. Wir denken dagegen, dass die Konferenz in der Tat von Interesse war und dass ihre Bedeutung sich künftig im Verhältnis zwischen den verschiedenen revolutionären Gruppen zeigen wird. Denken wir daran, dass diese Gruppen, die letzten 20 Jahre in der Isolation verbracht hatten und auf sich selbst gestellt gewesen waren. Dies hat bei allen eine Art Bunkermentalität oder Sektierertum hervorgerufen. Die vielen Jahre der Isolation haben das Denken, die Auffassungen und die Ausdrucksweise dieser Gruppen derart geprägt, dass sie für die anderen Gruppen oft unverständlich sind. Es besteht unbestritten die Notwendigkeit, sich mit den Ideen und Argumenten der anderen Gruppen auseinanderzusetzen und die eigenen Ansichten der Kritik der Anderen auszusetzen. All das ist Bedingung für das Weiterleben von revolutionären Ideen und gegen den Dogmatismus und macht diese Konferenz so bedeutend.

Der erste Schritt, der wenn auch kein spektakulärer, so doch ein schwieriger war, ist gemacht. Alle Teilnehmer der Konferenz, einschließlich der Belgischen Fraktion, welche erst nach langem Zögern und mit Skepsis teilnahm, haben ihre Zufriedenheit ausgesprochen und waren über die brüderliche Atmosphäre und die Ernsthaftigkeit der Diskussion erfreut. Alle haben gesagt, dass sie eine weitere Konferenz einberufen wollen, die breiter und besser vorbereitet sein soll, und dass sie die begonnene Arbeit der Klärung und Gegenüberstellung von Ideen weiterzuführen beabsichtigen.

Das positive Ergebnis weckt die Hoffnung, den eingeschlagenen Weg fortzuführen, und wird den revolutionären Militanten und Gruppen helfen, die gegenwärtige Situation der Zersplitterung zu überwinden und die Arbeit für die Emanzipation unserer Klasse wirkungsvoller zu gestalten. Dies ist die Klasse, welche vor der Aufgabe steht, die gesamte Menschheit vor der schrecklichen und blutigen Zerstörung durch den dekadenten Kapitalismus zu bewahren.

Marco

A In der Zeitschrift Le Libertaire vom 29. Mai findet man einen Artikel über diese Konferenz, der ein Phantasiegebilde ist. Der Autor, der mit AP unterschreibt und sich als Spezialist für die Geschichte der kommunistischen Arbeiterbewegung bezeichnet, nimmt die „Freiheit“ im Umgang mit der Geschichte etwas zu wörtlich. Er beschreibt die Konferenz – an der er gar nicht teilnahm und von der er auch gar nichts weiß – als eine Konferenz von Rätekommunisten. In Wirklichkeit nahmen Letztere, obwohl sie zur Konferenz aufgerufen hatten, mit demselben Status daran teil wie alle anderen. AP nimmt die „Freiheit“ aber nicht nur bezüglich der Vergangenheit, sondern auch bezüglich der Zukunft auf die leichte Schulter. In der Manier jener Journalisten, die die Exekution Görings schon im Voraus in Details beschrieben hatten, ohne auf die Idee zu kommen, dass dieser die Unverschämtheit besitzen könnte, im letzten Moment Selbstmord zu begehen, hat der Historiker AP in Le Libertaire die Beteiligung anarchistischer Gruppen an der Konferenz angekündigt, obwohl dem gar nicht so war. Es stimmt, dass Le Libertaire tatsächlich eingeladen war, doch sie schlugen diese Einladung unserer Ansicht nach zu Recht aus. Die Beteiligung von Anarchisten an der republikanischen Regierung und am imperialistischen Krieg in Spanien 1936-38, die Weiterführung ihrer Kollaborationspolitik mit allen spanischen politischen Formationen in der Emigration unter der Fahne des Antifaschismus und des Kampfes gegen Franco, die ideologische und aktive Beteiligung von Anarchisten in der „Résistance“ gegen die „fremde“ Besatzungsmacht haben aus ihnen eine Strömung gemacht, die dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse absolut fremd ist. Die anarchistische Bewegung hatte aus diesem Grund keinen Platz in dieser Konferenz, und es war ein Fehler, sie überhaupt einzuladen.

[i] Eine „Korrektur“, die in INTERNATIONAL-ISME Nr. 24, veröffentlicht wurde, geht auf die Teilnahme der „Autonomen Sektion von Turin“ des PCInt (Partito Comunista Internazionalista, nicht die stalinistische PCI!) ein. Die Sektion verfasste diese Korrektur, um den im Rapport entstandenen Eindruck bezüglich einiger ihrer Positionen richtigzustellen: Die Sektion „erklärte sich autonom eben wegen ihrer Meinungsverschiedenheiten über die Frage des Parlamentarismus und die Schlüsselfrage der Einheit der revolutionären Kräfte“

[ii] Die FFGC, die sogenannte „Französische Fraktion der Kommunistischen Linken“, hatte mit der GCF auf einer unklaren politischen Basis gebrochen, welche mehr mit persönlichen Unstimmigkeiten und Ressentiments zu tun hatte als mit wirklichen Differenzen. Siehe dazu unsere Broschüre La Gauche Communiste de France.

B Die „dringenden Arbeiten“ der FFGC drücken gut aus, wie ernst sie den Kontakt mit anderen revolutionären Gruppen nimmt. Worunter leidet die FFGC tatsächlich? An einem „Zeitmangel“ oder an einem Mangel an Interesse und Verständnis für die Wichtigkeit des Kontaktes und der Diskussionen unter revolutionären Gruppen? Oder macht ihnen etwa die Konfrontation ihrer Positionen mit denen anderer Gruppen wegen ihres Mangels an politischer Orientierung Angst (mal für, mal gegen die Beteiligung an den Wahlen; mal für, mal gegen die Arbeit in den Gewerkschaften, mal für, mal gegen die Beteiligung an antifaschistischen Komitees usw.)?

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [4]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [5]

Die Debattenkultur: Eine Waffe des Klassenkampfes

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Die „Debattenkultur“ ist weder für die Arbeiterbewegung noch für die IKS eine neue Frage. Dennoch hat der Verlauf der Geschichte unsere Organisation – seit Anfang des neuen Jahrtausends – gezwungen, zu dieser Frage zurückzukehren und sie noch gründlicher zu untersuchen. Es gab zwei wichtige Entwicklungen, die uns veranlasst haben, dies zu tun: erstens das Auftreten einer neuen Generation von Revolutionären und zweitens die interne Krise, die wir zu Beginn dieses Jahrhunderts erlitten hatten.

Der politische Dialog und die neue Generation

Es war in der ersten Linie der Kontakt mit einer neuen Generation von Revolutionären, der die IKS dazu veranlasste, ihre Offenheit nach außen und ihre Fähigkeit zum politischen Dialog bewusster zu pflegen.

Jede Generation bildet ein Glied in der Kette der Menschheitsgeschichte. Jede von ihnen wird mit drei fundamentalen Aufgaben konfrontiert: damit, das kollektive Erbe von der vorherigen Generation zu übernehmen; dieses Erbe auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung zu bereichern und es schließlich weiterzureichen, so dass die nächste Generation mehr erreichen kann, als eigentlich in ihrem Vermögen steht.

Diese Aufgaben sind alles andere als leicht und stellen eine besondere Herausforderung dar. Dies trifft auch auf die Arbeiterbewegung zu. Die ältere Generation hat ihre Erfahrungen anzubieten. Doch sie trägt auch an den Wunden und Traumata ihrer Kämpfe, musste lernen, Niederlagen, Enttäuschungen und der Tatsache ins Gesicht zu schauen, dass die Erringung von dauernden Errungenschaften des kollektiven Kampfes oftmals mehr als eine Lebensspanne erfordert.[i] Es benötigt die Energie und den Elan der folgenden Generation, aber auch ihre neuen Fragen und ihre Fähigkeit, die Welt mit anderen Augen zu betrachten.

Doch so sehr sich die Generationen gegenseitig benötigen, ist ihre Fähigkeit, die nötige Einheit zu schmieden, nicht automatisch gegeben. Je mehr sich die Gesellschaft von der Naturalwirtschaft entfernte, je unablässiger und schneller der Kapitalismus die Produktivkräfte und die gesamte Gesellschaft „revolutioniert“, desto mehr unterscheiden sich die Erfahrungen der einen Generation von der nächsten. Der Kapitalismus, das Konkurrenzsystem schlechthin, spielt die Generationen im Kampf einer gegen alle gegenseitig aus.

Dies im Hinterkopf begann unsere Organisation, sich auf die Aufgabe einzustellen, diese Verbindung zu knüpfen. Doch mehr noch als diese Vorbereitung war es die aktuelle Erfahrung, auf diese neue Generation zu stoßen, die der Frage der Debattenkultur eine - in unseren Augen - zusätzliche Bedeutung verlieh. Wir trafen auf eine Generation, die dieser Frage eine weitaus größere Bedeutung beimisst als die 68er Generation. Das erste wichtige Anzeichen für diesen Wandel in der Arbeiterklasse insgesamt war die Massenbewegung der Studenten und Schüler im Frühjahr 2006 in Frankreich gegen die „Prekarisierung“ der Beschäftigung. Hier fiel die Betonung der freiesten und breitesten Debatte insbesondere in den allgemeinen Versammlungen besonders stark ins Auge. Im Gegensatz dazu war die Studentenbewegung, die sich in den späten 60er Jahren entwickelt hatte, häufig von ihrer Unfähigkeit zum politischen Dialog gekennzeichnet. Dieser Unterschied ist in erster Linie ein Ausdruck der Tatsache, dass das Studentenmilieu heute weitaus stärker proletarisiert ist, als dies vor vierzig Jahren der Fall gewesen war. Die intensive, breite Debatte war stets ein wichtiger Eckpfeiler proletarischer Massenbewegungen gewesen und charakterisierte auch die Arbeiterversammlungen 1968 in Frankreich oder 1969 in Italien. Doch 2006 gab es eine Offenheit der kämpfenden Jugend gegenüber den älteren Generationen, eine Neugier, um von ihren Erfahrungen zu lernen. Dies unterschied sich deutlich vom Verhalten der Studentenbewegung in Deutschland Ende der 60er Jahre (was vielleicht die Stimmung zu jener Zeit am meisten karikierte). Einer ihrer Slogans war: alle über 30 ab ins Konzentrationslager! Hand in Hand mit dieser Ansicht ging die Praxis einher, jeden Anderen niederzubrüllen, „rivalisierende“ Treffen gewaltsam zu sprengen etc. Hier liegt auf psychologischer Ebene eine der Wurzeln für die Entwicklung des Terrorismus als eine Protestform nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien. Der Bruch in der Kontinuität zwischen den Generationen der Arbeiterklasse war eine der Wurzeln dieses Problems, sind doch die Beziehungen zwischen den Generationen seit altersher ein bevorzugter Bereich, um eine Dialogbereitschaft zu schaffen. Die Militanten von 1968 unterstellten der Generation ihrer Eltern, sich an den Kapitalismus „verkauft“ zu haben, oder betrachteten sie (wie in Deutschland oder Italien) als eine Generation von Faschisten und Kriegsverbrechern. Für die ArbeiterInnen, die die schreckliche Ausbeutung der Nachkriegsphase nach 1945 in der Hoffnung ertragen hatten, dass es ihren Kinder einst besser ergehen würde als ihnen, war es eine bittere Enttäuschung zu hören, wie ihre Kinder sie beschuldigten, „Parasiten“ zu sein, die von der „Ausbeutung der Dritten Welt“ lebten. Jedoch gibt es auch keinen Zweifel, dass die Elterngeneration jener Zeit weitestgehend die Dialogbereitschaft verloren hatte oder zumindest nicht gelernt hatte. Diese Generation trug durch den II. Weltkrieg und den Kalten Krieg, durch die faschistische, stalinistische und sozialdemokratische Konterrevolution schlimme Narben davon.

Im Gegensatz dazu kündigte sich 2006 in Frankreich etwas Neues und außerordentlich Fruchtbares an.[ii] Bereits einige Jahre zuvor hatte sich das Anliegen der neuen Generation in Gestalt der revolutionären Minderheiten der Arbeiterklasse angekündigt. Diese Minderheiten waren von dem Moment an, wo sie die Ebene des politischen Lebens betraten, mit ihrer eigenen Kritik am Sektierertum und an der Verweigerung der Debatte gewappnet. Eine der ersten Forderungen, die sie erhoben, war, dass die Debatte nicht als ein Luxus betrachtet werden dürfe, sondern als eine dringende Notwendigkeit; dass jene, die sich an ihr beteiligen, den Anderen ernstnehmen und lernen sollten, sich einander zuzuhören; dass Argumente die Waffen dieser Auseinandersetzung sind, und nicht die brutale Gewalt oder der Appell an moralische bzw. theoretische „Autoritäten“. In Bezug auf das internationalistische proletarische Lager kritisierten diese Genossen im All-gemeinen (und völlig richtig) den Mangel an solidarischer Debatte zwischen den existierenden Gruppen. Sie verwarfen ohne Umschweife den Gedanken, dass der Marxismus ein Dogma sei, welches die neue Generation unkritisch adoptieren müsse.[iii]

Was uns anging, so waren wir von der Reaktion dieser neuen Generation gegenüber der IKS überrascht. Die neuen Genossen, die auf unseren öffentlichen Treffen erschienen, die Kontakte überall auf der Welt, die mit uns zu korrespondieren begannen, die verschiedenen politischen Gruppierungen und Zirkel, mit denen wir debattierten – sie alle sagten uns wiederholt, dass sie den proletarischen Charakter der IKS nicht nur wegen unserer programmatischen Positionen, sondern auch wegen unserer Haltung – insbesondere die Art, wie wir debattierten – anerkannten.

Woher kommt dieses tiefe Anliegen der neuen Generation in dieser Frage? Wir denken, es resultiert aus dem Ausmaß der historischen Krise des Kapitalismus, die heute weitaus schwerwiegender und gefährlicher ist als nach 1968. Dies erfordert die radikalste Kritik am Kapitalismus, die bis in die tiefsten Wurzeln der Probleme reichen muss. Eine der ruinösesten Auswirkungen des bürgerlichen Individualismus ist die Art und Weise, wie er die Fähigkeit zerstört, zu diskutieren und insbesondere einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Der Dialog wird von der Rhetorik ersetzt; Sieger ist jener, der den meisten Krach macht (wie in bürgerlichen Wahlen). Die Debattenkultur ist dank der menschlichen Sprache der Hauptweg, das Bewusstsein als erstrangige Waffe für jene Klasse zu entwickeln, die die Zukunft der Menschheit in sich trägt. Für das Proletariat ist sie das einzige Mittel zur Überwindung seiner Isolation und Ungeduld und dafür, in Richtung einer Vereinigung seiner Kämpfe zu gehen.

Ein anderer Aspekt dieses Anliegens heute ist der Kampf, um den Albtraum des Stalinismus zu überwinden. Viele der Mitstreiter, die heute internationalistischen Positionen zustreben, kommen direkt aus dem linksextremistischen Milieu und sind von Letzterem beeinflusst. Dieses Milieu stellt eine Karikatur der dekadenten bürgerlichen Ideologie und Haltung in einem sozialistischen Gewand dar. Diese Militanten wurden politisch dazu gebracht zu glauben, dass der Austausch von Argumenten mit dem „bürgerlichen Liberalismus“ identisch sei, dass ein „guter Kommunist“ jemand sei, der seinen Mund hält sowie seinen Kopf und seine Gefühle ausschaltet. Die Genossen, die heute entschlossen sind, diese Auswirkungen dieses todgeweihten Produkts der Konterrevolution abzuschütteln, verstehen in wachsendem Maße, dass dies die Ablehnung nicht nur ihrer Positionen, sondern auch ihrer Mentalität erfordert. Indem sie so verfahren, tragen sie zur Re-Etablierung einer Tradition der Arbeiterbewegung bei, die vom Aussterben bedroht war, als die Konterrevolution einen Bruch in ihrer organischen Kontinuität verursachte.[iv]

Organisationskrisen und die Tendenz zum Monolithismus

Der zweite bedeutende Impuls für die IKS, zur Frage der Diskussionskultur zurückzukommen, war unsere eigene interne Krise zu Beginn des neuen Jahrtausends, die von einem bösartigen Verhalten gekennzeichnet war, wie wir es in unseren Reihen noch nie erlebt hatten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte musste die IKS nicht einen, sondern mehrere ihrer Mitglieder ausschließen.5[v] Am Anfang dieser Krise standen Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Zentralisierung in unserer französischen Sektion. Eigentlich gibt es keinen Grund, warum Divergenzen dieser Art die Ursache einer Organisationskrise sein sollen. Und sie waren auch nicht die Ursache. Was die Krise verursachte, war die Weigerung, zu diskutieren, und besonders der Versuch, zu isolieren und zu verunglimpfen; d.h. jene persönlich anzugreifen, mit denen man nicht übereinstimmte.

Im Anschluss an diese Krise verpflichtete sich die Organisation, bis an die tiefsten Wurzeln der Krisen und Abspaltungen in unserer Geschichte zu gehen. Wir haben bereits Beiträge zu einigen dieser Aspekte veröffentlicht.[vi] Eine der Schlussfolgerungen, zu denen wir gelangten, war, dass in all den Abspaltungen, die wir erlitten, die Tendenz zum Monolithismus eine wichtige Rolle spielte. Sobald Divergenzen auftraten, begannen gewisse Mitglieder zu behaupten, dass sie nicht länger mit den anderen zusammenarbeiten könnten, dass die IKS zu einer stalinistischen Organisation geworden sei oder sich im Prozess der Degenerierung befinde. Diese Krisen brachen anlässlich von Divergenzen aus, die in einer nichtmonolithischen Organisation größtenteils problemlos eingedämmt und in jedem Fall diskutiert und geklärt worden wären, ehe auch nur der Gedanke an eine Trennung aufgekommen wäre.

Das wiederholte Auftreten von monolithischen Herangehensweisen ist durchaus überraschend in einer Organisation, die sich gerade auf die Traditionen der Italienischen Fraktion beruft, welche stets den Standpunkt vertrat, dass, wann immer es Divergenzen über fundamentale Prinzipien gibt, gründliche und kollektive Klärung jeder organisatorischen Trennung vorausgehen müsse.

Die IKS ist die einzige Strömung der Kommunistischen Linken heute, die sich ausdrücklich in die organisatorische Tradition der Italienischen Fraktion (Bilan) und der Französischen Kommunistischen Linken (GCF) stellt. Im Gegensatz zu den Gruppen, die aus dem PCInt stammen, welcher Ende des II. Weltkrieges in Italien gegründet worden war, erkannte die Italienische Fraktion den überaus proletarischen Charakter der anderen internationalen Strömungen der Kommunistischen Linken an, die in Reaktion auf die stalinistische Konterrevolution entstanden waren, insbesondere die Deutsche und die Holländische Linke. Weit davon entfernt, diese Strömungen als „anarchospontaneistisch“ oder „syndikalistisch“ abzutun, lernte sie von ihnen, was zu lernen war. Tatsächlich betraf ihre Hauptkritik an dem, was später zur „rätekommunistischen“ Strömung wurde, deren Sektierertum, das sich durch ihre Ablehnung der Beiträge der Zweiten Internationale und insbesondere des Bolschewismus ausgedrückt hat.[vii] Auf diese Weise hielt die Italienische Fraktion selbst in der fürchterlichen Konterrevolution das marxistische Verständnis aufrecht, dass sich Klassenbewusstsein kollektiv entwickelt und dass keine Partei oder Tradition ein Monopol darauf erheben kann. Daraus folgerte sie, dass das Bewusstsein nicht ohne solidarische, öffentliche, internationale Debatte entwickelt werden kann.[viii] Doch dieses fundamentale Verständnis, obgleich Teil des grundlegenden Erbes der IKS, ist nicht leicht in die Praxis umzusetzen. Die Debattenkultur kann nur gegen den Strom der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Da die spontane Tendenz innerhalb des Kapitalismus nicht die Klärung von Ideen ist, sondern die Gewalt, Manipulation und das Erringen von Mehrheiten (am beispielhaftesten im Wahlzirkus der bürgerlichen Demokratie), enthält die Infiltration dieses Einflusses in proletarischen Organisationen die Keime der Krise und Degeneration. Die Geschichte der bolschewistischen Partei veranschaulicht dies perfekt. So lange wie die Partei die Speerspitze der Revolution war, war die lebendigste, oft kontroverse Debatte eines ihrer Hauptmerkmale. Im Gegensatz dazu war die Verbannung realer Fraktionen (nach dem Massaker von Kronstadt von 1921) ein unübersehbares Anzeichen und aktiver Faktor ihrer Degenerierung. Desgleichen kann die Praxis der „friedlichen Koexistenz“ (d.h. die Nicht-Debatte) von einander widersprechenden Positionen, die bereits den Gründungsprozess des Partio Comunista Internazionalista auszeichnete, oder die Theoretisierung der Tugenden des Monolithismus durch Bordiga und seine Anhänger nur im Zusammenhang mit der historischen Niederlage in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstanden werden.

Wenn revolutionäre Organisationen ihre fundamentale Rolle bei der Entwicklung und Ausbreitung von Klassenbewusstsein erfüllen wollen, ist die Kultivierung einer kollektiven, internationalen, solidarischen und öffentlichen Diskussion absolut notwendig. Es ist wahr, dass dies einen hohen Grad an politischer Reife (und auch allgemeiner, an menschlicher Reife) erfordert. Die Geschichte der IKS ist eine Illustrierung der Tatsache, dass dies nicht über Nacht erreicht werden kann, sondern das Produkt einer historischen Entwicklung ist. Heute hat die neue Generation eine wichtige Rolle in diesem Reifungsprozess zu spielen.

Die Debattenkultur in der Geschichte

Die Fähigkeit, zu debattieren, war ein Hauptkennzeichen in der Arbeiterbewegung gewesen. Doch die Debattenkultur war keine Erfindung der Arbeiterbewegung. Wie in anderen wichtigen Bereichen war auch hier der Kampf für den Sozialismus in der Lage, die großen Errungenschaften der Menschheit zu assimilieren, indem er sie auf seine eigenen Bedürfnisse anwendete. Dadurch wandelte er diese Qualitäten um und hob sie auf eine höhere Ebene.

Grundsätzlich ist die Debattenkultur ein Ausdruck des eminent sozialen Charakters der Menschheit. Sie ist insbesondere eine Auswirkung des spezifisch menschlichen Gebrauchs der Sprache. Der Gebrauch der Sprache als ein Mittel zum Informationsaustausch ist etwas, was die Menschheit mit vielen Tieren teilt. Was die Menschheit jedoch vom Rest der Natur unterscheidet, ist die Fähigkeit, Argumentationen (die mit der Entwicklung der Logik und der Wissenschaften verknüpft sind) zu pflegen, auszutauschen und die anderen kennenzulernen (die Kultivierung des Mitgefühls, das unter anderem mit der Entwicklung der Kunst verknüpft ist).

Folglich ist diese Qualität nicht neu. In der Tat ging sie der Klassengesellschaft voraus und spielte mit Sicherheit eine tragende Rolle beim Aufstieg der Menschheit. Engels beispielsweise nahm auf die Rolle der allgemeinen Versammlungen der Griechen in der homerischen Epoche, der frühen deutschen Stämme oder der Irokesen in Nordamerika Bezug und pries besonders die Debattenkultur Letztgenannter.[ix] Leider sind wir, trotz des Pionierwerks solcher Menschen wie Lewis Henry Morgan im 19. Jahrhundert und seiner Nachfolger, nur unzureichend über die frühen und mit ziemlicher Sicherheit entscheidenden Entwicklungen auf diesem Gebiet informiert.

Doch was wir wissen, ist, dass die Philosophie und die Anfänge des wissenschaftlichen Denkens in der Geschichte zu blühen begannen, als die Mythologie und der naive Realismus – dieses antike, widersprüchliche und doch unzertrennliche Paar – in Frage gestellt wurden. Beide sind Gefangene der Unfähigkeit, die un-mittelbaren Erfahrungen besser zu verstehen. Die Gedanken, die sich der frühe Mensch über seine praktische Erfahrung machte, waren religiöser Natur. „Seit der frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn mit beim Tode verlassenden Seele – seit dieser Zeit mussten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußern Welt sich Gedanken machen. Wenn sie im Tod sich vom Körper trennte, fortlebte, so lag kein Anlass vor, ihr noch einen besondren Tod anzudichten; so entstand die Vorstellung von ihrer Unsterblichkeit, die auf jener Entwicklungsstufe keineswegs als ein Trost erscheint, sondern als ein Schicksal, wogegen man nicht ankann, und oft genug, wie bei den Griechen, als ein positives Unglück.“ (Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 274)

Die ersten Schritte in der langsamen Entwicklung der Kultur und der Produktivkräfte fanden im Rahmen des naiven Realismus statt. Das magische Denken hatte, auch wenn es bis zu einem gewissen Grad psychologische Weisheiten enthielt, vor allem die Aufgabe, das Un-erklärliche zu erklären, um so die Furcht zu begrenzen. Beides, Mythologie und naiver Realismus, leistete wichtige Beiträge zum Fortschritt der Menschheit. Die Behauptung, dass der reale Realismus eine besondere Affinität zur materialistischen Philosophie habe oder dass Letzterer sich direkt aus ihm entwickelt habe, entbehren jedoch jeglicher Grundlage.

„Es ist ein alter Satz der in das Volksbewusstsein übergegangenen Dialektik, dass die Extreme sich berühren. Wir werden uns demnach schwerlich irren, wenn wir die äußersten Grade der Phantasterei, Leichtgläubigkeit und Aberglauben suchen nicht etwa bei derjenigen naturwissenschaftlichen Richtung, die, wie die deutsche Naturphilosophie, die objektive Welt in den Rahmen ihres subjektiven Denkens einzuzwängen suchte, sondern vielmehr bei der entgegengesetzten Richtung, die, auf die bloße Erfahrung pochend, das Denken mit souveräner Verachtung behandelt und es wirklich in der Gedankenlosigkeit auch am weitesten gebracht hat. Diese Schule herrscht in England.“ (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 337)

Die Religion entstand, wie Engels aufzeigt, nicht nur aus einer magischen Weltanschauung, sondern auch aus dem naiven Realismus. Ihren ersten, oft kühnen Verallgemeinerungen über die Welt war notwendigerweise ein autoritativer Charakter verliehen.

Die ersten Bauerngemeinden begriffen beispielsweise schnell ihre Abhängigkeit vom Regen, doch waren sie noch weit entfernt davon, die Bedingungen zu begreifen, von denen der Regen abhängt. Die Erfindung eines Regengottes ist ein schöpferischer, sich selbst versichernder Akt, der den Eindruck erweckt, dass es möglich ist, den Verlauf der Natur durch Zuwendungen und Hingabe zu beeinflussen. Der Homo sapiens ist eine Spezies, die sich auf die Entwicklung des Bewusstseins zur Absicherung ihres Überlebens verlässt. Als solche ist sie mit einem bis dahin nie gekannten Problem konfrontiert: mit der oft lähmenden Furcht vor dem Unbekannten. Die Erklärungen des Unbekannten müssen also über alle Zweifel erhaben sein. Aus diesen Bedürfnissen heraus entstanden als ihr höchstentwickelter Ausdruck die Religionen der Offenbarung. Die ganze emotionale Grundlage dieser Weltsicht ist der Glaube, nicht das Wissen.

Der naive Realismus ist nichts anderes als die andere Seite derselben Münze, einer Art elementare geistige „Arbeitsteilung“. Was auch immer wir nicht in einem unmittelbaren, praktischen Sinne erklären können, betritt die Welt der Magie. Mehr noch, das praktische Verständnis ist selbst in einer religiösen Vision eingebettet, ursprünglich in jener des Animismus. Hier wird die ganze Welt zum Fetisch. Selbst die Prozesse, die das menschliche Wesen bewusst produzieren und reproduzieren kann, finden allem Anschein nach unter Zuhilfenahme personalisierter Kräfte statt, die unabhängig von unserem Willen existieren.

Es ist klar, dass es in dieser Welt wenig Platz für die Debatte im modernen Sinne des Begriffes gab. Ungefähr vor zweieinhalb Tausend Jahren begann sich eine neue Qualität stärker Geltung zu verschaffen, die das Zwillingspaar von Religion und „gesundem Menschenverstand“ direkt konfrontierte. Sie entwickelte sich aus den alten traditionellen Denkmustern in dem Sinne, dass sich Letztere in ihr Gegenteil verkehrten. So wandelte sich das frühe dialektische Denken, das der Klassengesellschaft vorausging – ausgedrückt z.B. in China durch die Idee der Polarität zwischen Yin und Yang, zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip -, in ein kritisches Denken um, das auf den wesentlichen Komponenten der Wissenschaft, der Philosophie und des Materialismus beruhte. Doch wäre all dies undenkbar gewesen ohne das, was wir Debattenkultur nennen.

Was verhalf dieser neuen Vorgehensweise zu ihrem Aufstieg? Ganz allgemein gesprochen, war es die Vergrößerung der Welt der gesellschaftlichen Beziehungen und des sozialen Wissens. Wie Engels zu sagen beliebte, ist der gesunde Menschenverstand ein starker und gesunder Bursche, solange er sich zuhause in seinen vier Wänden aufhält, doch erlebt er alle Arten von Unfällen, sobald er sich in die große, weite Welt hinauswagt. Doch auch die Grenzen der Religion bei der Eindämmung der Furcht wurden enthüllt. In der Tat hatte sie die Furcht nicht genommen, sondern bloß nach außen verlagert. Durch diesen Mechanismus hatte die Menschheit versucht, mit einem Schrecken fertig zu werden, der sie andernfalls zu einer Zeit, als sie noch keine anderen Selbstverteidigungsmittel hatte, zerschmettert hätte. Doch dadurch machte sie ihre eigene Furcht zu einer weiteren Kraft, die über sie herrschte.

Zu „erklären“, was noch unerklärlich ist, bedeutet, auf ihre wirkliche Untersuchung zu verzichten. So kommt es zum Kampf zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Glauben und Wissen oder, wie Spinoza es formulierte, zwischen Unterwerfung und Untersuchung. Die griechische Philosophie entstand ursprünglich in Opposition zur Religion. Schon Thales, der erste uns bekannte Philosoph, brach aus der mystischen Weltsicht aus. Anaximander, der ihm folgte, forderte, dass die Natur aus sich selbst erklärt werden müsse.

Doch das griechische Denken war auch eine Kriegserklärung an den naiven Realismus. Heraklitus erklärte, dass das Wesen der Dinge nicht auf ihrer Stirn geschrieben steht. „Die Natur liebt es sich zu verbergen“, erklärte er. Oder wie Marx sagte: „Und alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“ (Marx: Kapital, Bd. 1, S. 825)

Die neue Herangehensweise forderte neben dem Glauben auch das Vorurteil und die Tradition heraus, die das Credo des Alltagslebens ist (in der deutschen Sprache haben Glaube und Aberglaube eine gemeinsame Wurzel). Dagegen standen Theorie und Dialektik. „Man mag noch so viel Geringschätzung hegen für alles theoretische Denken, so kann man doch nicht zwei Naturtatsachen in Zusammenhang brin-gen oder ihren bestehenden Zusammenhang einsehen ohne theoretisches Denken.“ (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 346)

Der wachsende gesellschaftliche Umgang war natürlich mit der Entwicklung der Produktivkräfte verknüpft. So erschienen zusammen mit den Problemen – die Ungenügendheit der herrschenden Denkweise – auch die Mittel zu ihrer Lösung. In erster Linie ein gesteigertes Selbstvertrauen insbesondere in die Kraft des menschlichen Gedankens. Die Wissenschaft kann nur entstehen, wenn es eine Fähigkeit und Bereitschaft gibt, die Existenz von Zweifeln und Unsicherheiten zu akzeptieren. Im Gegen-satz zur Autorität der Religion und der Tradition ist die Wahrheit der Wissenschaft nicht absolut, sondern relativ. So ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit des Meinungsaustausches.

Es liegt auf der Hand, dass das Bekenntnis zur Herrschaft des Wissens nur gemacht werden kann, wo die Produktivkräfte (im breitesten kulturellen Sinne) einen bestimmten Reifegrad erreicht haben. Es ist unvorstellbar ohne eine entsprechende Entwicklung der Künste, der Bildung, der Literatur, der Naturbeobachtung, der Sprache. Und es geht auf einer bestimmten Stufe in der Geschichte Hand in Hand mit dem Aufkommen einer Klassengesellschaft und einer herrschenden Schicht, die von der Bürde der materiellen Produktion befreit ist. Doch diese Entwicklungen verhalfen der neuen, un-abhängigen Herangehensweise nicht automatisch zu ihrem Aufstieg. Weder die Ägypter noch die Babylonier, trotz ihrer wissenschaftlichen Fortschritte, noch die Phönizier, die als erste ein modernes Alphabet entwickelten, gingen so weit in diese Richtung wie die Griechen.

In Griechenland war es die Entwicklung der Sklaverei, die das Auftauchen einer Klasse von freien Bürgern neben den Priestern ermöglichte. Diese lieferte die materielle Grundlage für die Untergrabung der Religion. (Wir können so die Formulierung von Engels im AntiDühring besser verstehen: ohne die Sklaverei in der Antike kein moderner Sozialismus.) In Indien, wo ungefähr zur gleichen Zeit eine Entwicklung von Philosophie, Materialismus (die so genannte Lokayata) und des Studiums der Natur stattfand, fiel dies mit der Bildung und Stärkung eines Kriegsadels zusammen, der sich der Brahmanischen Theokratie widersetzte, eines Adels, der teilweise auf landwirtschaftlicher Sklaverei basierte. Wie in Griechenland, wo der Kampf von Heraklitus gegen Religion, Unmoral und die Verurteilung körperlicher Freuden sich direkt gegen die Vorurteile sowohl der herrschenden Tyrannen als auch der unterdrückten Bevölkerung richtete, ging die neue militante Vorgehensweise in Indien von der Aristokratie aus. Buddhismus und Jainismus, die ungefähr zur selben Zeit erschienen, waren weitaus tiefer in der geplagten Bevölkerung verankert, aber sie blieben im religiösen Rahmen – mit ihrer Auffassung von der Re-Inkarnation der Seele, die typisch für eine Kastengesellschaft war, der sie sich widersetzten (auch in Ägypten zu finden).

Im Gegensatz dazu wurde dies in China, wo es eine Entwicklung der Wissenschaft und einer Art von rudimentärem Materialismus (zum Beispiel in der Logik von Mo’-Ti‘) gab, durch das Fehlen einer Kaste von herrschenden Priestern, gegen die man aufbegehren konnte, eingeschränkt. Das Land wurde von einer Militärbürokratie beherrscht, die im Kampf gegen die benachbarten „Barbaren“ gebildet worden war.[x]

In Griechenland gab es einen zusätzlichen und in vielerlei Hinsicht entscheidenden Faktor, der auch in Indien eine wichtige Rolle spielte: eine fortgeschrittene Entwicklung der Warenproduktion. Die griechische Philosophie nahm ihren Anfang nicht im griechischen Kernland, sondern in den Hafenkolonien in Kleinasien. Warenproduktion beinhaltet nicht nur den Austausch von Gütern, sondern auch den der Erfahrung, der sich aus ihrer Produktion ergibt. Sie beschleunigte die Geschichte; sie begünstigte die höheren Ausdrücke des dialektischen Denkens. Sie ermöglichte einen Grad der Individualisierung, ohne den ein Gedankenaustausch auf solch hohem Niveau schwierig gewesen wäre. Und sie begann der Isolation ein Ende zu bereiten, in der die soziale Evolution zuvor stattgefunden hatte. Die ökonomische Grundeinheit aller Bauerngesellschaften, die auf der Naturalwirtschaft beruhten, ist das Dorf oder allenfalls die regionale Autarkie. Doch die ersten ausbeutenden Gesellschaften, die auf einer größeren Kooperation, oft im Interesse der künstlichen Bewässerung, basierten, waren noch immer agrarwirtschaftlich in ihrem Kern. Im Gegensatz dazu öffnete der Handel und die Seefahrt der griechischen Gesellschaft die Welt. Sie reproduzierte, aber auf einem höheren Niveau, die Haltung der Eroberung und Entdeckung der Welt, die nomadische Gesellschaften auszeichnet. Die Geschichte zeigt, dass von einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung an das Auftauchen des Phänomens der öffentlichen Debatte untrennbar mit einer internationalen Entwicklung (selbst wenn sie sich auf ein Gebiet konzentrierte) verbunden war und in einem gewissen Sinne „inter-nationalistisch“ in ihrem Wesen war. Diogenes und die Zyniker waren gegen die Unterscheidung zwischen Hellenen und Barbaren und erklärten sich selbst zu Weltbürger. Democritus wurde vor Gericht gestellt, weil er angeblich eine Erbschaft verschwendet hatte, die er nutzte, um seine Bildungsreisen nach Ägypten, Babylonien, Persien und Indien zu finanzieren. Er verteidigte sich selbst und las aus Auszügen seiner Schriften, Früchte seiner Reisen, vor – und wurde freigesprochen.

Die Debatte entstand als Antwort auf eine praktische Notwendigkeit. In Griechenland entwickelte sie sich durch den Vergleich verschiedener Wissensquellen. Verschiedene Denkweisen, Untersuchungsmethoden und deren Ergebnisse, Produktionsmethoden, Sitten und Traditionen wurden miteinander verglichen. Sie waren dazu geschaffen, einander zu widersprechen, zu bestätigen oder zu ergänzen. Sie traten gegeneinander in den Kampf oder unterstützten einander oder beides. Absolute Wahrheiten relativierten sich durch den Vergleich.

Diese Debatten waren öffentlich. Sie fanden in den Häfen, auf den Marktplätzen (den Foren), in Schulen und Akademien statt. In schriftlicher Form füllten sie die Bibliotheken und verbreiteten sich überall in der bekannten Welt.

Socrates – jener Philosoph, der seine Zeit auf dem Marktplatz verbrachte – verkörperte die Essenz dieser Entwicklung. Seine Hauptbeschäftigung – zu einem wahrhaftigen Wissen über die Moral zu gelangen – ist bereits eine Attacke gegen Religion und Vorurteil, die behaupten, dass diese Fragen bereits beantwortet seien. Er erklärte, dass das Wissen die Hauptbedingung für die richtige Ethik und die Ignoranz ihr Hauptfeind sei. So ist es die Erlangung von Bewusstsein und nicht die Bestrafung, die den moralischen Fortschritt ermöglicht, da die meisten Menschen nicht lange gegen die Stimme ihres eigenen Gewissens ankämpfen könnten.

Doch Sokrates ging noch weiter und legte das theoretische Fundament aller Wissenschaft und aller kollektiven Klärung: die Erkenntnis, dass der Ausgangspunkt des Wissens das Beiseiteschieben von Vorurteilen ist. Dies machte den Weg frei für das Wesentliche: Suche (Untersuchung). Er war ein erbitterter Gegner vorgefasster Schlussfolgerungen, unkritischer selbstbefriedigender Auffassungen, der Arroganz und der Prahlerei. Woran er glaubte, war die „Bescheidenheit des Nicht-Wissens“ und die Leidenschaft, die aus einem wahrhaftigen Wissen herrühren, das auf tiefer Einsicht und Überzeugung beruht. Dies ist der Ausgangspunkt der Sokrates-Monologe. Wahrheit ist das Resultat einer kollektiven Suche, die aus dem Dialog aller Schüler besteht, wo jedermann Lehrer und Schüler zur gleichen Zeit ist. Der Philosoph ist nicht mehr ein Prophet, der Offenbarungen verkündet, sondern zusammen mit anderen ein Wahrheitssuchender. Dies bringt ein neues Führungskonzept mit sich: am entschlossensten auf eine Klärung drängen, ohne jemals das endgültige Ziel aus den Augen zu verlieren. Die Parallele zur Definition der Rolle der Kommunisten im Klassenkampf im Kommunistischen Manifest ist auffällig.

Sokrates verstand es meisterhaft, Diskussionen anzuregen und zu lenken. Er hob die öffentliche Debatte in die Sphären einer Kunst bzw. Wissenschaft. Sein Schüler, Plato, entwickelte den Dialog in einem Umfang weiter, wie er seither kaum mehr erreicht worden war.

In der Einleitung zur Dialektik der Natur spricht Engels von drei großen geschichtlichen Perioden der Naturwissenschaft bis dato, den „genialen naturwissenschaftlichen Intuitionen“ der antiken Griechen und den „höchst bedeutenden, aber sporadischen Entdeckungen“ der Araber als Vorläufer der modernen Wissenschaft, die mit der Renaissance begann. Was an der „arabisch-muslimischen Kulturepoche“ auffällt, war die bemerkenswerte Fähigkeit, eine Synthese der Errungenschaften der verschiedenen antiken Kulturen zu machen und sie zu absorbieren, sowie ihre Offenheit gegenüber der Diskussion. August Bebel zitierte einen Augenzeugen der Kultur des öffentlichen Streits in Bagdad. „Stellt Euch vor, bei der ersten Versammlung waren nicht bloß Mohammedaner von allen Sekten anwesend, Orthodoxe und Heterodoxe, sondern auch Feueranbeter (Parsen), Materialisten, Atheisten, Juden und Christen, kurzum Ungläubige jeder Art. Jede dieser Sekten hatte ihren Sprecher, der ihre Ansichten verteidigen musste. Trat einer dieser Parteihäuptlinge in den Saal, so erhoben sich alle ehrerbietig und niemand setzte sich, ehe er Platz genommen hatte. Als der Saal nahezu angefüllt war, nahm einer der Ungläubigen das Wort und sprach: ‚Wir haben uns versammelt, um zu disputieren; Ihr kennt die Vorbedingungen; Ihr Mohammedaner dürft uns nicht mit Beweisgründen bekämpfen, die aus Eurer Schrift geschöpft sind, oder auf die Reden Eures Propheten sich stützen; denn wir glauben weder an dieses Buch noch an Euren Propheten. Jeder der Anwesenden darf sich nur auf Gründe berufen, die aus der menschlichen Vernunft entnommen sind’. Diese Worte wurden allgemein bejubelt.“ (Bebel: Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode, Stuttgart 1889, S. 143f)

Bebel erklärt: „Der Unterschied zwischen Mohammedanismus und Christentum war der: Die Araber sammelten bei ihren Eroberungen sorgfältig alle Werke, die ihnen zum Studium und zur Belehrung über die besiegten Völker und Länder dienen und Nutzen stiften konnten; die Christen zerstörten bei der Ausbreitung ihrer Lehre alle dergleichen Kulturdenkmäler als Werke des Satans und heidnische Gräuel, die ein guter Christ so rasch als möglich vernichten müsse.“ (ebendort, S. 137) „Die mohammedanisch-arabische Kulturperiode ist das Verbindungsglied zwischen der untergegangenen griechisch-römischen und der alten Kultur überhaupt und der seit dem Renaissancezeitalter aufgeblühten europäischen Kultur. Die letztere hätte ohne dieses Bindeglied schwerlich so bald ihre heutige Höhe erreicht. Das Christentum stand dieser ganzen Kultur-Entwicklung feindlich gegenüber.“ (ebendort, S. 169)

Einer der Gründe für den blinden Fanatismus und das Sektierertum des Christentums wurde bereits von Heinrich Heine ausgemacht und später von der Arbeiterbewegung bestätigt: Je mehr Opfer und Verzicht eine Kultur erfordert, desto unerträglicher wird allein der Gedanke, dass ihre Prinzipien in Frage gestellt werden.

Was die Renaissance und Reformation anbetrifft, die er „die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte“ nannte, betonte Engels nicht nur die Rolle der Entwicklung des Denkens, sondern auch die der Gefühle, der Personalität, des menschlichen Potenzials und der Kampfbereitschaft. Es war „eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. [...] Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft bei ihren Nachfolgern spüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist, dass sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen, mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beiden.“ (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 312)

Die Debatte und die Arbeiterbewegung

Die drei „heroischen“ Zeitalter des menschlichen Geistes Revue passieren lassend, die laut Engels die Entwicklung der modernen Wissenschaft vorbereiteten, ist es bemerkenswert, wie begrenzt sie zeitlich und räumlich waren. Angefangen damit, dass sie erst sehr spät in der Geschichte der gesamten Menschheit auftauchten. Selbst wenn wir die indischen und chinesischen Kapitel miteinbeziehen, waren diese Phasen geographisch beschränkt. Sie dauerten auch nicht lange (die Renaissance in Italien oder die Reformation in Deutschland nur ein paar Jahrzehnte). Und der Teil der oh-nehin äußerst minoritären ausbeutenden Klassen, der aktiv involviert war, war winzig.

In diesem Zusammenhang scheinen zwei Dinge doch überraschend zu sein. Erstens, dass diese Momente des Aufschwungs der Wissenschaft und der öffentlichen Debatte überhaupt stattfanden und dass ihre Auswirkung so wichtig und nachhaltig war – trotz aller Brüche und Sackgassen. Zweitens das Ausmaß, in welchem das Proletariat – trotz des Bruchs in der organischen Kontinuität seiner Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts, trotz der Unmöglichkeit permanenter Massenorganisationen in der kapitalistischen Dekadenz – in der Lage war, den Rahmen einer organisierten Debatte zu erhalten und gelegentlich beträchtlich zu vergrößern. Die Arbeiterbewegung hat diese Tradition, trotz Unterbrechungen, zwei Jahrhunderte lang am Leben gehalten. Und es hat Momente gegeben – wie während der revolutionären Bewegungen in Frankreich, Deutschland oder Russland –, in denen dieser Prozess Millionen von Menschen umfasste. Hier wurde Quantität zu einer neuen Qualität.

Diese Qualität ist jedoch nicht nur das Produkt der Tatsache, dass das Proletariat zumindest in den industrialisierten Ländern die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Wir haben bereits gesehen, wie die moderne Wissenschaft und Theorie nach ihrem ruhmreichen Beginn in der Renaissance von der bürgerlichen Arbeitsteilung in ihrer Weiterentwicklung beeinträchtig und behindert wurden. Kern dieses Problems ist die Trennung der Wissenschaft von den Produzenten, und das in einem Ausmaß, wie es in der arabischen Epoche der Renaissance noch nicht möglich gewesen wäre. Dieser Bruch „vollendet sich in der großen Industrie, welche die Wissenschaft als selbständige Produktionspotenz von der Arbeit trennt und in den Dienst des Kapitals presst.“ (Marx: Kapital, Bd. 1, S. 382)

Die Schlussfolgerung aus diesem Prozess beschrieb Marx im ersten Entwurf seiner Antwort an Vera Sassulitsch: „Diese Gesellschaft führt Krieg gegen Wissenschaft, Volksmassen und gegen die Produktivkräfte, die sie hervorbringt.“ (eigene Übersetzung)

Der Kapitalismus ist das erste Wirtschaftssystem, das ohne die systematische Anwendung der Wissenschaft in der Produktion nicht existieren kann. Es muss die Bildung des Proletariats begrenzen, um seine Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Es muss die Bildung des Proletariats vorwärtsdrängen, um seine wirtschaftliche Stellung zu behaupten. Heute wird die Bourgeoisie immer mehr zu einer unkultivierten und primitiven Klasse, während Wissenschaft und Kultur sich entweder in den Händen von Proletariern oder in denen bezahlter Repräsentanten der Bourgeoisie befinden, deren ökonomische und soziale Lage zunehmend jener der Arbeiterklasse ähnelt.

Die Abschaffung der Klassen „hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte, und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist jetzt erreicht.“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 263)

Das Proletariat ist der Erbe der wissenschaftlichen Traditionen der Menschheit. Mehr als in der Vergangenheit wird künftig jeder proletarische Kampf notwendigerweise zu einem nie gekannten Aufblühen der öffentlichen Debatte und zum Startschuss im Streben nach Wiederherstellung der Einheit von Wissenschaft und Arbeit, der Erlangung eines globalen Verständnisses, das den Anforderungen des heutigen Zeitalters eher genügt.

Die Fähigkeit des Proletariats, neue Höhen zu erklimmen, wurde bereits mit der Entwicklung des Marxismus bewiesen, der ersten wissen-schaftlichen Annäherung in Fragen der menschlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Allein das Proletariat war im Stande, die größte Errungenschaft des bürgerlichen philosophischen Denkens zu assimilieren – die Philosophie von Hegel. Die beiden Formen der Dialektik, die der Antike bekannt waren, waren die Dialektik des Wandels (Heraclitus) und die Dialektik der Interaktion (Plato, Aristoteles). Hegel kombinierte lediglich diese beiden Formen und schuf so die Grundlage für eine wirklich historische Dialektik.

Hegel fügte dem ganzen Konzept der Debatte eine neue Dimension hinzu, indem er, viel weitgehender als jeder andere vor ihm, die rigide metaphysische Gegenüberstellung von Falsch und Richtig attackierte. In der Einleitung zu seiner Phänomenologie des Geistes zeigte er auf, wie die unterschiedlichen und widersprüchlichen Phasen eines Entwicklungsprozesses – wie die Geschichte der Philosophie – eine organische Einheit bilden, gleich der Blüte und der Frucht. Hegel erklärte, dass das Unvermögen, dies anzuerkennen, mit der Tendenz verknüpft war, sich auf den Gegensatz zu konzentrieren und die Entwicklung aus den Augen zu verlieren. Indem er diese Dialektik auf ihre Füße stellte, war der Marxismus in der Lage, die fortschrittlichste Seite von Hegel aufzunehmen, nämlich das Verständnis eines zukunftsorientierten Prozesses.

Das Proletariat ist die erste Klasse, die gleichzeitig revolutionär und ausgebeutet ist. Im Gegensatz zu früheren revolutionären Klassen, die ausbeuterisch waren, beschränkt sich seine Suche nicht auf irgendwelche Interessen des Selbst-Schutzes als Klasse. Im Gegensatz zu früheren ausgebeuteten Klassen, die nur überleben konnten, indem sie sich mit (insbesondere religiösen) Illusionen trösteten, erfordert sein Klasseninteresse den Verlust der Illusionen. Das Proletariat als solches ist die erste Klasse, deren natürliche Neigung, sobald sie nachdenkt, sich organisiert und auf dem eigenen Terrain kämpft, in Richtung Klärung geht.

Dieses einmalige Wesen wurde vom Bordigismus übersehen, als er sein Konzept der Invarianz (Unveränderlichkeit) erfand. Sein Ausgangspunkt ist korrekt: das Bedürfnis, den Grundprinzipien des Marxismus angesichts der bürgerlichen Ideologie treu zu bleiben. Doch die Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, die Diskussion einzuschränken oder gar abzuschaffen, um Klassenpositionen aufrechtzuhalten, ist ein Produkt der Konterrevolution. Die Bourgeoisie hat viel besser begriffen, dass es, um die Arbeiterklasse auf das Terrain des Kapitals zu ziehen, vor allem notwendig ist, ihre Debatten zu unterdrücken und zu ersticken. Anfangs hat sie dies vor allem mit grausamer Repression versucht; später hat sie noch wirksamere Waffen, wie die Demokratie und die Sabotagearbeit der bürgerlichen Linken, entwickelt. Auch der Opportunismus hat dies schon lange begriffen. Da sein wesentlicher Charakterzug seine Inkohärenz ist, muss er sich verstecken, vor der offenen Debatte fliehen. Der Kampf gegen den Opportunismus und die Notwendigkeit einer Diskussionskultur sind nicht nur nicht widersprüchlich; das eine ist auch undenkbar ohne das andere.

Solch eine Kultur schließt überhaupt nicht harte Zusammenstöße von politischen Positionen aus – im Gegenteil. Doch dies bedeutet nicht, dass die politische Diskussion notwendigerweise traumatisierend ist und zu Spaltungen führt. Das erbaulichste Beispiel für die „Kunst“ oder „Wissenschaft“ der Debatte in der Geschichte ist jenes der bolschewistischen Partei zwischen Februar und Oktober 1917. Selbst unter dem Druck massiver Eingriffe durch fremde Ideologien waren diese Diskussionen leidenschaftlich, aber äußerst brüderlich und anregend für alle Beteiligten. Vor allem er-möglichten sie, was Trotzki die „Wiederbewaffnung“ der Partei nannte, die Re-Justierung ihrer Politik auf die veränderten Erfordernisse des revolutionären Prozesses, eine der Vorbedingungen für den Sieg.

Der „bolschewistische Dialog“ erfordert das Verständnis, dass nicht alle Debatten dieselbe Bedeutung haben. Die Polemik von Marx gegen Proudhon war vernichtend, weil es ihre Aufgabe war, in den Mülleimer der Geschichte zu schmeißen, was zu einer Fessel der gesamten Arbeiterbewegung geworden ist. Im Gegensatz dazu verlor der junge Marx, auch wenn er sich in titanischen Auseinandersetzungen mit Hegel und gegen den utopischen Sozialismus engagierte, nie seinen enormen Respekt vor Hegel, Fourier, Saint-Simon oder Owen, denen er half, für immer in unser gemeinsames Erbe einzugehen. Und Engels sollte später schreiben, dass es ohne Hegel kein Marxismus gegeben hätte und ohne die Utopisten keinen wissenschaftlichen Sozialismus, wie wir ihn kennen.

Die schwersten Krisen in den Arbeiterorganisationen, einschließlich der IKS, wurden zum größten Teil nicht durch die Existenz von Divergenzen schlechthin, wie fundamental auch immer, verursacht, sondern durch die Umgehung, ja offene Sabotage des Klärungsprozesses. Der Opportunismus nutzt jedes mögliche Mittel für diesen Zweck. Diese beinhalten nicht nur das Runterspielen wichtiger Divergenzen, sondern gleichermaßen die Übertreibung zweitrangiger Divergenzen oder die Erfindung von nicht-existenten Divergenzen. Sie beinhalten auch die Personalisierung und sogar die Verunglimpfung.

Das auf dem Rücken der Arbeiterbewegung lastende tote Gewicht des üblichen „gesunden Menschenverstandes“ einerseits, das unkritische, fast religiöse Festhalten an Gebräuche und Traditionen andererseits wurde von Lenin zu dem verbunden, was er den Zirkelgeist nannte. Er hatte völlig recht hinsichtlich der Unterwerfung des Prozesses des Organisationsaufbaus und ihres politischen Lebens unter der „Spontaneität“ des gesunden Menschenverstandes und der Konsequenzen. „Warum aber, wird der Leser fragen, führt die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstands gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt.“ (Lenin: Was tun, LW, Bd. 5, S. 397)

Kennzeichnend für die Zirkelmentalität ist die Personalisierung der Diskussion, die Reaktion auf politische Argumente, indem darauf geschaut wird, wer was sagt, und nicht, was gesagt wird. Überflüssig zu sagen, dass diese Personalisierung ein enormes Hindernis auf dem Weg zu einer fruchtbaren, kollektiven Diskussion ist.

Bereits der Sokrates-Dialog verstand, dass die Entwicklung der Debatte nicht nur eine Frage des Denkvermögens ist; sie ist darüber hinaus eine ethische Frage. Heute dient das Streben nach Klärung den Interessen des Proletariats, während die Sabotage der Klärung sie bedroht. In diesem Sinn konnte die Arbeiterklasse das Motto des deutschen Aufklärers Lessing übernehmen, der sagte, dass es eine Sache gab, die er noch mehr als die Wahrheit liebte – die Suche nach der Wahrheit.

Der Kampf gegen Sektierertum und Ungeduld

Die eindruckvollsten Beispiele einer Debattenkultur als ein wichtiges Mittel der proletarischen Massenbewegungen verschaffte uns die Russische Revolution.[xi] Die Klassenpartei war, weit entfernt davon, sich ihr zu widersetzen, die Avantgarde dieser Dynamik. Die Diskussionen innerhalb der Partei in Russland 1917 betrafen Fragen wie die des Klassencharakters der Revolution, gingen darum, ob man die Fortsetzung des imperialistischen Krieges unterstützen sollte oder nicht, wann und wie man die Macht ergreifen sollte. Noch war durchgehend die Einheit der Partei gewahrt, trotz politischer Krisen, in denen das Schicksal der Weltrevolution und damit jenes der Menschheit auf dem Spiel stand.

Und doch lehrt uns die Geschichte des proletarischen Klassenkampfes und insbesondere die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung, dass solch eine Ebene der Debattenkultur nicht immer erreicht wurde. Wir haben bereits das wiederholte Eindringen von monolithischen Herangehensweisen in die IKS erwähnt. Es ist nicht überraschend, dass diese Störungen häufig zu Abspaltungen von der Organisation führten. Im Rahmen des Monolithismus kann es bei Divergenzen keine andere Lösung geben als die Trennung. Jedoch wird das Problem nicht durch die Abspaltung jener Elemente gelöst, die diese Vorgehensweise in karikaturhafter Weise verkörpern. Die Tatsache, dass solche nicht-proletarischen Vorgehensweisen immer wiederkehren, weist auf die Existenz weitaus größerer Schwächen in dieser Frage innerhalb der Organisation hin. Diese bestehen in häufig kleinen, kaum wahrnehmbaren Verwirrungen und Fehlauffassungen im täglichen Leben und in Diskussionen, die jedoch unter bestimmten Umständen den Weg für ernstere Schwierigkeiten ebnen können. Eine von ihnen ist die Tendenz, jede Debatte in den Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus, des direkten Kampfes gegen die bürgerliche Ideologie zu stellen. Eine der Konsequenzen daraus ist, die Debatte zu hemmen, indem den Genossen das Gefühl vermittelt wird, dass sie nicht mehr das Recht haben, falsch zu liegen oder Konfusionen zum Ausdruck zu bringen. Eine andere Konsequenz ist die „Banalisierung“ des Opportunismus. Wenn wir ihn überall wittern (und bei der leisesten Meinungsverschiedenheit „Feuer“ rufen), werden wir ihn wahrscheinlich nicht erkennen, wenn er wirklich auftritt. Ein anderes Problem ist die Ungeduld in den Debatten, die in der Unfähigkeit mündet, den anderen Argumenten zuzuhören, und in der Neigung, die „Gegner“ zu zermalmen, die anderen „mit allen Mitteln“ zu überzeugen.1[xii]

Was all diese Vorgehensweisen gemeinsam haben, ist das Gewicht der kleinbürgerlichen Ungeduld, der Mangel an Vertrauen in der lebendigen Praxis der kollektiven Klärung im Proletariat. Sie drücken Schwierigkeiten aus, zu akzeptieren, dass Diskussion und Klärung ein Prozess ist. Wie alle fundamentalen Prozesse im gesellschaftlichen Leben hat er einen inneren Rhythmus und ein eigenes Bewegungsgesetz. Seine Entfaltung entspricht der Bewegung weg von der Konfusion hin zu mehr Klarheit und enthält Fehler und falsche Wendungen sowie deren Korrektur. Solche Prozesse erfordern Zeit, wenn sie wirklich gründlich sein sollen. Sie können beschleunigt, aber nicht verkürzt werden. Je breiter die Teilnahme in diesem Prozess ist, je mehr die Beteiligung seitens der gesamten Klasse ermutigt und begrüßt wird, desto reichhaltiger wird sie werden.

In ihrer Polemik gegen Bernstein[xiii] wies Rosa Luxemburg auf den fundamentalen Widerspruch des Arbeiterkampfes hin, der einerseits eine Bewegung innerhalb des Kapitalismus ist, andererseits aber ein Ziel anstrebt, das außerhalb des Letzteren ist. Aus diesem widersprüchlichen Charakter ergeben sich zwei große Gefahren für diese Bewegung. Die erste ist der Opportunismus, d.h. die Offenheit gegenüber dem fatalen Einfluss des Klassenfeindes. Das Motto dieser Verirrung vom Weg des Klassenkampfes heißt: „Die Bewegung ist alles, das Endziel nichts.“ Die zweite Gefahr ist das Sektierertum, d.h. der Mangel an Offenheit gegenüber dem Einfluss des Lebens der eigenen Klasse, das Proletariat. Das Motto dieser Verirrung ist: „Das Ziel ist alles, aber die Bewegung ist nichts.“

Im Kielwasser der fürchterlichen Konterrevolution, die der Niederlage der Weltrevolution am Ende des I. Weltkrieges folgte, wurde innerhalb dessen, was vom revolutionären Lager übrig geblieben war, die fatale Fehlkonzeption entwickelt, dass es möglich sei, den Opportunismus mit den Mitteln des Sektierertums zu bekämpfen. Diese Vorgehensweise, die lediglich zur Sterilität und Fossilierung führt, übersieht, dass Opportunismus und Sektierertum zwei Seiten derselben Münze sind, da beide Ziel und Bewegung voneinander trennen. Ohne die vollständige Teilnahme revolutionärer Minderheiten am realen Leben und an der Bewegung ihrer Klasse kann das Ziel des Kommunismus nicht erreicht werden


[i] Selbst solch reife und theoretisch klare junge Revolutionäre wie Marx und Engels glaubten – zurzeit der Erschütterungen von 1848 –, dass die Verwirklichung des Kommunismus mehr oder minder auf der unmittelbaren Tagesordnung stünde.

[ii] Siehe unsere Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich.

[iii] Im proletarischen Lager wurde dieser Begriff vom „Bordigismus“ theoretisiert.

[iv] Die Biographien und Erinnerungen vergangener Revolutionäre sind voller Beispiele für ihre Fähigkeit, zu diskutieren und besonders zuzuhören. Lenin war in diesem Zusammenhang geradezu legendär, aber er war nicht der einzige. Nur ein Beispiel sind die Memoiren von Fritz Sternberg über seine „Konversationen mit Trotzki“ (1963 verfasst): „In seinen Konversationen mit mir war Trotzki ausgesprochen höflich. Er unterbrach mich praktisch nie, und wenn, dann um mich nach der Erläuterung eines Wortes oder Gedankens zu bitten.“

[v] Dazu die Artikel „Ausserordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“, in der Internationalen Revue
Nr. 30 und „Der 15. Kongress der IKS: „Die Verstärkung der Organisation angesichts der Herausforderungen der heutigen Zeit“, in
Internationale Revue Nr. 114 (engl., franz., span.).

[vi] Siehe dazu „Vertrauen und Solidarität im Kampf der Arbeiterklasse“ in Internationale Revue Nr. 31 und 32 und „Marxismus und Ethik“ in Internationale Revue Nr. 39 und 40.

[vii] Man schlage nach in unseren Büchern über die Italienische und Holländische Kommunistische Linke.

[viii] Die GCF sollte später, nach der Auflösung der Italienischen Fraktion, dieses Verständnis aufrechterhalten. Siehe zum Beispiel ihre Kritik an dem Konzept des „brillanten Führers“ die in der Internationalen Revue Nr. 33 (engl., franz., span.) wieder veröffentlicht wurde, und an der Idee, dass Disziplin bedeutet, dass Mitglieder der Organisation blosse Befehlsempfänger sind, die nicht die politischen Orientierungen der Organisation zu diskutieren haben, wieder veröffentlicht in der Internationalen Revue Nr. 34 (engl., franz., span.)

[ix] Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates

[x] Über die Entwicklung in Asien um 500 v.Chr. siehe die Vorlesungen von August Thalheimer, die er an der Sun-Yat-Sen-Universität von Moskau 1927 abgehalten hatte: Einführungen in den Dialektischen Materialismus: www.marxists.org/archive/thalheimer/works/diamant/index.htm [7].

[xi] Siehe zum Beispiel Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, oder John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten diese Fragen weiter.

[xii] Der Bericht über die Arbeit des 17. Kongresses der IKS in der Internationalen Revue Nr. 40 entwickelt diese Fragen weiter.

[xiii] Rosa Luxemburg, Sozial-Reform oder Revolution?

Theoretische Fragen: 

  • Kultur [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [9]

Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit

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Wir haben zuvor eine Zusammenfassung des ersten Bandes unserer Artikelreihe zum Kommunismus veröffentlicht, in der wir die Entwicklung des kommunistischen Programms in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus anhand der Werke von Marx und Engels thematisierten. Der zweite Band dieser Reihe befasst sich eingehender mit den weiteren Präzisierungen dieses Programms, die sich aus den praktischen Erfahrungen und theoretischen Überlegungen der Arbeiterbewegung während der revolutionären Welle von Kämpfen ergaben, die die kapitalistische Welt nach 1917 erschüttert hatten. Wir teilen die Zusammenfassung dieses Bandes in zwei Teile auf: Der hier folgende Teil untersucht die heroische Phase der revolutionären Welle, als die Aussicht auf die Weltrevolution noch real und das kommunistische Programm sehr konkret war; der zweite Teil wird sich mit dem Zurückfluten der revolutionären Welle und mit den Bemühungen der revolutionären Minderheiten befassen, das unaufhaltsame Vorwärtsdrängen der Konterrevolution zu begreifen.

1. 1905: Der Massenstreik öffnete die Tür zur proletarischen Revolution (International Review Nr. 90)

Wir wollen im zweiten Band der Kommunismus-Reihe aufzeigen, wie das kommunistische Programm durch die direkte Erfahrung der proletarischen Revolution weiterentwickelt wurde. Hintergrund ist die neue Epoche von Kriegen und Revolutionen, die endgültig durch den ersten imperialistischen Weltkrieg und insbesondere durch das Aufkommen und anschließende Abflauen der ersten Welle großer revolutionärer Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse zwischen 1917 und Ende der 1920er Jahre eingeleitet worden war. Deshalb haben wir den übergeordneten Titel dieses Bandes etwas geändert: Der Kommunismus hieß nicht mehr nur vorherzusagen, was notwendig wird, sobald der Kapitalismus keine fortschrittliche Rolle mehr spielt. Der Kommunismus stand nunmehr aufgrund der neuen Bedingungen – der Niedergang des Kapitalismus – auf der Tagesordnung. Dies bedeutete, dass der Kapitalismus nicht mehr nur zu einem Hindernis für jeglichen weiteren Fortschritt, sondern auch zu einer Bedrohung für das eigentliche Überleben der Menschheit geworden war.

Dieser Band beginnt jedoch mit den Ereignissen von 1905, mit einer Zeit des Übergangs, als die neuen Bedingungen erst in groben Zügen erkennbar waren und sich noch nicht endgültig durchgesetzt hatten – einer Zeit voller Unklarheiten. Häufig spiegelte sich dies in unklaren Perspektiven wider, die die Revolutionäre selbst entwickelt hatten. Doch der plötzliche Ausbruch von Massenstreiks und Aufständen in Russland 1905 gab der Diskussion, die bereits in der marxistischen Bewegung angestoßen worden war, eine andere Wendung. Dieses Ereignis griff Fragen auf, die für die angesprochenen Themen dieser Serie besonders wichtig sind: Auf welche Weise wird die Arbeiterklasse in der Stunde der Revolution die Macht übernehmen? Das war der eigentliche Hintergrund der Debatte über den Massenstreik, die insbesondere in der deutschen Sozialdemokratie aufgekommen war.

Diese Auseinandersetzung fand im Wesentlichen auf drei Ebenen statt: Auf der einen Seite führte die revolutionäre Linke um Luxemburg und Pannekoek diese Auseinandersetzung zunächst gegen die offen revisionistischen Thesen von Bernstein und anderen, die ausdrücklich jeglichen Bezug zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus fallenlassen wollten, sowie gegen die Gewerkschaftsbürokratie, die sich keinen Arbeiterkampf vorstellen konnte, der nicht von ihr selbst strikt kontrolliert wurde. Dieser Teil wollte jeglichen Generalstreik hinsichtlich seiner Forderungen und Dauer stark einschränken. Und auch hier meinte das „orthodoxe“ Zentrum der Partei, welches die Idee eines Massenstreiks zwar formal unterstützte, dass der Massenstreik nur eine begrenzt gültige Taktik sei, die sich einer im Wesentlichen parlamentarischen Strategie unterzuordnen habe. Im Gegensatz dazu betrachtete die Linke den Massenstreik als ein Zeichen dafür, dass der Kapitalismus den Endpunkt seines aufsteigenden Astes erreicht habe; der Massenstreik sei ein Vorläufer der Revolution. Luxemburgs und Pannekoeks Analyse, die von allen konservativen Kräften in der Partei als „anarchistisch“ abgelehnt wurde, war in Wirklichkeit keine Neuauflage der alten anarchistischen Abstraktion des Generalstreiks in neuem Gewand, sondern ein Versuch, die tatsächlichen Charakteristiken der Massenbewegung in der neuen Zeit zu begreifen:

– ihre Tendenz, spontan von „unten“ auszubrechen, oft von Partikularforderungen oder Forderungen begleitet, die nur vorübergehender Natur waren. Doch diese Spontaneität stand keinesfalls im Gegensatz zur Organisation; im Gegenteil, in der neuen Periode wurde die Organisierung des Kampfes durch den Kampf selbst hervorgebracht und konnte infolgedessen auf ein höheres Niveau gelangen;

– die Tendenz zur schnellen, geographischen Ausdehnung auf immer größere Teile der Arbeiterklasse, die dabei auf dem Streben nach Solidarität fußte;

– die Wechselbeziehung zwischen der ökonomischen und politischen Dimension des Kampfes, bis hin zur Stufe des bewaffneten Aufstandes;

– die Bedeutung der Partei in diesem Prozess, die nicht abnahm, sondern im Gegenteil noch größer wurde. Ihre Aufgabe bestand nicht länger darin, den Kampf technisch vorzubereiten, sondern in der politischen Führung des Kampfes.

Während Luxemburg diese drei allgemeinen Charakteristiken des Massenstreiks erkannte, trugen die Revolutionäre in Russland wesentlich zum Verständnis der neuen Kampforganisation, der Sowjets, bei. Trotzki und Lenin begriffen sehr schnell die Bedeutung der Sowjets als ein Instrument zur Organisierung des Massenstreiks, als eine flexible Form, die es den Massen ermöglichte, zu debattieren, zu entscheiden und ihr Klassenbewusstsein zu entwickeln, und als das Organ des proletarischen Aufstandes und der politischen Macht. Entgegen jenen „Super-Leninisten“ in der bolschewistischen Partei, deren erste Reaktion gegenüber den Sowjets darin bestand, diese dazu aufzurufen, in der Partei aufzugehen, betonte Lenin, dass die Partei als Organisation der revolutionären Avantgarde und die Sowjets als Einheitsorganisation der gesamten Klasse keine Rivalen waren, sondern sich perfekt ergänzten. Somit verdeutlichte er, dass die bolschewistische Parteiauffassung faktisch einen Bruch mit den alten sozialdemokratischen Auffassungen über die Massenpartei darstellte, dass sie ein organisches Produkt aus der neuen Epoche revolutionärer Kämpfe war. Die Ereignisse von 1905 lösten auch heftige Debatten über die Perspektiven der Revolution in Russland aus. Die Debatte drehte sich dabei um drei Punkte:

– Die Menschewiki warfen ein, dass Russland dazu verurteilt sei, die Phase der bürgerlichen Revolution zu durchlaufen, und dass aus diesem Grund die Hauptaufgabe der Arbeiterbewegung in der Unterstützung der liberalen Bourgeoisie in deren Kampf gegen die zaristische Autokratie liege. Der revolutionsfeindliche Inhalt dieser Theorie kam 1917 deutlich zum Vorschein.

– Lenin und die Bolschewiki begriffen, dass die liberale Bourgeoisie in Russland zu schwach war, um den Kampf gegen den Zarismus anzuführen. Die Aufgaben der bürgerlichen Revolution sollten durch eine „demokratische Revolution“ durchgeführt werden, die durch einen Volksaufstand ausgelöst werde, in der die Arbeiterklasse die führende Rolle spiele.

– Trotzki, der sich auf die 1848er Auffassung von Marx über die „permanente Revolution“ stützte, ging vornehmlich von einem internationalen Standpunkt aus. Er meinte, dass die Revolution in Russland notwendigerweise die Arbeiterklasse dazu antreiben werde, die Macht zu ergreifen, und dass die Bewegung schnell in eine sozialistische Phase übergehen könne, indem sie sich mit der Revolution in Westeuropa verbünde. Diese Herangehensweise stellte eine Verbindung zwischen den Schriften Marx’ über Russland und der konkreten Erfahrung aus der Revolution von 1917 dar und wurde größtenteils auch von Lenin 1917 übernommen, als er die Auffassung über die „demokratische Diktatur“ über Bord warf, die ihn in einen Gegensatz zur „orthodoxen“ Auffassung der Bolschewiki brachte.

In der Zwischenzeit verlieh die Niederlage von 1905 den Argumenten Kautskys und Anderer in der deutschen Sozialdemokratie Auftrieb, die behaupteten, dass der Massenstreik nur als eine defensive Taktik aufgefasst werden solle und dass die beste Strategie für die Arbeiterklasse in der allmählichen, im Wesentlichen legalistischen „Ermattungsstrategie“ bestehe, wobei Parlament und Wahlen als Hauptinstrumente für die Machtübernahme durch das Proletariat betrachtet wurden. Die Antwort der Linken fasste Pannekoek zusammen, der erwiderte, dass das Proletariat neue Kampforgane entwickelt habe, die der neuen Epoche im Leben des Kapitals entsprachen. Er wandte sich gegen den Begriff „Ermattungsstrategie“ und hob hervor, dass gemäß dem Marxismus die Revolution nicht darauf abziele, den Staat zu erobern, sondern darauf, ihn zu zerstören und ihn durch neue politische Machtorgane zu ersetzen.

2. Lenins Staat und Revolution: eine bemerkenswerte Bestätigung des Marxismus (International Review Nr. 91)

Aus der Sicht der Philosophen des bürgerlichen Empirismus ist der Marxismus nie mehr als eine Pseudowissenschaft gewesen, da er keine Möglichkeit für die Verifizierung bzw. Widerlegung seiner Hypothesen biete. Tatsächlich kann der Anspruch des Marxismus, wissenschaftliche Methoden zu benutzen, nicht unter Laborbedingungen bestätigt bzw. widerlegt werden. Dies kann nur im – wenn man so will –historischen Labor der Gesellschaft überprüft werden. Dabei erwiesen sich die katastrophalen Ereignisse des Jahres 1914 als überzeugender Beweis für die Richtigkeit der grundsätzlichen Perspektive, die sowohl im Kommunistischen Manifest von 1848 – in dem von der allgemeinen Alternative zwischen dem Sozialismus und der Barbarei die Rede ist – als auch in Engels’ erstaunlich genauer Vorhersage eines zerstörerischen Krieges in Europa, die er 1887 machte, aufgezeigt wurde. Das revolutionäre Beben von 1917-1919 bestätigte die andere Seite der Prognose – die Fähigkeit der Arbeiterklasse, gegenüber der Barbarei des niedergehenden Kapitalismus eine Alternative bieten zu können.

Diese Bewegungen warfen das Problem der Diktatur des Proletariats auf eine sehr praktische Art auf. Aus der Sicht der Arbeiterbewegung kann es jedoch keine strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis geben. Lenins Werk Staat und Revolution, das er während des entscheidenden Zeitraums zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland verfasst hatte, entsprach dem Bedürfnis des Proletariats, ein klares theoretisches Verständnis seiner praktischen Bewegung zu entwickeln. Dies war besonders deshalb wichtig, weil der Opportunismus in den Parteien der II. Internationale noch sehr stark verbreitet war und das Konzept der proletarischen Diktatur vernebelt hatte, das immer mehr durch die Theoretisierung eines schrittweisen, parlamentarischen Weges zur Arbeitermacht ersetzt worden war. Gegen diese reformistischen Verzerrungen – aber auch gegen die von den Anarchisten verbreiteten falschen Antworten – schickte sich Lenin an, die grundlegenden Lehren des Marxismus in der Frage des Staates und der Übergangsperiode zum Kommunismus wiederherzustellen.

Lenins erste Aufgabe bestand deshalb darin, die Auffassung vom Staat als einem neutralen Instrument entgegenzutreten, das je nach Charakter seiner Führung entweder positiv oder negativ eingesetzt werden könne. Es war ungeheuer wichtig, die marxistische Sicht zu bestätigen, derzufolge der Staat nur das Instrument für die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere sein kann. Diese Tatsache wurde durch die weit verbreiteten Argumente Kautskys und anderer Verfechter dieser Strömung, aber auch konkret von den Menschewiki und deren Verbündeten in Russland vertreten, die von „revolutionärer Demokratie“ schwadronierten und diese als ein Feigenblatt für die kapitalistische Provisorische Regierung benutzten, die nach dem Februaraufstand an die Macht gekommen war.

Da es sich bei ihm um ein Organ handelt, das auf die Bedürfnisse der Klassenherrschaft der Bourgeoisie zugeschnitten ist, konnte der bestehende bürgerliche Staat nicht im Interesse des Proletariats umgewandelt werden. So knüpfte Lenin an die historische Entwicklung der marxistischen Auffassung vom Kommunistischen Manifest bis zu seinen Lebzeiten an. Er zeigte dabei auf, wie die jeweiligen Erfahrungen des Arbeiterkampfes – die Revolutionen von 1848 und vor allem die Pariser Kommune von 1871 – die Notwendigkeit herausgestellt hatten, dass die Arbeiterklasse den bestehenden Staat zerstören und ihn durch eine neue Art von politischer Macht ersetzen musste. Diese neue Macht müsse sich auf eine Reihe fundamentaler Maßnahmen stützen, die die politische Autorität der Arbeiterklasse über alle Institutionen der Übergangsperiode aufrechterhalten müsse: die Auflösung des stehenden Heeres, die Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit aller Beamten, deren Bezahlung dem Durchschnittslohn eines Arbeiters entsprechen sollte, die Zusammenlegung von Exekutive und Legislative in einem einzigen Organ.

Dies waren die Prinzipien der neuen Sowjetmacht, die Lenin gegenüber dem bürgerlichen Regime der Provisorischen Regierung verfocht. Die Notwendigkeit, im September/Oktober 1917 von der Theorie zur Praxis überzugehen, hinderte Lenin daran, der Frage nachzugehen, inwiefern die Sowjets eine höhere Form der proletarischen Diktatur darstellten als die Pariser Kommune. Aber Staat und Revolution kommt das große Verdienst zu, gewisse Unklarheiten in den Schriften von Marx und Engels aus der Welt geräumt zu haben, denn diese hatten darüber spekuliert, ob die Arbeiterklasse in einigen der demokratischeren Länder wie Großbritannien, Holland oder den USA friedlich an die Macht kommen könne. Lenin unterstrich, dass im Zeitalter des Imperialismus, in dem der militaristische Staat sich überall den Mantel einer „unparteiischen Macht“ zulegte, es keine Ausnahmen mehr geben könne. In den“demokratischen“ Ländern wie in den eher autoritären Regimes war das proletarische Programm dasselbe: Zerstörung des bestehenden Staatsapparates und die Gründung eines „Kommunestaates“.

Im Gegensatz zum Anarchismus erkannte Staat und Revolution ebenfalls, dass der Staat als solcher nicht über Nacht abgeschafft werden kann. Auch nach dem Sturz des bürgerlichen Staates werden weiterhin Klassen existieren, so wie auch der materielle Mangel vorerst noch fortbesteht. Diese objektiven Bedingungen machen einen Halbstaat in der Übergangsperiode erforderlich. Doch Lenin hob hervor, dass das Ziel des Proletariats nicht darin besteht, diesen Staat ständig zu verstärken, sondern darin, für die schrittweise Schwächung seiner Rolle im Gesellschaftsleben zu sorgen, um schließlich ganz auf ihn verzichten zu können. Dies erforderte die ständige Beteiligung der Arbeitermassen am politischen Leben und ihre wachsame Kontrolle über alle Staatsfunktionen. Gleichzeitig machte dies eine ökonomische Umwälzung in Richtung Kommunismus nötig. Gegenüber dieser Frage griff Lenin die Hinweise von Marx in dessen Kritik des Gothaer Programms auf, in der Letzterer ein System der Arbeitszeitgutscheine als eine vorübergehende Alternative gegenüber der Lohnarbeit propagiert hatte. Lenin verfasste diese Schrift am Vorabend einer gigantischen revolutionären Erfahrung. Er konnte eigentlich nur die allgemeinen Parameter des Problems der Übergangsperiode aufzeigen. Staat und Revolution beinhaltet deshalb unvermeidlich Lücken und Unzulänglichkeiten, die während der darauf folgenden Jahre der Siege und Niederlagen geklärt werden sollten:

– In seiner Schilderung der zum Kommunismus hinführenden ökonomischen Maßnahmen herrscht eine große Verwirrung über die Möglichkeit für die Arbeiterklasse, den Wirtschaftsapparat des Kapitals einfach zu übernehmen, sobald dieser staatliche Formen angenommen hatte. Dieses unzureichende Verständnis der Gefahren, die vom Staatskapitalismus ausgingen, wurde durch die irreführende Vorstellung vom „Sozialismus“ als Zwischenstufe der Produktion zwischen Kapitalismus und Kommunismus verstärkt. Gleichzeitig berücksichtigte er nicht ausreichend die Tatsache, dass der Übergang zum Kommunismus nur international in Angriff genommen werden kann.

– Das Buch äußert sich wenig zum Verhältnis zwischen der Partei und dem neuen Staatsapparat; damit lässt es Raum für Konfusionen über den Parlamentarismus und dafür, dass die Partei die Macht ergreifen und sich mit dem Staat verschmelzen könne.

– Es gibt eine Tendenz, das Ausmaß des Staatsapparates zu unterschätzen und ihn im Wesentlichen auf eine “bewaffnete Körperschaft” zu reduzieren, statt Engels’ Erkenntnis aufzugreifen, in der dieser vom Staat als einem Ausdruck der Klassengesellschaft sprach, der neben seiner Funktion als klassisches Unterdrückungsorgan die Aufgabe hatte, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Diese Aufgabe spiegelte damit das konservative Wesen des Staates, auch des Halbstaates in der Übergangsperiode, wider. Die Erfahrungen in Russland sollten Engels’ Aussage bekräftigen, denn es wurde deutlich, dass die Gefahren, die von diesem neuen Staat ausgingen, ihn zu einem Hort der Bürokratisierung und einer eventuellen bürgerlichen Konterrevolution machten.

Trotzdem bietet Staat und Revolution eine Reihe von Erkenntnissen über die negative Rolle des Staates. Die Schrift erkannte, dass der neue Staat mit materiellem Mangel konfrontiert sein wird und dass bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums somit „bürgerliches Recht“ zum Tragen kommen wird. Lenin sprach hinsichtlich dieses neuen Staates gar von einem „bürgerlichen Staat ohne Bourgeoisie“, was sicherlich eine zugespitzte Formulierung war, die zwar etwas ungenau war, aber dennoch eine gewisse Einsicht in die potenziellen Gefahren, die von dem Übergangsstaat ausgehen, erahnen ließ.

3. 1918: Das Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands
(International Review Nr. 93)

Der Ausbruch der Revolution in Deutschland 1918 bestätigte die Perspektive, von der die Bolschewiki im Oktoberaufstand geleitet worden waren: die Perspektive der Weltrevolution. In Anbetracht der historischen Traditionen der Arbeiterklasse in Deutschland und dem Platz Deutschlands im Zentrum des Weltkapitalismus stellte die Revolution in Deutschland den Schlüssel für den gesamten weltrevolutionären Prozess dar. Sie spielte eine zentrale Rolle bei der Beendigung des Weltkrieges und bedeutete große Hoffnung für die belagerte proletarische Macht in Russland. Ebenso besiegelte ihre endgültige Niederlage in den darauf folgenden Jahren das Schicksal der Revolution in Russland, das einer schrecklichen inneren Konterrevolution zum Opfer fiel. Während der Sieg der Revolution die Tür zu einer neuen und höheren Stufe in der menschlichen Gesellschaft hätte aufstoßen können, löste ihre Niederlage ein Jahrhundert der Barbarei aus, wie sie die Menschheit noch nie zuvor erlebt hatte.

Im Dezember 1918 – einen Monat nach dem Aufstand im November und zwei Wochen vor der tragischen Niederlage des Berliner Aufstandes, in dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ihr Leben verloren hatten, hielt die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ihren Gründungskongress ab. Das neue Parteiprogramm (Was will der Spartakusbund?) wurde von Rosa Luxemburg selbst vorgestellt, die das Programm in seinen historischen Kontext einordnete. Auch wenn es durch das Kommunistische Manifest von 1848 inspiriert worden war, musste das neue Programm sich auf sehr unterschiedliche Traditionen stützen; das Gleiche galt für das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie. Dieses hatte noch zwischen Minimal– und Maximalforderungen unterschieden, was zu einer Zeit, als die proletarische Revolution noch nicht unmittelbar auf der Tagesordnung gestanden hatte, adäquat gewesen war. Der Weltkrieg hatte jedoch eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte eingeläutet – die Epoche des Niedergangs des Kapitalismus, die Epoche der proletarischen Revolution. Damit musste das neue Programm dem direkten Kampf für die proletarische Diktatur und dem Aufbau des Sozialismus Rechnung tragen. So verlangte es nicht nur einen Bruch mit dem formellen Programm der Sozialdemokratie, sondern auch mit den reformistischen Illusionen, die die Partei Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachhaltig infiziert hatten – und mit den Illusionen über eine allmähliche Machteroberung mittels des Parlaments, von denen auch so klare und scharfsinnige Revolutionäre wie Engels beeinflusst worden waren.

Doch die Behauptung, dass die proletarische Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte stand, beinhaltete nicht, dass das Proletariat unmittelbar dazu in der Lage war, diese durchzuführen. So hatte die Novemberrevolution in der Tat gezeigt, dass die Arbeiterklasse in Deutschland noch lange Zeit brauchen würde, um den Ballast der Vergangenheit abzuwerfen, wie der immer noch starke Einfluss der sozialdemokratischen Verräter in den Arbeiterräten bewies. Luxemburg bestand darauf, dass die Arbeiterklasse in Deutschland sich selbst durch eine Reihe von Kämpfen erziehen müsse, die sowohl ökonomischer und politischer Art seien und auf der Ebene der Verteidigung und Offensive stattfinden müssten und die ihr schließlich das für die Leitung der Gesellschaft notwendige Vertrauen und Bewusstsein geben werden. Es war eine der großen Tragödien der Revolution in Deutschland, dass es der Bourgeoisie gelang, das Proletariat in einen vorzeitigen Aufstand zu locken, der diesen Prozess vereitelte und ihn seiner weitsichtigsten und klarsten Führer beraubte.

Das Dokument der KPD umriss eingangs die allgemeinen Ziele und Prinzipien. Es erkannte unverblümt die Notwendigkeit der gewaltsamen Unterdrückung der bürgerlichen Macht an, während gleichzeitig die Idee abgelehnt wurde, dass die proletarische Gewalt eine neue Form des Terrors sei. Es unterstrich, dass der Sozialismus einen qualitativen Schritt vorwärts in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bedeutet und nicht durch eine Reihe von oben aufgezwungener Maßnahmen dekretiert werden kann. Stattdessen könne er nur das Ergebnis des kreativen und kollektiven Werkes von unzähligen Millionen von Arbeitern sein. Gleichzeitig war dieses Dokument ein wirkliches Programm, da es eine Reihe von praktischen Schritten vorschlug, die darauf abzielen, die Herrschaft der Arbeiterklasse zu errichten und erste Schritte zur Vergesellschaftung der Produktion zu ergreifen wie zum Beispiel:

– Entwaffnung der Polizei und Offiziere, Beschlagnahme aller Waffen– und Munitionsbestände durch die Arbeiterräte, Bildung von Arbeitermilizen;

– Aufhebung der Kommandogewalt der Armee und die Ausbreitung der Soldatenräte;

– Bildung von Revolutionstribunalen;

– Einberufung eines zentralen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte, die überall durch lokale Arbeiter- und Soldatenräte gewählt werden, und die gleichzeitige Auflösung aller alten Parlamente und Gemeinderäte;

– Begrenzung des Arbeitstages auf maximal sechs Stunden;

– Konfiszierung aller Lebensmittel, um die Bevölkerung zu ernähren und mit Wohnraum sowie Kleidung zu versorgen;

– Enteignung von Grund und Boden, Banken, Bergwerken und der Großbetriebe in Industrie und Handel;

– Etablierung von Betriebsräten, um die Hauptaufgabe der Verwaltung von Fabriken und anderen Arbeitsplätzen zu übernehmen.

Die Mehrzahl der im KPD-Programm angekündigten Maßnahmen bleibt auch heute gültig, obgleich das Programm als ein Dokument, das zu Beginn der ungeheuer wichtigen revolutionären Erfahrungen verfasst wurde, nicht in allen Fragen klar sein konnte. So war die Rede von Nationalisierungen der Wirtschaft als ein Schritt zum Sozialismus: Damals konnte man nicht wissen, wie schnell sich das Kapital damit arrangieren konnte. Während jegliche Form des Putschismus abgelehnt wurde, beharrte es darauf, dass die Partei selbst die politische Macht ergreifen müsse. Seine Aussagen zu den internationalen Aufgaben der Revolution sind sehr vage. Doch dies waren Schwächen, die überwunden hätten werden können, falls die Revolution in Deutschland nicht im Keim erstickt worden wäre.

4. Die Plattform der Kommunistischen Internationale (International Review Nr. 94)

Die Plattform der Kommunistischen Internationale wurde anlässlich des Ersten Kongresses der Komintern 1919 verfasst. Dies geschah nur wenige Monate nach dem tragischen Ausgang des Berliner Aufstandes. Doch noch hatte die internationale revolutionäre Welle ihren Zenit nicht überschritten. Zum Zeitpunkt des Ersten Kongresses der Komintern traf die Nachricht von der Ausrufung einer neuen Sowjetrepublik in Ungarn ein. Die Klarheit der politischen Positionen, die auf dem Ersten Kongress verabschiedet wurden, spiegelte die vorwärts strebende Bewegung der Klasse wider, so wie das spätere Abgleiten der Komintern in den Opportunismus direkt mit der abflauenden Bewegung verbunden war.

Bucharin leitete die Kongress-Diskussionen über den Entwurf einer Plattform ein. Seine Bemerkungen wurden auch durch die beträchtlichen Fortschritte auf theoretischer Ebene bestärkt, die die Revolutionäre damals erzielt hatten. Bucharin bestand darauf, dass der Ausgangspunkt für die Plattform die Anerkennung des Bankrotts des kapitalistischen Systems auf globaler Ebene war. Von Anfang an begriff die Komintern, dass die „Globalisierung“ des Kapitals schon eine vollendete Tatsache war, ja dass sie in der Tat ein grundlegender Faktor beim Niedergang und Zusammenbruch des Systems war.

Bucharins Rede brachte auch ein weiteres Merkmal des Kongresses zum Ausdruck: seine offene Haltung gegenüber den neuen Entwicklungen, die den Beginn der durch den Krieg eingeläuteten Epoche anzeigten. Er erkannte an, dass zumindest in Deutschland die bestehenden Gewerkschaften keine positive Rolle mehr spielten und durch neue Klassenorgane ersetzt werden mussten, die die Massenbewegung hervorgebracht hatte, insbesondere die Fabrikkomitees. Dies hob sich deutlich von späteren Kongressen ab, als die Arbeit in den offiziellen Gewerkschaften als für alle Parteien der Internationale verbindlich erklärt wurde. Doch dies deckte sich mit den Erkenntnissen der Plattform in der Frage des Staatskapitalismus, da Bucharin an anderer Stelle argumentierte, dass die Integration der Gewerkschaften in das kapitalistische System gerade eine Funktion des Staatskapitalismus sei. Die Plattform selbst bot einen kurzen Überblick über den neuen Zeitraum und die Aufgaben des Proletariats. Sie versuchte nicht ein detailliertes Maßnahmenprogramm für die proletarische Revolution zu erstellen. Sie unterstrich erneut sehr klar, dass mit dem Weltkrieg „eine neue Epoche geboren (ist) – die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats“ (Richtlinien der Kommunistischen Internationale)

Sie bestand darauf, dass die Machtergreifung durch das Proletariat die einzige Alternative zur kapitalistischen Barbarei ist, und rief zur revolutionären Zerstörung aller Institutionen des bürgerlichen Staates (Parlament, Polizei, Gerichte usw.) und zu ihrer Ersetzung durch proletarische Machtorgane auf, die sich auf die bewaffneten Arbeiterräte stützen. Sie entblößte die Leere der bürgerlichen Demokratie und erklärte, dass allein das Rätesystem die Massen in die Lage versetzt, eine reale Macht auszuüben. Sie stellte des Weiteren grobe Richtlinien für die Enteignung der Bourgeoisie und für die Vergesellschaftung der Produktion auf. Dazu gehörte die unmittelbare Vergesellschaftung der Hauptzentren der kapitalistischen Industrie und Landwirtschaft, die schrittweise Integration von kleinen, unabhängigen Produzenten in den vergesellschafteten Bereich und radikale Maßnahmen mit dem Ziel der Ersetzung des Marktes durch eine gleichmäßige Verteilung der Produkte.

Im Interesse eines siegreichen Kampfes bestand die Plattform auf der Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs sowohl mit der rechten Sozialdemokratie, die „ausgesprochene politische Lakaien des Kapitals und Henker der kommunistischen Revolution“ waren, als auch mit dem Zentrum um Kautsky. Diese Position, die im totalen Gegensatz zur Politik der zwei Jahre später verabschiedeten Einheitsfront steht, hatte nichts mit Sektierertum zu tun, da sie von einem Aufruf zur Einheit mit den echten proletarischen Kräften, wie Teilen der anarcho-syndikalistischen Bewegung, flankiert wurde. Angesichts der Einheitsfront der kapitalistischen Konterrevolution, die sich bereits für den Tod von Luxemburg und Liebknecht verantwortlich zeichnete, rief die Plattform zur Verbreitung des Massenkampfes in allen Ländern auf, was zu einer direkten Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat führen werde.

5. 1919: Das Programm der Diktatur des Proletariats (International Review Nr. 95)

Die Existenz einer Reihe von verschiedenen nationalen Parteiprogrammen neben der Plattform der Kommunistischen Internationale wies auf den Fortbestand eines gewissen Föderalismus auch in der neuen Internationale hin, die danach strebte, die nationale Autonomie zu überwinden, die zum Niedergang der alten beigetragen hatte. Aber das Programm der russischen Partei, das für deren 9. Kongress 1919 verfasst wurde, ist von besonderem Interesse. Während das Programm der KP das Ergebnis einer Partei war, die vor der Aufgabe stand, die Arbeiter in eine Revolution zu führen, war das neue Programm der bolschewistischen Partei die Manifestierung der Ziele und Methoden der ersten Sowjetmacht, einer wirklichen Diktatur des Proletariats. Konkret wurde es also von einer Reihe von Dekreten begleitet, die die Politik der Sowjetrepublik in bestimmten Fragen widerspiegelten, obgleich, wie Trotzki eingestand, viele Dekrete eher propagandistischer Natur waren, als eine praktische Politik darstellten. Wie die Plattform der Komintern unterstrich auch das Programm von Anfang an den Beginn der neuen Epoche des niedergehenden Kapitalismus und die Notwendigkeit der proletarischen Weltrevolution. Ebenso wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, einen vollständigen und tief greifenden Bruch mit den offiziellen sozialdemokratischen Parteien zu vollziehen. Das Programm war in folgende Teile aufgeteilt:

Allgemeine Politik: Die Überlegenheit des Sowjetsystems gegenüber der bürgerlichen Demokratie zeigte sich anhand ihrer Fähigkeit, die überwältigende Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten an dem Betrieb des Staates zu beteiligen. Das Programm hob hervor, dass die Arbeiterräte durch ihre Organisierung auf der Grundlage des Arbeitsplatzes statt des Wohnortes ein direkter Ausdruck des Proletariats als Klasse sind. Da die Arbeiterklasse den revolutionären Prozess anführen muss, spiegelt sich dies in dem größeren Gewicht der städtischen Räte im Verhältnis zu den Räten auf dem Land wider. Doch wurde nicht die Idee vertreten, dass anstelle der Sowjets die Partei die Macht ausüben soll. Das übergeordnete Anliegen des Programms, das in der Zeit der Entbehrungen des Bürgerkrieges geschrieben wurde, bestand darin, Mittel und Wege zu finden, um dem wachsenden Einfluss der Bürokratie im neuen Staatsapparat entgegenzutreten, indem eine größere Zahl Arbeiter an der Leitung der Staatsgeschäfte beteiligt wird. In Anbetracht der schrecklichen Bedingungen, denen das Proletariat gegenüberstand, erwiesen sich diese jedoch als unzureichend. Die militanten Arbeiter neigten dazu, sich in Staatsbürokraten zu verwandeln, statt der Bürokratie den Willen der kämpfenden Arbeiterklasse aufzuzwingen. Dennoch reflektierte dieser Teil bereits früh ein Bewusstsein über die Gefahren, die aus dem Staatsapparat hervorgehen.

Nationalitätenfrage: Von einem richtigen Standpunkt ausgehend – nämlich der Notwendigkeit, nationale Grenzen innerhalb des Proletariats und der unterdrückten Massen zu überwinden und einen gemeinsamen Kampf gegen das Kapital zu entwickeln –, offenbarte das Programm hier einige seiner schwächsten Seiten, als es den Begriff der nationalen Selbstbestimmung übernahm. Im Grunde lief dieser Begriff nur auf die Selbstbestimmung der Bourgeoisie hinaus. In der Epoche des Imperialismus kann dies nur bedeuten, die Dominierung nationaler Einheiten von einem nationalistischen Herrscher auf einen anderen zu verlagern. Rosa Luxemburg und andere hoben die schrecklichen Folgen dieser Politik hervor, als sie aufzeigten, dass alle Nationen, denen die Bolschewiki die „Unabhängigkeit“ gewährten, tatsächlich zu Stützpfeilern der imperialistischen Intervention gegen die Sowjetmacht wurden.

Militärfragen: Nachdem das Programm die Notwendigkeit einer Roten Armee zur Verteidigung des neuen Sowjetregimes in Zeiten des Bürgerkrieges anerkannte, schlug das Programm eine Reihe von Maßnahmen vor, die sicherstellen sollten, dass die neue Armee tatsächlich eine Waffe des Proletariats blieb: Ihre Truppen sollten aus dem Proletariat und dem Halbproletariat hervorgehen. Ihre Ausbildungsmethoden sollten sich auf sozialistische Prinzipien stützen. Politische Kommissare, die aus den Reihen bewährter Kommunisten ernannt werden sollten, sollten mit früheren zaristischen Militärs zusammenarbeiten und sicherstellen, dass diese sich ganz der Sache der Sowjetmacht widmeten. Gleichzeitig sollten immer mehr Offiziere von klassenbewussten Arbeitern gestellt werden. Doch die Praxis, die Offiziere zu wählen – eine Forderung der ersten Soldatenräte -, wurde nicht zu einem Prinzip erhoben. Auf dem 9. Kongress entwickelte sich eine von der Gruppe Demokratischer Zentralisten angestoßene Debatte über die Notwendigkeit, die Prinzipien der Kommune auch in der Armee aufrechtzuerhalten und sich der Tendenzen in der Armee zu widersetzen, immer wieder in die alten hierarchischen Methoden oder Organisationsformen zurückzufallen. Eine weitere Schwäche, vielleicht die größte, bestand darin, dass der Aufbau der Roten Armee mit der Auflösung der Roten Garden einherging. Damit verloren die Arbeiterräte ihre besonderen bewaffneten Kräfte zugunsten eines sehr statisch handelnden Organs, das sich viel weniger auf die Bedürfnisse des Klassenkampfes einstellen konnte.

Proletarische Justiz: Die bürgerlichen Gerichte wurden durch die Volksgerichte ersetzt, deren Richter von der Arbeiterklasse gewählt wurden. Die Todesstrafe sollte abgeschafft, das Strafsystem von jedem Revanchismus befreit werden. Aber unter den brutalen Bedingungen des Bürgerkriegs wurde die Todesstrafe bald wieder eingeführt. Und die revolutionären Tribunale, die errichtet wurden, um mit Notlagen umzugehen, missbrauchten oft ihre Macht; ganz zu schweigen von den Aktivitäten der Sonderkommissionen gegen die Konterrevolution, der Tscheka, die immer mehr der Kontrolle der Sowjets entglitt.

Erziehung: In Anbetracht des enormen Gewichts der Rückständigkeit Russlands ging es bei den Erziehungsreformen, die vom Sowjetstaat eingeleitet wurden, schlicht und einfach darum, die Bildungspolitik Russlands auf das Niveau der fortgeschrittenen Erziehungsmethoden anzuheben, die bereits in den bürgerlichen Demokratien praktiziert wurden (wie freie Schulbildung für Kinder beider Geschlechter bis zum Alter von 17 Jahren). Gleichzeitig ging es bei den langfristigen Zielen darum, die Schule von einem Organ bürgerlicher Indoktrination zu einem Instrument der kommunistischen Umwandlung der Welt zu machen. Dies erforderte die Überwindung von Methoden, die auf Zwang und Hierarchie gebaut waren, die Abschaffung der strikten Trennung zwischen Hand– und Kopfarbeit und im Allgemeinen die Erziehung einer neuen Generation in einer Welt, in der Lernen und Arbeiten ein Vergnügen statt eine Mühsal ist.

Religion: Während man an der Notwendigkeit einer intelligenten und einfühlsamen Propaganda durch die Sowjetmacht festhielt, die darauf abzielte, die archaischen religiösen Vorurteile der Massen zu bekämpfen, wurden alle Bemühungen energisch zurückgewiesen, die Religion mit Gewalt zu unterdrücken, denn dies führte, wie die Erfahrung des Stalinismus später lehren sollte, nur zu einem Anwachsen des religiösen Einflusses.

Wirtschaftsfragen: Obgleich davon ausgegangen wurde, dass der Kommunismus nur auf weltweiter Ebene errichtet werden kann, enthielt das Programm einen allgemeinen Rahmen für eine proletarische Wirtschaftspolitik in jenen Gebieten, die unter der Kontrolle des Proletariats standen: Enteignung der alten herrschenden Klasse, Zentralisierung der Produktivkräfte unter der Kontrolle der Sowjets, Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitskräfte, Praktizierung einer neuen Arbeitsdisziplin, die sich auf die Prinzipien der Klassensolidarität stützte, schrittweise Eingliederung der unabhängigen Produzenten in die kollektive Produktion. Das Programm erkannte auch die Notwendigkeit an, dass die Arbeiterklasse kollektiv die Verwaltung des Produktionsprozesses betreibt. Die Instrumente zur Ausführung dieser Aufgabe waren jedoch nicht die Arbeiterräte und die Fabrikkomitees (die nicht einmal in dem Programm erwähnt wurden), sondern die Gewerkschaften, die aufgrund ihres Wesens dazu neigten, der Arbeiterklasse die kollektive Kontrolle über die Produktion zu entwinden und sie in die Hände des Staates zu legen. Am meisten ausschlaggebend war, dass die schrecklichen, durch den Krieg geschaffenen Bedingungen eine Zersplitterung der proletarischen Massen in den Städten und ihre Herabstufung bewirkten. Dies machte es für die Arbeiterklasse immer schwieriger, nicht nur die Fabriken, sondern auch den Staat zu kontrollieren.

Landwirtschaft: Hier gelangte man zur Erkenntnis, dass eine auf Bauern gestützte Produktion nicht über Nacht kollektiviert werden könne, sondern einen mehr oder weniger langen Zeitraum der Integration in den vergesellschafteten Sektor erfordere. In der Zwischenzeit müsse die Sowjetmacht den Klassenkampf auf dem Land entfachen, indem die armen Bauern und die Landarbeiter die größte Unterstützung erhielten.

Güterverteilung: Die Sowjetmacht stellte sich selbst die grandiose Aufgabe, den Warenhandel durch eine sinnvolle Güterverteilung zu ersetzen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet und durch ein Netzwerk von Konsumentenkommunen ersetzt wird. In der Tat brach das alte Währungssystem in der Zeit des Bürgerkrieges mehr oder weniger zusammen und wurde durch ein System der Konfiszierungen und Rationierungen ersetzt. Jedoch dies war auf einen direkten Mangel zurückzuführen und bedeutete nicht wirklich die Etablierung kommunistischer Gesellschaftsverhältnisse, obgleich diese oft als solche theoretisiert wurden. Eine reale Etablierung von Kommunen kann sich nur auf die Fähigkeit stützen, Überschüsse zu produzieren, was jedoch in einer isolierten proletarischen Bastion unmöglich ist.

Finanzen: Diese zu optimistische Einschätzung des Kriegskommunismus spiegelte sich auch in anderen Bereichen wider, insbesondere in der Idee, dass man allein durch den Zusammenschluss aller bestehenden Banken zu einer einzigen Staatsbank einen Schritt zur Auflösung der Banken als solche machen könne. Doch das Geldsystem, das während der Zeit des Bürgerkriegs nur „abgetaucht“ war, erlebte in Russland bald eine Wiederauferstehung: Geld in der einen oder anderen Form sowie Mittel zu dessen Aufbewahrung werden solange bestehen, wie es Tauschbeziehungen gibt, und können erst durch die Errichtung einer vereinten Weltgemeinschaft überwunden werden.

Wohnungsfrage und öffentliche Gesundheit: Die proletarische Macht entfaltete eine Vielzahl von Initiativen, um die Obdachlosigkeit und Überbelegung von Wohnung zu reduzieren, insbesondere durch die Enteignung bürgerlicher Wohnungen. Doch ihre weiterreichenden Bestrebungen, eine neue städtische Umgebung zu schaffen, wurden durch die ungünstigen Bedingungen nach dem Aufstand vereitelt. Das Gleiche trifft auf viele andere Maßnahmen zu, die die Sowjetmacht dekretiert hatte: Verkürzung des Arbeitstages, Unterstützungszahlungen für Behinderte und Arbeitslose, drastische Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Das unmittelbare Ziel bestand darin, Russland auf den gleichen Standard zu heben, wie er in höher entwickelten bürgerlichen Staaten erreicht worden war. Aber auch hier wurde die neue Macht an der Einführung wirklicher Verbesserungen durch das Abführen gewaltiger Ressourcen an den Kriegsapparat gehindert.

6. 1920: Bucharin und die Übergangsperiode
(International Review Nr. 96)

Bucharin verfasste neben dem Programm der russischen Partei einen theoretischen Text über die Probleme der Übergangsperiode. Obgleich in vielerlei Hinsicht mit großen Fehlern behaftet, stellen einige Teile einen ernsthaften Beitrag zur marxistischen Theorie dar. Eine Untersuchung seiner Schwächen ermöglicht, die Probleme zu beleuchten, die er zu stellen versuchte. Bucharin hatte während des I. Weltkriegs der theoretischen Avantgarde der bolschewistischen Partei angehört. Sein Buch Imperialismus und Weltwirtschaft war zur gleichen Zeit wie Rosa Luxemburgs Untersuchung der neuen Epoche des kapitalistischen Niedergangs – Die Akkumulation des Kapitals – veröffentlicht worden. In seinem Buch zeigte Bucharin als einer der ersten auf, dass diese Phase eine neue Stufe in der Organisierung des Kapitals eröffnet hatte – die Stufe des Staatskapitalismus, die er hauptsächlich mit dem globalen militärischen Kampf zwischen imperialistischen Nationalstaaten verband. In seinem Artikel Hin zu einer Theorie des imperialistischen Staates vertrat Bucharin eine sehr fortschrittliche Position zur nationalen Frage (seine Position ähnelte der Position Rosa Luxemburgs über die Unmöglichkeit der nationalen Befreiung im Zeitalter des Imperialismus) und zur Frage des Staates. Er gelangte rascher als Lenin zur Position, die dieser in Staat und Revolution vertrat – die Notwendigkeit der Zerstörung des bürgerlichen Staatsapparates.

Diese Auffassungen wurden in seinem 1920 verfassten Buch Ökonomik der Transformationsperiode weiterentwickelt. In diesem Text bekräftigte Bucharin die marxistische Auffassung über die unvermeidliche Katastrophe sowie das gewaltsame Ende der Klassenherrschaft und somit über die notwendige proletarische Revolution als der einzigen Grundlage für den Aufbau einer neuen und höheren Produktionsweise. Gleichzeitig befasste er sich eingehender mit den Eigenschaften dieser neuen Phase der kapitalistischen Dekadenz. Er hatte eine Vorahnung von der wachsenden Tendenz des senilen Kapitalismus zur Verschwendung und Zerstörung der akkumulierten Produktivkräfte, unabhängig von dem damit verbundenen möglichen quantitativen „Wachstum“. Er zeigte ebenso auf, wie unter den Bedingungen des Staatskapitalismus die alten Arbeiterparteien und die Gewerkschaften „in den Staat integriert“ wurden, d.h. wie sie in einem unglaublich aufgeblähten kapitalistischen Staatsapparat absorbiert wurden.

In seinen groben Umrissen ist die Darstellung Bucharins der kommunistischen Alternative gegenüber diesem niedergehenden kapitalistischen System ziemlich eindeutig: eine weltweite Revolution, die sich auf die Eigenaktivität der Arbeiterklasse und ihrer neuen Kampforgane stützt – die Sowjets. Eine solche Revolution zielt darauf ab, die ganze Menschheit in eine vereinte Weltgemeinschaft zusammenzuführen, die die blinden Gesetze der Produktion in der Warenwirtschaft durch die bewusste Regelung des gesellschaftlichen Lebens ersetzt.

Doch die Mittel und Ziele der proletarischen Revolution müssen konkretisiert werden. Dies kann nur das Ergebnis einer lebendigen Erfahrung und des Nachdenkens sowie der Auswertung dieser Erfahrung sein. Hier liegt die Schwäche des Buches. Obgleich Bucharin 1918 der linkskommunistischen Tendenz in der bolschewistischen Partei angehörte, beschränkte sich diese Ausrichtung vor allem auf die Frage des Brest-Litowsker Waffenstillstandes. Im Gegensatz zu anderen Linkskommunisten wie etwa Ossinksi war er weitaus weniger im Stande, eine kritische Sichtweise über die Hauptanzeichen der Bürokratisierung des Sowjetstaates zu entwickeln. Im Gegenteil, sein Buch neigte eher dazu, als eine Rechtfertigung für den Status quo während des Bürgerkriegs zu dienen, da er vor allem eine theoretische Rechtfertigung für die Maßnahmen des Kriegskommunismus als Ausdruck eines echten Prozesses kommunistischer Umwälzung lieferte.

So bedeutete aus der Sicht Bucharins das (scheinbare) Verschwinden des Geldes und der Löhne während des Bürgerkrieges – was ein direktes Ergebnis des Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft war – die Überwindung der Ausbeutung und der Einzug einer Form des Kommunismus. Ähnlich machte er aus der bitteren Notwendigkeit des Mehrfrontenkrieges der Roten Armee, der der proletarischen Revolution in Russland aufgezwungen wurde, nicht nur eine Regel für die Phase der revolutionären Kämpfe, sondern gar ein Modell für die Ausdehnung der Revolution, die sich nunmehr in eine monumentale Schlacht zwischen kapitalistischen und proletarischen Ländern verwandelt habe. In dieser Hinsicht stand Bucharin mit seinem Standpunkt viel weiter rechts als Lenin, der niemals vergaß, dass die Ausdehnung der Revolution vor allem eine politische Aufgabe und nicht hauptsächlich eine militärische war.

Ironischerweise zeigte sich Bucharin, nachdem er eindeutig den Staatskapitalismus als die universelle Form der kapitalistischen Organisierung im Zeitalter des kapitalistischen Niedergangs identifiziert hat, blind gegenüber der Gefahr des Staatskapitalismus nach der proletarischen Revolution. Unter dem „proletarischen Staat“, unter dem System der „proletarischen Verstaatlichungen“ werde die Ausbeutung unmöglich werden. Der Umstand, dass der neue Staat der organische Ausdruck der historischen Interessen des Proletariats sei, sei für das Proletariat insofern vorteilhaft, als sämtliche Klassenorgane der Arbeiter im Staatsapparat verschmolzen und die ausgeprägtesten hierarchischen Praktiken bei der Verwaltung des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens wiederherstellt seien. Ihm fehlte jegliches Problembewusstsein, dass der Übergangsstaat, der ein Ausdruck der Notwendigkeit ist, eine nur vorübergehende Gesellschaftsformation zusammenzuhalten, eine konservative Rolle spielt und sich gar von den Interessen des Proletariats lösen könnte.

In der Zeit nach 1921 wandelte Bucharin sich schnell von einem Linken zu einem Anhänger eines rechten Kurses. Doch in Wirklichkeit gab es eine Kontinuität in dieser Entwicklung: die Neigung, sich dem Status quo anzupassen. Da sein Buch Die Ökonomik der Transformationsperiode ein Versuch war, zu erklären, dass das strenge Regime des Kriegskommunismus bereits das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse sei, bedeutete es einige Jahre später keinen großen Kurswechsel, als er erklärte, dass die Neue Ökonomische Politik NEP – die den Kräften des Marktes freien Lauf ließ, der in der vorhergehenden Phase lediglich in den Hintergrund getreten war – bereits die Vorstufe zum Sozialismus sei. Bucharin wurde mehr noch als Stalin zum Theoretiker des „Sozialismus in einem Land“. Dies kommt schon in der absurden Behauptung zum Ausdruck, dass die isolierte russische Bastion der Jahre 1918-20, in der das Proletariat durch den Bürgerkrieg dezimiert worden war und in der es sich der wachsenden neuen Bürokratie unterwerfen musste, bereits eine kommunistische Gesellschaft darstelle.

7. 1920: Das Programm der KAPD (International Review Nr. 97)

Die Isolierung der Revolution in Russland sollte sich negativ auf die politischen Positionen der neu gegründeten Kommunistischen Internationale auswirken, die ihre Klarheit, die sie auf ihrem Gründungskongress zum Ausdruck gebracht hatte, allmählich verlor, was insbesondere gegenüber den sozialdemokratischen Parteien deutlich wurde. Nachdem diese zuvor noch als Parteien der Bourgeoisie gebrandmarkt worden waren, begann die Komintern die Taktik der „Einheitsfront“ mit eben diesen Parteien zu praktizieren. Zum Teil manifestierte sich dies in dem Versuch, mehr Unterstützung für die isoliert gebliebene russische Bastion zu gewinnen. Es waren die linkskommunistischen Strömungen in einer Reihe von Ländern, insbesondere in Italien und Deutschland, die sich dem Aufkommen des Opportunismus in der Komintern vehement entgegenstellten. Einer der ersten Ausdrücke des wachsenden Opportunismus in der Komintern war Lenins Schrift Der „linke Radikalismus“ – Die Kinderkrankheit im Kommunismus. Seit seiner Veröffentlichung lieferte der Text die Grundlage für viele Verfälschungen und Verzerrungen über die Kommunistische Linke. Insbesondere zeigte sich dies im Falle der deutschen Linken um die KAPD, die 1920 aus der KPD ausgeschlossen wurde. Der KAPD wurde vorgeworfen, einer „sektiererischen“ Politik anheim zu fallen, weil sie die wirklichen Arbeitergewerkschaften willkürlich durch „revolutionäre Unionen“ ersetzen wollte. Ihr wurden vor allem anarchistische Tendenzen in der Frage des Parlamentarismus und der Rolle der Partei vorgeworfen.

In Wirklichkeit war die KAPD, die das Ergebnis eines tragischen und verfrühten Bruchs in der deutschen Partei war, nie eine homogene Organisation. Ihr gehörte eine Reihe von Mitgliedern an, die tatsächlich vom Anarchismus beeinflusst worden waren. Und als die revolutionäre Welle zurückgewichen war, sollte dieser Einfluss mit zum Auftauchen rätekommunistischer Ideen beitragen, die die Bewegung der Kommunisten in Deutschland stark prägten. Aber ein kurzer Blick auf ihr Programm zeigt, dass die KAPD in ihren besten Zeiten den damaligen Höhepunkt der marxistischen Klarheit verkörperte:

– Im Gegensatz zum Anarchismus ging ihr Programm von den objektiven, historischen Bedingungen des Weltkapitalismus aus: von der neuen, durch den Weltkrieg eröffneten Epoche der kapitalistischen Dekadenz. Es beharrte auf der Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei.

– Im Gegensatz zum Anarchismus unterstützte das Programm vorbehaltlos seine Solidarität mit der Russischen Revolution und bekräftigte die Notwendigkeit ihrer weltweiten Ausdehnung. Dabei wurde Deutschland ausdrücklich als Schlüsselelement für diese Perspektive hervorgehoben.

– Die Ablehnung des Parlamentarismus und der Gewerkschaften durch die KAPD stützte sich nicht auf irgendeinen zeitlosen Moralismus oder auf eine Besessenheit für Organisationsformen, sondern auf ein Verständnis der neuen Bedingungen, die die Epoche der proletarischen Revolution mit sich gebracht hatte, in der Parlamentarismus und Gewerkschaften nunmehr nur den Interessen des Klassenfeindes dienten.

– Dasselbe trifft auf die Befürwortung der Fabrikorganisationen und der Arbeiterräte durch die KAPD zu. Diese waren keine willkürlichen, von einer Handvoll Revolutionäre ausgedachten Formen, sondern konkrete organisatorische Erfahrungen aus der realen Klassenbewegung in der neuen Epoche. Auch wenn es noch keine vollständige Klarheit über das Wesen der Fabrikorganisationen geben konnte (die die KAPD immer noch als eine Art ständiger Vorläufer der Räte betrachtete, die sich auf ein politisches Minimalprogramm stützten), waren sie alles andere als ein künstliches Produkt der damaligen Zeit, sondern ein Zusammenschluss der kämpferischsten Arbeiter in Deutschland.

– Weit davon entfernt, parteifeindlich zu sein, bekräftigte das Programm (das durch die Thesen zur Rolle der Partei in der Revolution untermauert wurde) deutlich die unabdingbare Rolle der Partei als ein Kern der kommunistischen Kompromisslosigkeit und Klarheit gegenüber der allgemeinen Klassenbewegung.

– Ebenso verteidigte das Programm ohne Zögern die marxistische Auffassung über die Diktatur des Proletariats.

Hinsichtlich der praktischen Maßnahmen befand sich das Programm der KAPD in direkter Kontinuität mit dem Programm der KPD, insbesondere in seinem Aufruf zur Auflösung aller parlamentarischen und Gemeindeorgane und zu ihrer Ersetzung durch ein zentralisiertes System der Arbeiterräte. Das Programm der KAPD von 1920 war dagegen in den Fragen der internationalen Aufgaben der Revolution klarer. Es rief zum Beispiel zum unmittelbaren Zusammenschluss mit anderen Sowjetrepubliken auf. Des Weiteren befasste es sich näher mit dem ökonomischen Inhalt der Revolution. Es betonte die Notwendigkeit unmittelbarer Schritte zur Ausrichtung der Produktion auf die Bedürfnisse (auch wenn wir der Behauptung des Programms widersprechen, dass allein die Bildung eines „sozialistischen Wirtschaftsblocks“ mit Russland einen bedeutenden Schritt zum Kommunismus bewirken könne). Schließlich warf das Programm einige „neue“ Themen auf, die im Programm der KPD von 1918/1919 nicht behandelt worden waren, wie das proletarische Vorgehen gegenüber der Kunst, Wissenschaft, Erziehung und Jugend. Dies zeigt, dass die KAPD weit davon entfernt war, eine Strömung zu sein, die die Arbeiterklasse mystifizierte. Sie befasste sich im Gegenteil mit all den Fragen, die durch die kommunistische Umwälzung der Gesellschaft aufgeworfen wurden.

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [10]

Internationale Revue 42

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Internationale Revue 42

Dekadenz des Kapitalismus (1)

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Die Revolution ist seit einem Jahrhundert notwendig und möglich

1915, als die abscheuliche Realität des europäischen Krieges immer offensichtlicher wurde, schrieb Rosa Luxemburg „Die Krise der Sozialdemokratie“, einen Text, besser bekannt als Junius-Broschüre, abgeleitet von dem Pseudonym, unter welchem Luxemburg ihn publizierte. Das Pamphlet wurde im Gefängnis geschrieben und illegal durch die Gruppe Die Internationale verteilt, welche sich sofort nach Ausbruch des Krieges formierte. Es war eine flammende Anklage gegen die Positionen, welche sich die Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zueigen machte. An dem Tag, an dem die Feindseligkeiten begannen, am 4. August 1914, verriet die SPD ihre internationalistischen Prinzipien und stellte sich auf die Seite des der Vaterlandsverteidiger, indem sie zur Einstellung des Klassenkampfes und zur Partizipation im Krieg aufforderte. Das war ein fataler Rückschlag für die internationale sozialistische Bewegung, war die SPD doch der Stolz der ganzen Zweiten Internationale. Anstatt als Fanal der internationalen Arbeitersolidarität zu fungieren, wurde ihre Kapitulation vor der Kriegstreiberei als Rechtfertigung für ähnlich verräterische Aktionen in anderen Ländern benutzt. Das Resultat war der schändliche Kollaps der Internationalen.

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Der Erste Weltkrieg: Ein Wendepunkt der Geschichte

Die SPD formierte sich in den 1870ern als eine marxistische Partei und symbolisierte damit den wachsenden Einfluss des „wissenschaftlichen Sozialismus“ innerhalb der Arbeiterbewegung. An der Oberfläche blieb die SPD von 1914 dem marxistischen Credo treu, sogar als sie dessen Geist mit Füssen trat. Hatte nicht schon Marx seiner Tage vor der Gefahr des zaristischen Absolutismus, des Hauptpfeilers der Reaktion in Europa, gewarnt? Wurde nicht die Erste Internationale an einer Versammlung zur Unterstützung des Kampfes für die Unabhängigkeit Polens vom zaristischen Joch gegründet? Hatte nicht Engels, obwohl er vor der Gefahr eines Krieges in Europa warnte, dennoch die Ansicht vertreten, dass die deutschen Sozialisten eine „revolutionär defensive“ Position einnehmen sollten im Falle einer franko-russischen Aggression gegen Deutschland? Und nun rief die SPD auf zur nationalen Einheit um jeden Preis angesichts der Hauptbedrohung durch die Macht des zaristischen Despotismus, dessen Sieg, wie sie meinte, all die politischen und ökonomischen Errungenschaften rückgängig machen würde, welche die Arbeiterklasse durch Jahre geduldigen und zähen Kampfes erreicht hatte. Die SPD präsentierte sich also als legitimen Erben von Marx und Engels und deren resoluten Verteidigung all dessen, was progressiv war in der Europäischen Zivilisation.

Aber mit den Worten Lenins, eines anderen Revolutionärs, der nicht zögerte, den Verrat der „Sozialchauvinisten“ zu denunzieren: „Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ vergisst – diese Worte die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoise beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution – der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche“<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]-->. Luxemburg argumentierte exakt gleich. Der Krieg war nicht von derselben Art Krieg wie ihn Europa in der Mitte des letzten Jahrhunderts erlebt hatte. Jene Kriege waren kurz, begrenzt im Raum und in ihren Zielen und wurden meist zwischen professionellen Armeen ausgefochten; und, was wichtiger ist, der europäische Kontinent erlebte seit dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 eine noch nie dagewesene Ära des Friedens, der ökonomischen Expansion und eines stetigen Anstiegs des Lebensstandards. Hinzu kommt, dass jene Kriege, fern davon, ihre Antagonisten zu ruinieren, öfter dazu dienten, den Prozess der kapitalistischen Expansion zu beschleunigen, indem sie feudale Hindernisse der nationalen Einheit wegfegten und neuen Nationalstaaten erlaubten, sich als Rahmen geeignet für die Entwicklung des Kapitalismus zu konstituieren (die französischen Revolutionskriege und die Kriege zur Vereinigung Italiens sind klare Beispiele).

Solche Kriege – nationale Kriege, welche immer noch eine progressive Rolle für das Kapital selbst spielen konnten – gehörten der Vergangenheit an. Mit seiner mörderischen Zerstörungswut – 10 Millionen Menschen verschwanden auf den Schlachtfeldern Europas, beinahe alle von ihnen innerhalb eines blutigen und unnützen Patts; gleichzeitig starben Millionen von Zivilisten, vor allem als Resultat der Misere und des Hungers, welche der Krieg mit sich brachte. Mit dieser globalen Zerstörungswut als der eines Krieges zwischen weltumspannenden Imperien, und ebenso mit seinen praktisch unbegrenzten Zielen von Eroberung und totaler Niederlage des Feindes; mit seinem Charakter eines „totalen“ Krieges, welcher nicht nur Millionen von wehrpflichtigen Proletariern für die Front mobilisierte, sondern auch noch den Schweiß und das Blut von Millionen Arbeitern im Hinterland forderte, war dies ein Krieg neuen Typs, der die Vorhersagen der herrschenden Klasse zum Schweigen brachte, dass „alles an Weihnachten vorbei sei“. Das monströse Blutbad des Krieges wurde natürlich beträchtlich durch die hoch entwickelten technologischen Mittel der Kriegsparteien intensiviert, und die Tatsache, dass Letztere die Strategien und Taktiken klassischer Kriegsschulen längst überholt hatten, erhöhte die Abschlachtung noch weiter. Aber die Barbarei des Krieges widerspiegelte etwas viel tiefer Liegendes als die technologische Entwicklung des bürgerlichen Systems. Sie war ein Ausdruck einer Produktionsweise, welche in eine fundamentale historische Krise eintrat und damit die obsolete Natur der kapitalistischen sozialen Beziehungen enthüllte und die Menschheit vor die Alternative stellte: sozialistische Revolution oder Rückfall in die Barbarei. Daher eine der meist zitierten Passagen der Junius-Broschüre:

„Friedrich Engels sagte einmal: ‚Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.‘ Was bedeutet ein ‚Rückfall in die Barbarei‘ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig, wenn die nun begonnene -Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.

In diesem Kriege hat der Imperialismus gesiegt. Sein blutiges Schwert des Völkermordes hat mit brutalem Übergewicht die Waagschale in den Abgrund des Jammers und der Schmach hinab gezogen. Der ganze Jammer und die ganze Schmach können nur dadurch aufgewogen werden, dass wir aus dem Kriege und im Kriege lernen, wie das Proletariat sich aus der Rolle eines Knechts in den Händen der herrschenden Klassen zum Herrn des eigenen Schicksals aufrafft.“

Diese epochale Wendung machte Marx’ Argumente für die Unterstützung nationaler Unabhängigkeit obsolet (welche er für die fortgeschrittenen europäischen Länder bereits nach der Pariser Kommune zu toten Buchstaben erklärte). Es konnte nicht mehr die Rede davon sein, sich die fortgeschrittenste Nation auszusuchen in diesem Konflikt, weil -nationale Konflikte selbst jegliche progressive Funktion verloren hatten und zu blossen Instrumenten imperialistischer Eroberung und des kapitalistischen Dranges zur Katastrophe wurden:

„Das nationale Programm hatte nur als -ideologischer Ausdruck der aufstrebenden, nach der Macht im Staate zielenden Bourgeoisie eine geschichtliche Rolle gespielt, bis sich die bürgerliche Klassenherrschaft in den Großstaaten Mitteleuropas schlecht und recht zurechtgesetzt, sich in ihnen die nötigen Werkzeuge und Bedingungen geschaffen hat.

Seitdem hat der Imperialismus das alte bürgerlich-demokratische Programm vollends zu Grabe getragen, indem er die Expansion über nationale Grenzen hinaus und ohne jede Rücksicht auf nationale Zusammenhänge zum Programm der Bourgeoisie aller Länder erhoben hat. Die nationale Phrase freilich ist geblieben. Ihr realer Inhalt, ihre Funktion ist aber in ihr Gegenteil verkehrt; sie fungiert nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen und als Kampfschrei imperialistischer Rivalitäten, als einziges und letztes ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können.“

Nicht nur änderte sich die „nationale Taktik“ – auch alles andere wurde gründlich verändert durch den Krieg. Es gab kein Zurück mehr in die Epoche, wo die Sozialdemokratie geduldig und systematisch für seine Etablierung kämpfte, genauso wie das Proletariat in seiner Gesammtheit, das sich als organisierte Kraft innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft etabliert hatte.

„Eins ist sicher: der Weltkrieg ist eine Weltwende. Es ist ein törichter Wahn, sich die Dinge so vorzustellen, dass wir den Krieg nur zu überdauern brauchen, wie der Hase unter dem Strauch das Ende des Gewitters abwartet, um nachher munter wieder in alten Trott zu verfallen. Der Weltkrieg hat die Bedingungen unseres Kampfes verändert und uns selbst am meisten. Nicht als ob die Grundgesetze der kapitalistischen Entwicklung, der Krieg zwischen Kapital und Arbeit auf Tod und Leben eine Abweichung oder eine Milderung erfahren sollten. Schon jetzt, mitten im Kriege, fallen die Masken, und es grinsen uns die alten bekannten Züge an. Aber das Tempo der Entwicklung hat durch den Ausbruch des imperialistischen Vulkans einen gewaltigen Ruck erhalten, die Heftigkeit der Auseinandersetzungen im Schosse der Gesellschaft, die Grösse der Aufgaben, die vor dem sozialistischen Proletariat in unmittelbarer Nähe ragen – sie lassen alles bisherige in der Geschichte der Arbeiterbewegung als sanftes Idyll erscheinen.“ (Kapitel „Sozialismus oder Barbarei“)

Diese Aufgaben waren enorm, da sie mehr als nur die kurzsichtige Verteidigung gegen die Ausbeutung verlangten, sondern zu einem offensiven, revolutionären Kampf riefen, um die Ausbeutung ein für alle Mal zu beseitigen, um „im sozialen Leben des Menschen einen bewussten Gedanken zu etablieren, einen bestimmten Plan, den freien Willen der Menschheit“. Rosa Luxemburgs Bestehen auf der Eröffnung einer radikal neuen Epoche im Kampf der Arbeiterklasse wurde bald zu einer allseits anerkannten Richtlinie der internationalen revolutionären Bewegung, welche wieder auferstand von den Ruinen der So-
zialdemokratie und welche 1919 die Weltpartei der proletarischen Revolution gründete – die Kommunistische Internationale. An ihrem ersten Kongress in Moskau proklamierte die Komintern: „Eine neue Epoche ist geboren! Die Epoche des Zerfalls des Kapitalismus, seines inneren Kollapses. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“ Und sie ging genauso mit Luxemburg darin einig, dass wenn die proletarische Revolution – welche zu diesem Zeitpunkt ihren globalen Höhepunkt erreichte im Gefolge des Oktoberaufstandes in Russland und der revolutionären Welle, welche durch Deutschland, Ungarn und viele andere Länder rollte – den Kapitalismus nicht würde besiegen können, würde die Menschheit in einen weiteren Krieg gestürzt, in eine eigentliche Epoche nicht endenden Krieges, die die ganze Zukunft der menschlichen Kultur in Frage stellen würde.

Beinahe 100 Jahre später ist der Kapitalismus immer noch hier und ist, gemäß der offiziellen Propaganda, die einzig mögliche Form sozialer Organisation. Was wurde aus Luxemburgs Dilemma zwischen Sozialismus und Barbarei? Gemäß dem ideologischen Mainstream wurde der Sozialismus im
20. Jahrhundert ausprobiert und scheiterte. Die großen Hoffnungen, welche die Russische Revolution 1917 weckte, wurden zerschmettert im Stalinismus und zusammen mit dessen Opfern nach dem Kollaps des Ostblocks Ende der 1980er Jahre zu Grabe getragen. Nicht nur stellte sich der Sozialismus bestenfalls als Utopie und schlechtestenfalls als Alptraum dar. Sogar der Kampf der Arbeiterklasse, welcher für Marxisten dessen Grundlage war, verschwand in einem formlosen Nebel einer „neuen“ Form des Kapitalismus, gestützt nicht von einer ausgebeuteten Klasse von Produzenten, sondern von einer unendlichen Masse von Konsumenten und einer Ökonomie, welche oft eher virtuell denn materiell ist.

Das will man uns glauben machen. Ohne Zweifel wäre Luxemburg, könnte sie von den Toten wieder auferstehen, ziemlich überrascht, dass die kapitalistische Zivilisation den Planeten immer noch beherrscht. In einem weiteren Artikel werden wir die Mittel untersuchen, mit welchen sich das System trotz der Schwierigkeiten, mit welchen es im letzten Jahrhundert konfrontiert wurde, am Leben bleiben konnte. Aber wenn wir die verzerrende Brille der dominanten Ideologie wegwerfen und mit einem Minimum an Seriosität den Kurs betrachten, den das letzte Jahrhundert genommen hat, dann werden wir sehen, dass sich die Prognose Rosa Luxemburgs und der Mehrheit der damaligen revolutionären Sozialisten als richtig heraus stellte. Diese Epoche war – ohne den Sieg der proletarischen Revolution – bereits die barbarischste in der menschlichen Geschichte und birgt die Drohung eines noch tieferen Abstiegs in die Barbarei in sich, dessen letzte Konsequenz nicht nur der „Kollaps der Zivilisation“ sein könnte, sondern die Ausrottung menschlichen Lebens auf dem Planeten überhaupt.

Die Epoche der Kriege und Revolutionen

1915 war nur eine Minderheit der Sozialisten klar gegen den Krieg. Trotzki scherzte, dass die Internationalisten, welche sich in jenem Jahr in Zimmerwald trafen, alle in ein Taxi passen würden. Aber Zimmerwald selbst war ein Zeichen, dass sich etwas regte in der internationalen Arbeiterklasse. Die Unzufriedenheit mit dem Krieg, sowohl an, als auch hinter der Front, wurde immer offensichtlicher. Beweise dafür waren Streiks in Deutschland und England sowie die Arbeiterdemonstrationen in Deutschland zur Feier der Freilassung Karl Liebknechts, Luxemburgs Genosse, dessen Name zum Synonym für den Slogan „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ geworden war. Im Februar 1917 brach die Revolution aus in Russland und brachte die Herrschaft der Zaren an ihr Ende. Aber fern davon, ein russisches 1789, eine verspätete bürgerliche Revolution zu sein, machte der Februar nur den Weg für den Oktober frei: Die Machtübernahme der in Sowjets organisierten Arbeiterklasse und verkündete den ersten Schritt in Richtung Weltrevolution, welche nicht nur den Krieg sondern den Kapitalismus selbst beenden würde.

Die Russische Revolution steht oder fällt mit der Weltrevolution, wie Lenin und die Bolschewiki immer wieder unterstrichen. Und zuerst schien es, als würde ihr Ruf zu den Waffen beantwortet: Meutereien in der französischen Armee 1917 und die Revolution in Deutschland 1918 zwingen die bürgerlichen Regierungen der Welt zu einem hastigen Frieden um das Ausbreiten des bolschewistischen Geistes zu verhindern; Sowjetrepubliken entstehen 1919 in Bayern und Ungarn; Generalstreiks brechen aus in Seattle und Winnipeg; Panzer fahren auf als Antwort auf die Arbeiterunruhen in Clyde im selben Jahr; 1920 werden Fabriken besetzt in Italien. Das war eine offensichtliche Bestätigung der Ansicht der Komintern, dass die neue Ära eine Ära der Kriege und Revolutionen sein würde. Indem der Kapitalismus die Menschheit auf den Pfad von Zerstörung und Militarismus brachte, beförderte er auch die Notwendigkeit der proletarischen Revolution.

Aber das Bewusstsein der dynamischsten und weitsichtigsten Elemente der Arbeiterklasse, der Kommunisten, fällt selten zusammen mit dem Bewusststeinsniveau der Klasse als Ganzes. Die Mehrheit der Klasse verstand noch nicht, dass es kein zurück gab in die alte Ära der friedlichen, schrittweisen Reformen. Sie wollten zuallererst das Ende des Krieges und obwohl sie die Bourgeoisie dazu zwingen mussten, profitierte diese trotzdem von dem Gedanken, dass es möglich sei zum „Status quo ante bellum“ zurück zu kehren, wenn auch mit einigen als Errungenschaften der Arbeiter präsentierten Änderungen: In England kamen „homes fit for heroes“, das Frauenwahlrecht und die vierte Klausel im Labour-Programm, welche die Nationalisierung der Kommandohöhen der Wirtschaft versprach. In Deutschland, wo die Revolution bereits Form angenommen hatte, waren die Versprechungen radikaler. Ausdrücke wie Sozialisation und Arbeiterräte kamen ins Spiel, zusammen mit der Abdankung des Kaisers und der Gründung der Republik auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts.

Es waren fast ausschließlich die Sozialdemokraten, die deutsche „Arbeiterpartei“, diese vertrauenswürdigen Spezialisten des Reformismus, welche diese Illusionen an die Arbeiter verkauften. Illusionen, welche es ihnen ermöglichten zu behaupten, sie seien auf der Seite der Revolution, während sie Hand in Hand mit proto-faschistischen Banden die wahren Arbeiterrevolutionäre von Berlin und München massakrierten, inklusive Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Zur selben Zeit unterstützten die Sozialdemokraten die wirtschaftliche Strangulation und die militärische Offensive gegen die Sowjetmacht in Russland mit der trügerischen Rechtfertigung, dass die Bolschewiki den natürlichen Lauf der Geschichte untergruben, indem sie in einem rückständigen Land mit nur einer Minderheit von Arbeitern eine Revolution erzwungen hätten und so gegen die heiligen Prinzipien der Demokratie verstießen.

Zusammengefasst wurde die revolutionäre Welle mit einem Mix aus List und brutaler Repression in einer Serie separater Niederlagen zurück geschlagen. Abgeschnitten vom Sauerstoff der Weltrevolution, begann die Revolution in Russland zu ersticken und sich selbst aufzufressen. Die Vorgänge in Kronstadt, wo unzufriedene Arbeiter und Matrosen Neuwahlen für die Sowjets forderten und von der bolschewistischen Regierung zusammengeschossen wurden, stehen als Symbol für diese Wende. Der „Gewinner“ dieses Prozesses innerer Degeneration war Stalin und sein erstes Opfer die bolschewistische Partei selbst, endgültig und unwiderruflich transformiert in ein Instrument einer neuen Staats-Bourgeoisie, welche jegliche interna-tionalistischen Ambitionen zu Gunsten der betrügerischen Vorstellung eines „Sozialismus in einem Land“ aufgegeben hatte.

So überlebte der Kapitalismus also den Schock der revolutionären Welle, trotz der Nachbeben wie des Generalstreiks in England 1926 oder des Arbeiteraufstandes 1927 in Shanghai. Er gedachte fest, zur Normalität zurück zu kehren. Während des Krieges wurden die Prinzipien von Profit und Verlust temporär (und teilweise) ausgesetzt, als die ganze Produktion in die Kriegsmaschinerie gesteckt wurde und der Zentralstaat die Kontrolle über ganze Sektoren der Wirtschaft übernahm. In einem Report zuhanden des dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale beschrieb Trotzki, wie der Krieg eine neue Funktionsweise für das kapitalistische System initiierte, welches hauptsächlich auf staatlicher Regulierung der Wirtschaft und der Generierung ganzer Berge von Schulden, von fiktivem Kapital, basierte: „Kapitalismus als ökonomisches System ist, das wissen sie, voller Widersprüche. Während der Kriegsjahre erreichten diese Widersprüche monströse Ausmaße. Um die für den Krieg nötigen Ressourcen zu bekommen, griff der Staat primär zu zwei Maßnahmen: Erstens, die Ausgabe von Papiergeld; Zweitens, das Ingangbringen von Anleihen. So trat eine immer größer werdende Anzahl so genannter „Wertpapiere“ (Sicherheiten) in die Zirkulation, während der Staat die realen Materialwerte aus dem Land schuf, um sie im Krieg zu zerstören. Umso größer die durch den Krieg verschlungenen Summen, desto größer der Umfang des Pseudo-Reichtums, der im Land akkumulierten fiktiven Werte. Staatsanleihen wuchsen ins Unermessliche. Oberflächlich konnte es scheinen, als sei das Land extrem reich geworden, aber in Wirklichkeit wurde der Boden unter der Wirtschaft weggezogen, wurde die Wirtschaft durchgeschüttelt und an den Rand des Kollapses gebracht. Staatsschulden kletterten auf ungefähr 1’000 Milliarden, die zu den ca. 62 Prozent, der nationalen Ressourcen, der kriegsführenden Ländern, hizukommen. Vor dem Krieg umfasste die weltweite Summe des Papier –und Kreditgeldes ungefähr 28 Milliarden Goldmark, heute zwischen 220 und 280 Milliarden, d.h. das Zehnfache. Und das noch ohne Russland, da wir nur über die kapitalistische Welt reden. All das gilt primär, wenn nicht ausschließlich, für die europäischen Länder, hauptsächlich Kontinentaleuropa und teilweise Zentraleuropa. Allgemein betrachtet hüllt sich Europa, ärmer und ärmer werdend – wie es bis zu diesem Tag geschieht –, in immer dickere Schichten von Papierwerten, oder anders gesagt, von fiktivem Kapital. Dieses fiktive Kapital – Papierwährung, Schatzbriefe, Kriegsanleihen, Bankanleihen und so weiter – repräsentierte entweder das Andenken toten Kapitals oder die Erwartung noch zu kommenden Kapitals. Aber zur gegenwärtigen Zeit entspricht es in keiner Weise real existierendem Kapital. Wie auch immer, es funktioniert als Geld und als Kapital und dies tendiert dazu, ein völlig verzerrtes Bild der Gesellschaft und der modernen Wirtschaft als Ganzes zu geben. Je ärmer diese Wirtschaft wird, umso reicher scheint das Bild im Spiegel dieses fiktiven Kapitals. Gleichzeitig bedeutet die Bildung dieses fiktiven Kapitals, wie wir sehen werden, dass die Klassen unterschiedlich in der Verteilung des graduell zusammengeschnürten Nationaleinkommens –und Vermögens Anteil nehmen. Das Nationaleinkommen wurde, genau wie das Nationalvermögen aber weniger stark, zusammengeschnürt. Die Erklärung dafür ist denkbar einfach: Die Kerze der kapitalistischen Wirtschaft wurde von beiden Seiten her abgebrannt.“

Solche Methoden waren ein Zeichen dafür, dass der Kapitalismus nur noch funktionieren konnte, indem er seiner eigenen Gesetze spottete. Die neuen Methoden wurden „Kriegssozialismus“ genannt, waren aber tatsächlich ein Instrument um den Kapitalismus am Leben zu erhalten in einer Ära, in welcher dieser bereits obsolet geworden war. Und somit waren diese Methoden eine verzweifelte Verteidigung gegen den Sozialismus, gegen den Aufstieg einer höheren sozialen Produktionsweise. Aber obwohl der „Kriegssozialismus“ als für den Sieg notwendig erachtet wurde, wurde er gleich danach umgehend demontiert.

Die Nachkriegsperiode bestätigte eine andere fundamental neue Charakteristik des imperialistischen Krieges. Während die Kriege des 19. Jahrhunderts ökonomisch normalerweise „Sinn machten“, also in einem Entwicklungsschub der Gewinnerseite resultierten, führten die gigantischen Materialkosten des Weltkrieges zu einer Schrumpfung, wenn nicht sogar zum totalen Ruin, der Wirtschaft sowohl des Gewinners als auch des Unterlegenen. Eine unstete Periode des Wiederaufbaus begann im kriegsversehrten Europa der frühen 20er Jahre, aber die Wirtschaft der alten Welt blieb träge: die spektakulären Wachstumsraten, welche die ersten kapitalistischen Länder vor dem Weltkrieg erreicht hatten, wurden nicht mehr erreicht. Arbeitslosigkeit wurde zu einem fixen Bestandteil der Wirtschaft in Ländern wie England, während die deutsche Wirtschaft, blankgescheuert von verwerflichen Reparationszahlungen, alle bisherigen Inflationsrekorde brach und nur noch durch Kredite flott gehalten wurde.

Die wichtigste Ausnahme war Amerika, welches während des Krieges prosperierte indem es, wie Trotzki es im selben Bericht nannte, den Quartiermeister Europas spielte. Es war nun definitiv die grösste Wirtschaftsmacht der Welt und profitierte genau davon, dass seine Rivalen von den gigantischen Kriegskosten, den sozialen Unruhen nach dem Krieg und dem effektiven Verschwinden des russischen Marktes zu Boden gedrückt wurden. Für Amerika war es das Zeitalter des Jazz, die goldenen Zwanziger: die Bilder der „Flapper“ und des in Henry Fords Fabriken massenproduzierten Modells T spiegelten die Realität der schwindelerregenden Wachstumsraten wider. Nachdem es das Ende der internen Expansion erreicht und von der Stagnation der alten europäischen Mächte profitiert hatte, überfielen amerikanisches Kapital und amerikanische Waren den Globus, überschwemmten sowohl Europa als auch die unterentwickelten und oft noch vorkapitalistischen Regionen. Vom Netto-Schuldner des 19. Jahrhunderts wurden die USA zum weltgrößten Kreditgeber – es waren hauptsächlich amerikanische Kredite, welche Deutschland auf den Beinen hielten in den 1920ern. Obwohl die US-Landwirtschaft zum großen Teil hinter dem Boom zurück blieb, gab es ein wahrnehmbares Wachstum der Konsumkraft der urbanen und proletarischen Bevölkerung. All das war offensichtlich der Beweis, dass man zum laissez-faire-Kapitalismus zurückkehren konnte, der im 19. Jahrhundert eine solch außergewöhnliche Expansion mit sich gebracht hatte. Die beruhigende Theorie von Calvin Coolidge hatte triumphiert. Und so wandte sich der Präsident im Dezember 1928 an den Kongress:

„Kein jemals zur Evaluation des „State of the Union“ zusammen gekommener Kongress der Vereinigten Staaten traf eine gefälligere Aussicht als jene, welche sich zur Zeit bietet. In der Innenpolitik herrscht Ruhe und Zufriedenheit, harmonische Beziehungen zwischen Management und Lohnempfängern, Freiheit von industriellem Hader und die höchstem Wachstumsraten seit Jahren. In der Außenpolitik herrscht Frieden, guter Wille zu gegenseitigem Verständnis und das Wissen, dass die kurz zuvor noch riesig erscheinenden Probleme zu einer echten Freundschaft führen. Der große Reichtum, der von unseren Unternehmungen und Industrie kreiert und von unserer Wirtschaft bewahrt wurde, fand die weiteste Verteilung unter unserem Volk und geht hinaus in einem stetigen Strom, um der Wohltätigkeit und der Wirtschaft der Welt zu dienen. Die Existenzgrundlagen gingen über den Standard der Notwendigkeit hinaus in die Sphäre des Luxus. Wachsende Produktion wird konsumiert von einer erhöhten Nachfrage im Innern und einem expandierenden Handel im Äußern. Das Land kann der Gegenwart mit Zufriedenheit und der Zukunft mit Optimismus entgegen schauen.“

Die berühmten letzten Worte! 1929 dann der Crash. Das fieberhafte Wachstum der US-Wirtschaft erreichte die Grenzen des Marktes und manche von jenen, welche an das unbegrenzte Wachstum, an ewige kapitalistische Märkte glaubten und all ihre Ersparnisse auf der Basis dieser Mythologie investierten, sprangen nun von Wolkenkratzern. Darüber hinaus war dies keine Krise wie diejenigen des 19. Jahrhunderts mit ihrer Regelmäßigkeit, dass es möglich wurde, von „Zehnjahreszyklen“ zu reden. In jener Zeit wurden nach einer kurzen Baisse neue Märkte auf der ganzen Welt gefunden und neue noch stärkere Wachstumsphasen setzten ein. Außerdem waren die Krisen der 1870er Jahre bis 1914, einer Zeit charakterisiert von beschleunigten imperialistischen Kämpfen zur Eroberung der noch verbleibenden nicht-kapitalistischen Regionen, bei weitem weniger gewaltig, obwohl sie das Zentrum des Systems betrafen, als diejenigen Krisen, welche den Kapitalismus in seiner Jugend trafen. Und das trotz des Geredes um die „große Depression“ der 1870er und 1890er Jahre, welche in gewissem Ausmaß das Ende der britischen Vorherrschaft über die Weltwirtschaft widerspiegelte.

Auf keinen Fall aber ist ein Vergleich möglich zwischen den ökonomischen Problemen des 19. Jahrhunderts und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Es war ein qualitativ neues Level: die Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation änderten sich fundamental. Es war eine weltweite Depression. Von ihrem Ausgangspunkt, den USA, traf sie das fast vollständig von Amerika abhängige Deutschland und das restliche Europa. Die Krise war ebenso zerstörerisch in den Kolonien oder semi-abhängigen Regionen, welche von ihren imperialistischen „Besitzern“ genötigt waren die Produkte zu produzieren, welche in den Metropolen nachgefragt wurden. Der plötzliche Sturz der Weltmarktpreise ruinierte die Mehrheit dieser Regionen.

Als Maßstab für das Ausmaß der Krise kann die Tatsache genommen werden, dass die Weltproduktion während des Ersten Weltkrieges um 10% sank, als Resultat der Krise jedoch um nicht weniger als 36.2%<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]-->. In den USA, welche stark vom Krieg profitiert hatten, fiel die industrielle Produktion um 53.8%. Schätzungen zur Arbeitslosigkeit variieren, aber nach Sternbergs Quellen waren es 40 Millionen in den wichtigen kapitalistischen Ländern. Der Rückgang des Welthandels war ähnlich katastrophal, er sank auf einen Drittel des vor-1929-Levels. Aber der hauptsächliche Unterschied zwischen der Weltwirtschaftskrise und den Krisen des 19. Jahrhunderts war, dass es keinen Automatismus mehr gab, der zu einem neuen Expansionszyklus in bisher nicht-kapitalistische Regionen des Globus geführt hätte. Die Bourgeoisie begriff bald, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes die Wirtschaft sobald nicht mehr heilen würde. Also musste sie den naiven Liberalismus eines Coolidge oder Hoover über Bord werfen und erkennen, dass der Staat fortan despotisch in die Wirtschaft würde eingreifen müssen, um das kapitalistische System zu bewahren. Diese Erkenntnis wurde hauptsächlich von Keynes in die Form einer Theorie gegossen. Keynes verstand, dass der Staat serbelnde Industrien aufpeppen musste und einen künstlichen Markt kreieren sollte, um die Unfähigkeit des Systems, sich neue Märkte zu erschliessen, zu kompensieren: das war die Bedeutung der massiven „öffentlichen Arbeiten“ von Roosevelts New Deal, der Unterstützung der neuen CIO Gewerkschaften zur Vereinfachung der Ankurbelung der Konsumnachfrage und so weiter. In Frankreich nahm die neue Politik die Form der Volksfront an. In Deutschland und Italien stand der Faschismus genauso für diese neu Politik wie in Russland der Stalinismus. Die zugrunde liegende Bedeutung war dieselbe. Die neue Epoche des Kapitalismus war die Epoche des Staatskapitalismus.

Aber Staatskapitalismus existiert in keinem Land isoliert vom Rest. Im Gegenteil ist er definiert durch die Notwendigkeit die nationale Wirtschaft in Konkurrenz mit anderen Nationen zu zentralisieren und zu verteidigen. In den 30ern hatte dies einen ökonomischen Aspekt – Protektionismus wurde als Mittel gesehen, die eigenen Märkte und Industrien gegen den Übergriff von Industrien und Märkten anderer Länder zu beschützen. Aber es hatte einen noch signifikanteren militärischen Aspekt, da die ökonomische Konkurrenz das Abgleiten in einen weiteren Weltkrieg beschleunigte. Staatskapitalismus ist in seiner Essenz eine Kriegsökonomie. Der Faschismus, welcher laut mit den Vorteilen des Krieges prahlte, war der offensichtlichste Ausdruck dieser Tendenz. Unter dem Hitlerregime reagierte das deutsche Kapital auf seine schwere wirtschaftliche Situation mit dem Einstieg in eine wahnsinnige Wiederaufrüstung. Dies hatte den „Vorteil“, die Arbeitslosigkeit rapide zu senken. Aber das war nicht das Ziel der Kriegsökonomie selbst; viel mehr war es ihr Ziel, sich auf eine neue gewalttätige Aufteilung der Märkte vorzubereiten. In ähnlicher Weise bereitete sich das stalinistische System in Russland mit seiner rücksichtslosen Unterordnung des proletarischen Lebensstandards unter die Produktion der Schwerindustrie darauf vor, eine militärische Macht zu werden, mit der man rechnen musste. Zusammen mit Nazideutschland und dem militaristischen Japan (welches schon mitten in einer militärischen Kampagne zur Eroberung der Mandschurei 1931 und des Restes von China 1937 stand) war der „Erfolg“ dieser Regime, der ökonomischen Krise zu entkommen, direkt verbunden mit ihrem Willen, alle Produktion den Bedürfnissen des Krieges zu unterordnen. Die Entwicklung einer Kriegswirtschaft war aber auch der wahre Hintergrund der massiven öffentlichen Programme in den Ländern des „New Deals“ und der Einheitsfront. Diese waren einfach um einiges langsamer darin, ihre Fabriken auf die massive Produktion von Waffen und Kriegsmaterial auszurichten.

Victor Serge beschrieb die Zeit der 30er Jahre einmal als „Mitternacht des Jahrhunderts“. Nicht weniger als der Erste Weltkrieg bewies die Krise von 1929 die Senilität der kapitalistischen Produktionsweise. Hier hatte man in einem viel größeren Ausmaß als im
19. Jahrhundert eine „Epidemie, welche in allen vorangegangenen Epochen absurd erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion“
<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]-->. Millionen hungerten und wurden in eine erzwungene Untätigkeit geworfen. Nicht weil die Fabriken und Felder zu wenig produzierten, sondern weil „zu viel“ produzierten als dass es der Markt noch hätte absorbieren können. Es war eine weitere Bestätigung der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.

Aber der erste Versuch des Proletariats, die historische Notwendigkeit herbeizuführen, war in den späten 20ern definitiv besiegt und überall triumphierte die Konterrevolution. Diese erreichte die schrecklichste Ausprägung genau in den Ländern, in welchen die Revolution am weitesten gekommen war. In Russland nahm sie die Form der Arbeitslager und Massenexekutionen an; die Deportation ganzer Volksgruppen, vorsätzliches zu Tode Hungern von Millionen von Bauern; Stachanovsche Super-Ausbeutung in den Fabriken. Auf dem kulturellen Level nahm die Konterrevolution die Form der Zurückweisung all der sozialen und künstlerischen Experimente der frühen Revolutionsjahre und der Rückkehr zu höchst philisterhaften bürgerlichen Gewohnheiten und offiziell verfügtem realsozialistischem „Geschmack“ an.

In Deutschland und Italien war das Proletariat näher an der Revolution als in allen anderen europäischen Ländern. Die Konsequenz seiner Niederlage war die Errichtung brutalster Polizeiregime. Der Faschismus war eine weitgreifende Bürokratie von Informanten, eine barbarische Verfolgung von Dissidenten sowie sozialen und ethnischen Minderheiten. Darunter am prominentesten und hässlichsten vertreten, ist die Verfolgung der Juden in Deutschland. Das Naziregime zertrampelte Jahrhunderte von Kultur und wälzte sich in okkulten und pseudo-wissenschaftlichen Theorien über die zivilisierende Mission der arischen Rasse, verbrannte Bücher mit undeutschen Inhalten und verherrlichte die Tugenden von Blut, Boden und Eroberung. Trotzki sah die Zerstörung der Kultur in Deutschland als äußerst beredten Beweis für die Dekadenz der bürgerlichen Kultur an:

„Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder zwölfte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]-->

Aber genau weil der Faschismus der konzentrierte Ausdruck des Zerfalls des Kapitalismus war, war es ein purer Mythos zu denken, dass man den Faschismus bekämpfen könne, ohne den Kapitalismus anzugreifen, wie dies verschiedene „Anti-Faschisten“ dachten. Das zeigte sich sehr klar in Spanien 1936: Die Arbeiter von Barcelona antworteten auf den Staatsstreich des rechten Generals Franco mit ihren eigenen Methoden des Klassenkampfes – Generalstreik, Verbrüderung mit den Truppen, Bewaffnung der Arbeiter – und lähmten die faschistische Offensive innerhalb von Tagen. In dem Moment, in welchem sie ihren Kampf der demokratischen Bourgeoisie, der Volksfront, übergaben, waren sie verloren, wurden in einen zwischen-imperialistischen Wettbewerb gezwungen, welcher die Probe für ein noch größeres Massaker werden sollte. Wie die Italienische Linke nüchtern konstatierte, war der Krieg in Spanien eine schreckliche Bestätigung ihrer Prognose, dass das Weltproletariat besiegt war; und da das Proletariat das einzige Hindernis für den Kapitalismus auf seinem Weg in den Krieg war, standen die Tore nun weit offen für einen weiteren Weltkrieg.

Eine neue Stufe der Barbarei

Das Bild Guernica von Pablo Picasso ist berechtigterweise bekannt als bahnbrechende Darstellung des modernen Krieges. Die blinde Bombardierung der Bevölkerung dieser spanischen Stadt durch deutsche Flugzeuge die Francos Armee unterstützen war ein grosser Schock, denn es war ein relativ neues Phänomen. Die Bombardierung von zivilen Zielen aus der Luft war im Ersten Weltkrieg beschränkt und militärisch ineffektiv gewesen. Die grosse Mehrzahl der Gefallenen waren in diesem Krieg Soldaten auf den Schlachtfeldern. Der Zweite Weltkrieg zeigte, dass der niedergehende Kapitalismus seine Fähigkeit zur Barbarei steigerte, denn nun war die grosse Mehrheit der Gefallenen Zivilpersonen: „Die geschätzte Zahl der im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Personen, unabhängig vom Kriegslager, belief sich auf etwa 72 Millionen. Die Anzahl Zivilpersonen betrug davon rund 42 Millionen, eingeschlossen der 20 Millionen durch Hunger und durch den Krieg hervorgerufene Krankheiten Umgekommene. Die militärischen Verluste beliefen sich auf rund 25 Millionen und ca. 5 Millionen Kriegsgefangene“<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]-->.

Der schrecklichste und konzentrierteste Ausdruck dieses Horrors war die industriell vollführte Ermordung von Millionen von Juden und anderen Minoritäten durch das Nazi-Regime. Sie wurden in Gruppen in den Ghettos und Wäldern Osteuropas erschossen, geknüppelt und zu Tode geschuftet als Sklavenarbeiter und zu Hundertausenden in den Lagern von Auschwitz, Bergen-Belsen und Treblinka vergast. Der Tod von Zivilpersonen durch die Bombardierung der Städte durch beide Kriegslager war nun Beweis, dass die systematische Ermordung von Unschuldigen die allgemeine Zukunft des Krieges darstellte. Auf dieser Ebene überrundeten die Demokratien die Abscheulichkeiten der faschistischen Staaten mit ihren Flächen- und Feuerbombardierungen deutscher und japanischer Städte und sie machten den deutschen „Blitzkrieg“ im Gegensatz dazu fast zu einem Amateurakt. Der symbolische Höhepunkt dieser neuen Methode der Massenschlächterei war die atomare Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki, doch was die Zahl der Opfer angeht waren die „konventionellen“ Bombardierungen von Tokio, Hamburg und Dresden noch tödlicher.

Der Einsatz von Atomwaffen durch die USA eröffnete auf zweierlei Weise eine neue Ära. Erstens bestätigte es, dass der Kapitalismus ein System des permanenten Krieges war. Auch wenn die Atombomben den endgültigen Kollaps der Achsenmächte noch besiegelten, so eröffneten sie gleichzeitig eine neue Kriegsfront. Das wirkliche Ziel von Hiroshima war nicht Japan, das schon in den Knien war und einen Friedensvertrag ersuchte, sondern die UdSSR. Es war eine Warnung an Russland seine imperialistischen Ambitionen im Fernen Osten und in Europa zu mässigen. Denn, „die amerikanische Staatsspitze erarbeitete einen Plan, nach dem die 20 grössten sowjetischen Städte in den ersten 10 Wochen nach dem Krieg mit Atombomben zerstört werden konnten“<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]-->. Oder in anderen Worten ausgedrückt, die Atombomben wurden zu Ende des Zweiten Weltkrieges nur deshalb eingesetzt um die Frontlinien für einen dritten zu diktieren. Es füllte die Warnung Rosa Luxemburgs über die „letzten Konsequenzen“ des Zeitalters des unbegrenzten Krieges mit einer neuen und beängstigenden Realität. Die Atombomben demonstrierten die Fähigkeit des kapitalistischen Systems das Leben auf diesem Planeten auszulöschen.

Die Jahre zwischen 1914 und 1945, die Hobsbawm als das „Zeitalter der Katastrophe“ beschrieb, waren eine klare Bestätigung der Diagnose, dass der Kapitalismus ein dekadentes soziales System geworden war, so wie das alte Rom oder der Feudalismus. Die Revolutionäre welche die Verfolgungen und Demoralisierungen der 30er und 40er Jahre überlebt hatten und vor und während des Krieges für internationalistische Prinzipien gegen beide Kriegslager eintraten, waren nur eine Handvoll. Doch für die meisten von ihnen war es ein absolutes Prinzip. Zwei Weltkriege, die unmittelbare Gefahr eines dritten, sowie eine Erfahrung einer ökonomischen Krise von unglaublichem Ausmass schienen es für sie für immer bestätigt zu haben.

In den folgenden Jahrzehnten kamen aber dennoch Zweifel auf. Das Weiterbestehen des Kapitalismus beutete jetzt, dass die Menschheit unter einer permanenten Zerstörung leben musste. Die darauf folgenden 40 Jahre waren geprägt durch einen nie endenden Konflikt und eine Feindschaft zwischen den beiden neuen imperialistischen Blöcken, auch wenn sie nicht direkt einen dritten Weltkrieg entfachten. Eine ganze Serie von Stellvertreterkriegen im Mittleren- und Fernen Osten und in Afrika brach aus, und sie brachten die Welt verschiedentlich an den Rand einer Katastrophe, besonders während der kubanischen Raketenkrise 1962. Nach offiziellen Schätzungen starben in all diesen Kriegen mehr als 20 Millionen Menschen, oft werden auch mehr angegeben.

Diese Kriege spielten sich in den unterentwickelten Teilen der Erde ab und in den Nachkriegszeiten litt die Bevölkerung unter massiver Armut und Unterernährung. In den mächtigsten westlichen kapitalistischen Ländern fand ein spektakulärer Boom statt, den die bürgerlichen Experten rückblickend „Die Jahre des Wirtschaftswunders“ nannten. Die Wachstumsraten erreichten oder übertrafen oft sogar diejenigen des 19. Jahrhunderts, die Löhne stiegen, Sozialeinrichtungen und Krankenversorgung wurden unter der Ägide des Wohlfahrtsstaates eingeführt… 1960 gab in England Premierminister Harold Macmillan der Arbeiterklasse bekannt, dass „sie es noch nie so gut gehabt habe“. Die Soziologen entwickelten neue Theorien über den Eintritt des Kapitalismus in die „Konsumgesellschaft“ in der die Arbeiterklasse „verbürgerlicht“ sei durch eine niemals endende Wohlstandsflut von Fernsehern, Waschmaschinen, Autos und Ferienangeboten. Für viele, eingeschlossen einige aus dem Lager der revolutionären Bewegung, schien diese Periode zu bestätigen, dass die Auffassung eines Eintritts des Kapitalismus in seine Dekadenz nicht mehr gültig sei und es schien als Beweis eines fast unlimitierten Wachstums des Kapitalismus. „Radikale“ Theoretiker wie Marcuse begannen sich anderswo als bei der Arbeiterklasse nach einem revolutionären Subjekt umzusehen – bei den Bauern der Dritten Welt oder den rebellierenden Studenten der kapitalistischen Grossstädte.

Eine Gesellschaft im Zerfall

Wir werden noch auf eine genauere Erklärung dieses Nachkriegsbooms zurückkommen, indem wir die Mittel des dekadenten Kapitalismus untersuchen, die er zur Besänftigung der unmittelbaren Konsequenzen seiner Widersprüche ergreift. Wie auch immer, diejenigen die meinten, dass der Kapitalismus seine Widersprüche abschaffen kann, wurden Ende der 1960er Jahre als oberflächliche Empiriker entlarvt, denn damals tauchten die ersten klaren Symptome einer neuen ökonomischen Krise in den westlichen Ländern auf. Mitte der 1970er Jahre wurde die Geschichte handfest: Die Inflation begann die meisten Ökonomien zu bedrängen und führte zu einer Abkehr von den keynesianistischen Methoden des direkten Einsatzes der Staatsmacht zur Steuerung der Wirtschaft, wie es in den vorangegangenen Jahrzehnten gut gewirkt hatte. Die 80er Jahre waren die Jahre des Thatcher- und Reaganismus, die grundsätzlich beinhalteten, dass die Krise sich selber überlassen wurde und die schwächsten Unternehmen verschwinden mussten. Die Inflation wurde durch die Rezession kuriert. Seither erlebten wir verschiedene Mini-Booms und Mini-Rezessionen und die Ideologie des Thatcherismus lebt in der Form des Neo-Liberalismus und der Privatisierungen weiter. Doch hinter all den Sprüchen über ein Zurück zu den ökonomischen Werten des freien Unternehmertums der Zeit von Königin Victoria bleibt die Rolle des Staates so bestimmend wie immer. Er manipuliert das wirtschaftliche Wachstum mit allen möglichen finanziellen Manövern die auf einem anwachsenden Berg von Schulden beruhen. Dies wird vor allem in den USA ersichtlich, deren weltweite Macht vom Wechsel von einem Geber- zu einem Schuldnerstaat begleitet wurde und das heute unter Rund 36’000 Milliarden Dollar Schulden leidet<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]-->. „Dieser Schuldenberg stellt nicht nur in Japan, sondern auch in den anderen entwickelten Ländern ein potenziell destabilisierendes Pulverfass dar. Eine grobe Schätzung der weltweiten Verschuldung der Gesamtheit aller Wirtschaftsakteure (Staaten, Unternehmen, Haushalte, Banken) schwankt zwischen 200 und 300% des Weltsozialprodukts. Das bedeutet konkret zweierlei Dinge: Einerseits hat das System ein monetäres Äquivalent im Umfang des zwei- bis dreifachen Wertes der gesamten globalen Produktion vorgeschossen, um der drückenden Überproduktion entgegenzutreten; anderseits müsste man zwei bis drei Jahre gratis arbeiten, um diese Schulden zu begleichen. Eine solch massive Verschuldung können die entwickelten Ökonomien heute noch ertragen, die „aufstrebenden“ Länder hingegen drohen eines nach dem anderen daran zu ersticken. Diese auf Weltebene phänomenale Verschuldung ist historisch beispiellos und drückt gleichzeitig sowohl die Tiefe der Ausweglosigkeit aus, in der sich der Kapitalismus befindet, als auch seine Fähigkeit zur Manipulation des Wertgesetzes, um die Zahlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.“<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]-->

Während uns die Bourgeoisie glauben machen will, wir sollten doch Vertrauen haben in ihre Bluffs wie die „Computer-Ökonomie“ oder andere „technologische Revolutionen“, erzeugt die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von den Schulden unterirdische Probleme welche in der Zukunft unweigerlich gewaltige Eruptionen hervorbringen werden. Wir haben das immer wieder gesehen. Die 1997 in die Knie gegangenen asiatischen „Tiger- und Drachenstaaten“ waren wohl das deutlichste Beispiel. Doch heute wird wiederum behauptet, dass die spektakulären Wachstumszahlen Chinas und Indiens den Weg in die Zukunft bedeuten würden. Doch im selben Atemzug kommt schon die Angst über ein eventuelles Scheitern zum Vorschein. Chinas Wachstum basiert vor allem auf billigen Exporten in den Westen und die Konsumfähigkeit des Westens basiert auf einer massiven Verschuldung… Was also geschieht wenn die Schulden zurückgefordert werden? Hinter dem durch Schulden ermöglichten Wachstum der letzten zwei Jahrzehnte ist die Empfindlichkeit der ganzen Geschichte an einigen seiner negativen Aspekte offen zu erkennen: die Desindustrialisierung ganzer Gebiete der westlichen Ökonomien, die eine Reihe von unproduktiven und oft prekären Arbeitsplätzen hervorbringt, welche immer mehr mit den parasitären Gebieten der Wirtschaft verhängt sind; die zunehmende Armutsschere nicht nur zwischen den zentralen kapitalistischen Ländern und den ärmsten Region, sondern auch innerhalb der entwickeltsten Ökonomien; die Unfähigkeit die permanente Massenarbeitslosigkeit zu beheben, welche mit statistischen Tricks verschleiert wird (Umschulungsprogramme die nirgendwohin führen oder die andauernde Neudefinition von Arbeitslosigkeit, usw.).

Auf der ökonomischen Ebene hat der Kapitalismus also keineswegs seine Tendenz hin zur Katastrophe überwunden. Dasselbe gilt für die imperialistischen Konflikte. Als der Ostblock zu Ende der 1980er Jahre kollabierte, das dramatische Ende von vier Jahrzehnten „Kalter Krieg“, kündigte der damalige US-Präsident Bush Senior großartig den Beginn einer neuen Weltordnung des Friedens und des Wachstums an. Doch weil der dekadente Kapitalismus permanenter Krieg bedeutet, können imperialistische Konflikte ihr Gesicht ändern, doch sie können nicht verschwinden. Wir sahen dies 1945 und ebenfalls 1991. Anstelle relativ „disziplinierter“ Konflikte zwischen zwei Blöcken existieren heute die zunehmend chaotischen Kriege des „Jeder gegen Jeden“. Die einzig übrig gebliebene Supermacht USA ist mehr und mehr gezwungen sich in militärische Wagnisse zu stürzen, um ihre schwindende Autorität zu sichern. Doch immer wenn die USA die Karte der militärischen Überlegenheit auszuspielen versucht, führt dies zu einer Verstärkung des Widerstandes dagegen. Dies war der Fall nach dem ersten Golfkrieg 1991. Auch wenn die ehemaligen Alliierten Deutschland und Frankreich gezwungen waren für eine beschränkte Zeit den Feldzug gegen Saddam Hussein zu unterstützen, so wurde es innert weniger Jahre offensichtlich, wie die alte Blockdisziplin für immer zerfiel. In den Kriegen auf dem Balkan führten zuerst Deutschland (mit seiner Unterstützung für Kroatien und Slowenien) und dann Frankreich (durch seine permanente Unterstützung für Serbien, während die USA begann Bosnien den Rücken zu stärken) einen Stellvertreterkrieg gegen die USA. Selbst England, der „Handlanger“ der USA, befand sich auf der anderen Seite, indem es Serbien so lange unterstützte, bis es am Ende die amerikanischen Bombardierungen Serbiens nicht mehr verhindern konnte. Der gegenwärtige „Krieg gegen den Terrorismus“ – ausgelöst durch die Zerstörung der Twin Towers durch ein Selbstmordkommando am 11. September 2001 (welches eventuell sogar durch den amerikanischen Staat manipuliert wurde), ein weiteres Zeugnis der heutigen Barbarei – hat diese Differenzen noch vertieft. Frankreich, Deutschland und Russland formierten eine Koalition gegen die Eröffnung des Krieges im Irak. Und die Konsequenzen der Invasion von 2003 sind schlimmer als je gedacht. Weit davon entfernt die Kontrolle der USA im Mittleren Osten zu festigen und damit die „allgegenwärtige Dominanz“, von der die Neo-Konservativen und die Bush-Administration träumten, hat die Invasion die gesamte Region in ein Chaos gestürzt und auch eine zunehmende Instabilität in Israel/Palästina, Libanon, Iran, Türkei, Afghanistan und Pakistan mit sich gebracht. In der Zwischenzeit wurde das imperialistische Gleichgewicht durch das Auftauchen von Indien und Pakistan als Atommächte verändert. Und auch der Iran, der durch den Zerfall seines großen Rivalen Irak seine imperialistischen Ambitionen verstärkt sieht, wird diesen Schritt eventuell bald machen. Das imperialistische Gleichgewicht wurde auch aus den alten Fugen gebracht durch das erneute rivalisierende Auftreten Russlands gegenüber seinen westlichen Konkurrenten, durch Chinas wachsendes Gewicht weltweit, durch die Vermehrung der so genannten „Schurkenstaaten“ im Mittleren- und Fernen-Osten und in Afrika und die Ausbreitung des Terrorismus im Namen des Islams (der oft im Dienste großer imperialistischer Staaten steht, aber auch als unberechenbarer Faktor für sich selber agiert). Die Welt ist seit dem Ende des Kalten Krieges nur zunehmend gefährlicher geworden.

Während des gesamten 20. Jahrhunderts war man sich schon der Gefahr der ökonomischen Krisen und der imperialistischen Kriege für die Menschheit bewusst. Doch in den letzten Jahrzehnten wurde eine dritte Dimension des kapitalistischen Desasters augenscheinlich: die ökologische Zerstörung. Die kapitalistische Produktionsweise, gekennzeichnet durch die irrwitzige Konkurrenz um die letzten Marktanteile, dehnte sich in jede Ecke des Planeten aus, um alle Ressourcen auszuplündern, koste es was es wolle. Das gepriesene „Wachstum“ ist mehr und mehr wie ein Krebsgeschwür, das an der Welt haftet. In den letzten zwei Jahrzehnten rückte dieses Problem zunehmend in das öffentliche Bewusstsein, denn was wir heute sehen ist das Resultat eines schon lange andauernden Prozesses und das ökologische Problem steigert sich heute auf eine höhere Stufe. Die Verschmutzung der Luft, der Flüsse und der Meere durch industrielle Emissionen und den Warentransport, die Zerstörung der Regenwälder und anderer Naturgebiete, die Ausrottung unzähliger Tierarten, sind heute alarmierend. Sie kommen zusammen mit dem Klimawandel, der zunehmende Überschwemmungen ganzer Gebiete der Menschheit erzeugt und Dürren, Hunger und Seuchen auslöst. Der Klimawandel selber kann eine Spirale von Katastrophen auslösen, wie es unter anderem der gerühmte Physiker Stephen Hawking beschrieb. In einem ABC-News Interview erklärte er im August 2006: „Es besteht die Gefahr einer Rückkoppelung der globalen Erwärmung, wenn dies nicht bereits schon der Fall ist. Das Abschmelzen des arktischen und antarktischen Eises reduziert den Anteil der Sonnenenergie welche in die Atmosphäre zurückgestrahlt wird, und dies erhöht erneut die Temperatur. Der Klimawandel kann den Amazonas und andere Regenwälder zerstören und damit einen der einzigen Wege eliminieren auf dem CO2 aus der Atmosphäre absorbiert wird. Der Anstieg der Meerestemperatur kann die Freisetzung großer Mengen von Methan bewirken, welche in Form von Hydraten auf dem Meeresboden gebunden sind. Diese Phänomene verstärken den Treibhauseffekt und damit die globale Erwärmung. Wir müssen die globale Erwärmung sofort stoppen, falls dies überhaupt noch möglich ist.“

Die Dynamiken des ökonomischen, militärischen und ökologischen Kollapses sind nicht getrennt – sie haben einen engen Zusammenhang. Kapitalistische Länder, die mit dem wirtschaftlichen Ruin und ökologischen Katastrophen konfrontiert sind, werden ihren Absturz nicht friedlich hinnehmen, sondern nach militärischen Lösungen auf Kosten der Nachbarn suchen.

Es stellt sich für uns heute mehr denn je die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“. Und wenn nach den Worten Rosa Luxemburgs der Erste Weltkrieg schon die Barbarei war, so besteht heute die Gefahr, dass die Menschheit und im speziellen ihre einzige Kraft, die sie retten kann, das Proletariat, in den weltweiten Strudel der Barbarei gerissen wird bevor es seine Lösung durchsetzen kann.

Das ökologische Desaster zeigt dies deutlich auf. Der Kampf der Arbeiterklasse kann darauf kaum einen Einfluss haben, bevor das Proletariat die Macht ergriffen hat und in der Lage ist die Produktion und den Verbrauch auf Weltebene anders zu organisieren. Je länger eine Revolution hinausgezögert wird, desto größer ist die Gefahr, dass die Zerstörung der Umwelt die Grundlagen für eine kommunistische Umwälzung zunichte macht. Dasselbe gilt für die sozialen Auswirkungen der heutigen Phase der Dekadenz. In den Städten gibt es eine wachsende Tendenz hin zum Verlust der Klassenidentität als Arbeiterklasse. Die junge Generation ist mit dem Problem, Opfer der Gangmentalität zu werden konfrontiert, mit irrationalen Ideologien und nihilistischer Hoffnungslosigkeit. Und auch hier besteht die Gefahr, dass es für die Arbeiterklasse einmal zu spät sein kann, sich als revolutionäre soziale Kraft zu formieren.

Die Arbeiterklasse darf ihr wirkliches Potential nie vergessen. Die herrschende Klasse war sich darüber immer sehr bewusst. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wartete die Bourgeoisie ängstlich auf die Antwort der Sozialdemokratie, denn sie wusste genau, dass sie ohne deren aktive Unterstützung die Arbeiter nicht in den Krieg mobilisieren konnte. Diese ideologische Niederlage, welche von Rosa Luxemburg angeprangert wurde, war die unabdingbare Bedingung zur Auslösung des Krieges. Erst das erneute Erwachen der Arbeiterklasse ab 1916 beendete den Krieg schließlich wieder. Umgekehrt war es die Niederlage und die Demoralisierung nach dem Zurückfluten der weltrevolutionären Welle, welche den Weg hin zum Zweiten Weltkrieg ebnete und es bedurfte einer langen Periode der Repression und ideologischen Vergiftung, bis sich die Arbeiterklasse in die zweite weltweite Schlächterei treiben ließ. Die herrschende Klasse war sich damals auch der Notwendigkeit von Präventivschlägen gegen die Gefahr einer Wiederholung der Revolution von 1917 und einer Kriegsbeendigung durch das Proletariat bestens bewusst. Dieses „Klassenbewusstsein“ der Bourgeoisie wurde vor allem durch den sog. „Größten aller Briten“, Winston Churchill, repräsentiert, welcher gut aus seiner Erfahrung bei der Zerschlagung der Gefahr des Bolschewismus von 1917-1920 gelernt hatte. Nach den Massenstreiks der Arbeiter in Norditalien 1943 war es Churchill, der die Leitlinie formulierte „die Italiener in ihrem eigenen Saft schmoren zu lassen“. Dazu wurde das Vorrücken der Alliierten von Süd- nach Norditalien verzögert, um den Nazis die Niederschlagung der italienischen Arbeiter zu erlauben. Churchill verstand auch am besten die Absicht der grauenvollen Bombardierungen Deutschlands in der letzten Phase des Krieges: es ging darum, jegliche Gefahr einer Revolution im Keim zu ersticken, dort wo die Bourgeoisie am meisten Angst davor hatte.

Die weltweite Niederlage und die Konterevolution dauerten vier Jahrzehnte an. Doch bedeutete es nicht das Ende des Klassenkampfes, wie gewisse Leute zu behaupten begannen. Mit dem erneuten Ausbruch der Krise zu Ende der 1960er Jahre begann auch eine neue Generation von Arbeitern für ihre Interessen zu kämpfen. Die „Ereignisse“ des Mai 68, offiziell als „Studentenrevolte“ bekannt, brachten den französischen Staat nur deshalb ins Zittern, weil die Revolte in den Universitäten durch den größten Massenstreik begleitet wurde, den die Geschichte bis dahin gesehen hatte. In den darauf folgenden Jahren erlebten Italien, Argentinien, Polen, Spanien, England und viele andere Länder große Mobilisierungen der Arbeiterklasse, welche oft die „offiziellen Vertreter der Arbeit“, die Gewerkschaften und linken Parteien, im Regen stehen ließen. „Wilde“ Streiks wurden zur Tagesordnung gegen die „disziplinierten“ Mobilisierungen der Gewerkschaften. Arbeiter begannen neue Formen des Kampfes zu entwickeln um dem erstickenden Schema der Gewerkschaften zu entfliehen: Vollversammlungen, selbst gewählte Streikkomitees und die Entsendung von großen Delegationen in andere Betriebe. In den mächtigen Streiks von 1980 in Polen verwendeten die Arbeiter diese Mittel, um ihren Kampf über das ganze Land hinweg zu koordinieren.

Was die unmittelbaren Forderungen angeht, endeten die Kämpfe in den Jahren zwischen 1968 und 1989 oft in Niederlagen. Doch ohne Zweifel, wenn sie nicht stattgefunden hätten, wäre der herrschenden Klasse noch viel mehr Spielraum für Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse offen geblieben, dies besonders in den am höchsten entwickelten Ländern. Der Widerstand der Arbeiterklasse, alle Auswirkungen der kapitalistischen Krise ausbaden zu müssen, bedeutete aber auch eine Ablehnung gegen die Mobilisierung in einen neuen Krieg. Denn das Wiederauftauchen der Krise bedeutete ab den 70er Jahren, und noch mehr in den 80er Jahren, eine deutliche Verschärfung der imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Blöcken. Der imperialistische Krieg ist untrennbar von der ökonomischen Krise des Systems, auch wenn der Krieg keine „Lösung“ für die Krise bringt, sondern nur einen noch größeren Ruin. Doch um einen Krieg direkt gegen die Hauptgegner führen zu können, braucht die herrschende Klasse einen Verbündeten in Form eines ideologisch unterworfenen Proletariates, und dies hatte sie damals nicht. Dies zeigte sich am deutlichsten im damaligen Ostblock: Die russische Bourgeoisie, am heftigsten zur Suche nach einer militärischen Lösung ihres ökonomischen Kollapses und der zunehmenden militärischen Umzingelung gedrängt, musste einsehen, dass sie ihre Arbeiterklasse nicht als Kanonenfutter in einen Krieg gegen den Westen führen konnte. Die Massenstreiks in Polen 1980 waren ein klares Signal dafür. Es war diese Sackgasse, welche 1989-91 zum Zusammenbruch des Ostblocks führte.

Das Proletariat selber war aber auch nicht in der Lage seine eigene Lösung gegenüber all den Widersprüchen des Kapitalismus durchzusetzen: Die Perspektive einer neuen Gesellschaft. Gewiss, der Mai 68 brachte diese Frage massiv aufs Tapet und erzeugte eine neue Generation von Revolutionären. Diese blieben aber eine verschwindend kleine Minderheit. Angesichts der Zuspitzung der ökonomischen Krise blieben die meisten Kämpfe der 1970er und 80er Jahre aber auf einem Niveau der Defensive und auf der Ebene der wirtschaftlichen Forderungen stehen. Zugleich hatten Jahrzehnte von Enttäuschungen über die „traditionellen“ linken Parteien in den Reihen der Arbeiterklasse ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglicher „Politik“ erzeugt.

Damit entstand eine Art Blockade im Klassenkampf: Die Bourgeoisie hat der Menschheit keine Perspektive mehr anzubieten und das Proletariat hat seine eigene Zukunft noch nicht wieder entdeckt. Doch die Krise des Systems steht nicht still und das Resultat dieser Blockade ist ein Zerfall der Gesellschaft auf allen Ebenen. Auf der imperialistischen Ebene äußerte sich dies Ende der 1980er Jahre in der Auflösung der zwei Blöcke und damit rückte die Gefahr eines Weltkriegs zwischen großen Blöcken für unbestimmte Zeit in den Hintergrund. Wie wir aber sehen, setzt dies das Proletariat und die gesamte Menschheit einer neuen Gefahr aus, einer schleichenden Barbarei, die in vielen Belangen heimtückischer ist.

Die Menschheit befindet sich an einem Scheidepunkt. Die Jahre und Jahrzehnte vor uns können die wegweisendsten der Geschichte sein. Sie werden darüber entscheiden, ob die menschliche Gesellschaft in einen unaufhaltbaren Rückschritt oder gar einen Untergang eintritt, oder ob sie den Schritt auf eine neue Stufe der Entwicklung schafft, in der die Menschheit wenigstens in der Lage ist, die eigenen sozialen Kräfte zu kontrollieren. Wo sie fähig wird eine Welt zu schaffen, welche in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Menschheit steht.

Es ist unsere Überzeugung als Kommunisten, dass es für die zweite Alternative noch nicht zu spät ist und dass die Arbeiterklasse trotz all der materiellen und ideologischen Angriffe, unter denen sie in den letzten Jahrzehnten gelitten hat noch fähig ist zu widerstehen. Sie ist die einzige Klasse, welche dem Abgleiten in den Abgrund entgegentreten kann. Seit 2003 gibt es eine bemerkenswerte Entwicklung von Arbeiterkämpfen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig erleben wir das Auftauchen einer neuen Generation von Gruppen und Einzelpersonen, welche das heutige System grundlegend in Frage stellen und gewissenhaft nach einem fundamentalen sozialen Wechsel streben. Mit anderen Worten: wir sehen greifbare Anzeichen einer Reifung des Klassenbewusstseins.

In dieser chaotischen Welt fehlt es nicht an falschen Erklärungen für die gegenwärtige Krise. Religiöser Fundamentalismus – seien es muslimische oder christliche Varianten – und der ganze Wulst von okkultistischen und verschwörerischen Erklärungen der Geschichte grassieren heute deshalb so stark, weil die Anzeichen eines apokalyptischen Endes der Welt schwer zu leugnen sind. Doch dieser Rückschritt zur Mythologie führt lediglich in eine Passivität und Hoffnungslosigkeit, denn er ordnet die Fähigkeit der Menschen zur Selbstbestimmung irgendwelchen Kräften unter, die angeblich über die Menschheit bestimmen würden. Die wohl charakteristischsten Ausdrücke dieses Kults sind die islamischen Selbstmordkommandos, deren Aktionen nur Ausdruck der Hoffnungslosigkeit sind, oder die Evangelisten in den USA, welche den Krieg und die ökologischen Zerstörung als Vorboten einer zukünftigen Ekstase glorifizieren. Und während sich die Vernunft und der „gesunde Menschenverstand“ der Bourgeoisie über diese Fanatiker lustig macht trifft sein Spott auch all jene, die aus den vernünftigsten und wissenschaftlichsten Gründen immer mehr zur Überzeugung geraten, dass das gegenwärtige soziale System nicht ewig bestehen wird – und nicht darf. Gegen die Phrasendrescherei der religiösen Kults und gegen die blanke Ignoranz des bürgerlichen Optimismus ist es mehr denn je notwendig, ein tief greifendes Verständnis darüber zu entwickeln, was Rosa Luxemburg das „Dilemma der Menschheitsgeschichte“ nannte. Wie Luxemburg sind auch wir davon überzeugt, dass ein solches Verständnis ausschließlich in der revolutionären Theorie des Proletariates – dem Marxismus und seiner materialistischen Konzeption der Geschichte – zu finden ist.
Gerrard

 


<!--[endif]-->[1]<!--[endif]--> Lenin: Sozialismus und Krieg, Kapitel 1, „Falsche Berufungen auf Marx und Engels“, 1915.
<!--[endif]-->[2]<!--[endif]--> Diese Zahlen schliessen die UdSSR nicht ein. Entnommen aus Sternbergs Buch: Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Rowohlt 1951, S. 227-232.
[3]<!--[endif]--> Kommunistisches Manifest <!--[endif]-->
[4]<!--[endif]--> Trotzki: Portrait des Nationalsozialismus 1933
[5]<!--[endif]--> http:en.wikipedia.org/wiki/World_War_II_causalities [11]
[6]<!--[endif]--> Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, Achtes Kapitel: „Der Kalte Krieg“.
[7]<!--[endif]--> Summe für das dritte Quartal 2003, geschätzt vom „Council of Governers of the Federal Reserve“ und anderen Staatsstellen. Die Schulden haben seit 1970 um das 23-fache zugenommen. Quelle: https://solidariteeprogres.online.fr/News/Etats-Unis/breve_908.html [12]
[8]<!--[endif]--> Internationale Revue Nr. 32 deutsch, November 2003, „Die Festtage der „Wirtschaftsblüte“ brutal beendet“.

Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit

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Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern er steht auf der Tagesordnung der Geschichte

Der folgende Artikel ist der 3. Teil der Zusammenfassung unserer bisher in der International Review erschienen Artikelserie zum Thema Kommunismus. Die ersten beiden Teile erschienen auf unserer Webseite und in der Internationalen Revue Nr. 40 + 41 auf Deutsch.

Im zweiten Teil unserer Zusammenfassung untersuchten wir, wie das kommunistische Programm durch die großen Fortschritte bereichert wurde, die die Arbeiterbewegung während der Welle revolutionärer Kämpfe gemacht hatte, welche durch den I. Weltkrieg hervorgerufen worden war. In diesem dritten Teil werden wir untersuchen, wie die Revolutionäre sich darum bemühten, den Rückfluss und die Niederlage der revolutionären Welle zu begreifen. Wir werden dabei aufzeigen, dass diese Phase auch eine Quelle unschätzbar wichtiger Lehren für die zukünftigen Revolutionen darstellt.

1. 1918: Die Revolution kritisiert ihre Fehler(International Review Nr. 99)

Da die Russische Revolution, wie Rosa Luxemburg sagte, „die allererste Erfahrung der Diktatur des Proletariats in der Geschichte der Welt ist“, muss folglich jeder Versuch, den Weg zu einer künftigen Revolution zu bahnen, auf die Lehren zurückgreifen, die aus dieser Erfahrung hervorgingen. Eingedenk der Tatsache, dass die proletarische Bewegung nur Schaden erleiden kann, wenn sie versucht, vor der Wirklichkeit zu fliehen, gingen die Bemühungen, diese Lehren zu begreifen, auf die ersten Tage der Revolution selbst zurück, auch wenn es mehrere Jahre schmerzhafter Erfahrungen und ebenso quälender Überlegungen brauchte, um das Erbe der Russischen Revolution umfassend zu begreifen.

Die Vorlage zur Analyse der Fehler der Revolution wurde von Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre „Zur Russischen Revolution“ geliefert, die sie 1918 im Gefängnis niederschrieb. Luxemburgs Ausgangspunkt war die grundsätzliche Solidarität mit der Sowjetmacht und der bolschewistischen Partei. Sie erkannte, dass die Schwierigkeiten, vor denen beide standen, zuallererst das Ergebnis der Isolation der russischen Bastion waren und dass sie nur überwunden werden konnten, wenn das Weltproletariat – insbesondere das deutsche Proletariat – seine Verantwortung übernahm und das Urteil der Geschichte über den Kapitalismus vollstreckte.

Innerhalb dieses Rahmens kritisierte Luxemburg die Bolschewiki in drei Bereichen:

– in der Landfrage: Auch wenn sie anerkannte, dass die bolschewistische Parole: „Das Land den Bauern“ taktisch notwendig war, um die Bauernmassen für die Sache der Revolution zu gewinnen, war Luxemburg der Auffassung, dass die Bolschewiki ihre eigenen Schwierigkeiten noch vergrößerten, als sie die Aufteilung des Landes in Parzellen formalisierten. Aber auch wenn Luxemburg richtig vorhersah, dass dieser Prozess schlussendlich eine konservative Schicht von kleinen Landbesitzern hervorbringen würde, war ebenso klar, dass die Kollektivierung des Bodens als solche keine Garantie für eine Bewegung hin zum Sozialismus war, solange die Revolution isoliert blieb.

– in der nationalen Frage: Luxemburgs Kritik an der Parole der nationalen Selbstbestimmung (die von Pjatakow und anderen innerhalb der bolschewistischen Partei vertreten wurde) wurde durch die späteren Erfahrungen vollauf bestätigt. In Wirklichkeit kann „nationale“ Selbstbestimmung nur „Selbstbestimmung“ für die Bourgeoisie bedeuten. Doch in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution entschieden sich all die Länder (d.h. die Bourgeoisien), die von der Sowjetmacht in die „nationale Unabhängigkeit“ entlassen worden waren, dafür, sich den großen imperialistischen Mächten und deren Kampf gegen die Russische Revolution anzuschließen. Das Proletariat konnte die nationalen Befindlichkeiten der Arbeiter der „unterdrückten“ Nationen nicht ignorieren; doch diese hätten für die revolutionäre Sache nur gewonnen werden können, wenn man an ihre Klassenbedürfnisse und nicht an ihre nationalistischen Illusionen appelliert hätte.

– in der Frage der „Demokratie“ und „Diktatur“: In Luxemburgs Auffassungen zu diesen Fragen gibt es zutiefst widersprüchliche Aussagen. Auf der einen Seite meinte sie, dass sich die Abschaffung der Konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki negativ auf das Leben der Revolution auswirken werde. Damit legte sie eine seltsame Nostalgie für überholte Formen der bürgerlichen Demokratie an den Tag. Auf der anderen Seite rief das Spartakusprogramm, das kurze Zeit später verfasst wurde, zur Ersetzung der alten parlamentarischen Versammlungen durch Kongresse der Arbeiterräte auf, was darauf hinweist, dass sich Rosa Luxemburgs Auffassungen zu dieser Frage schnell weiterentwickelt hatten. Doch Luxemburgs Kritik an der Tendenz der Bolschewiki, die Redefreiheit in der Arbeiterbewegung einzuschränken, war sehr wohl begründet. Diese gegen andere Gruppen der Arbeiterklasse und gegen andere Parteien getroffenen Maßnahmen sowie die Umwandlung der Sowjets in ausführende Organe des von der bolschewistischen Partei angeführten Staates erwiesen sich in der Tat als negativ für das Überleben und die Integrität der proletarischen Diktatur.

In Russland selbst kam es bereits 1918 zu ersten Reaktionen gegen die Gefahr der Kursabweichung der Partei. Ihr Zentrum (zumindest unter den Strömungen des revolutionären Marxismus) war die linkskommunistische Tendenz in der bolschewistischen Partei. Diese Tendenz war hauptsächlich wegen ihres Widerstandes gegen den Brest–Litowsker Vertrag bekannt geworden, von dem sie fürchtete, dass er nicht nur zur Aufgabe von Teilen des Landes, sondern auch zur Aufgabe der Prinzipien selbst führen würde. Doch auf der Ebene der Prinzipien ist ein Vergleich zwischen Brest–Litowsk und dem vier Jahre später abgeschlossenen Rapallo–Vertrag unzulässig. Ersterer wurde in aller Offenheit verhandelt; es gab keinen Versuch der Verschleierung der brutalen Folgen des Vertrages. Letzterer dagegen wurde geheim ausgehandelt und führte de facto zu einem Bündnis zwischen dem deutschen Imperialismus und dem sowjetischen Staat. Zudem fußte, wie Bilan später unterstrich, die Position, die von Bucharin und anderen Linkskommunisten zugunsten eines „revolutionären“ Krieges vertreten wurde, auf einer ernsthaften Konfusion: auf der Vorstellung, dass die Revolution hauptsächlich durch militärische Mittel in der einen oder anderen Form ausgedehnt werden könne, während sie in Wirklichkeit die Arbeiter der ganzen Welt nur durch den Einsatz von im Wesentlichen politischen Mitteln (wie die Bildung der Kommunistischen Internationale 1919) für sich gewinnen kann.

Nützlicher für das Verständnis der Lehren aus der Revolution waren die ersten Debatten zwischen Lenin und der Linken über den Staatskapitalismus. Lenin trat dafür ein, die deutschen Waffenstillstandsbedingungen zu akzeptieren, um so der Sowjetmacht die dringend benötigte „Atempause“ zu verschaffen, in der sie ein Mindestmaß an gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Leben wieder aufbauen sollte.

Die Divergenzen kreisten um zwei Fragen:

– um die Frage der in diesem Prozess verwendeten Mittel: Lenin, dessen besonderes Anliegen der Kampf um Produktivität und Effizienz gegen das erdrückende Gewicht der russischen Rückständigkeit war, plädierte für strenge Maßnahmen wie die Übernahme des Taylor–Systems und die Ein–Mann–Führung der Betriebe, während die Linke darauf beharrte, dass solche Methoden für die Selbsterziehung und die Selbstaktivierung des Proletariats schädlich seien. Ähnliche Debatten entbrannten in der Frage, in welchem Maße die Prinzipien der Kommune auf die Rote Armee angewandt werden sollen.

– um die Gefahr des Staatskapitalismus: Aus Lenins Sicht war der Staatskapitalismus ein Schritt vorwärts, weil die russische Wirtschaft zuvor fragmentiert gewesen und in einem halb–mittelalterlichen Zustand verharrt geblieben sei. Dies stand in Einklang mit der Auffassung, dass der große Schub staatskapitalistischer Entwicklung in den entwickelten Ländern nach dem 1. Weltkrieg in einem gewissen Sinne eine Vorbereitung für die sozialistische Umwälzung sei. Die Linken wiederum neigten dazu, die dem Staatskapitalismus innewohnende Bedrohung für die Arbeitermacht zu sehen, und warnten vor der Gefahr, dass die Partei durch den Prozess bürokratischer Staatskontrolle vereinnahmt und sich letztendlich gegen die Interessen des Proletariats wenden werde.

Die Kritik der Linken am Staatskapitalismus steckte sicherlich erst in ihren Anfängen und enthielt viele Konfusionen. Sie neigte dazu, die Hauptgefahr im Kleinbürgertum zu lokalisieren; und sie war sich auch im Unklaren darüber, dass die Staatsbürokratie selbst die Rolle einer neuen Bourgeoisie spielen könnte. Auch hegten die Linken Illusionen über die Möglichkeit einer echten sozialistischen Umwälzung innerhalb russischer Grenzen. Doch Lenin irrte, als er im Staatskapitalismus etwas anderes als die Negation des Kommunismus erblickte. Auch mit ihrer Warnung vor der Entwicklung in Russland sollten die Linken Recht behalten; ihre Vorhersagen sollten sich als geradezu prophetisch erweisen.

2. 1921 – Das Proletariat und der Übergangsstaat (International Review, Nr. 100)

Trotz der großen Differenzen innerhalb der bolschewistischen Partei wegen des Kurses der Revolution und insbesondere wegen der Richtung, den der sowjetische Staat einschlug, bewirkte die Notwendigkeit der Einheit in Anbetracht der unmittelbaren Bedrohung durch die Konterrevolution, dass diese Differenzen in gewisser Weise eingedämmt wurden. Das Gleiche kann man hinsichtlich der Spannungen in der russischen Gesellschaft insgesamt sagen: Trotz der schrecklichen Bedingungen für die Arbeiter und Bauern während der Bürgerkriegszeit wurde der wachsende Konflikt zwischen den materiellen Interessen und den politischen und ökonomischen Forderungen des neuen Staatsapparates durch den Kampf gegen die weiße Konterrevolution unter Kontrolle gehalten. Doch mit dem Sieg im Bürgerkrieg war der Deckel entfernt worden. Und mit der zunehmenden Isolation der Revolution infolge einer Reihe von entscheidenden Niederlagen des Proletariats in Europa trat der Konflikt erneut als zentraler Widerspruch des „Übergangsregimes“ hervor.

Innerhalb der Partei kam das grundlegende Problem, vor dem die Revolution stand, durch die Debatte über die Gewerkschaftsfrage ans Tageslicht, die auf dem 10. Parteikongress im März 1921 stattfand. Diese Debatte drehte sich hauptsächlich um drei verschiedene Positionen, obgleich es zwischen ihnen und um sie selbst herum viele unterschiedliche Schattierungen gab:

– die Position Trotzkis: Nachdem er die Rote Armee trotz oft überwältigender Schwierigkeiten zum Sieg gegen die Weißen Armeen geführt hatte, war Trotzki zu einem glühenden Verfechter militärischer Methoden geworden. Er wollte sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens angewandt sehen, insbesondere im Arbeitsleben. Da der Staat, der diese Methoden anwende, ein „Arbeiterstaat“ sei, meinte er, könne es keine Interessenkonflikte zwischen der Arbeiterklasse und den Forderungen des Staates geben. Er ging sogar so weit, die Zwangsarbeit als historisch fortschrittliche Möglichkeit zu theoretisieren. In diesem Zusammenhang empfahl er, dass die Gewerkschaften offen als Organe der Arbeitsdisziplin zugunsten des Arbeiterstaates handeln sollten. Gleichzeitig begann Trotzki, eine ausdrückliche theoretische Rechtfertigung des Begriffs der Diktatur der Kommunistischen Partei und des Roten Terrors zu entwickeln.

– die Position der Arbeiteropposition um Kollontai, Schljapnikow und andere: Aus der Sicht Kollontais hatte der Sowjetstaat einen heterogenen Charakter, und er war höchst zugänglich für den Einfluss nicht–proletarischer Kräfte wie Bürokraten und Bauern. Für die schöpferische Arbeit, die bei dem Aufbau der russischen Wirtschaft zu leisten sei, sei es deshalb nötig, dass diese von spezifischen Organen der Arbeiter geleitet würden, wofür aus der Sicht der Arbeiteropposition die Industriegewerkschaften in Frage kamen. Ihr zufolge konnte die Arbeiterklasse mit Hilfe der Industriegewerkschaften die Kontrolle der Produktion aufrechterhalten und entscheidende Schritte zum Kommunismus einleiten. Diese Strömung brachte eine proletarische Reaktion gegenüber der wachsenden Bürokratisierung des Sowjetstaates zum Ausdruck, aber sie litt auch an einer ernsthaften Schwäche. Ihre Befürwortung der Industriegewerkschaften als der beste Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse bedeutete einen Rückschritt im Verständnis der Rolle der Arbeiterräte, die in der neuen revolutionären Epoche als das Instrument des Proletariats zur Leitung nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen Lebens entstanden waren. Und gleichzeitig kam mit den Illusionen der Opposition über die Möglichkeit der Errichtung neuer kommunistischer Verhältnisse in Russland eine erhebliche Unterschätzung der negativen Auswirkungen der Isolation der Revolution zum Ausdruck. 1921 war die Isolation fast total.

– die Position Lenins: Lenin wehrte sich vehement gegen die Exzesse Trotzkis in dieser Debatte. Er wandte sich gegen den Sophismus, demzufolge es auf unmittelbarer Ebene keinen Interessenkonflikt zwischen Staat und Arbeiterklasse geben könne, da es sich bei diesem Staat um einen Arbeiterstaat handle. Zwar behauptete Lenin einst, dass der Staat faktisch ein „Arbeiter– und Bauernstaat“ sei, aber er räumte auch ein, dass es sich dabei um einen bürokratisch sehr deformierten Staat handle. In solch einer Lage müsse die Arbeiterklasse immer noch ihre materiellen Interessen verteidigen können, wenn notwendig, auch gegen den Staat. Die Gewerkschaften sollten deshalb nicht nur als Organe der Arbeitsdisziplin, sondern auch als Organe der proletarischen Selbstverteidigung betrachtet werden. Gleichzeitig verwarf Lenin die Position der Arbeiteropposition als eine Konzession gegenüber dem Anarcho–Syndikalismus.

Rückblickend können wir sagen, dass die Grundlagen dieser Debatte mit großen Schwächen behaftet waren. Zunächst war es kein Zufall, dass die Gewerkschaften so widerstandslos bereit waren, zu Organen der Arbeitsdisziplin im Interesse des Staates zu werden. Diese Richtung wurde durch die neuen Bedingungen der kapitalistischen Dekadenz aufgezwungen. Nicht die Gewerkschaften, sondern die Organe, mit denen die Klasse auf diese neue Zeit reagiert hatte – Fabrikkomitees, Räte usw. –, hatten zur Aufgabe, die Autonomie der Arbeiterklasse zu verteidigen. Gleichzeitig waren all die Strömungen, die sich an dieser Debatte beteiligten, mehr oder weniger der Idee verbunden, dass die Diktatur des Proletariats durch die Kommunistische Partei ausgeübt werden sollte.

Doch die Debatte zeigte bei aller Konfusion den Versuch zu begreifen, was geschieht, wenn die Staatsmacht, die von der Revolution geschaffen wurde, anfängt, der Kontrolle des Proletariats zu entgleiten und sich gegen die Interessen des Proletariats zu richten. Dieses Problem sollte noch dramatischer durch den Kronstädter Aufstand illustriert werden, der während des 10. Kongresses der Partei nach einer Reihe von Arbeiterkämpfen in Petrograd ausbrach.

Die Führung der Bolschewiki prangerte die Rebellion anfangs als eine reine Verschwörung der Weißen Garden an. Später legte sie die Betonung auf ihren kleinbürgerlichen Charakter, aber die Niederschlagung der Revolte wurde mit dem Argument gerechtfertigt, dass sie sowohl geographisch wie auch politisch der Konterrevolution den Weg bereitet habe. Und dennoch war Lenin gezwungen einzugestehen, dass die Revolte eine Warnung vor einer weiteren Fortsetzung der Zwangsarbeitsmethoden der kriegskommunistischen Phase bedeutete und eine Art „Normalisierung“ der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse anmahnte. Doch hinsichtlich der Auffassung, dass die Verteidigung der proletarischen Macht in Russland die ausschließliche Rolle der bolschewistischen Partei sei, gab es keinen Kompromiss. Diese Auffassung wurde von vielen russischen Linkskommunisten geteilt. Auf dem 10. Kongress zählten Mitglieder der oppositionellen Gruppen zu den ersten Freiwilligen für den Angriff auf die Kronstädter Garnison. Sogar die KAPD in Deutschland leugnete, dass sie die Rebellen unterstützte. Auch Viktor Serge verteidigte schweren Herzens die Niederschlagung der Revolte als das geringere der beiden Übel, da die Alternative der Sturz der Bolschewiki und der Aufstieg einer neuen weißen Tyrannei sei.

Dennoch gab es innerhalb des revolutionären Lagers diesbezüglich auch Meinungsverschiedenheiten. Da gab es natürlich die Anarchisten, die schon viele richtige Kritiken an den Exzessen der Tscheka und der Unterdrückung der Organisationen der Arbeiterklasse geübt hatten. Doch der Anarchismus bietet wenige nützliche Lehren aus dieser Erfahrung, da aus seiner Sicht die Reaktion der Bolschewiki auf die Revolte von Anfang an dem Wesen einer jeden marxistischen Partei entsprach.

In Kronstadt selbst schlossen sich jedoch auch viele Bolschewiki auf der Grundlage der ursprünglichen Ideale des Oktober 1917 dem Aufstand an: für die Sowjetmacht und die Weltrevolution. Der Linkskommunist Mjasnikow verweigerte die Unterstützung derjenigen, die sich am Angriff auf die Garnison beteiligt hatten. Er ahnte die katastrophalen Ergebnisse, die die Niederschlagung der Arbeiterrevolte durch den „Arbeiterstaat“ verursachen würde. Damals war dies noch eine Ahnung. Erst in den 1930er Jahren, als die Italienischen Linkskommunisten sich mit der Frage befassten, konnten mit größter Klarheit die Lehren daraus gezogen werden. Die Italienische Linke, die die Revolte als ohne Zweifel proletarisch bezeichnete, meinte, dass die Ausübung von Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse aus Prinzip abgelehnt werden müsse; dass die Arbeiterklasse über Mittel zu ihrer eigenen Verteidigung gegen den Übergangsstaat verfügen müsse, der aufgrund seines Wesens Gefahr laufe, ein Anziehungspunkt für die Kräfte der Konterrevolution zu werden, und dass die Kommunistische Partei sich nicht mit dem Staatsapparat vermischen dürfe, sondern ihre Unabhängigkeit ihm gegenüber bewahren müsse. Die Italienische Linke stellte die Prinzipien über den Schein der Zweckmäßigkeit. Deshalb war sie auch der Auffassung, dass es besser gewesen wäre, Kronstadt zu verlieren, als die Macht zu behalten, da dadurch die grundlegenden Ziele der Revolution untergraben worden seien.

1921 stand die Partei vor einem historischen Dilemma: die Macht zu behalten und zu einem Träger der Konterrevolution zu werden oder in die Opposition zu gehen und in den Reihen der Arbeiterklasse tätig zu werden. Indes war die Verschmelzung zwischen Partei und Staat schon zu weit fortgeschritten, als dass die Partei in ihrer Gesamtheit den letztgenannten Weg hätte einschlagen können. Daher stand konkret die Arbeit einer linken Fraktion an, die innerhalb und außerhalb der Partei tätig werden musste, um sich der zunehmenden Degeneration zu widersetzen. Das Fraktionsverbot innerhalb der Partei nach dem 10. Kongress bedeutete, dass diese Aufgabe zunehmend außerhalb der Partei und schließlich gegen die bestehende Partei angegangen werden musste.

3. 1922–23: Die kommunistischen Fraktionen gegen die ansteigende Konterrevolution (International Review Nr. 101)

Die Konzessionen an die Bauernschaft – für Lenin waren sie eine unumgängliche Notwendigkeit, die durch den Kronstädter Aufstand um so dringender geworden waren – fanden ihren Ausdruck in der Neuen Ökonomischen Politik. Diese wurde als ein zeitweiliger Rückzug angesehen, der es der vom Krieg zerrissenen proletarischen Macht erlauben werde, ihre in Schutt und Asche liegende Wirtschaft wieder aufzubauen, um sich so als Bastion der Weltrevolution am Leben zu halten. In der Praxis jedoch führte der Versuch, die Isolation des Sowjetstaates zu durchbrechen, zu grundlegenden Konzessionen in Grundsatzfragen, nicht nur bezüglich des Handels mit kapitalistischen Mächten (was als solches kein Bruch der Prinzipien war), sondern auch bezüglich geheimer militärischer Bündnisse, wie der Rapallo–Vertrag mit Deutschland. Und neben diesen militärischen Bündnissen entstanden unnatürliche politische Allianzen mit Kräften der Sozialdemokratie, die zuvor als der linke Flügel der Bourgeoisie entlarvt worden waren. Dies war die Politik der „Einheitsfront“, die vom 3. Kongress der Komintern verabschiedet worden war.

Lenin hatte bereits 1918 behauptet, dass der Staatskapitalismus für ein rückständiges Land wie Russland einen Schritt vorwärts bedeute; 1922 behauptete er ferner, dass der Staatskapitalismus dem Proletariat nützen könne, solange er von einem „proletarischen Staat“ geleitet werde. Gleichzeitig jedoch musste er einräumen, dass der Staat – weit entfernt davon der Staat zu sein, den man in der Revolution geerbt hatte – dabei war, alles zu lenken, aber nicht in die Richtung, die man sich erhoffte, sonern hin zur Restaurierung der Bourgeoisie.

Lenin erkannte schnell, dass die Kommunistische Partei selbst zutiefst von diesem Prozess der Regression erfasst worden war. Zunächst führte er das Problem hauptsächlich auf die unteren Schichten von kulturlosen Bürokraten zurück, die begonnen hatten, massenhaft in die Partei einzudringen. Aber in seinen letzten Lebensjahren wurde ihm auf schmerzhafte Weise klar, dass der Fäulnisprozess bis in die höchsten Ebenen der Partei vorgedrungen war. Wie Trotzki hervorhob, konzentrierte sich Lenins letzter Kampf hauptsächlich auf Stalin und den aufkommenden Stalinismus. Im Gefängnis des Staates eingesperrt, war Lenin jedoch unfähig, mehr als nur administrative Maßnahmen zur Eindämmung der aufkommenden Bürokratie vorzuschlagen. Hätte er länger gelebt, wäre er sicher dazu gedrängt worden, eine oppositionellere Haltung einzunehmen; so aber musste der Kampf gegen die aufsteigende Konterrevolution jetzt von anderen übernommen werden.

1923 brach die erste Wirtschaftskrise in der Phase der NEP aus. Für die Arbeiterklasse hieß dies Lohnkürzungen und Stellenstreichungen sowie eine Welle von spontanen Streiks. Innerhalb der Partei rief sie Konflikte und Debatten hervor; auch brachte sie neue Oppositionsgruppen hervor. Ihr erster expliziter Ausdruck war die Plattform der 46, der auch Prominente wie Trotzki (er wurde damals schon zunehmend von dem herrschenden Triumvirat Stalin, Kamenew und Sinowjew kritisiert) und Mitglieder der Gruppe Demokratischer Zentralismus angehörten. Die Plattform kritisierte die Bereitschaft, die NEP als adäquaten Weg zum Sozialismus zu betrachten; sie forderte mehr statt weniger zentrale Planung. Wichtiger noch – sie warnte vor der zunehmenden Erdrosselung des Parteilebens.

Gleichzeitig distanzierte sich die Plattform von den radikaleren oppositionellen Gruppen, die damals entstanden waren. Die wichtigste unter ihnen war die Arbeitergruppe Mjasnikows, die an den Streiks in den Industriezentren beteiligt war. Obwohl sie als eine verständliche, aber „morbide“ Reaktion gegen die aufkommende Bürokratie angesehen wurde, war das Manifest der Arbeitergruppe in Wirklichkeit ein Ausdruck der Ernsthaftigkeit der russischen Kommunistischen Linken:

– Die Schwierigkeiten des Sowjetregimes erklärten sie mit der Isolation und der fehlgeschlagenen Ausdehnung der Revolution.

– Ihre Kritik an der opportunistischen Politik der Einheitsfront war hellsichtig; sie bekräftigte ihre ursprüngliche Analyse, dass die sozialdemokratischen Parteien Verteidiger des Kapitalismus seien.

– Sie warnten vor den Gefahren des Aufkommens einer neuen kapitalistischen Oligarchie und riefen zur Erneuerung der Sowjets und der Fabrikkomitees auf.

– Gleichzeitig waren sie äußerst vorsichtig bei der Einschätzung der Charakteristiken des Sowjetregimes und der bolschewistischen Partei. Im Gegensatz zu Bogdanows Gruppe Arbeiterwahrheit wollten sie nichts mit der Idee zu tun haben, dass die Revolution oder die bolschewistische Partei von Anfang an bürgerlich gewesen sei. Sie begriffen ihre Rolle im Wesentlichen als die einer linken Fraktion, die innerhalb und außerhalb der Partei für ihre Wiederaufrichtung kämpfte.

Die Linkskommunisten waren deshalb die theoretische Avantgarde im Kampf gegen die Konterrevolution in Russland. Die Tatsache, dass Trotzki 1923 eine offen oppositionelle Haltung eingenommen hatte, war in Anbetracht seines Rufs als Führer des Oktoberaufstandes von großer Bedeutung. Jedoch zeichnete sich im Vergleich zu den kompromisslosen Positionen der Arbeitergruppe Trotzkis Opposition gegen den Stalinismus durch eine zögerliche und zentristische Herangehensweise aus:

– Trotzki verpasste eine Reihe von Gelegenheiten, einen offenen Kampf gegen den Stalinismus zu führen; insbesondere zögerte er, Lenins „Testament“ zu benutzen, um Stalin anzuprangern und ihn aus der Parteiführung zu drängen.

– Er neigte dazu, während vieler Debatten innerhalb des bolschewistischen Zentralorgans zu schweigen.

Diese Schwächen sind vor allem auf Charakterfragen zurückzuführen. Trotzki war kein durchtriebener Intrigant wie Stalin, er besaß keine umfassenden persönlichen Ambitionen. Aber es gab noch tiefer liegende, politische Gründe für Trotzkis Unfähigkeit, seine Kritik so weit wie die radikalen Schlussfolgerungen der Kommunistischen Linken zu entwickeln.

– Trotzki hatte nie verstanden, dass Stalin und seine Fraktion keine verirrte, fehlgeleitete zentristische Tendenz innerhalb der Arbeiterbewegung darstellten, sondern die Speerspitze einer bürgerlichen Konterrevolution.

– Trotzkis eigener Werdegang als eine Person im Mittelpunkt des Sowjetregimes erschwerte es ihm, sich von dem Prozess des Niedergangs zu lösen. Ein tief in der Partei verwurzelter „Parteipatriotismus“ erschwerte es zudem Trotzki und anderen Oppositionellen anzuerkennen, dass die Partei sich irren kann.

4. 1924–28: Der Triumph des stalinistischen Staatskapitalismus (International Review Nr. 102)

1927 hatte Trotzki akzeptiert, dass die Gefahr einer bürgerlichen Restaurierung in Russland bestand – eine Art schleichende Konterrevolution ohne den formellen Sturz des bolschewistischen Regimes. Aber er unterschätzte sehr stark, bis zu welchem Punkt dieser Prozess schon gereift war, ja dass er nahezu abgeschlossen war.

– Es war für ihn sehr schwer zu begreifen, dass er selbst in großem Maße am Niedergangsprozess beteiligt war (durch die Politik der Militarisierung der Arbeit, der Niederschlagung Kronstadts usw.).

– Während er begriff, dass die Probleme, vor denen die Sowjetunion stand, ein Ergebnis der Isolierung und des Rückzugs der internationalen Revolution waren, verstand Trotzki nicht das Ausmaß der Niederlage, die die Arbeiterklasse im Begriff war zu erleiden. Vor allem aber erkannte er nicht, dass die Sowjetunion schon dabei war, sich in das imperialistische Weltsystem einzugliedern.

– Trotzki glaubte, dass der russische „Thermidor“ durch einen Sieg jener Kräfte erfolgen würde, die auf eine Rückkehr des Privateigentums (NEP–Leute, Kulaken, die Rechte um Bucharin) drängten. Der Stalinismus wurde als eine Art Zentrismus, nicht als eine Speerspitze der staatskapitalistischen Konterrevolution definiert.

Die ökonomischen Theorien der linken Opposition um Trotzki erschwerten die Erkenntnis, dass der „Sowjetstaat“ selbst zum direkten Träger der Konterrevolution geworden war, ohne dass es eine Rückkehr zum klassischen Privateigentum gegeben hatte. Die Bedeutung der Erklärung Stalins vom „Sozialismus in einem Land“ wurde sehr spät und nie vollständig begriffen. Durch den Tod Lenins und die offensichtliche Stagnation der Weltrevolution mutiger geworden, vollzog Stalin mit dieser Erklärung einen offenen Bruch mit dem Internationalismus und verpflichtete sich, Russland zu einer imperialistischen Weltmacht aufzubauen. Dies stand im völligen Gegensatz zum Bolschewismus des Jahres 1917, der betont hatte, dass der Sozialismus nur das Ergebnis einer erfolgreichen Weltrevolution sein kann. Aber je mehr die Bolschewiki an der Verwaltung des Staates und der Wirtschaft in Russland beteiligt und durch sie absorbiert wurden, um so mehr neigten sie dazu, die Verwirklichung des Sozialismus auch in einem isolierten und rückständigen Land zu theoretisieren. So wurde die Debatte über die NEP beispielsweise aus diesem Blickwinkel betrachtet: Die Rechte argumentierte, dass der Sozialismus durch das Wirken der Marktkräfte eingeführt werden könne, wohingegen die Linke die Rolle der Planwirtschaft und der Schwerindustrie betonte. Preobrashenski, der Haupttheoretiker der linken Opposition in ökonomischen Fragen, sprach von der Überwindung des kapitalistischen Wertgesetzes durch ein Monopol im Außenhandel und der Akkumulation im staatlichen Sektor. Man nannte dies gar „primitive sozialistische Akkumulation“.

Die Theorie der primitiven sozialistischen Akkumulation verwechselte fälschlicherweise das Wachstum der Industrie mit den Interessen der Arbeiterklasse und des Sozialismus. In Wirklichkeit war ein Industriewachstum in Russland nur durch die wachsende Ausbeutung der Arbeiterklasse möglich. Kurzum, primitive sozialistische Akkumulation konnte nur heißen: Akkumulation von Kapital. Deshalb warnte die Italienische Linke zum Beispiel vor jeder Tendenz, industrielles Wachstum oder die Verstaatlichung von Industrien als eine fortschrittliche, zum Sozialismus weisende Maßnahme zu betrachten.

Nach dem Auseinanderbrechen des herrschenden Triumvirates wurde der Kampf gegen die Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ von der Gruppe um Sinowjew aufgenommen. Dies führte zur Bildung der Vereinigten Opposition 1926, die anfangs auch die Demokratischen Zentralisten umfasste. Obwohl man sich formell dem Verbot der Bildung von Fraktionen unterwarf, war die neue Opposition zunehmend gezwungen, ihre Kritik am Regime auf die unteren Ränge der Partei und sogar direkt auf die Arbeiter auszudehnen. Dabei stieß sie auf Drohungen, Beleidigungen, erfundene Beschuldigungen, Repression und Ausschluss. Dennoch war sie noch immer nicht in der Lage, das Wesen dessen, wogegen sie kämpfte, zu begreifen. Stalin machte sich ihren Wunsch nach Versöhnung innerhalb der Partei zunutze, indem er sie zwang, auf jede so genannte Fraktionsaktivität zu verzichten. Die Gruppe um Sinowjew und einige Anhänger Trotzkis kapitulierten sofort. Und als Stalin 1928 seine „Linkswende“ und eine zügige Industrialisierungspolitik verkündete, nahmen viele Trotzkisten, Preobrashenksi eingeschlossen, an, dass Stalin doch noch ihre Positionen übernommen habe.

Gleichzeitig jedoch gerieten jene Mitglieder der Opposition unter den wachsenden Einfluss der Linkskommunisten, denen es besser gelungen war zu begreifen, dass die Konterrevolution schon eingetreten war. Die Demokratischen Zentralisten zum Beispiel, die zwar noch Hoffnungen auf eine radikale Reform des Sowjetregimes hegten, waren sich weitaus klarer darüber, dass die verstaatliche Industrie nicht mit dem Sozialismus gleichzusetzen war, dass die Verschmelzung zwischen Staat und Partei zur Liquidierung der Partei führte und dass die Außenpolitik des Sowjetregimes sich zunehmend gegen die internationalen Interessen des Proletariats richtete. Nach dem massenhaften Ausschluss der Opposition 1927 entwickelten die Linkskommunisten mehr und mehr die Auffassung, dass Regime und Partei nicht mehr reformierbar waren. Die Reste der Mjasnikow–Gruppe spielten eine Schlüsselrolle bei der nun einsetzenden Radikalisierung. Doch im Verlauf der nächsten Jahre sollten die lebhaften Debatten über das Wesen des Regimes vor allem in Stalins Gefängnissen geführt werden.

5. Die Lösung des russischen Rätsels: 1926–36 (International Review Nr. 105)

In Anbetracht des Ausmaßes der Niederlage verlagerte sich jetzt der Schwerpunkt der Bemühungen, das Wesen des stalinistischen Regimes zu begreifen, nach Westeuropa. In dem Maße, wie die Kommunistischen Parteien „bolschewisiert“, d.h. in leicht beeinflussbare Instrumente der russischen Außenpolitik verwandelt wurden, entstand in ihren Reihen eine Vielzahl von Oppositionsgruppen, die sich jedoch schnell von der Partei abspalteten oder ausgeschlossen wurden.

In Deutschland umfassten diese Gruppen manchmal Tausende von Mitgliedern, wenngleich ihre Mitgliederzahlen schnell schrumpften. Die KAPD existierte noch und intervenierte gegenüber diesen Gruppen. Eine der bekanntesten war die Gruppe um Karl Korsch; die Korrespondenz zwischen ihm und Bordiga in Italien verdeutlicht viele der Probleme, vor denen die Revolutionäre damals standen.

Eines der Merkmale der Deutschen Linken – ein Faktor, der zu ihrem organisatorischen Zerfall mit beitrug – war die Tendenz, voreilige Schlüsse über das Wesen des neuen Systems in Russland zu ziehen. Während sie dessen kapitalistisches Wesen erkannten, waren sie oft nicht in der Lage, die Hauptfrage zu beantworten: Wie kann sich eine proletarische Macht in ihr Gegenteil verkehren? Oft bestand ihre Antwort in der Leugnung, dass diese jemals proletarisch gewesen war. Man behauptete, dass die Oktoberrevolution nichts anderes als eine bürgerliche Revolution und die Bolschewiki nichts als eine Partei der Intelligentsia gewesen seien.

Bordigas Antwort verkörperte die eher geduldigere Methode der Italienischen Linken. Sie war gegen den überstürzten Versuch des Aufbaus einer Organisation ohne eine gesunde programmatische Grundlage. Bordiga unterstützte die Notwendigkeit einer umfassenden und tief greifenden Diskussion der Lage, die viele neue Fragen aufgeworfen hatte. Dies war die einzige Grundlage einer substanziellen Umgruppierung. Gleichzeitig weigerte er sich, den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution in Frage zu stellen. Statt dessen betonte er, dass die Frage, vor der die revolutionäre Bewegung stünde, laute: Wie konnte eine isolierte, auf ein Land beschränkte proletarische Macht in einen solchen Prozess der inneren Degeneration geraten?

Mit dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland verlagerte sich erneut der geographische Schwerpunkt der Diskussionen – dieses Mal nach Frankreich, wo eine Reihe von Oppositionsgruppen 1933 eine Konferenz in Paris abhielt, um über das Wesen des Regimes in Russland zu diskutieren. Es beteiligten sich auch die „offiziellen“ Anhänger Trotzkis, doch die meisten Gruppen standen eher links, wie auch die Exilgruppe der Italienischen Linken. In der Konferenz tauchten viele Theorien über den Charakter des Regimes auf, von denen viele sich stark widersprachen: dass es sich um einen Klassensystem neuen Typs handelte, welches man nicht mehr unterstützen dürfe; dass es sich um ein Klassensystem neuen Typs handelte, welches man dennoch weiter unterstützen müsse; dass es ein proletarisches Regime geblieben sei, welches man aber nicht mehr verteidigen dürfe… All dies spiegelte die großen Schwierigkeiten der Revolutionäre wider zu begreifen, in welche Richtung sich die Sowjetunion entwickelte und was dies bedeutete. Aber es zeigte auch, dass die „orthodoxe“ trotzkistische Position – wonach die UdSSR trotz ihrer Entartung ein Arbeiterstaat bleibe und gegen den Imperialismus verteidigt werden müsse – von verschiedenen Seiten angegriffen wurde.

Größtenteils aufgrund dieses Drucks seitens der Linken schrieb Trotzki 1936 seine berühmte Analyse der russischen Revolution: „Die verratene Revolution“.

Dieses Buch belegt, dass Trotzki, obwohl er zunehmend dem Opportunismus anheim fiel, ein Marxist geblieben war. So zertrümmerte er schlagfertig die Behauptung des Stalinismus, die UdSSR sei ein Paradies für die Arbeiter. Sich auf die Aussage Lenins stützend, dass der Übergangsstaat „ein bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie“ ist, lieferte er wichtige Erkenntnisse über das Wesen dieses Staates und seine von ihm für das Proletariat ausgehende Gefahr. Trotzki kam damals sogar zur Schlussfolgerung, dass die alte bolschewistische Partei tot sei und die Bürokratie nicht mehr reformiert werden könne, sondern mit Gewalt gestürzt werden müsse. Doch das Buch hat eine fundamentale Schwäche – es wendet sich ausdrücklich gegen die Auffassung, dass die UdSSR eine Form des Staatskapitalismus war. Trotzki verteidigte hartnäckig die These, dass die staatlichen Eigentumsformen ein Beleg für den proletarischen Charakter des russischen Staates seien. Während er theoretisch eingestand, dass es in der kapitalistischen Niedergangsphase eine Tendenz zum Staatskapitalismus gibt, lehnte er die Idee ab, dass die stalinistische Bürokratie eine neue herrschende Klasse sei, denn sie besitze keine Aktien und könne ihr Eigentum nicht weiter vererben. Damit reduzierte er das Kapitwal auf eine juristische Form, anstatt es als ein im Wesentlichen unpersönliches gesellschaftliches Verhältnis zu betrachten.

Und was die Idee angeht, dass die UdSSR immer noch ein Arbeiterstaat sei, obgleich er selbst eingestehen musste, dass die Arbeiterklasse als solche von der politischen Macht völlig ausgeschlossen war, so brachte dies ein mangelndes, oberflächliches Verständnis des Wesens der proletarischen Revolution zum Vorschein. Die proletarische Revolution ist die erste Revolution in der Geschichte, die das Werk einer eigentumslosen Klasse ist; eine Klasse, die nicht über ihre eigenen Wirtschaftsformen verfügt und die ihre Befreiung nur erreichen kann, wenn sie in der Lage ist, ihre politische Macht als einen Hebel zu benutzen, um die „spontanen“ Gesetze der Wirtschaft unter die bewusste Kontrolle der Menschen zu bringen.

Vor allem aber zwang Trotzkis Charakterisierung der UdSSR seine Bewegung dazu, in der ganzen Welt den Stalinismus radikal zu verteidigen. Dies ging deutlich aus Trotzkis Argument hervor, wonach das schnelle Industriewachstum unter Stalin – das sich auf eine schreckliche Ausbeutung der Arbeiterklasse stützte und Teil der Vorbereitungen der Kriegswirtschaft im Hinblick auf eine neue imperialistische Aufteilung der Welt war – ein Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus sei. Es wurde auch offenkundig angesichts Trotzkis entschlossener Unterstützung der russischen Außenpolitik und der kompromisslosen Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Angriffe zu einer Zeit, als der russische Staat selbst zu einem aktiven Mitspieler auf der imperialistischen Weltbühne geworden war. Diese Analyse barg den Keim für den Verrat der Trotzkisten am Internationalismus im II. Weltkrieg in sich.

Trotzkis Buch gab der Idee Auftrieb, dass die Frage der Sowjetunion noch nicht endgültig geklärt sei und dass dies nur entscheidende historische Ereignisse wie ein Weltkrieg regeln könnten. In seinen letzten Schriften, in denen er sich möglicherweise der Risse in seiner Theorie des „Arbeiterstaates“ bewusst wurde, aber noch zögerte anzuerkennen, dass die UdSSR ein kapitalistisches Gebilde war, begann er darüber zu spekulieren, dass, wenn der Stalinismus eine neue Form der Klassenherrschaft darstellte, die weder kapitalistisch noch sozialistisch wäre, der Marxismus seine Glaubwürdigkeit verloren hätte. Trotzki selbst wurde ermordet, bevor er sich dazu äußern konnte, ob der Krieg in der Tat das „russische Rätsel“ gelöst hatte. Doch nur diejenigen unter seinen Gefolgsleuten, welche dem Weg folgten, den die Kommunistische Linke eingeschlagen hatte, und die Analyse des Staatskapitalismus übernahmen (wie Stinas in Griechenland, Munis in Spanien und Trotzkis Frau Natalia), blieben dem proletarischen Internationalismus während und nach dem II. Weltkrieg treu.

6. Das russische Rätsel und die Italienische Kommunistische Linke 1933–46 (International Review Nr. 106)

Die Kommunistische Linke fand ihren klarsten Ausdruck unter jenen Teilen des Weltproletariats, die den Kapitalismus in der revolutionären Welle am stärksten herausgefordert hatten. Neben Russland waren dies das deutsche und italienische Proletariat; folglich waren die Deutsche und Italienische Kommunistische Linke die theoretische Avantgarde der internationalen Kommunistischen Linken.

Als es darum ging, das Wesen des Regimes zu begreifen, das auf den Trümmern der Niederlage in Russland entstanden war, bewies die Deutsche Linke mit ihrer Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, eine gewisse Frühreife. Sie erkannte nicht nur, dass das stalinistische System eine Spielart des Staatskapitalismus war; sie entwickelte auch wichtige Einsichten in den Staatskapitalismus als eine universelle Tendenz des krisengeschüttelten Kapitalismus. Dennoch waren diese Erkenntnisse zu oft mit der Neigung verbunden, die Solidarität mit der Oktoberrevolution aufzukündigen und den Bolschewismus als Speerspitze einer bürgerlichen Revolution zu bezeichnen. In dieser Auffassung spiegelte sich die Überstürzung wider, in der die Deutsche Linke die Notwendigkeit einer proletarischen Partei aufgab und die Rolle der revolutionären Organisation unterschätzte.

Die Italienische Linke dagegen brauchte lange, um das Wesen der UdSSR klar zu begreifen, aber sie ging an die Frage mit größerer Vorsicht und Stringenz heran. Ihre grundlegenden Prämissen waren:

– Sie hielt an der Überzeugung fest, dass der Rote Oktober eine proletarische Revolution gewesen war.

– Da der Weltkapitalismus ein im Niedergang befindliches System war, stand die bürgerliche Revolution nirgendwo mehr auf der Tagesordnung.

– Vor allem durfte es keinen Kompromiss beim proletarischen Internationalismus geben, der eine totale Ablehnung der Auffassung vom „Sozialismus in einem Lande“ bedeutete.

Trotz dieser soliden Grundlagen war die Auffassung der Italienischen Linken über das Wesen der UdSSR in den 1930er Jahren sehr widersprüchlich. Oberflächlich betrachtet, teilten sie mit Trotzki die Auffassung, dass die UdSSR ein proletarischer Staat sei, da er staatliche Eigentumsformen aufrecht halte. Die stalinistische Bürokratie wurde eher als eine parasitäre Kaste denn als eine eigenständige Ausbeuterklasse bezeichnet.

Aber der tief verwurzelte Internationalismus der Italienischen Linken zog eine scharfe Trennungslinie zu den Trotzkisten, deren Position, die Verteidigung des degenerierten Arbeiterstaates, sie in die Fänge des imperialistischen Krieges trieb, in ihre Teilnahme an ihm. Die theoretische Zeitschrift der Italienischen Linken, Bilan, erschien ab 1933. Nach anfänglichem Zögern überzeugten die Ereignisse jener Zeit (Hitlers Machtergreifung, die Unterstützung der französischen Wiederbewaffnung, Russlands Beitritt zum Völkerbund, der Krieg in Spanien) Bilan, dass, auch wenn die UdSSR proletarisch blieb, sie dennoch nun eine konterrevolutionäre Rolle auf der ganzen Welt spielte. Deshalb verlangten die internationalen Interessen der Arbeiterklasse, dass die Revolutionäre ihre Solidarität mit diesem Staat verweigerten.

Diese Analyse war mit Bilan’s Erkenntnis verbunden, dass das Proletariat eine historische Niederlage erlitten hatte und die Welt sich auf einen neuen imperialistischen Krieg hinbewegte. Bilan sagte mit bestechender Genauigkeit voraus, dass die UdSSR sich letztendlich mit dem einen oder anderen in der Bildung befindlichen Block verbünden werde. Damit lehnte sie die Auffassung Trotzkis ab, derzufolge die UdSSR grundsätzlich feindlich gegenüber dem Weltkapital eingestellt sei und die imperialistischen Mächte zum Zusammenschluss gegen sie gezwungen seien.

Im Gegenteil, Bilan meinte, dass trotz des Überlebens der “kollektivierten” Eigentumsformen die Arbeiterklasse in der UdSSR einer rücksichtslosen kapitalistischen Ausbeutung unterworfen sei. Die beschleunigte Industrialisierung, die als “Aufbau des Sozialismus” tituliert wurde, bedeutete nichts anderes als den Aufbau einer Kriegswirtschaft, welche es der UdSSR ermöglichen sollte, sich an der nächsten imperialistischen Aufteilung der Beute zu beteiligen. Deshalb lehnte Bilan Trotzkis Lobpreisungen der Industrialisierung in der UdSSR ab.

Bilan war sich des Weiteren bewusst darüber, dass es auch in den westlichen Ländern eine wachsende Tendenz zum Staatskapitalismus gab, ob er nun in Gestalt des Faschismus oder des demokratischen “New Deal” auftrat. Dennoch zögerte Bilan, den letzten Schritt zu machen – anzuerkennen, dass die stalinistische Bürokratie tatsächlich eine Staatsbourgeoisie war. Statt sie als Verkörperung einer neuen kapitalistischen Klasse zu betrachten, sah man sie als “Vertreter des Weltkapitals”.

Nachdem die Auffassung vom “proletarischen Staat” mit den Ereignissen in der realen Welt immer mehr in Konflikt geraten war, begann eine Minderheit von Genossen in der Fraktion die ganze Theorie in Frage zu stellen. Und es war kein Zufall, dass diese Minderheit am besten dafür gerüstet war, die anfängliche Verwirrung zu überstehen, die der Kriegsausbruch in der Fraktion ausgelöst hatte. Diese war zuvor durch die revisionistische Theorie der “Kriegswirtschaft” in eine Sackgasse geführt worden – eine Theorie, derzufolge kein Weltkrieg stattfinden werde.

Es war immer als selbstverständlich angesehen worden, dass die russische Frage so oder so durch den Ausbruch des Krieges gelöst werden würde. Und für die klarsten Teile der Italienischen Linken lieferte die Beteiligung der UdSSR am imperialistischen Räuberkrieg den letzten Beweis. Die kohärentesten Argumente für die Position, dass die UdSSR imperialistisch und kapitalistisch sei, wurden von jenen Genossen entwickelt, die die Arbeit Bilan‘s in der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken und, nach dem Krieg, in der Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs) fortsetzten. Durch die Integration der wertvollsten Erkenntnisse der Deutschen Linken – ohne dabei rätekommunistischen Verleumdungen der Oktoberrevolution auf dem Leim zu gehen – zeigte diese Strömung auf, warum der Kapitalismus in seiner Niedergangsphase hauptsächlich die Form des Staatskapitalismus annahm. Was Russland anbetraf, so wurden die letzten Reste einer “juristischen” Definition des Kapitalismus über Bord geworfen. Es wurde die grundlegende marxistische Auffassung bekräftigt, dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis ist, das von einem zentralisierten Staat genauso wie von einer Gruppe von Privatkapitalisten ausgeübt werden kann. Und es wurde die notwendige Schlussfolgerung bezüglich der proletarischen Herangehensweise gegenüber der Übergangsperiode gezogen. Die Fortentwicklung zum Kommunismus kann nicht daran gemessen werden, in welchem Maße der staatliche Bereich wächst – denn damit ist die große Gefahr einer Rückkehr des Kapitalismus verbunden –, sondern in der Tendenz, dass lebendige Arbeit tote Arbeit beherrscht und dass die Produktion für den Mehrwert durch eine Produktion ersetzt wird, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse abzielt.

7. Die Debatte über die „proletarische Kultur“ im revolutionären Russland (International Review, Nr. 109)

Entgegen der zunehmend oberflächlichen Herangehensweise an das Problem der Kultur im bürgerlichen Denken, die dazu neigt, die Kultur auf die unmittelbarsten Ausdrücke bestimmter Länder bzw. ethnischer Gruppen oder gar auf den Status vorübergehender gesellschaftlicher Verhaltensweisen zu reduzieren, stellt der Marxismus die Frage in ihrem umfassendsten und tiefsten historischen Zusammenhang: die grundlegenden Charakteristiken der Menschheit und ihrer Entstehung aus der Natur im Rahmen der großen Zyklen aufeinander folgender Produktionsformen, die die Geschichte der Menschheit kennzeichnen.

Die proletarische Revolution in Russland, die so viele reichhaltige Lehren hinsichtlich der politischen und ökonomischen Ziele der Arbeiterklasse enthält, war auch auf dem Gebiet der Kunst und Kultur von einer kurzen, aber mächtigen Explosion der Kreativität geprägt – in der Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik und Literatur, in der praktischen Organisierung des Alltagslebens auf gemeinschaftlicher Grundlage, in den Humanwissenschaften wie die Psychologie und so weiter. Gleichzeitig wurde die allgemeine Frage des Übergangs der Menschheit von der bürgerlichen Kultur zu einer höheren, kommunistischen Kultur aufgeworfen.

Eine der Hauptdiskussionen unter den russischen Revolutionären kreiste um die Frage, ob dieser Übergang zur Entwicklung einer spezifischen proletarischen Kultur führen werde. Da auch frühere Kulturen aufs Engste mit den Ansichten der herrschenden Klasse verbunden waren, schienen manche zu meinen, dass die Arbeiterklasse, sobald sie zur herrschenden Klasse geworden ist, ihre eigene Kultur schaffen werde, die im Gegensatz zur Kultur der alten, ausbeutenden Klasse stehen werde. Dies war jedenfalls die Meinung der “Proletkult”–Bewegung, die in den ersten Jahren nach der Revolution über eine große Anhängerschaft verfügte.

In einer dem „Proletkult“–Kongress von 1920 vorgelegten Resolution schien selbst Lenin diese Idee einer besonderen proletarischen Kultur zu akzeptieren. Gleichzeitig kritisierte er gewisse Aspekte der „Proletkult“–Bewegung: ihre philisterhafte „Arbeitertümelei“, die dazu führte, die Arbeiterklasse in ihrem Ist–Zustand zu idealisieren, statt ihren Soll–Zustand anzustreben, und ihr Hang zur bilderstürmerischen Ablehnung der früheren kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Lenin misstraute der Gruppe „Proletkult“ auch wegen ihrer Tendenz, als eine eigenständige Partei mit eigenem Organisationsapparat und eigenem Programm aufzutreten. So empfahl Lenin in seiner Resolution, dass die Orientierung der Kulturarbeit im Sowjetregime unter der direkten Leitung des Staates stehen sollte. Doch im Grunde lag Lenins Hauptinteresse in Kulturfragen woanders. Aus seiner Sicht hatte die Kulturfrage weniger mit der grandiosen Fragestellung zu tun, ob es eine neue proletarische Kultur in Sowjetrussland geben kann, als vielmehr mit dem Problem, die gewaltige kulturelle Rückständigkeit der russischen Massen zu überwinden, unter denen mittelalterliche Sichtweisen und der Aberglaube noch ein großes Gewicht hatten. Lenin war sich des niedrigen kulturellen Entwicklungsstandes der Massen bewusst; er wusste, dass dies ein Nährboden für die Ausbreitung der Geißel der Bürokratie im Sowjetstaat werden kann. Die Anhebung des kulturellen Niveaus der Massen war für Lenin ein Mittel zur Bekämpfung dieser Geißel und zur Verstärkung der Fähigkeit der Massen, die politische Macht in den Händen zu behalten.

Trotzki dagegen entwickelte eine tiefergehende Kritik der „Proletkult“–Bewegung. Aus seiner Sicht, die er in einem Kapitel seines Buches „Literatur und Revolution“ darstellte, war der Begriff proletarische Kultur als solcher schon eine unzutreffende Bezeichnung. Als ausbeutende Klasse, die ihre ökonomische Macht über eine ganze Zeit lang innerhalb des Rahmens des alten Feudalsystems aufbauen konnte, konnte die Bourgeoisie auch eine eigene, spezifische Kultur entfalten. Dies trifft auf das Proletariat nicht zu, das als eine ausgebeutete Klasse nicht über die materiellen Grundlagen für die Entwicklung einer eigenen Kultur innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verfügt. Es stimmt, dass das Proletariat während der Übergangsperiode zum Kommunismus zur herrschenden Klasse werden muss, doch handelt es sich dabei lediglich um eine vorübergehende politische Diktatur, deren Endziel nicht darin besteht, die Existenz des Proletariat als solches unbegrenzt aufrechtzuerhalten, sondern darin, das Proletariat in der neuen menschlichen Gemeinschaft aufzulösen. Die Kultur dieser neuen Gemeinschaft wird die erste wirklich menschliche Kultur sein, die alle früheren kulturellen Fortschritte, die die Gattung Mensch erzielt hat, integrieren wird.

Trotzki verfasste sein Buch „Literatur und Revolution“ im Jahr 1924. Es war ein wichtiges Werkzeug in Trotzkis Kampf gegen den emporkommenden Stalinismus. Nachdem „Proletkult“ durch die Befürwortung der Eigeninitiative der Arbeiter anfangs ein wichtiges Sammelbecken für die linken Gruppen gewesen war, die sich gegen das Aufblähen der sowjetischen Bürokratie stellten, neigten seine Nachfolger später dazu, sich mit der Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ zu identifizieren. Aus ihrer Sicht schien dies in Einklang mit der Auffassung zu stehen, dass eine „neue“ Kultur in der Sowjetunion bereits im Aufbau war. Trotzkis Schriften zur Kultur zeigten auf, dass solche Ansprüche haltlos waren. Er wandte sich auch heftig gegen die Verwandlung der Kunst in eine Staatspropaganda. Stattdessen propagierte er eine „anarchistische“ Politik auf dem Gebiet der Kultur, die von niemand verordnet werden dürfe, weder von der Partei noch vom Staat.

8. Trotzki und die Kultur des Kommunismus (International Review Nr. 111)

Trotzki entwickelt seine Auffassung über die kommunistische Kultur der Zukunft im letzten Kapitel seines Buchs „Literatur und Revolution“. Er wiederholt zunächst seine Ablehnung des Begriffs „proletarische Kultur“ als Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Kunst und Arbeiterklasse in der Übergangsperiode. Stattdessen schlägt er eine Unterscheidung zwischen revolutionärer und sozialistischer Kunst vor. Die erste hebt sich vor allem durch ihren Gegensatz zur bestehenden Gesellschaft hervor. Trotzki meinte gar, dass sie tendenziell von einem „gewissen gesellschaftlichen Hass“ geprägt sein wird. Er warf auch die Frage auf, welche Kunst–“Schule“ einer revolutionären Periode am offensten gegenüber eingestellt sein wird. Er benutzte den Begriff „Realismus“ zur Beschreibung dieses Phänomens. Aber dies hieß in seiner Sicht nicht die geisttötende Unterwerfung der Kunst unter die Staatspropaganda, die von der stalinistischen Schule des „sozialistischen Realismus“ betrieben wurde. Ebenso wenig bedeutete dies, dass Trotzki blind gegenüber der Möglichkeit einer Eingliederung der Errungenschaften von Kunstformen war, die nicht direkt mit der revolutionären Bewegung verbunden waren oder sich gar durch eine verzweifelte Flucht vor der Realität auszeichneten.

Sozialistische Kunst würde Trotzki zufolge von höheren und positiveren Emotionen durchdrungen sein, die in einer Gesellschaft aufblühen werden, die sich auf Solidarität stützt. Gleichzeitig verwarf Trotzki die Idee, dass in einer Gesellschaft, die Klassenspaltungen und andere Quellen von Unterdrückung und Angst überwunden hat, die Kunst steril werden könnte. Im Gegenteil, sie werde dazu neigen, alle Aspekte des Alltaglebens mit einer schöpferischen und harmonischen Energie zu durchdringen. Und da Menschen in einer kommunistischen Gesellschaft immer noch mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens – vor allem Liebe und Tod – konfrontiert sein werden, wird es immer noch Raum für die tragischen Dimensionen der Kunst geben. Hier stimmte Trotzki völlig überein mit der Herangehensweise von Marx an die Frage der Kunst in den Grundrissen, in denen er erklärte, warum die Kunst früherer menschlicher Epochen nicht ihren Charme für uns verlieren werde. Denn die Kunst könne nicht auf die politischen Aspekte des menschlichen Lebens reduziert werden und auch nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einer spezifischen Epoche in der Geschichte, sondern spiegele die grundlegenden Bedürfnisse und Bestrebungen des menschlichen Wesens wider.

Und die Kunst der Zukunft werde auch nicht monolithisch sein. Im Gegenteil, Trotzki fasste sogar die Möglichkeit einer Bildung von “Parteien” ins Auge, die für oder gegen besondere Herangehensweisen in der Kunst oder bei Projekten plädierten, mit anderen Worten: eine lebendige und fortdauernde Debatte unter frei assoziierten gesellschaftlichen Produzenten.

In der zukünftigen Gesellschaft werde die Kunst in der Herstellung von Gütern, im Städtebau und in der Landschaftsgestaltung integriert sein. Weil sie nicht mehr der Bereich von Spezialisten sind wird, wird die Kunst, wie Bordiga es nannte, ein “Plan zum Leben für die menschliche Gattung” werden; sie wird die Fähigkeiten der Menschen ausdrücken, eine Welt zu errichten, die “im Einklang steht mit den Gesetzen der Schönheit”, wie Marx schrieb.

Bei der Landschaftsgestaltung werden die Menschen in Zukunft nicht versuchen, eine längst verloren gegangene ländliche Idylle wiederherzustellen. Die kommunistische Zukunft wird sich auf die fortschrittlichsten Entdeckungen der Wissenschaft und der Technologie stützen. Deshalb wird die Stadt und nicht so sehr das Dorf die Kerneinheit der Zukunft bilden. Doch Trotzki lehnte nicht die Befürwortung einer neuen Harmonie zwischen Stadt und Land und damit eines Endes der gewaltigen, überbevölkerten Megastädte ab, die zu solch einer zerstörerischen Wirklichkeit im dekadenten Kapitalismus geworden sind. Das wird durch Trotzkis Idee deutlich, dass z.B. Tiger und Dschungel von den künftigen Generationen geschützt und in Frieden gelassen werden.

Schließlich wagte Trotzki das Bild der Menschen in einer späteren, weit entfernten kommunistischen Gesellschaft zu umreißen. Diese Menschen werden nicht mehr beherrscht werden durch blinde Natur– und gesellschaftliche Kräfte. Da die Menschheit nicht mehr durch die Todesangst beherrscht wird, wird sie den Instinkten des Lebens freie Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Die Männer und Frauen der Zukunft werden mit Anmut und Präzision vorgehen, sie werden die Gesetze der Schönheit bei der “Arbeit, beim Gehen und im Spiel” befolgen. Der Durchschnittsmensch wird sich auf das “Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx erheben”. Darüber hinaus werde die Menschheit bei der Erkundung und Beherrschung der Tiefen des Unbewussten nicht nur wirklich menschlich werden, sondern sie werde in einem gewissen Sinne auch zu einer neuen Gattung übergehen:

“Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig zu machen, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewussten vorzudringen und sich auf eine Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich–biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen”.

Dies ist sicherlich einer der kühnsten Versuche seitens eines kommunistischen Revolutionärs, die mögliche Zukunft der Menschen zu beschreiben. Da er sich dabei fest auf das wirkliche Potenzial der Menschheit und auf die proletarische Weltrevolution als ihre unabdingbare Vorbedingung stützte, kann seine Auffassung nicht als ein Rückgriff auf den utopischen Sozialismus verworfen werden. Gleichzeitig gelang es ihm, die inspiriertesten Spekulationen der alten Utopisten auf eine solidere Grundlage zu stellen. Dies ist der Kommunismus als ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten.

Editorial: Die einzige Alternative; der Kampf der Arbeiterklasse zur Überwindung des Kapitalismus

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Wieder einmal war der Sommer von der Barbarei des Krieges gekennzeichnet. Zur selben Zeit als alle Nationen ihre Medaillen an den Olympischen Spielen zählten, häuften sich terroristische Attentate im Nahen Osten, Afghanistan, Libanon, Algerien, der Türkei und in Indien. In weniger als zwei Monaten ereigneten sich 16 Attentate in einem zunehmenden makabren Rhythmus und sie forderten unter der Bevölkerung Dutzende von Toten, währen sich der Krieg in Afghanistan und dem Irak verschärfte. In Georgien spielte sich jedoch die dramatischste Zuspitzung der kriegerischen Barbarei ab.

Einmal mehr haben im Kaukasus die Waffen gesprochen und es ist Blut geflossen. Während sich Bush und Putin gemeinsam an der olympischen Eröffnungszeremonie, dem Symbol des Friedens und der Völkerverständigung, grossartig gaben, hatten der georgische Präsident und Schützling des Weissen Hauses Saakaschwili und die russische herrschende Klasse ihre Soldaten aufeinander gehetzt und gegenseitig Massaker an der Zivilbevölkerung befohlen. Wie immer ist die lokale Bevölkerung (seien es Russen, Osseten, Abchasen oder Georgier) die Geisel der verschiedenen nationalen herrschenden Klassen. Auf beiden Seiten haben sich dieselben Horrorszenen abgespielt. In ganz Georgien ist die Zahl der in Lumpen lebenden Flüchtlinge in einer Woche um 115‘000 angestiegen. Und wie in jedem Krieg beschuldigt die eine Seite die andere der Verantwortung für den Ausbruch der Feindseligkeiten.

Doch die Verantwortung für diesen neuen Krieg und die Massaker beschränkt sich nicht nur auf die direkten Kriegstreiber vor Ort. Andere Staaten, die heute heuchlerisch die Rolle des Bedauerns über die Situation in Georgien spielen, haben ihre Finger gleichfalls im Blut getränkt und Grausamkeiten verübt. Seien es die USA im Irak, Frankreich mit dem Genozid 1994 in Ruanda oder Deutschland, das die Abspaltung von Slowenien und Kroatien vorangetrieben und damit 1992 wesentlich zur Auslösung des schrecklichen Krieges in Ex-Jugoslawien beigetragen hatte. Wenn heute die USA im Namen der „humanitären Hilfe“ Kriegsschiffe vor die Küsten des Kaukasus sendet, dann geschieht das nicht aus Sorge um die Menschen, sondern lediglich um dort ihre eigenen Interessen als imperialistischer Geier zu verteidigen.

Bewegen wir uns auf einen dritten Weltkrieg zu? 

Was den Konflikt im Kaukasus kennzeichnet, ist die Zuspitzung der militärischen Spannungen unter den Grossmächten. Die beiden ehemaligen Blockführer, Russland und die USA stehen sich heute wieder in gefährlicher Art und Weise Kopf an Kopf gegenüber: die US-Zerstörer die angeblich zur „Lebensmittelversorgung“ Georgiens eingesetzt wurden, versuchen der russischen Seebasis im abchasischen Gudauta und dem von russischen Panzern besetzten Hafen von Poti entgegen zu wirken. Dieses Kopf an Kopf ist sehr besorgniserregend und man darf sich berechtigterweise verschiedene Fragen stellen: Was sind die Gründe dieses Krieges? Wird er in einen dritten Weltkrieg münden?

Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 war der Kaukasus immer eine Region von wichtiger geostrategischer Bedeutung für die Grossmächte. Der Konflikt schwelte schon seit langem. Der georgische Präsident, eine Schützling Washingtons, erbte einen Staat, der bei seiner Gründung 1991 vollständig von den USA unterstützt wurde, um für die „neue Weltordnung“ von Bush Senior einen Stützpunkt zu haben. Wenn nun Putin Saakaschwili eine Falle gestellt hat, in die dieser auch getappt ist, so hatte dies zum Ziel, Russlands Autorität in Kaukasus wieder herzustellen. Es war eine Antwort auf die Einkreisung Russlands seit 1991 durch die NATO-Staaten. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 wurde Russland immer mehr isoliert, vor allem seit seine ehemaligen Vasallenstaaten (wie Polen) in die NATO eingetreten sind. Doch diese Isolation ist für Moskau nicht mehr akzeptierbar geworden, seit die Ukraine und Georgien ebenfalls ihren Beitritt in die NATO gestellt haben. Russland konnte vor allem auch die geplanten Antiraketen-Stützpunkte in Polen und Tschechien nicht mehr tolerieren. Die russische herrschende Klasse wusste genau, dass hinter diesem Projekt der NATO, das offiziell gegen den Iran gerichtet ist, eine Strategie gegen sie selber steckt. So ist die russische Offensive gegenüber Georgien in Wahrheit ein Versuch Moskaus, die Einkreisung zu durchbrechen. Russland profitierte nun von der schwierigen Situation der USA (dessen militärische Kräfte im Morast im Irak und Afghanistan stecken), die Hände für eine militärische Konteroffensive im Kaukasus gebunden zu haben. Dies lange Zeit nachdem es mit grösstem Aufwand seine Autorität in den grausamen Kriegen in Tschetschenien wiederherzustellen versucht hatte.

Trotz der Zuspitzung der militärischen Spannungen zwischen Russland und den USA, steht ein dritter Weltkrieg heute nicht auf der Tagesordnung. Heute gibt es nicht zwei formierte imperialistische Blöcke und keine stabilen militärischen Allianzen, wie dies in den zwei Weltkriegen des Zwanzigsten Jahrhunderts und während des Kalten Krieges der Fall gewesen war. Auch die erneute Feindschaft zwischen den USA und Russland bedeutet keinesfalls den Eintritt in einen neuen Kalten Krieg. Die Geschichte wiederholt sich nicht zweimal auf dieselbe Weise. Im Gegensatz zur den imperialistischen Spannungen zwischen den Grossmächten während des Kalten Krieges ist das heutige Kopf an Kopf zwischen Russland und den USA von einer Tendenz des „Jeder gegen Jeden“ geprägt, vom Verschwinden von Allianzen, das generell den Zerfall des Kapitalismus kennzeichnet.

Der „Waffenstillstand“ in Georgien bestätigt den Triumph der Herren des Kremls und die militärische Überlegenheit Russlands auf der militärischen Ebene. Es ist de facto eine erniedrigende Kapitulation Georgiens zu den Bedingungen Moskaus. Es ist ebenfalls für die USA, den „Onkel“ Georgiens, ein herber Rückschlag. Während Georgien für seine Allianz mit den USA einen grossen Tribut bezahlt hat (die Entsendung von 2000 Soldaten in den Irak und nach Afghanistan), konnten die USA als Gegenleistung lediglich eine moralische Unterstützung liefern, indem sie das Vorgehen Russlands verbal verurteilten, ohne jedoch nur den kleinen Finger dagegen rühren zu können.

Doch der gewichtigste Aspekt dieser Schwächung der amerikanischen Vormachtstellung liegt in der Tatsache, dass das Weisse Haus gezwungen war einen „europäischen Waffenstillstandsplan“ zu akzeptieren. Und noch schlimmer: ein Plan der von Moskau diktiert war. Während die USA ihre Machtlosigkeit zeigen musste, demonstrierte Europa in diesem Konflikt das heute erreichte Niveau des „Jeder gegen Jeden“. Da den USA die Hände gebunden waren, trat die europäische Diplomatie mit ihrem selbsternannten Chef dem französischen Präsidenten Sarkozy in Aktion, der wieder einmal mehr nur sich selber auf die Bühne bringen wollte – weit ab von jeglicher Weitsicht und als „Meister“ der schnellen Aktionen. Europa hat sich erneut als ein Korb von Krabben entblösst, in dem die gegensätzlichsten Interessen zwischen den einzelnen Staaten zum Vorschein kommen. Es gibt keinerlei Einheit in Europas Reihen. Einerseits mit Polen und den baltischen Staaten, die eifrige Verteidiger Georgiens spielen (weil sie ein halbes Jahrhundert lang unter der Bevormundung durch Russland litten und deshalb alle imperialistischen Bemühungen dieses Landes unterstützen) und andererseits Deutschland, das unter den resolutesten Gegnern der Integration Georgiens und der Ukraine in die NATO war, dies um den Einfluss der USA in der Region zurückzudrängen.

Der wichtigste Grund weshalb die grossen Staaten heute keinen dritten Weltkrieg entfesseln können liegt aber im Kräfteverhältnis zwischen den zwei wichtigsten sozialen Klassen der Gesellschaft: dem Proletariat und der Bourgeoisie. Im Gegensatz zu der Zeit vor den zwei Weltkriegen ist die Arbeiterklasse in den mächtigsten Ländern des Kapitalismus, in den USA und Europa, heute nicht bereit, sich widerstandslos als Kanonenfutter gebrauchen zu lassen und ihr Leben dem Kapital zu opfern. Mit der Rückkehr der offenen, permanenten Krise des Kapitalismus Ende der 1960er Jahre und dem historischen Wiedererwachen des Klassenkampfes der Arbeiterklasse eröffnete sich ein neuer Kurs hin zu Klassenkonfrontationen. In den bestimmenden kapitalistischen Ländern, vor allem in Europa und Nordamerika, kann die herrschende Klasse nicht mehr Millionen von Arbeitern hinter die nationalen Fahnen mobilisieren. Doch auch wenn heute die Bedingungen für einen dritten Weltkrieg nicht gegeben sind, so gilt es keinesfalls die Dramatik der heutigen historischen Situation zu unterschätzen. Der Krieg in Georgien brachte nicht nur das Risiko einer Entfesselung und Destabilisierung auf regionaler Ebene mit sich. Er hatte auch auf weltweiter Ebene Konsequenzen bezüglich des Kräfteverhältnisses der imperialistischen Staaten für die Zukunft. Das „Friedensabkommen“ ist nur Sand in die Augen. Es enthält in der Realität nur die Bestandteile einer neuen gefährlichen kriegerschen Eskalation, welche einen permanenten Brandherd vom Kaukasus bis hin zum Nahen Osten zu eröffnen droht.

Mit dem Erdöl und Gas des Kaspischen Meeres und von den Ländern Zentralasien, die sich meist nach der Türkei ausrichten, sind die Interessen der Türkei und des Irans in dieser Region zwar stark präsent. Doch zugleich hat die ganze Welt ihre Finger im Spiel. Ein Ziel der USA und der Länder Westeuropas Georgiens Unabhängigkeit von Moskau zu unterstützen, ist die Unterbindung von Russlands Liefermonopol des Öls vom Kaspischen Meer Richtung Westen durch die BTC-Pipeline (von Baku in Asarbeidschan, über Tiflis nach Ceyhan in der Türkei). Es sind aber vor allem bedeutende strategische Interessen welche in dieser Region eine Rolle spielen. Die grossen imperialistischen Mächte können die Leute im Kaukasus leicht als Kanonenfutter missbrauchen, weil diese Region ein verworrenes Mosaik verschiedenster ethnischer Gruppen ist. In dieser verworrenen Situation fällt es leicht, das Feuer des Krieges und des Nationalismus zu entfachen. Andererseits wiegt die dominierende Vergangenheit Russlands sehr schwer und führt zur Entstehung neuer und heftigerer imperialistischer Rivalitäten. Die Mobilisierung der baltischen Staaten und der Ukraine, als Atommacht und wesentlich grösseres Kaliber als Georgien, ist Besorgnis erregend.

Auch wenn die Perspektive nicht die eines dritten Weltkrieges ist, so stellt das „Jeder gegen Jeden“ einen genauso schrecklichen Irrsinn des Kapitalismus dar: dieses todkranke System ist in seiner Zerfallsphase, fähig die Menschheit durch ein blutiges Chaos zu zerstören.

Welche Alternative zum Niedergang des Kapitalismus? 

Angesichts des kriegerischen Chaos heisst die historische Alternative mehr denn je „Sozialismus oder Barbarei“, also „proletarische Weltrevolution oder Zerstörung der Menschheit“. Im Kapitalismus ist Frieden unmöglich, denn der Kapitalismus trägt den Krieg in sich. Die alleinige Perspektive für die Zukunft der Menschheit ist der Kampf der Arbeiterklasse für die Überwindung des Kapitalismus.

Doch diese Perspektive kann sich nur verwirklichen, wenn die Arbeiterklasse es verweigert, sich als Kanonenfutter für die Interessen ihrer Ausbeuter missbrauchen zu lassen und wenn sie jeglichen Nationalismus vehement von sich weist. Die Arbeiterklasse muss sich in der täglichen Realität das alte Leitwort der Arbeiterbewegung „Die Arbeiterklasse hat kein Vaterland, Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ zu Herzen nehmen. Angesichts der Massaker an der Bevölkerung und dem Ausbruch immer neuer Kriege darf die Arbeiterklasse nicht passiv bleiben. Sie muss die Solidarität mit ihrer Klasse in den unter dem Krieg leidenden Ländern zeigen, indem sie als erster Schritt jegliche Unterstützung für die eine oder andere kriegführende Seite klar zurückweist. Dazu ist es wichtig, ihre eigenen Klassenkämpfe zu entwickeln, solidarisch und vereint gegen die Ausbeuter in allen Ländern. Dies ist das einzige Mittel um wirklich gegen den Kapitalismus zu kämpfen, um seine Überwindung vorzubereiten und damit eine Gesellschaft aufzubauen ohne Grenzen und Kriege. Diese Perspektive der Überwindung des Kapitalismus ist keine Utopie, denn der Kapitalismus zeigt uns heute überall, dass er ein niedergehendes System ist.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks haben uns Bush Senior und die gesamte westliche „demokratische“ Bourgeoisie eine „neue Weltordnung“ versprochen (eingesetzt unter den Fittichen der USA), welche eine Ära der „Prosperität und des Friedens“ eröffne. Die herrschende Klasse hatte weltweit eine riesige Kampagne über die angebliche „Niederlage des Kommunismus“ entfesselt um damit der Arbeiterklasse glauben zu machen, die einzige Perspektive liege im Kapitalismus der freien Marktwirtschaft. Heute ist es immer ersichtlicher, dass der Kapitalismus am Ende ist und allen voran ist die grösste Weltmacht die Lokomotive des Konkurses der ganzen kapitalistischen Weltwirtschaft geworden (siehe dazu das Editorial in unserer Internationalen Revue Nr. 41). Dieser Konkurs drückt sich Tag für Tag in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse aus, und dies nicht lediglich in den „armen“, sondern genauso in den „reichen“ Ländern. In den USA zum Beispiel ist die Arbeitslosigkeit permanent am steigen und 6% der Bevölkerung ist ohne Arbeit. Seit dem Beginn der „subprime-Krise“ wurden 2 Millionen Arbeiterfamilien aus ihren Häusern geworfen, da sie ihre Immobilien-Kredite nicht mehr zurückzahlen können. Und bis Jahresbeginn 2009 stehen eine Million Leute vor der Gefahr, ebenfalls auf die Strasse gestellt zu werden. In den ärmsten Ländern steht es noch dramatischer. Mit der Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel werden die untersten Schichten immer mehr mit dem Horror des Hungers konfrontiert. Kein Wunder, dass dieses Jahr in Mexiko, Bangladesh, Haiti, Ägypten und den Philippinen Hungerrevolten ausgebrochen sind.

Angesichts all der unübersehbaren Tatsachen versuchen die Wortführer der herrschenden Klasse die Dinge zu verschleiern. In den Buchläden erscheinen immer mehr Schriften mit alarmierenden Titeln. Und vor allem die Erklärungen der Verantwortlichen der grossen Finanzinstitute können heute nichts mehr anderes als heuchlerisch ihre Besorgnis zur Schau stellen: „Wir sind mit noch niemals erlebt schwierigen ökonomischen Bedingungen und einer problematischen Geldpolitik konfrontiert“ (so der Präsident der amerikanischen FED am 22. August), „Für die Wirtschaft ist die Krise wie ein herannahender Tsunami“ (Jacques Attali, Ökonom und Politiker in Le Monde am 8. August), „Die heutige Konjunktur ist die schwierigste seit Jahrzehnten“ (schreibt HSCB, die grösste Bank der Welt am 5. August in Libération“).

Die Perspektive der Entfaltung des Kampfes der Arbeiterklasse 

Der Zusammenbruch der stalinistischen Regime 1989 hat keinesfalls das Ende des Kommunismus bedeutet, sondern ganz im Gegenteil die Notwendigkeit des Kommunismus. Denn der Zusammenbruch des Staatskapitalismus in der UdSSR war in Wirklichkeit die spektakulärste Erscheinung des historischen Scheiterns des Weltkapitalismus. Es war das erste grosse Erschütterungszeichen der Sackgasse des kapitalistischen Systems. Heute trifft die zweite grosse Erschütterung mit voller Wucht den grössten aller „demokratischen“ Staaten, die USA. Mit der Beschleunigung der Wirtschaftskrise und der kriegerischen Konflikte erleben wir heute eine Beschleunigung der Geschichte.

Doch diese Beschleunigung findet ihren Ausdruck auch auf der Ebene der Arbeiterkämpfe, auch wenn diese viel unspektakulärer sind. Mit einer fotografischen Sichtweise kann man schnell meinen, dass sich nichts bewegt und die Arbeiter keinen Finger rühren. Die Arbeiterkämpfe scheinen durch einen solchen Blickwinkel der Dramatik der Situation nicht gerecht zu werden und man bekommt schnell eine pessimistische Sichtweise. Doch sichtbar ist eben oft nur die Spitze des Eisbergs. In der Realität, und dies haben wir in unserer Presse immer wieder unterstrichen, ist der Kampf der Arbeiterklasse seit 2003 in eine neue Dynamik eingetreten.<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Diese Kämpfe, welche sich an allen Ecken der Welt ereignet haben, zeichneten sich vor allem durch ein Wiedererlangen der aktiven Solidarität und das Eintreten einer neuen Generation in den proletarischen Klassenkampf aus (dies haben wir vor allem bei den Kämpfen der Studenten in Frankreich im Jahr 2006 erlebt).

Diese Dynamik zeigt, wie die internationale Arbeiterklasse den Weg ihrer historischen Perspektive wieder aufzunehmen beginnt, ein Weg der durch die riesige Kampagne über den „Tod des Kommunismus“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks enorm erschwert wurde. Heute können die Beschleunigung der Krise und die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nur zur Entfachung ihrer Kämpfe drängen, zur Wiederbelebung ihrer Solidarität und zur Vereinigung auf der ganzen Welt. Vor allem die Inflation, welche den Kapitalismus erneut heimsucht, und die Preiserhöhungen die begleitet werden von einer Senkung der Löhne und Renten, tragen zu einer Zusammenführung der Arbeiterkämpfe bei.

Doch es gibt zwei Aspekte welche vorrangig das Bewusstsein der Arbeiterklasse über die Sackgasse dieses Systems und die Notwendigkeit des Kommunismus vorwärts treiben. Der erste Aspekt ist der Hunger und die Generalisierung der Lebensmittelknappheit, welche die Unfähigkeit des Kapitalismus zur Ernährung der Menschheit aufzeigen und die Notwendigkeit einer anderen Produktionsweise verdeutlichen. Der zweite Aspekt ist die Absurdität des Krieges, der tödliche Irrsinn des Kapitalismus, welcher in permanenten Massakern immer mehr Leute umbringt. Der Krieg löst zwar unmittelbar eine grosse Angst aus und die herrschende Klasse versucht die Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu lähmen, ihr ein Gefühl der Machtlosigkeit zu geben und sie glauben zu machen, der Krieg sei ein Schicksal gegen das man nichts machen kann. Doch gleichzeitig schüren die Schweinereien all der grossen Mächte in den Kriegsgebieten (vor allem im Irak und Afghanistan) immer mehr ein Misstrauen innerhalb der Arbeiterklasse. Angesichts des Versinkens der USA im Morast des Iraks, entwickelt sich in der Bevölkerung der USA ein immer stärkeres Gefühl gegen den Krieg. Dieses Anti-Kriegs-Gefühl hat man auch in der „öffentlichen Stimmung“ und in Umfragen gesehen, nachdem die französische Bourgeoisie am 18. August 10 Soldaten in Afghanistan geopfert hatte.

Doch es existiert heute ein Nachdenken in der Arbeiterklasse, welches über dieses Misstrauen in der Bevölkerung hinausgeht. Das deutlichste Anzeichen dieses Nachdenkens ist das Auftauchen eines neuen proletarischen politischen Milieus rund um die Verteidigung internationalistischer Positionen gegen den Krieg (dies vor allem in Südkorea, den Philippinen, der Türkei, Russland und Lateinamerika)<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]-->. Der Krieg ist nicht etwa ein Schicksal, dem die Menschheit machtlos gegenübersteht. Der Kapitalismus ist auch kein ewiges System. Er trägt in sich auch nicht nur den Krieg, sondern auch die Bedingungen zu seiner eigenen Überwindung, den Keim einer neuen Gesellschaft ohne Grenzen und ohne Krieg.

Durch die Formierung einer weltweiten Arbeiterklasse hat der Kapitalismus seinen eigenen Totengräber geschaffen. Die ausgebeutete Klasse hat im Gegensatz zur Bourgeoisie in ihren Reihen keine gegensätzlichen Interessen zu verteidigen. Sie ist die alleinige Kraft in der Gesellschaft welche die Menschheit vereinigen kann, indem sie eine Welt auf der Basis von Solidarität und der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse schafft. Der Weg ist noch lange bis die Arbeiterklasse ihren Kampf den Notwendigkeiten der heutigen Situation anpassen kann. Doch im Rahmen der Beschleunigung der weltweiten ökonomischen Krise zeigen die Dynamik der gegenwärtigen Kämpfe und der Eintritt einer neuen Generation in den Klassenkampf, dass das Proletariat auf dem richtigen Weg ist. Heute sind die revolutionären Internationalisten noch eine kleine Minderheit. Aber sie zeigen die Fähigkeit eine Debatte zu führen und damit an vielen Orten präsent zu sein. Ihr klares Auftreten gegen die kriegerische Barbarei erlaubt auch eine Umformierung ihrer Kräfte und trägt zum Bewusstsein der gesamten Arbeiterklasse bei, dass der Kapitalismus dringend überwunden werden muss.

SW 12. September. 2008

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<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Siehe dazu unseren Artikel „17. Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage“, Internationale Revue Nr. 40, und verschiedene Artikel in Weltrevolution Nr. 148.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> Zusätzlich zu unserer “Resolution zur internationalen Lage”, die wir in der vorhergehenden Fussnote erwähnt haben, empfehlen wir dazu: “Bilanz des
17. Kongresses: Eine internationale Verstärkung des proletarischen Lagers”, ebenfalls in Internationale Revue, Nr. 40.

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Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [13]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [14]

Interne Debatte der IKS: Die Gründe für das „Wirtschaftswunder“nach dem Zweiten Weltkrieg

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Im Frühling 2005 eröffnete die IKS eine interne Debatte über die ökonomische Analyse der starken Aufschwungsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg (oft auch als „Die 30 glorreichen Jahre“ bezeichnet). Diese Periode stellte mit ihren spektakulären und einzigartigen Wachstumsraten der Weltwirtschaft eine Ausnahme in der Geschichte der Dekadenz des Kapitalismus dar.<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Diese Debatte war schon in früheren Texten der IKS aufgetaucht, welche sich unterschiedlich zur Rolle des Krieges innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft und angesichts der fehlenden zahlungskräftigen Märkte äusserten. Eine erste Frage, die sich unsere Organisation stellte, war folgende: Ermöglichen Kriegszerstörungen den Aufbau neuer Absatzmärkte? Wenn dies jedoch nicht so ist, dann taucht automatisch einen andere Frage auf: Durch welche anderen Faktoren als die Kriegszerstörungen lassen sich die „30 glorreichen Jahre“ schlüssig erklären? Die Debatte in der IKS über diese Fragen ist im Gange und die verschiedenen hier vorgestellten Positionen sind nicht vollständig entwickelt. Dennoch sind sie aber eine ausreichende Grundlage zur Veröffentlichung dieser Debatte gegen aussen. Dies vor allem, um die Debatte im Milieu der Leute, die sich auf die Positionen der Kommunistischen Linken hinbewegen, zu bereichern.

Auch wenn die Realität und die Entwicklung der Krise seit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ deutlich gezeigt haben, dass diese Periode eine Ausnahmesituation im dekadenten Kapitalismus war, so ist die Wichtigkeit der aufgetauchten Fragen keinesfalls zu unterschätzen. Diese Fragen führen uns zurück zum Kern der marxistischen Analyse und lassen uns auch den historisch begrenzten Charakter der kapitalistischen Produktionsweise verstehen. Der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz und die Unüberwindbarkeit der heutigen Krise sind eine der objektiven Grundlagen für die revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse. 

Der Hintergrund der Debatte: gewisse Widersprüche in unseren Analysen

Die erneute kritische Lektüre unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]-->, hat innerhalb unserer Organisation ein Nachdenken und eine Debatte mit verschiedenen Positionen ausgelöst. Fragen bezüglich der Auswirkungen des Krieges in der Dekadenz des Kapitalismus hat sich die Arbeiterbewegung – vor allem die Kommunistische Linke – in der Vergangenheit schon gestellt. Die Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus entwickelt die Idee, dass die Kriegszerstörungen im dekadenten Kapitalismus, vornehmlich die Weltkriege, einen Absatzmarkt für die kapitalistische Produktion erzeugen – den Wiederaufbau: „Aber gleichzeitig sind mit der erhöhten Nachfrage nach neuen Märkten die äusseren Märkte stark zurückgegangen. Deshalb musste der Kapitalismus auf Hilfsmittel wie Zerstörungen und die Produktion von Zerstörungsmitteln zurückgreifen, um die größten Verluste oder die Abnahme an „Lebensraum“ auszugleichen zu versuchen.“ (Kapitel: „Das Wachstum seit dem Zweiten Weltkrieg“, Seite 21, deutsche Ausgabe).

 

„In der massiven Zerstörung im Hinblick auf den Wiederaufbau entdeckte der Kapitalismus einen gefährlichen und vorübergehenden, aber wirkungsvollen Ausweg für seine neuen Absatzprobleme.

Die Zerstörungen des Ersten Weltkrieges haben nicht ausgereicht (…) Von 1929 an befand sich der Kapitalismus erneut in einer Krise.

Es sieht so aus, als ob diese Lehre gut verstanden worden sei: die Zerstörungen, welche durch den Zweiten Weltkrieg angerichtet wurden, waren grösser sowohl in ihrer Intensität, als auch in ihrer Ausdehnung (…) Russland, Deutschland, Japan, Grossbritannien, Frankreich und Belgien litten gewaltig unter den Auswirkungen des Krieges, der zum ersten Mal das Ziel verfolgte, das bestehende industrielle Potential systematisch zu zerstören. Der „Wohlstand“ Europas und Japans nach dem Kriege schien schon kurz nach dem Kriege systematisch mit eingeplant gewesen zu sein (Marshallplan–Hilfe, usw.) (Kapitel: „Der Zyklus Krieg–Wiederaufbau“, Seite 22)

Eine solche Idee findet sich auch in verschiedenen Texten der Organisation (vor allem in der Internationalen Revue), sowie bei unseren Vorgängern von Bilan, die in einem Artikel mit dem Titel „Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des niedergehenden Kapitalismus“ schrieben: „Das folgende Massaker bildete ein beträchtliches Ventil für die kapitalistische Produktion und eröffnete „großartige“ Perspektiven. (…) Während der Krieg das große Ventil für die kapitalistische Produktion ist, ist es in „Friedenszeiten“ der Militarismus (d.h. alle Aktivitäten die mit der Vorbereitung auf den Krieg zu tun haben), der den Mehrwert fundamentaler Bereiche der vom Finanzkapital kontrollierten Produktion realisiert.“ (Bilan, Nr. 11, 1934 – wiederveröffentlicht in der Internationalen Revue Nr. 28, deutsch, Seiten 19 und 21).

In anderen Texten der IKS jedoch, die sowohl vor als auch nach der Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus erschienen, wird eine andere Analyse über die Rolle des Krieges in der Dekadenz entwickelt. Sie stützt sich auf den „Rapport der Konferenz der Französischen Kommunistischen Linken vom Juli 1945“, für die der Krieg: „Ein unabdingbares Mittel des Kapitalismus war, welches ihm Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete, in einer Epoche als diese Möglichkeiten auch vorhanden waren, aber nur mit gewalttätigen Methoden eröffnet werden konnten. Der Niedergang der kapitalistischen Welt aber, der historisch alle Möglichkeiten zu einer Entwicklung beendet hat, findet im modernen Krieg, im imperialistischen Krieg, den Ausdruck dieses Niedergangs. Es besteht keine weitere Möglichkeit zur Entwicklung der Produktion. Die Produktivkräfte werden auf dem Scheiterhaufen landen und es werden in einem immer schnelleren Rhythmus Ruinen über Ruinen hinterlassen.“ (Hervorhebung durch uns).

Der Bericht über den Historischen Kurs vom 3. Kongress der IKS<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> bezieht sich ausdrücklich auf diese Passage im Text der Französischen Kommunistischen Linken, sowie auch der Artikel „Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke in der Dekadenz des Kapitalismus“, den wir 1988 veröffentlichten.<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> Dort steht: „Was all diese Kriege auszeichnet, wie die zwei Weltkriege, ist, dass sie anders als diejenigen im vorangegangenen Jahrhundert keinen Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichten. Sie hatten lediglich massive Zerstörungen und die Ausblutung der Länder in denen sie stattfanden zur Folge (ganz abgesehen von den schrecklichen Massakern).“

Der Rahmen der Debatte

All diese Fragen sind wichtig, weil die darauf gegebenen Antworten die theoretische Grundlage für die generelle politische Orientierung einer revolutionären Organisation ausmachen. Sie unterscheiden sich in ihrer Natur aber deutlich von Fragen, die eine Klassengrenze zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie darstellen, wie der Internationalismus, die arbeiterfeindliche Rolle der Gewerkschaften, die Beteiligung am parlamentarischen Zirkus, usw. Oder anders ausgedrückt: die verschiedenen Positionen sind vollumfänglich in Einklang mit der Plattform der IKS.

Wenn gewisse Ideen aus der Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus kritisiert oder gar in Frage gestellt werden, so geschieht dies mit derselben Methode und im gleichen allgemeinen Rahmen der schon zur Zeit der Niederschrift dieser Broschüre vorhanden war und sich seither vertiefte.<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> Wir wollen das Wichtigste in Erinnerung rufen:

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1. Die Anerkennung des Eintritts des Kapitalismus in seine dekadente Phase durch das Ausbrechen des Ersten Weltkrieges und die Anerkennung des unüberwindbaren Charakters der Widersprüche dieses Systems. Es handelt sich hier um ein Verständnis über die Ausdrücke und politischen Konsequenzen eines Wechsels in der historischen Periode, welche die Arbeiterbewegung damals mit den Worten „Das Zeitalter der Kriege und Revolutionen“ bezeichnete.

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2. Wenn wir die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise über eine gewisse Periode betrachten, so müssen wir nicht mit einer Studie der einzelnen Sektoren (Nationen, Unternehmen, usw.) des Kapitalismus beginnen, sondern den Kapitalismus als ein weltweites Ganzes betrachten. Denn nur dies erlaubt ein Verständnis der verschiedenen Teile. Dies war auch die Methode von Marx als er die Reproduktion des Kapitals untersuchte und er festhielt: „Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehen und voraussetzen, dass die kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat.“ (Das Kapital, Band 1, Kapitel 22: „Verwandlung von Mehrwert in Kapital“, Ges. Werke, S. 607).

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3. „Im Gegenteil zu dem, was die Verehrer des Kapitals suggerieren, schafft die kapitalistische Produktion jedoch nicht automatisch und wunschgemäß die für ihr Wachstum notwendigen Märkte. Der Kapitalismus entwickelte sich zunächst in einer nichtkapitalistischen Welt, worin er die für seine Entfaltung notwendigen Märkte fand. Nachdem er aber seine Produktionsverhältnisse auf die ganze Erde ausgedehnt und in einem einzigen Weltmarkt vereinigt hatte, erreichte der Kapitalismus Anfang des 20. Jahrhunderts die Schwelle zur Sättigung derselben Märkte, die im 19. Jahrhundert noch seine ungeheure Ausdehnung ermöglicht hatten. Darüber hinaus wurde durch die wachsende Schwierigkeit des Kapitals, Märkte zu finden, wo sein Mehrwert realisiert werden kann, der Druck auf die Profitrate verstärkt und ihr tendenzieller Fall bewirkt. Dieser Druck wird durch den ständigen Anstieg des konstanten, „toten“ Kapitals (Produktionsmittel) zu Lasten des variablen, lebendigen Kapitals, die menschliche Arbeitskraft, ausgedrückt. Anfangs nur als Tendenz wirkend, wird der Fall der Profitrate schließlich immer spürbarer und zu einer zusätzlichen Bremse für den Akkumulationsprozess des Kapitals, also für die Funktionsweise des gesamten Systems.“ (Plattform der IKS Punkt 3: „Die Dekadenz des Kapitalismus“, Seite 3 der deutschen Ausgabe)

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4. Es war die Aufgabe von Rosa Luxemburg, auf der Grundlage der Arbeiten von Marx und der Kritik einer gewissen Unvollständigkeit dieser Arbeiten die These aufzustellen, dass zentral für die Bereicherung des Kapitalismus als Ganzes der Verkauf von eigens produzierten Waren auf außerkapitalistischen Märkten ist; das heißt, in Ökonomien, welche zwar Warenhandel betrieben, aber noch nicht in die kapitalistische Produktionsweise integriert waren: „In Wirklichkeit sind die realen Bedingungen bei der Akkumulation des Gesamtkapitals ganz andere als bei dem Einzelkapital und als bei der einfachen Reproduktion. Das Problem beruht auf folgendem: Wie gestaltet sich die gesellschaftliche Reproduktion unter der Bedingung, dass ein wachsender Teil des Mehrwerts nicht von den Kapitalisten konsumiert, sondern zur Erweiterung der Produktion verwendet wird? Das Draufgehen des gesellschaftlichen Produkts, abgesehen von dem Ersatz des konstanten Kapitals, in der Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten ist hier von vornherein ausgeschlossen, und dieser Umstand ist das wesentlichste Moment des Problems. Damit ist aber auch ausgeschlossen, dass die Arbeiter und die Kapitalisten selbst das Gesamtprodukt realisieren können. Sie können stets nur das variable Kapital, den verbrauchten Teil des konstanten Kapitals und den konsumierten Teil des Mehrwerts selbst realisieren, auf diese Weise aber nur die Bedingungen für die Erneuerung der Produktion in früherem Umfang sichern. Der zu kapitalisierende Teil des Mehrwerts hingegen kann unmöglich von den Arbeitern und Kapitalisten selbst realisiert werden. Die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe.“ (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 26: „Die Reproduktion des Kapitals und ihr Milieu“, Ges. Werke, Bd. 5, S. 299).

Die IKS hat diese Analyse im Allgemeinen übernommen, was aber nicht heißt, dass innerhalb unserer Organisation nicht Positionen existieren können, welche die ökonomische Auffassung von Luxemburg kritisieren. Das werden wir im Speziellen noch bei einer der hier präsentierten Positionen sehen. Luxemburgs Analyse wurde zu ihrer Zeit nicht nur von den Reformisten bekämpft, welche nicht wahrhaben wollten, dass der Kapitalismus einer Katastrophe entgegen ging, sondern auch aus dem revolutionären Lager und dabei von nicht geringeren als Lenin und Pannekoek. Sie gingen zwar ebenfalls davon aus, dass der Kapitalismus eine historisch überlebte Produktionsweise geworden war, doch waren ihre Begründungen anders als die von Rosa Luxemburg.

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5. Das Phänomen des Imperialismus rührt exakt von der Notwendigkeit der entwickelten Länder her, außerkapitalistische Märkte zu erobern: „Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus.“ (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 31: „Schutzzoll und Akkumulation“, Ges. Werke Bd. 5 S. 391)

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6. Der historisch begrenzte Charakter der außerkapitalistischen Märkte bildet die ökonomische Grundlage für die Dekadenz des Kapitalismus. Der Erste Weltkrieg war Ausdruck eines solchen Widerspruchs. Die Aufteilung der Welt unter den Großmächten war abgeschlossen und diejenigen, welche mit ihrem Besitz an Kolonien am schlechtesten dastanden, hatten keine andere Wahl, als eine Neuaufteilung mit militärischen Mitteln zu suchen. Der Eintritt des Kapitalismus in seine niedergehende Phase war Beweis für die Unlösbarkeit der Widersprüche dieses Systems.

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7. Die Einführung von staatskapitalistischen Maßnahmen in der Dekadenz des Kapitalismus ist für die Bourgeoisie Hilfsmittelmittel, um die Krise zu bremsen und ihre schlimmsten Auswirkungen abzuschwächen. Sie versuchen damit zu verhindern, dass sich die Krise erneut in einer dermaßen brutalen Form zeigt wie dies 1929 der Fall gewesen war.

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8. In der Periode der Dekadenz ist der Kredit ein wesentliches Mittel, mit dem die herrschende Klasse versucht, dem Mangel an außerkapitalistischen Märkten entgegen zu wirken. Die Anhäufung von je länger je weniger kontrollierbaren Schulden, die wachsende Zahlungsunfähigkeit der verschiedenen kapitalistischen Sektoren und die sich steigernde Instabilität der Weltwirtschaft zeigen aber klar die Grenzen des Kredits.

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9. Ein typischer Ausdruck der Dekadenz des Kapitalismus auf ökonomischer Ebene sind die wachsenden unproduktiven Ausgaben. Sie zeigen, wie die unüberwindbaren Widersprüche dieses Systems die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt: die Militärausgaben (Waffen und Militäreinsätze) angesichts der weltweit sich verschärfenden imperialistischen Spannungen; die Ausgaben zur Aufrechterhaltung und Ausrüstung der Repressionsapparate, um letzten Endes gegen den Kampf der Arbeiterklasse vorzugehen; die Werbung, als Waffe des ökonomischen Wettkampfes auf dem übersättigten Markt; usw. Vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen bilden solche Ausgaben einen totalen Verlust für das Kapital.

Die Positionen in der gegenwärtigen Debatte

Innerhalb der IKS existiert eine Position, die zwar mit unserer Plattform einverstanden ist, aber verschiedene Aspekte des Beitrags von Rosa Luxemburg zu den Gründen der ökonomischen Krise zurückweist.<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]--> Für diese Position liegen die Gründe der Krise in einem anderen Widerspruch, der von Marx hervorgehoben wurde: dem tendenziellen Fall der Profitrate. Während sie Konzepte zurückweist (die vor allem von den Bordigisten und Rätisten vertreten werden) die davon ausgehen, dass der Kapitalismus automatisch und für alle Ewigkeit die Ausdehnung seiner eigenen Märkte aufrechterhalten kann, solange nur die Profitrate genug hoch ist, hebt sie hervor, dass der Grundwiderspruch des Kapitalismus nicht in den Grenzen der Märkte liegt (also der Form in der sich die Krise manifestiert), sondern in der Barriere zur Ausdehnung der Produktion.

Das Wesentliche zur Debatte über diese Position haben wir schon in Polemiken mit anderen Organisationen beschrieben (auch wenn es Unterschiede dabei gibt), in denen die Sättigung der Märkte und der Fall der Profitrate beleuchtet werden.<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]--> Dennoch, und das werden wir später noch sehen, existiert eine gewisse Übereinstimmung dieser Auffassung mit einer Position in der gegenwärtigen Debatte, die sich „Keynesianisch–Fordistischer Staatskapitalismus“ nennt und ebenfalls in diesem Text vorgestellt wird. Diese zwei Positionen gehen davon aus, dass es einen internen Markt innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gab, welcher ein Faktor der Prosperität des so genannten „Wirtschaftswunders“ war. Sie analysieren das Ende dieser Periode als Produkt des „tendenziellen Falls der Profitrate“.

Die anderen Positionen in der Debatte beziehen sich auf den Rahmen der Analyse Rosa Luxemburgs über die zentrale Rolle des Mangels an außerkapitalistischen Märkten für die Krisen und die Dekadenz des Kapitalismus.

Aufgrund dieser Analyse hat ein Teil der Organisation erkannt, dass in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus Widersprüche vorhanden sind. Die Broschüre bezieht sich auf denselben Rahmen, insofern sie die Akkumulation während des „Wirtschaftswunders“ in der Entstehung eines Wiederaufbau–Marktes sieht, der nicht außerkapitalistisch ist.

Aufgrund dieser Kritik entstand innerhalb der IKS eine Position – sie ist hier unter dem Titel „Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus“ aufgeführt –, welche Kritiken an unserer Broschüre formuliert. Vor allem kritisiert sie eine fehlende Genauigkeit und die mangelnde Beachtung des Marshall–Plans in der Erklärung des Wiederaufbaus. Zudem bezieht sie sich grundsätzlich „auf die Idee, dass die Prosperität der 50er und 60er Jahre durch die globale Situation der imperialistischen Machtverhältnisse und die Installierung einer permanenten Kriegswirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt ist“.

Der Teil unserer Organisation, welcher die Analyse der Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus über das „Wirtschaftswunder“ kritisiert, hat zwei verschiedene Interpretationen über die Prosperität dieser Periode formuliert. Die erste – hier unter dem Titel „Außerkapitalistische Märkte und Verschuldung“ präsentiert – misst den beiden Faktoren, welche die IKS in ihrer Vergangenheit schon analysiert hat, eine grössere Bedeutung zu.<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]--> Laut dieser Position „sind diese zwei Faktoren ausreichend, um sich die Prosperität des Wirtschaftswunders zu erklären“.

Die zweite Position – unter dem Titel „Keynesianisch–Fordistischer Staatskapitalismus“ präsentiert – „geht vom selben Punkt aus, der in der Broschüre über die Dekadenz entwickelt ist: die relative Sättigung der Märk-te 1914, verglichen mit dem Bedürfnis nach Akkumulation auf Weltebene. Sie entwickelt die Idee, dass nach 1945 das System mit der Einführung einer Variante des Staatskapitalismus antwortete, basierend auf einer Dreiteilung (Keynesianismus) der enorm gesteigerten Produktivität (Fordismus) in Profit, Staatsabgaben und Reallöhne“.

Das Ziel dieses ersten Artikels zur Debatte über die „30 glorreichen Jahre“ ist die nun erfolgte kurze Vorstellung dieser Positionen und im nachfolgenden Rest des Textes je eine zusammengefasste Präsentation der drei Positionen. Dies um die Debatte anzuregen<!--[if !supportFootnotes]-->[9]<!--[endif]-->. Wir werden später ausführlichere Beiträge zu den verschiedenen Positionen publizieren oder auch andere, die im Laufe der Debatte auftauchen.

1. Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus

Der Ausgangspunkt dieser Position ist schon 1945 von der Französischen Kommunistischen Linken entwickelt worden. Sie hielt fest, dass seit 1914 die außerkapitalistischen Märkte, welche das notwendige Ausdehnungsgebiet des Kapitalismus während seiner aufsteigenden Periode dargestellt hatten, nicht mehr ausreich-ten: „Die jetzige Periode ist die der Dekadenz des Kapitalismus. Was bedeutet dies? Die herrschende Klasse lebte vor dem ersten imperialistischen Krieg mit einer ständigen Ausdehnung der Produktion, und sie konnte auch nicht anders. Nun ist sie am Punkt ihrer Geschichte angekommen, an dem sie diese Ausdehnung nicht mehr in derselben Weise fortführen kann. (…) Heute ist die Bourgeoisie in allen Teilen – abgesehen von unbrauchbaren entfernten Gebieten, von zu vernachlässigenden Übrigbleibseln der nichtkapitalistischen Welt, die ungenügend sind, um die weltweite Produktion aufzunehmen – Herrin dieser Welt, doch hat sie keine außerkapitalistische Länder mehr vor sich, die für ihr System neue Märkte darstellen könnten: Und damit beginnt auch ihre Dekadenz.“<!--[if !supportFootnotes]-->[10]<!--[endif]-->

Die Geschichte der Weltwirtschaft seit 1914 ist der Versuch der herrschenden Klasse in den verschiedenen Ländern, dieses grundsätzliche Problem zu überwinden: wie den durch die kapitalistische Ökonomie produzierten Mehrwert akkumulieren, in einer Welt, die schon unter den großen imperialistischen Mächten aufgeteilt ist und in welcher der Markt die Gesamtheit des Mehrwertes nicht mehr aufnehmen kann? Und seit die imperialistischen Mächte nur noch auf Kosten ihrer Rivalen expandieren können, müssen sie sich nach der Beendigung eines Krieges schon wieder auf den nächsten vorbereiten. Die Kriegswirtschaft wird zum Überlebensprinzip der kapitalistischen Gesellschaft. „Die Kriegsproduktion hat nicht das Ziel, ein ökonomisches Problem zu lösen. Sie ist im Wesentlichen Ergebnis der Notwendigkeit des kapitalistischen Staates, sich einerseits gegen die enteigneten Klassen zu verteidigen und durch Gewalt deren Ausbeutung aufrecht zu erhalten und andererseits mit Gewalt ihre wirtschaftliche Position zu stärken und sie auf Kosten der anderen imperialistischen Staaten zu erweitern (…) Die Kriegsproduktion wird auch bestimmend für die industrielle Produktion und hauptsächliches ökonomisches Betätigungsfeld der Gesellschaft“ (Internationalisme: „Bericht über die internationale Lage“, Juli 1945).

Die Wiederaufbauperiode – das so genannte „Wirtschaftswunder“ – ist ein Teil dieser Geschichte.

Drei ökonomische Charakteristiken der Welt nach 1945 sollen hier hervorgehoben werden:

– Erstens: Es gab eine gewaltige wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft der USA, wie sie in der Geschichte des Kapitalismus noch nie vorgekommen war. Die USA stellten selbst die Hälfte der weltweiten Produktion und besaßen fast 80% der globalen Goldreserven. Sie waren der einzige kriegführende Staat, dessen Produktionsapparat unbeschädigt aus dem Krieg hervorkam. Ihr Bruttosozialprodukt verdoppelte sich zwischen 1940 und 1945. Sie absorbierten das gesamte, vom britischen Empire während all der Jahre der Kolonialherrschaft akkumulierte Kapital und dazu noch einen Teil desjenigen des französischen Kolonialreichs.

– Zweitens: In den Reihen der herrschenden Klasse der westlichen Länder existierte ein klares Bewusstsein darüber, dass der Lebensstandard der Arbeiterklasse notwendigerweise zu heben ist, um soziale Unruhen zu vermeiden, welche von den Stalinisten und dem gegnerischen russischen Block ausgenützt werden könnten. Die Kriegswirtschaft beinhaltete einen neuen Aspekt, dessen sich unsere Vorgänger der Französischen Kommunistischen Linken damals nicht vollständig bewusst waren: die verschiedenen sozialen Einrichtungen (Gesundheitswesen, Arbeitslosenversicherungen, Pensionen, usw.), welche die herrschende Klasse – vor allem die des westlichen Blocks – zu Beginn des Wiederaufbaus in den 1940er Jahren eingerichtet hatten.

– Drittens: Der Staatskapitalismus, der vor dem Zweiten Weltkrieg eine Tendenz hin zur Autarkie der verschiedenen nationalen Ökonomien eingenommen hatte, war jetzt in die Struktur von imperialistischen Blöcken integriert, welche die wirtschaftlichen Beziehungen unter den Staaten bestimmte (Bretton Woods für den amerikanischen Block, COMECON für den russischen Block).

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Während des Wiederaufbaus erfuhr der Staatskapitalismus eine qualitative Entwicklung: Der Anteil des Staates in der nationalen Ökonomie wurde dominierend.<!--[if !supportFootnotes]-->[11]<!--[endif]--> Selbst heute, nach 30 Jahren des so genannten „Liberalismus“ bilden die Staatsausgaben einen Anteil zwischen 30–60% des Bruttoinlandproduktes der Industrieländer.

Dieses neue Gewicht des Staates war ein Übergang von Quantität in Qualität. Der Staat war nicht mehr nur „ausführendes Organ“ der herrschende Klasse, er war auch der größte Arbeitgeber und stellte den größten Markt. In den USA zum Beispiel wurde das Pentagon der größte Arbeitgeber des Landes (mit 3 bis 4 Millionen zivilen und militärischen Beschäftigten). Dadurch spielte er eine gewichtige Rolle in der Wirtschaft und ermöglichte es, die bestehenden Märkte noch besser auszuschöpfen.

Die Inkraftsetzung des Bretton–Woods–Abkommens ermöglichte auch die Einführung eines verfeinerten und weniger anfälligen Kreditsystems im Vergleich zur Vergangenheit: Das Konsumkreditwesen wurde ausgebaut, und die ökonomischen Institutionen, die vom amerikanischen Block gegründet wurden (IWF, Weltbank, GATT) ermöglichten die Verhinderung von Finanz– und Bankenkrisen.

Die enorme wirtschaftliche Überlegenheit der USA erlaubte es der amerikanischen Bourgeoisie, schrankenlos Geld auszugeben, um ihre militärische Überlegenheit gegenüber dem russischen Block zu sichern: Sie unterstützten zwei blutige und kostspielige Kriege (Korea und Vietnam), Projekte à la Marshall–Plan und fremde Investitionen für den Wiederaufbau der ruinierten europäischen Wirtschaft Europas und Asiens (vor allem in Korea und Japan). Doch diese enorme Anstrengung – nicht durch die „klassische“ Funktionsweise des Kapitalismus bestimmt, sondern durch die imperialistische Konfrontation, welche die Dekadenz dieses Systems kennzeichnet – endete im Ruin der amerikanischen Wirtschaft. 1958 befand sich der amerikanische Staatshaushalt bereits in einem Defizit, und 1970 besaßen die USA nur noch 16% der weltweiten Goldreserven. Das Bretton–Woods–System erlitt Schiffbruch, und die Welt stürzte in eine Krise, von der sie sich bis heute nicht erholt hat.

2. Außerkapitalistische Märkte und Verschuldung

Weit davon entfernt, die Produktivkräfte in einer vergleichbaren Art und Weise zu steigern, wie dies in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus der Fall gewesen war, charakterisierte sich das „Wirtschaftswunder“ durch eine enorme Verschwendung von Mehrwert. Dies war ein Zeichen für die Fesselung der Entwicklung der Produktivkräfte, welche die Dekadenz des Kapitalismus kennzeichnet.

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Der Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg eröffnete eine Phase der Prosperität, die aber nur einige Jahre anhielt. Während dieser Zeit bildeten Verkäufe auf außerkapitalistischen Märkten die notwendige Grundlage für die Akkumulation, so wie es schon vor Ausbruch des Konfliktes der Fall gewesen war. Auch wenn die Welt damals schon unter den größten Industriestaaten aufgeteilt war, so war sie noch weit davon entfernt, von der kapitalistischen Produktionsweise gänzlich beherrscht zu werden. Trotzdem war die Aufnahmefähigkeit der außerkapitalistischen Märkte ungenügend, gemessen an der Menge der in den industrialisierten Ländern hergestellten Waren. Der Aufschwung brach deshalb durch der Krise von 1929 schnell an der Überproduktion zusammen.

Ganz anders dagegen war die Periode des auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Wiederaufbaus, der die besten wirtschaftlichen Kennzahlen der aufsteigenden Phase des Kapitalismus in den Schatten stellte. Während mehr als zwei Jahrzehnten entwickelte sich ein anhaltendes Wachstum aufgrund der größten Produktivitätssteigerungen in der Geschichte des Kapitalismus. Dies war vor allem der Perfektionierung der Fließbandproduktion (Fordismus), der Automatisierung der Produktion und ihrer größtmöglichen Ausweitung geschuldet.

Doch genügt es nicht, nur Waren zu produzieren, man muss sie auch auf dem Markt verkaufen können. Der Erlös aus dem Verkauf von Waren, die im Kapitalismus produziert werden, dient der notwendigen Erneuerung der Produktionsmittel und dem Kauf der Arbeitskraft (Löhne der Arbeiter). Er dient also der einfachen Reproduktion des Kapitals (ohne Ausweitung der Produktionsmittel oder der Konsumtion), er muss aber auch die unproduktiven Kosten abdecken. Diese reichen von den Rüstungsausgaben bis hin zum Lebensunterhalt der Kapitalisten und beinhalten zahlreiche andere Kosten, auf die wir noch zurückkommen werden. Wenn nach all dem ein positiver Saldo übrig bleibt, kann dieser der Akkumulation des Kapitals zugeführt werden.

Bei den jährlich gemachten Verkäufen im Kapitalismus ist der Anteil, welcher der Akkumulation des Kapitals zufließt und der seine Besitzer somit bereichert, notwendigerweise beschränkt, weil er den Überschuss nach Abzug all der anderen notwendigen Ausgaben darstellt. Historisch gesehen stellt er nur einen kleinen Prozentsatz des jährlich produzierten Reichtums dar<!--[if !supportFootnotes]-->[12]<!--[endif]--> und korrespondiert im Wesentlichen mit den Verkäufen auf außerkapitalistischen Märkten (interne und externe)<!--[if !supportFootnotes]-->[13]<!--[endif]-->. Dies ist effektiv das einzige Mittel für den Kapitalismus, sich zu entwickeln (neben der Ausbeutung der außerkapitalistischen Ökonomien, ob legal oder illegal). Oder mit anderen Worten: um nicht in einer Situation zu sein, in der „die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben“ was, wie es Marx ausdrückte, „keineswegs eine Wertsteigerung des Kapitals erlaubt“: „Wie könnte es sonst an Nachfrage für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, dass die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, dass es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr“.<!--[if !supportFootnotes]-->[14]<!--[endif]-->

Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz wurden die außerkapitalistischen Märkte immer unzureichender, doch sie verschwanden nicht einfach und ihre Lebensfähigkeit hing, gleich wie in der aufsteigenden Phase, vom Fortschreiten der Industrialisierung ab. Die außerkapitalistischen Märkte wurden immer unfähiger, die wachsende Produktion an Gütern durch den Kapitalismus aufzunehmen. Das Resultat war eine Überproduktion und mit ihr die Vernichtung eines Teils der Produktion, außer wenn der Kapitalismus den Kredit einsetzte, um dieser Situation entgegen zu wirken. Doch je mehr sich die außerkapitalistischen Märkte verringern, desto weniger können die Kredite zurückbezahlt werden.

Das zahlungskräftige Feld für das Wachstum des fast 30 Jahre andauernden „Wirtschaftswunders“ entstand aus einer Kombination von Ausbeutung dieser immer noch existierenden außerkapitalistischen Märkte und einer Verschuldung, weil erstere nicht fähig waren, die die Gesamtheit des Angebots aufzunehmen. Es gibt keinen anderen Weg (außer einmal mehr die Ausbeutung der außerkapitalistischen Reichtümer), der die Expansion des Kapitalismus in dieser Periode ermöglichte, so wie es auch in allen anderen Perioden der Fall ist. Deshalb leistete das „Wirtschafswunder“ seinen eigenen kleinen Beitrag am heutigen Schuldenberg, der niemals zurückbezahlt werden kann und wie ein Damoklesschwert über dem Kapitalismus schwebt.

Ein anderes Charakteristikum des „Wirtschaftswunders“ ist das Gewicht der unproduktiven Kosten in der Wirtschaft. Sie bilden einen bedeutenden Anteil der Staatsausgaben, die ab Ende der 1940er Jahre in den meisten industrialisierten Staaten beträchtlich anwuchsen. Dies war das geschichtliche Ergebnis der Entwicklung hin zum Staatskapitalismus und dabei vor allem des Gewichts des Militarismus in der Wirtschaft, welches nach dem Zweiten Weltkrieg sehr hoch war, und zugleich auch das Ergebnis einer keynesianischen Politik, die eine künstliche Nachfrage schaffte. Wenn eine Ware oder ein Angebot unproduktiv ist, bedeutet dies, dass deren Gebrauchswert nicht in den Produktionsprozess einfließen kann<!--[if !supportFootnotes]-->[15]<!--[endif]-->, um so an der einfachen oder erweiterten Reproduktion des Kapitals teilzunehmen. Wir müssen also auch diejenigen Kosten als unproduktiv betrachten, welche im Zusammenhang mit einer Nachfrage innerhalb des Kapitalismus stehen, die aber für die einfache und erweiterte Reproduktion nicht notwendig sind. Dies war während des „Wirtschaftswunders“ im Speziellen der Fall bei den schrittweisen Lohnerhöhungen in Anpassung an die Produktivitätssteigerung der Arbeit, von der gewisse Teile der Arbeiterklasse in bestimmten Ländern „profitiert“ hatten und in denen eine keynesianische Doktrin vollzogen wurde. Die Ausbezahlung von Löhnen, welche höher sind als das strikt Notwendige zur Wiederherstellung der Arbeitskraft ist, genauso wie die miserablen Arbeitslosengelder oder die unproduktiven Ausgaben des Staates, im Grunde eine Verschwendung von Kapital, das nicht mehr an der Wertsteigerung des globalen Kapitals teilnehmen kann. Mit anderen Worten: Das Kapital welches in unproduktive Ausgaben gesteckt wird ist, wie auch immer sie aussehen, sterilisiert.

Die Bildung eines internen Marktes durch den Keynesianismus als eine unmittelbare Lösung zum Absatz der massiven industriellen Produktion hat Illusionen in eine dauerhafte Rückkehr des Wachstums wie zu Zeiten des aufsteigenden Kapitalismus geweckt. Doch seit der Markt komplett abgenabelt wurde von den Bedürfnissen der Wertsteigerung des Kapitals, hatte dies die Sterilisierung eines beträchtlichen Teils des Kapitals zur Folge. So weiterzufahren war nur durch eine Verbindung von verschiedenen und sehr außergewöhnlichen Faktoren möglich, die aber nicht dauerhaft sein konnten:

– ein Produktivitätsanstieg der Arbeit, welcher bei einer gleichzeitigen Finanzierung unproduktiver Ausgaben genügend groß war, um einen Überschuss abzuwerfen für die Weiterführung der Akkumulation;

– die Existenz von zahlungskräftigen Märkten – die entweder außerkapitalistisch oder das Resultat einer Verschuldung waren – und eine Realisierung des Überschusses ermöglichten.

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Eine Steigerung der Produktivität wie zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ ist seither nicht mehr erreicht worden. Auch wenn dies eintreffen würde, so zeigt das totale Verschwinden der außerkapitalistischen Märkte und die Tatsache, dass praktisch eine Grenze zur Wiederbelebung der Wirtschaft durch eine noch höhere weltweite Verschuldung (welche bereits gigantisch ist) erreicht ist, die Unmöglichkeit der Wiederholung einer solchen Wachstumsperiode.

Im Gegensatz zur Analyse in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus bildete der Markt des Wiederaufbaus keinen Faktor, der den Aufschwung während des „Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg erklären könnte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges bildete der Wiederaufbau des Produktionsapparates an sich keinen außerkapitalistischen Markt und kreierte selbst keinen Wert. Er war großteils das Resultat eines Transfers von Reichtum, der bereits in den USA akkumuliert war, in diejenigen Länder, die den Wiederaufbau brauchten. Die Finanzierung wurde durch den Marshall–Plan übernommen, und somit war es im Wesentlichen ein Geschenk aus der staatlichen Schatztruhe der USA. Ein solcher Markt des Wiederaufbaus genügt auch nicht als Erklärung für die kurze Aufschwungsphase nach dem Ersten Weltkrieg. Dies ist der Grund, weshalb das Schema „Krieg–Wiederaufbau/Prosperität“, das zwar empirisch der Realität des dekadenten Kapitalismus entspricht, kein ökonomisches Gesetz darstellt, nach dem es einen Markt des Wiederaufbaus gäbe, der den Kapitalismus bereichern könnte.

3. Keynesianisch–Fordistischer Staatskapitalismus

Unsere Analyse über die Triebkräfte hinter den Nachkriegsboom beruht auf einer Reihe von objektiven Feststellungen. Hier die Wichtigsten:

Die weltweite Pro–Kopf–Produktion verdoppelte sich während der aufsteigenden Periode des Kapitalismus<!--[if !supportFootnotes]-->[16]<!--[endif]-->, und die industriellen Wachstumsraten stiegen kontinuierlich an, bis sie am Vorabend des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt erreichten<!--[if !supportFootnotes]-->[17]<!--[endif]-->. Zu diesem Zeitpunkt erreichten die Märkte, die dem Kapitalismus als Expansionsfeld gedient hatten, einen Grad relativer Sättigung, gemessen am weltweiten Bedürfnis zur Akkumulation. Dies war der Beginn der dekadenten Phase des Kapitalismus, welche durch zwei Weltkriege, die größte je erlebte Überproduktionskrise (1929–33) und einen massiven Einbruch im Wachstum der Produktivkräfte gekennzeichnet war (sowohl bei der industriellen Produktion als auch beim weltweiten Pro–Kopf–Produkt halbieren sich die Wachstumszahlen zwischen 1913 und 1945 fast auf die Hälfte: 2,8% bzw. 0,9% pro Jahr).

Doch dies hielt den Kapitalismus keineswegs davon ab, nach dem Zweiten Welzkrieg fast 30 Jahre lang eine Zeit des enormen Wachstums zu erleben. Das weltweite Pro–Kopf–Produkt verdreifachte sich, während sich die industrielle Produktion mehr als verdoppelte (2,9% bzw. 5,2% pro Jahr). Diese Zahlen sind nicht nur höher als die während der aufsteigenden Periode des Kapitalismus, auch die Reallöhne steigerten sich vier mal schneller (sie erhöhten sich um das Vierfache, während sie sich in der Zeit zwischen 1850 und 1913, die doppelt so lang war, nur knapp verdoppelt hatten)!

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Wie konnte ein solches „Wirtschaftswunder“ geschehen?

– nicht durch eine noch übrig gebliebene außerkapitalistische Nachfrage, da diese schon 1914 ungenügend war und sich danach noch verkleinerte<!--[if !supportFootnotes]-->[18]<!--[endif]-->;

– nicht durch staatliche Verschuldung und defizitäre Budgets, da diese in der Zeit des „Wirtschaftswunders“ stark zurückgingen<!--[if !supportFootnotes]-->[19]<!--[endif]-->;

– nicht durch Kredite, da diese nach Rückkehr der Krise erst wirklich zum Zuge kamen und anwuchsen<!--[if !supportFootnotes]-->[20]<!--[endif]-->;

– nicht durch die Kriegsproduktion, weil sie unproduktiv ist: die am meisten aufgerüsteten Länder waren am wenigsten leistungsfähig und umgekehrt;

– nicht durch den Marshall–Plan, da er in seiner Wirkung und Dauer begrenzt war<!--[if !supportFootnotes]-->[21]<!--[endif]-->;

– nicht durch die Kriegszerstörungen, da diejenigen des Ersten Weltkrieges keinerlei Prosperität erzeugt hatten<!--[if !supportFootnotes]-->[22]<!--[endif]-->;

– nicht durch ein Anwachsen des Gewichtes des Staates in der Wirtschaft, da es sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen verdoppelt hatte, aber keine solche Wirkung erzeugte<!--[if !supportFootnotes]-->[23]<!--[endif]-->, da sein Anteil 1960 geringer war (19%) als 1937 (21%) und es große unproduktive Ausgaben beinhaltete.

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Die Erklärungen für das „Wirtschaftswunder“ liegen woanders. Vor allem weil: (a) die Wirtschaft nach dem Krieg ausgeblutet war, (b) die Kaufkraft aller wirtschaftlichen Akteure auf einem Tiefststand war, (c) Letztere gewaltig verschuldet waren, (d) die enorme Macht der USA auf einer unproduktiven Kriegswirtschaft basierte, welche große Schwierigkeiten hatte, sich wieder in eine zivile Wirtschaft umzuwandeln, und (e) dieses „Wirtschaftswunder“ eintrat, obwohl große Mehrwertmassen in die unproduktiven Ausgaben flossen!

In Wirklichkeit ist dieses Wunder keines mehr, wenn wir die Analysen von Marx über die Produktivitätssteigerungen<!--[if !supportFootnotes]-->[24]<!--[endif]--> und die Beiträge der Kommunistischen Linken zur Entwicklung des Staatskapitalismus in der Dekadenz des Kapitalismus miteinander verbinden. Diese Periode zeichnete sich im Wesentlichen durch folgendes aus:

a) Eine nie vorher in der Geschichte des Kapitalismus erlebte Produktivitätssteigerung. Eine Steigerung die sich auf die Verallgemeinerung und Entwicklung der Fließbandproduktion stützte (der Fordismus).

b) Ein kontinuierlicher Anstieg der Reallöhne, eine Vollbeschäftigung und die Einführung eines indirekten Lohnes mittels verschiedener Sozialleistungen. Überdies waren die Länder mit den größten Lohnsteigerungen auch die mit den stärksten Wachstumszahlen in der Gesamtwirtschaft, und umgekehrt.

c) Eine Übernahme der gesamten Produktion durch den Staat und starke Interventionen desselben in die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit<!--[if !supportFootnotes]-->[25]<!--[endif]-->.

d) All diese keynesianischen Maßnahmen wurden in hohem Masse auf internationalem Niveau organisiert durch OECD, GATT, IWF, Weltbank, usw.

e) Schlussendlich war im Gegensatz zu anderen Perioden das „Wirtschaftswunder“ auf diejenigen Länder mit einer bereits entwickelten Wirtschaft konzentriert (und dies bei einem relativ geringen Austausch zwischen den Ländern der OECD und dem Rest der Welt), und es erfolgten keine bemerkenswerten Produktionsauslagerungen in Billiglohn–Länder trotz starkem Lohnanstieg und einer Vollbeschäftigung. Die „Globalisierung“ und die Produktionsauslagerungen waren Phänomene, die erst in den 1980er und vor allem dann in den 1990er Jahren stattfanden.

Durch die zwangsmäßige und proportionale Dreiteilung der Produktivitätssteigerung zwischen dem Profit, den Steuern und den Löhnen war der keynesianisch–fordistische Staatskapitalismus fähig, die Vollendung des Akkumulationszyklus’ mittels eines Angebots von Waren und Dienstleistungen zu gesenkten Kosten (Fordismus) und einer gesteigerten zahlungskräftigen Nachfrage, die ebenfalls auf dieser Produktivitätssteigerung beruhte (Keynesianismus), sicher zu stellen. So waren die Märkte garantiert; die Krise kehrte in der Form eines erneuten Falls der Profitrate zurück, der eine Folge der Erschöpfung der fordistischen Produktivitätssteigerungen war, die sich zwischen dem Ende der 1960er Jahre und 1982 um die Hälfte verringerten<!--[if !supportFootnotes]-->[26]<!--[endif]-->. Dieser drastische Fall der Rentabilität des Kapitals führte zu einer Demontage der Nachkriegspolitik zugunsten eines deregulierten Staatskapitalismus zu Beginn der 1980er Jahre. Auch wenn diese Kehrtwende zu einem spektakulären Anstieg der Profitraten, als Folge der Lohnkürzungen, führte, so bedeutete die daraus resultierende Abnahme einer zahlungskräftigen Nachfrage, dass die Akkumulationsrate und das Wachstum zurückgingen<!--[if !supportFootnotes]-->[27]<!--[endif]-->. Seither ist der Kapitalismus mit einer strukturellen Schwäche bei der Produktivitätssteigerung dazu gezwungen, vor allem Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen auszuüben. Dies um noch zu einem Anstieg der Profite zu gelangen, was aber wiederum zu einem Rückgang zahlungskräftiger Märkte führt. Die Wurzeln dieser Entwicklung sind:

a) permanente Überkapazitäten und eine permanente Überproduktion;

b) ein zunehmender Rückgriff auf die Verschuldung, um der verringerten Nachfrage entgegenzuwirken;

c) Auslagerungen auf der Suche nach billigen Arbeitskräften;

d) eine Globalisierung um ein Maximum an Exporten zu erzielen;

e) eine sich ständig wiederholende finanzielle Instabilität durch spekulative Geschäfte, da Investitionen in sich ausdehnende Bereiche nicht mehr möglich sind.

Heute ist die Wachstumsrate auf das Niveau der Zeit zwischen den Weltkriegen gesunken, und eine Neuauflage der „30 glorreichen Jahre des Wirtschaftswunders“ ist unmöglich. Der Kapitalismus ist dazu verdammt, in einer zunehmenden Barbarei zu versinken.

Die Wurzeln und Auswirkungen dieser Analyse, auf die hier nicht genauer eingegangen werden kann, werden wir später darlegen. Dies erfordert eine Rückkehr zu einigen unserer Analysen, damit wir zu einem breiteren und kohärenteren Verständnis der Funktionsweise und Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise gelangen<!--[if !supportFootnotes]-->[28]<!--[endif]-->.

Eine offene Debatte für das internationalistische Milieu

Wie unsere Vorgänger von Bilan und der Französischen Kommunistischen Linken behaupten wir nicht, „die Weisheit mit dem Löffel gegessen zu haben“<!--[if !supportFootnotes]-->[29]<!--[endif]-->. Wir sind uns bewusst, dass die Debatten, die in den Reihen unserer Organisation geführt werden, von kritischen und konstruktiven Anregungen von außen nur profitieren können. Aus diesem Grunde begrüßen wir alle an uns gerichtete Beiträge und werden sie in unsere kollektive Reflexion einbeziehen.

IKS

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<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Zwischen 1950 und 1973 hatte sich das weltweite pro Kopf Bruttosozialprodukt jährlich um 3% erhöht, während es zwischen 1870 und 1913 in einem Rhythmus von 1,3% gewachsen war (Angus Madison: „Die Weltwirtschaft“, OECD, 2001, S. 284).

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<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> Sie ist im Wesentlichen eine Sammlung von Artikeln, die wir im Januar 1981 veröffentlicht haben.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> Dritter Kongress der IKS, International Review Nr. 18, 1979, (engl./franz./span. Ausgabe)

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<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> International Review Nr. 52, 1988, (engl./franz./span. Ausgabe)

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<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> Siehe die Serie in der International Review „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen“ und dabei vor allem den Artikel in Nr. 56 (engl./franz./span. Ausgabe), sowie auch die Präsentation der Resolution über die internationale Situation vom 8. Kongress der IKS, die sich auf die Frage des Gewichts der Verschuldung auf die Weltwirtschaft konzentriert, Internationale Revue Nr. 11, (deutsch).

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<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]--> Diese Minderheitsposition existiert schon seit langem in unserer Organisation – die Genossen, welche sie heute vertreten, taten dies schon zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die IKS – und hat diese Genossen auch nicht daran gehindert, an allen unseren Aktivitäten teilzunehmen, an unseren Interventionen sowie der theoretisch-politischen Debatte.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]--> Siehe dazu den zweiteiligen Artikel „Antwort an die CWO zum Krieg in der Dekadenz des Kapitalismus“, International Review Nr. 127 und 128 (engl./franz./span. Ausgabe).

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<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]--> Die Ausbeutung der außerkapitalistischen Märkte ist schon in der Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus beschrieben. Sie wurde im 6. Artikel der Serie „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen“ wieder aufgegriffen und unterstrichen (International Review Nr. 56, engl./franz./span. Ausgabe). Dort wird der Faktor der Verschuldung beschrieben, der „Wiederaufbau-Markt“ ist jedoch nicht erwähnt.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[9]<!--[endif]--> Es gibt innerhalb dieser Positionen auch Nuancen, wie die Debatte bisher zeigte. Wir können aber im Rahmen dieses Artikels nicht darauf eingehen. Sie können in die zukünftigen Diskussionsbeiträge einfliessen.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[10]<!--[endif]--> Internationalisme, 1. Januar 1945: „Thesen über die internationale Lage“

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<!--[if !supportFootnotes]-->[11]<!--[endif]--> Alleine in den USA waren die Ausgaben des Staates, welche 1930 noch 3% des BIP ausmachten, in den 1950 und 60er Jahren auf 20% des BIP angewachsen.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[12]<!--[endif]--> Als Beispiel: Während der Periode zwischen 1817-1913 betrugen die Verkäufe auf außerkapitalistischen Märkten im Jahresdurchschnitt 2,3% der weltweiten Produktion (errechnet aufgrund der Entwicklung der weltweiten Produktion in derselben Zeit. Quelle: https://www.theworldeconomy.org/publications/worldeconomy/frenchpdf/Madd... [15]).
Es handelt sich dabei um einen Durchschnitt, und dieser Wert ist somit geringer als in den Jahren des großen Wachstums, welches die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichnete.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[13]<!--[endif]--> Es ist hier nicht von großem Belang, ob die Verkäufe schlussendlich produktiv sind oder nicht, wie dies bei der Rüstungsproduktion der Fall ist.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[14]<!--[endif]--> Marx; „Das Kapital“ Band 3, Kapitel 15, Überfluss an Kapital bei Überfluss an Bevölkerung, MEW Bd. 25 S.267/68.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[15]<!--[endif]--> Um dies zu illustrieren, genügt es, auf den Unterschied im Endgebrauch einer Waffe, eines Inserates oder eines gewerkschaftlichen Schulungskurses einerseits und andererseits eines Werkzeuges, von Lebensmitteln, Schul- und Universitätskursen, medizinischer Versorgung, usw. hinzuweisen.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[16]<!--[endif]--> Von 0,53% pro Jahr zwischen 1820-70 auf 1,3% zwischen 1870-1913 (Angus Maddison, L’économie mondiale, OECD S. 284)

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<!--[if !supportFootnotes]-->[17]<!--[endif]--> Jährliche Wachstumsraten der weltweiten industriellen Produktion:

1786–1820: 2,5%

1820–1840: 2,9%

1840–1870: 3,3%

1870–1894: 3,3%

1894–1913: 4,7%

(aus W.W. Rostow, The World Economy, S. 662)

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<!--[if !supportFootnotes]-->[18]<!--[endif]--> Während diese Kaufkraft zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung wichtig war, betrug sie 1914 innerhalb der Grenzen der entwickelten Länder nur noch zwischen 5-20% 1914 und wurde 1945 mit 2-12% marginal (Peter Flora, State, Economy and Society in Western Europe 1815-1975, A Data Handbook, Vol. 2, Campus, 1987). Der Handel mit der Dritten Welt wurde um zwei Drittel reduziert durch den Rückzug Chinas, des Ostblocks, Indiens und anderer unterentwickelter Länder vom Weltmarkt. Der Handel mit dem übrig gebliebenen Drittel fiel zwischen 1952 und 1972 auf die Hälfte zurück (P. Bairoch, Le Tiers-Monde dans l’impasse, S. 391-392)!

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<!--[if !supportFootnotes]-->[19]<!--[endif]--> Zahlen siehe in International Review 114, (engl./franz./span. Ausgabe

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<!--[if !supportFootnotes]-->[20]<!--[endif]--> Zahlen siehe in Internationale Revue 37 (deutsch)

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<!--[if !supportFootnotes]-->[21]<!--[endif]--> Der Marshall-Plan hatte nur eine schwache Auswirkung auf die amerikanische Wirtschaft: „Nach dem Zweiten Weltkrieg (…) belief sich die Ausfuhr 1946 auf nur 4,9% der Produktion und 1947 auf 6,6%, machte also einen viel kleineren Prozentsatz aus als in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Der Marshall-Plan hat hier keine entscheidende Veränderungen gebracht“. Fritz Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Rohwolt, 1961, S. 398) Der Autor folgert daraus, dass der innere Handel ausschlaggebend war.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[22]<!--[endif]--> Die Fakten und Argumente dazu sind in einem Artikel in der International Review 128, (engl./franz./span. Ausgabe) zu finden. Wir werden aber darauf zurück kommen, weil laut Marx die Entwertung und Zerstörung von Kapital tatsächlich eine Regeneration des Akkumulationszykluses und die Eröffnung neuer Märkte erlaubt. Eine detaillierte Studie hat uns allerdings gezeigt, dass dieser Faktor, auch wenn er eine Rolle spielte, relativ gering war, begrenzt in der Zeit und auf Europa und Japan.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[23]<!--[endif]--> Der Anteil der totalen öffentlichen Ausgaben in den Ländern der OECD steigerte sich von 1913 bis 1937 von 9% auf 21% (International Review 114 (engl./franz./span. Ausgabe).

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<!--[if !supportFootnotes]-->[24]<!--[endif]--> In der Realität ist die Produktivität nur ein anderer Ausdruck des Wertgesetzes – da sie das Umkehrte der Arbeitszeit bedeutet –, und sie ist die Grundlage der Auspressung des relativen Mehrwertes, die so charakteristisch für diese Periode war.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[25]<!--[endif]--> Der Anteil der öffentlichen Ausgaben in den Ländern der OECD verdoppelte sich zwischen 1960 und 1980 von 19% auf 45% (International Review 114, engl./franz./span. Ausgabe).

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<!--[if !supportFootnotes]-->[26]<!--[endif]--> Grafiken dazu in International Review 115, 121 und 128 (engl./franz./span. Ausgabe)

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<!--[if !supportFootnotes]-->[27]<!--[endif]--> Grafiken und Zahlen in der Internationalen Revue 37, sowie auch in unserer Analyse über das Wachstum in Südost-Asien: https://fr.internationalism.org/ICConline/2008/crise_economique_Asie_Sud... [16].

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<!--[if !supportFootnotes]-->[28]<!--[endif]--> Der Leser findet verschieden Zahlenangaben sowie auch theoretische Analysen in unseren Artikeln, die in der International Review 114, 115, 121, 127, 128 erschienen sind, sowie in den Analysen über das Wachstum in Südostasien auf unserer Webseite.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[29]<!--[endif]--> „Keine Gruppe besitzt die absolute und ewige Wahrheit“, wie es die Französische Kommunistische Linke ausdrückte. Siehe dazu unseren Artikel „Vor 60 Jahren: Eine Konferenz revolutionärer Internationalisten“ in Internationale Revue Nr. 41 (deutsch).

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Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [2]

Mai 68 und die revolutionäre Perspektive (II)

  • 3454 reads

Das Ende der Konterrevolution – Das historische Wiedererstarken der Arbeiterklasse

Gegenüber all den Lügen, die heute zum Mai 68 verbreitet werden, müssen die Revolutionäre die Wahrheit wiederherstellen. Sie müssen auch die Mittel anbieten, um die Bedeutung und die Lehren dieser Ereignisse zu begreifen. Sie müssen insbesondere verhindern, dass ihre Lehren unter einem Haufen Blumen und Kränzen begraben werden.

Wir haben schon damit angefangen, indem wir bislang einen Artikel in unserer Internationalen Revue veröffent-licht haben, der auf die ersten Bestandteile der Ereignisse des Mai 68 zurückkommt – die Studentenproteste in Frankreich und auf der Welt. In diesem Artikel wollen wir auf den wesentlichsten Bestandteil der Ereignisse eingehen – die Bewegung der Arbeiterklasse. Im ersten Artikel dieser Reihe schrieben wir am Schluss zu den Ereignissen in Frankreich: „Am 14. Mai gingen die Diskussionen in vielen Betrieben weiter. Nach den gewaltigen Demonstrationen am Vorabend, die den ganzen Enthusiasmus und ein Gefühl der Stärke zum Vorschein gebracht hatten, war es schwierig die Arbeit wieder aufzunehmen, so als ob nichts passiert wäre. In Nantes traten die Beschäftigen von Sud-Aviation in einen spontanen Streik und beschlossen die Besetzung des Werkes. Vor allem die jüngeren Beschäftigten trieben die Bewegung voran. Die Arbeiterklasse war auf den Plan getreten.“ Diese Schilderung werden wir hier fortsetzen.

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Die Ausdehnung der Streiks

In Nantes stießen die jungen Arbeiter, die im gleichen Alter waren wie die Studenten, die Bewegung an. Ihre Argumentation war einfach aber einleuchtend: „Wenn die Studenten, die ja mit einem Streik keinen Druck ausüben können, die Kraft besaßen, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen, können die Arbeiter die Regierung auch zum Nachgeben zwingen.“ Die Studenten der Stadt wiederum erklärten sich mit den Arbeitern solidarisch; sie reihten sich in deren Streik-posten ein: Verbrüderung. Die Kampagnen der KPF<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> und der CGT<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> warnten vor den „linken Provokateuren, die im Dienste der Arbeitgeber und des Innenministers stehen“ und die Studenten unterwandert hätten; aber diese Kampagnen zeigten keine große Wirkung. Insgesamt standen am Abend des 14. Mai 3100 Arbeiter im Streik. Am 15. Mai breitete sich die Bewegung auf die Renault-Werke in Cléon in der Normandie, und auf zwei weitere Fabriken in der Region aus: totaler Streik, unbegrenzte Werksbesetzungen, rote Fahnen an den Fabriktoren. Am Ende des Tages streikten 11.000 Beschäftigte.

Am 16. Mai schlossen sich die Beschäftigten der anderen Renault-Werke an: rote Fahnen über Flins, Sandouville, Le Mans und Billancourt. An jenem Abend befanden sich 75.000 Arbeiter im Streik; aber als die Arbeiter von Renault-Billancourt in den Kampf traten, wurde ein deutliches Signal gesetzt. Es handelte sich um die größte Fabrik in Frankreich (35.000 Beschäftigte) und seit langem galt ein Sprichwort: „Wenn Renault niest, hat Frankreich Schnupfen.“

Am 17. Mai gab es 215.000 Streikende. Die Streiks erreichten nunmehr ganz Frankreich, vor allem die Provinz. Es handelte sich um eine vollkommen spontane Bewegung; die Gewerkschaften liefen ihr nur nach. Überall standen die jungen Arbeiter an ihrer Spitze. Häufig verbrüderten sich Studenten und junge Arbeiter. Junge Arbeiter zogen in die besetzten Universitäten und forderten die Studenten auf, zu ihnen in die Kantinen zum Essen zu kommen. Es gab keine genauen Forderungen. Stattdessen äußerte sich eher Unmut. Auf einer Fabrikmauer in der Normandie stand: „Wir brauchen Zeit zum Leben und mehr Würde!“ An jenem Tag rief die CGT zur „Ausdehnung des Streiks“ auf. Sie hatte Angst, von der „Basis überrollt“ und von der CFDT <!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]-->, welche von den ersten Tagen an viel präsenter war, verdrängt zu werden. Wie man damals sagte, war sie auf den „fahrenden Zug aufgesprungen“. Ihr Aufruf wurde erst am nächsten Tag bekannt. Am 18. Mai standen mittags eine Million Arbeiter im Streik, noch bevor der Streikaufruf der CGT bekannt wurde. Am Abend streikten zwei Millionen Beschäftigte.

Am 20. Mai streikten sechs Millionen, und am 21. Mai hatten schon 6.5 Millionen die Arbeit niedergelegt.

Am 22. Mai befanden sich acht Millionen im unbefristeten Streik. Es handelte sich um den größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Er war sehr viel massiver als die vorher berühmt gewordenen Streiks – der ‚Generalstreik’ des Mai 1926 in Großbritannien (der eine Woche dauerte) und die Streiks im Mai-Juni 1936 in Frankreich. Alle Bereiche waren betroffen: Industrie, Transport und Verkehr, Energie, Post und Telekommunikation, Erziehungswesen, Verwaltungen (mehrere Ministerien waren vollkommen lahm gelegt), Medien (das staatliche Fernsehen streikte, die Beschäftigten prangerten vor allem die aufgezwungene Zensur an), Forschungslabore usw. Selbst die Bestattungsunternehmer streikten (Mai 68 war ein schlechter Zeitpunkt zum Sterben). Gar Berufssportler schlossen sich der Bewegung an. Die rote Fahne wehte über den Gebäuden des französischen Fußballverbandes. Die Künstler standen nicht abseits, das Filmfestival in Cannes wurde auf Veranlassung der Regisseure unterbrochen. In dieser Zeit wurden die besetzten Universitäten (wie auch andere öffentliche Gebäude wie das Odéon-Theater in Paris) zu Orten ständiger politischer Debatte. Viele Arbeiter, insbesondere die Jungen, aber nicht nur diese, beteiligten sich an diesen Diskussionen. Arbeiter baten diejenigen, die die Notwendigkeit einer Revolution vertraten, zu den Versammlungen in den besetzten Betrieben zu kommen und dort ihren Standpunkt zu vertreten. So wurde der kleine Kern von Leuten, die später die Sektion der IKS in Frankreich gründen sollte, dazu aufgefordert, in der besetzten Fabrik JOB ihre Auffassungen von den Arbeiterräten zu erklären. Und am bedeutendsten war, dass diese Einladung von Mitgliedern der …CGT und der KPF ausgesprochen wurde. Diese mussten eine Stunde lang mit den Hauptamtlichen der CGT des großen Werkes Sud-Aviation verhandeln, die gekommen waren, um die Streikposten der JOB zu ‚verstärken’, bevor sie die Zustimmung erhielten, ‚Linksradikale’ in das Werk zu lassen. Mehr als sechs Stunden lang diskutierten Arbeiter und Revolutionäre, auf Papierrollen sitzend, über die Revolution, die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Sowjets und gar über den Verrat ... der KPF und der CGT. Viele Diskussionen fanden ebenfalls auf den Straßen und Bürgersteigen statt (im Mai 68 herrschte überall schönes Wetter). Sie entstanden spontan, jeder hatte etwas zu sagen („Man hört dem anderen zu und redet miteinander“ war einer der Slogans). Überall herrschte so etwas wie Feststimmung, außer in den ‚Reichenvierteln’, wo sich Angst und Hass ansammelten. Überall in Frankreich, in den Stadtvierteln, in einigen großen Betrieben oder in den benachbarten Bezirken tauchten „Aktionskomitees“ auf. Dort wurde darüber diskutiert, wie man kämpfen sollte, wie eine revolutionäre Perspektive aussehen könnte. Im Allgemeinen wurden diese Diskussionen von linken oder anarchistischen Gruppen angestoßen, aber dort versammelten sich viel mehr Leute als Mitglieder dieser Organisationen. Selbst bei der ORTF, den staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, entstand ein Aktionskomitee, das insbesondere von Michel Drucker <!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> mit angetrieben wurde, und an dem sich der unbeschreibliche Thierry Rolland <!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> beteiligte.

Die Reaktionen der Bourgeoisie

In Anbetracht dieser Lage befand sich die herrschende Klasse in einer Phase des Umherirrens, was sich durch verwirrte und unwirksame Initiativen äußerte. So diskutierte und verwarf das Parlament, welches von der Rechten beherrscht wurde, einen Zensurantrag, der von der Linken zwei Wochen zuvor eingebracht worden war: Die offiziellen Institutionen der Republik Frankreichs schienen in einer anderen Welt zu leben. Das Gleiche traf auf die Regierung zu, die an jenem Tag beschloss, Daniel Cohn-Bendit, der nach Deutschland gereist war, die Wiedereinreise zu verbieten. Diese Entscheidung ließ die Unzufriedenheit nur noch weiter hochkochen. Am 24. Mai kam es zu mehreren Demonstrationen, insbesondere um gegen das Aufenthaltsverbot Cohn-Bendits zu protestieren: „Nieder mit den Landesgrenzen!“ „Wir sind alle deutsche Juden!“ Trotz des von der CGT gelegten Sperrrings gegen die „Abenteurer“ und „Provokateure“ (d.h. die „radikalen“ Studenten) schlossen sich viele junge Arbeiter diesen Demonstrationen an. Am Abend hielt der Präsident der Republik, General de Gaulle, eine Rede. Er schlug ein Referendum vor, damit die Franzosen sich zur „Beteiligung“ äußern (eine Art Assoziation Kapital-Arbeit). Weltfremder konnte man nicht sein. Diese Rede stieß auf taube Ohren. Sie zeigte die totale Verwirrung der Regierung und der Bourgeoisie im Allgemeinen<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]-->. Auf den Straßen hatten die Demonstrationen die Rede in Transistorradios verfolgt. Die Wut stieg sofort weiter an: „Wir pfeifen auf seine Rede.“ In ganz Paris und in mehreren Provinzstädten kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen; Barrikaden wurden errichtet. Zahlreiche Schaufenster wurden zerschlagen, Autos in Brand gesetzt. Dadurch richtete sich ein Teil der öffentlichen Meinung gegen die Studenten, die nunmehr als „Krawallmacher“ angesehen wurden. Es ist übrigens wahrscheinlich, dass sich unter die Demonstranten Mitglieder der gaullistischen Milizen oder Zivilpolizisten gemischt hatten, um Öl aufs Feuer zu gießen und der Bevölkerung Angst einzujagen. Es war aber auch klar, dass viele Studenten glaubten, sie würden die ‚Revolution machen’, indem sie Barrikaden errichteten oder Autos anzündeten, die als Symbol der ‚Konsumgesellschaft’ galten. Aber diese Handlungen brachten vor allem die Wut der Demonstranten, Studenten und jungen Arbeiter über die lächerlichen und provozierenden Reaktionen der Behörden gegenüber der größten Streikwelle der Geschichte zum Vorschein. Ein Ausdruck dieser Wut gegen das System: das Symbol des Kapitalismus, die Pariser Börse, wurde in Brand gesetzt. Schließlich konnte die Bourgeoisie erst am darauf folgenden Tag wirksamere Maßnahmen ergreifen. Am Samstag, den 25. Mai, wurden Verhandlungen im Arbeitsministerium (rue de Grenelle) zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Regierung aufgenommen. Von Anfang an waren die Arbeitgeber bereit, mehr zuzugestehen, als was die Gewerkschaften erwartet hatten. Es war offensichtlich, dass die Bourgeoisie Angst hatte. Der Premierminister Pompidou leitete die Verhandlungen. Am Sonntagmorgen traf er den Chef der CGT, Séguy<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]-->, eine Stunde lang unter vier Augen. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frankreich brauchten Zeit, um ohne Zeugen die Bedingungen für die Wiederherstellung der Ordnung zu besprechen.<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]--> In der Nacht vom 26. zum 27. Mai wurde das „Abkommen von Grenelle“ unterzeichnet:

– Lohnerhöhung von 7% für alle ab dem 1. Juni, plus 3% zusätzlich ab dem 1. Oktober;

– Erhöhung der Mindestlöhne um 25%;

– Kürzung der „Eigenleistungen“ im Gesundheitswesen von 30% auf 25% (insbesondere die Gesundheitsausgaben, die die Sozialversicherung nicht übernahm);

– Anerkennung der Gewerkschaften in den Betrieben;

– Sowie eine Reihe von sehr vagen Versprechungen des Beginns von Verhandlungen, insbesondere über die Frage der Arbeitszeit (die damals durchschnittlich 47 Stunden pro Woche betrug). In Anbetracht der Stärke der Bewegung handelte es sich um eine wahre Provokation:

– Die 10% Lohnerhöhung sollte schnell durch die Inflation aufgefressen werden (damals gab es eine hohe Inflationsrate);

– nichts zur Frage des Lohnausgleichs für die Inflation;

– nichts Konkretes zur Verkürzung der Arbeitszeit. Man gab sich damit zufrieden, als Ziel die „schrittweise“ Rückkehr zur 40 Stundenwoche (welche schon 1936 offiziell erreicht worden war) zu proklamieren. Wäre man dem von der Regierung vorgeschlagenen Rhythmus gefolgt, hätte man das Ziel 2008 erreicht!

– Die einzigen, die etwas Wesentliches erreichten, waren die am geringsten bezahlten Arbeiter (man wollte die Arbeiterklasse spalten und sie zur Wiederaufnahme der Arbeit drängen) sowie die Gewerkschaften (welche für ihre Saboteursrolle belohnt wurden).

Am 27. Mai verwarfen die Vollversammlungen das „Abkommen von Grenelle“ einstimmig. Bei Renault Billancourt haben die Gewerkschaften eine ‚Showveranstaltung’ organisiert, über die von den Medien groß berichtet wird. Als er von den Verhandlungen zurückkam, sagte Séguy zu den Journalisten, „die Wiederaufnahme der Arbeit steht unmittelbar bevor“, und er hoffte sehr wohl, dass die Arbeiter von Billancourt ein Beispiel dafür liefern würden. Aber 10.000 Beschäftigte, die sich seit dem Morgen versammelt hatten, hatten die Fortsetzung der Streiks beschlossen, noch bevor die Gewerkschaftsführer angekommen waren. Benoît Frachon, ‘historischer’ Führer der CGT (der sich schon an den Verhandlungen von 1936 beteiligt hatte) erklärte: „Das Abkommen von Grenelle wird Millionen von Arbeitern einen Wohlstand bieten, den sie nicht erhofft hatten.“ Todesstille im Saal. André Jeanson von der CFDT freute sich über das anfängliche Votum zur Fortsetzung des Streiks und sprach von der Solidarität zwischen Arbeitern, Studenten und kämpfenden Oberschülern: stürmischer Beifall. Schließlich trug Séguy einen „objektiven Bericht“ der „Errungenschaften von Grenelle“ vor: minutenlanges Pfeifkonzert. Danach machte Séguy eine Kehrtwendung: „Wenn man nach dem hier gehörten urteilen muss, werdet ihr euch nicht über den Tisch ziehen lassen!“ Applaus, aber aus der Menge rief eine Stimme: „Er führt uns hinters Licht.“ Der beste Beweis der Verwerfung des „Abkommens von Grenelle“: die Zahl der Streikenden stieg noch am 27. Mai auf neun Millionen. Am 9. Mai fand im Sportstadion Charléty in Paris eine große Versammlung statt. Sie wurde von der Studentengewerkschaft UNEF, der CFDT (welche sich radikaler als die CGT gab) und linken Gruppen einberufen. In den Reden wurden revolutionäre Töne geschwungen. Man wollte für die wachsende Unzufriedenheit mit der CGT und der KPF ein Ventil finden. Neben den Vertretern der Extremen Linken waren auch Politiker der Sozialdemokratie wie Mendès-France anwesend (ehemaliger Regierungschef in den 1950er Jahren). Cohn-Bendit, der mit schwarz gefärbten Haaren aus Deutschland zurückgekehrt war, trat auch auf (am Vorabend war er in der Sorbonne erschienen). Der 28. Mai war der Tag der Manöver und Schachzüge der linken Parteien. Am Morgen hielt François Mitterrand, Vorsitzender der „Fédération de la gauche démocrate et socialiste“ (in der die Sozialistische Partei, die Radikale Partei und verschiedene kleine linke Gruppen vertreten waren) eine Pressekonferenz ab. Er meinte, es gebe ein Machtvakuum – deshalb kündigte er seine Kandidatur als Präsident der Republik an. Am Nachmittag schlug Waldeck-Rochet, der Führer der KPF, eine Regierung mit „kommunistischer Beteiligung“ vor. Es ging darum zu vermeiden, dass die Sozialdemokraten die Lage allein zu ihren Gunsten ausnutzten. Am 29. Mai folgte eine große Demonstration, zu welcher die CGT aufrief und in der sie eine „Volksregierung“ forderte. Die Rechten warnten sofort vor einem „kommunistischen Komplott“. An diesem Tag „tauchte“ General de Gaulle ab. Einige brachten das Gerücht in Umlauf, er trete ab; tatsächlich flog er nach Deutschland, um dort die Unterstützung des General Massus, welcher in Deutschland die französischen Besatzungstruppen befehligte, und die Loyalität der Armee sicher zu stellen.

Der 30. Mai stellte eine Art entscheidenden Tag dar bei dem Versuch der Bourgeoisie, die Lage wieder in den Griff zu kriegen. De Gaulle hielt erneut eine Rede. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen trete ich nicht zurück (…). Ich löse heute die Nationalversammlung auf ...“ Gleichzeitig fand in Paris auf den Champs-Élysées eine gewaltige Demonstration zur Unterstützung de Gaulles statt. Aus den Reichenvierteln, den wohlhabenden Vororten und auch vom Land wurde mit Armeelastern das „Volk“ herangekarrt. Es kamen zusammen die Verängstigten und Besitzenden, die Bürgerlichen, die Vertreter der Religionsschulen für die Kinder der Reichen, die Führungsschichten, die sich ihrer „Überlegenheit“ bewusst waren, die kleinen Geschäftsinhaber, die um ihre Schaufenster fürchteten; Kriegsveteranen, die wegen der Angriffe auf die Nationalfahne erbost waren, die Geheimpolizei, die mit der Unterwelt unter einer Decke steckte, aber auch alte Algeriensiedler und die OAS<!--[if !supportFootnotes]-->[9]<!--[endif]-->, junge Mitglieder der faschistoiden Gruppe Occident, die alten Nostalgiker Vichys (obwohl diese alle de Gaulle verachteten). All diese feinen Leute strömten zusammen, um ihren Hass auf die Arbeiterklasse und ihre „Ordnungsliebe“ zu bekunden. Aus der Menge, zu der auch alte Kämpfer des „freien Frankreich“ gehörten, drangen Rufe wie „Cohn-Bendit nach Dachau!“. Aber die „Partei der Ordnung“ beschränkte sich nicht auf die Demonstranten auf den Champs-Elysées. Am gleichen Tag rief die CGT zu branchenmäßigen Verhandlungen zur „Verbesserung der Errungenschaften von Grenelle“ auf. Es handelte sich um ein Mittel zur Spaltung der Bewegung, um sie so vernichten zu können.

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Die Wiederaufnahme der Arbeit

An jenem Donnerstag an wurde die Arbeit wieder aufgenommen, allerdings nur langsam, denn am 6. Juni streikten immer noch
ca. 6 Millionen Beschäftigte. Die Arbeit wurde in großer Zerstreuung wieder aufgenommen.

31. Mai: Stahlindustrie Lothringens, Textilindustrie Nordfrankreichs,

4. Juni: Arsenale, Versicherungen

5. Juni: Elektrizitätswerke<!--[if !supportFootnotes]-->[10]<!--[endif]-->, Kohlebergwerke

6. Juni: Post, Telekommunikation, Transportwesen (In Paris setzte die CGT Druckmittel zur Wiederaufnahme der Arbeit ein. In jedem Betriebswerk kündigten die Gewerkschaftsführer an, dass in den anderen Depots die Arbeit schon wieder aufgenommen worden sei, was eine Täuschung war.);

7. Juni: Grundschulen

10. Juni: das Renault-Werk in Flins wurde von der Polizei besetzt. Ein von den Polizisten verprügelter Gymnasiast fiel in die Seine und ertrank;

11. Juni: Intervention der CRS (Bürgerkriegspolizei)<!--[if !supportFootnotes]-->[11]<!--[endif]--> in den Peugeot-Werken in Sochaux (zweitgrößtes Werk in Frankreich). Zwei Arbeiter wurden getötet. In ganz Frankreich kam es erneut zu gewalttätigen Demonstrationen. „Sie haben unsere Genossen getötet.“ Trotz des entschlossenen Widerstands der Arbeiter räumten die CRS das Sochaux-Werk. Aber die Arbeit wurde erst 10 Tage später wieder aufgenommen. Aus Furcht, dass die Empörung erneut zu einem Wiederaufleben der Streiks führte (immerhin standen noch drei Millionen Beschäftigte im Streik), riefen die Gewerkschaften (mit der CGT an der Spitze) und die Linksparteien (mit der KPF an der Spitze) nachdrücklich zur Wiederaufnahme der Arbeit auf, „damit die Wahlen stattfinden können und der Sieg der Arbeiterklasse vervollständigt werden kann.“ Die Tageszeitung der KPF, l’Humanité, trug die Schlagzeile: „Gestärkt durch ihren Sieg nehmen Millionen Beschäftigte die Arbeit wieder auf.“ Der systematische Streikaufruf durch die Gewerkschaften vom 20. Mai an konnte nun erklärt werden: Sie wollten die Bewegung kontrollieren, damit sie so leichter zur Wiederaufnahme der Arbeit in den weniger kämpferischen Teilen und zur Demoralisierung der anderen Bereiche drängen konnten. Waldeck-Rochet erklärte in seinen Reden während des Wahlkampfes, dass die „Kommunistische Partei eine Partei der Ordnung ist“. In der Tat konnte die bürgerliche „Ordnung“ schrittweise wiederhergestellt werden.

12. Juni: Wiederaufnahme der Arbeit in den Schulen der Sekundarstufe

14. Juni: Air France und Seeschiffahrt

16. Juni : Besetzung der Sorbonne durch die Polizei

17. Juni: chaotische Wiederaufnahme der Arbeit bei Renault Billancourt

18. Juni: De Gaulle ließ die Führer der OAS freisetzen, die noch im Gefängnis saßen;

23. Juni: Erster Wahltag der Parlamentswahlen mit großen Stimmengewinnen für die Rechten;

24. Juni: Wiederaufnahme der Arbeit bei Citroën Javel, mitten in Paris (Krasucki, Nummer 2 der CGT, trat vor der Vollversammlung auf und rief zum Streikabbruch auf.)

26. Juni: Usinor Dünkirchen

30. Juni: Stichwahl mit einem historischen Sieg der Rechten. Einer der Betriebe, die als letzte die Arbeit wieder aufnahmen, waren die Radio- und Fernsehanstalten am 12. Juli. Viele Journalisten wollten nicht wieder bevormundet und zensiert werden, wie das vorher so sehr durch die Regierung geschehen ist. Nach der Wiederaufnahme der Arbeit wurden viele von ihnen entlassen. Überall wurde die Ordnung wiederhergestellt, gerade auch bei den Medien, die wichtig waren für die gezielte „Bearbeitung“ der Bevölkerung. So endete der größte Streik der Geschichte im Gegensatz zu den Behauptungen der CGT und der KPF in einer Niederlage. Eine schwere Schlappe, die durch die Rückkehr der Parteien und „Autoritäten“ bekräftigt wurde, welche während der Bewegung die ganze Wut und Verachtung auf sich gezogen hatten. Aber die Arbeiterbewegung weiß schon seit langem: „Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“ (Kommunistisches Manifest). Aber ungeachtet ihrer unmittelbaren Niederlage haben die Arbeiter in Frankreich 1968 einen großen Sieg nicht nur für sich selbst, sondern für das ganze Weltproletariat errungen. Dies werden wir aufzeigen, in dem wir die tiefer liegenden Ursachen wie auch die historische und internationale Dimension dieses „schönen Mai“ in Frankreich beleuchten.

Die internationale Bedeutung des Streiks im Mai 1968

In den meisten Büchern und Fernsehsendungen, die sich in der letzten Zeit mit dem Thema Mai 1968 befassten, wird der internationale Charakter der Studentenbewegung, welche in Frankreich zu jener Zeit im Gange war, unterstrichen. Es herrscht, wie wir auch in früheren Artikeln festgestellt haben, Einverständnis darüber, dass die Studenten in Frankreich nicht die ersten waren, die massiv auf den Plan traten. Sie waren sozusagen auf den fahrenden Zug aufgesprungen, welcher in den US-amerikanischen Universitäten im Herbst 1964 in Gang gesetzt wurde. Von den USA ausgehend, hatte diese Bewegung die meisten westlichen Ländern erfasst und dabei in Deutschland 1967 seinen spektakulärsten Höhepunkt erlebt, was die Studenten in Deutschland zu einem „Bezugspunkt“ für die Studenten Europas machte. Aber die gleichen Journalisten oder „Historiker“, die vorbehaltlos das internationale Ausmaß der Studentenproteste Ende der 1960er Jahre unterstreichen, hüllen sich in allgemeines Schweigen über die Arbeiterkämpfe, die damals weltweit stattfanden. Natürlich können sie den gewaltigen Streik, der den wichtigsten Moment der Ereignisse des Jahres 1968 in Frankreich darstellt, nicht einfach ausblenden und schweigend darüber hinweggehen. Aber wenn sie sich dazu äußern, dann nur, um zu sagen, die Bewegung der Arbeiter sei eine auf Frankreich beschränkte Ausnahmeerscheinung, gewesen.

In Wirklichkeit war die Bewegung der Arbeiterklasse in Frankreich ebenso wie die der Studenten, Teil einer internationalen Bewegung, und sie kann auch nur im internationalen Kontext verstanden werden. Dies wollen wir unter anderem im folgenden Artikel aufzeigen.

Die französische „Besonderheit“

Es stimmt, dass die Lage in Frankreich im Mai 1968 eine besondere war, die in keinem anderen Land in dem Ausmaß vorzufinden war, allenfalls marginal: eine massive Bewegung der Arbeiterklasse, die sich von der Studentenbewegung ausgehend entwickelt hatte. Es ist offensichtlich, dass die Mobilisierung der Studenten, die danach einsetzende Repression – welche Erstere wiederum anfachte – sowie das Zurückweichen der Regierung nach der „Nacht der Barrikaden“ vom 10. auf den 11. Mai eine Rolle nicht nur bei der Auslösung der Arbeiterstreiks, sondern auch beim Ausmaß derselben gespielt haben. Aber wenn die Arbeiterklasse in Frankreich solch eine Bewegung ausgelöst hat, dann geschah dies nicht, weil sie „dem Beispiel der Studenten folgen“ wollte, sondern weil in ihren eigenen Reihen eine tiefe und weit verbreitete Unzufriedenheit, aber auch die politische Kraft herrschte, um solch einen Kampf aufzunehmen.

Dieser Tatbestand wird in der Regel durch die Bücher und Fernsehprogramme, welche sich mit Mai 68 befassten, nicht verheim-
licht. Es wird oft in Erinnerung gerufen, dass die Arbeiter von 1967 an wichtige Kämpfe geführt haben, die sich in vielem von der Zeit davor unterschieden. Während die kleinen, harmlosen Streiks und die gewerkschaftlichen Aktionstage keine große Begeisterung hervorriefen, flammten nunmehr sehr heftige Konflikte auf, mit einer großen Entschlossenheit der Beschäftigten, die mit einer gewaltsamen Repression durch die Arbeitgeber und die Polizei konfrontiert wurden und unter denen die Gewerkschaften mehrfach die Kontrolle verloren hatten. So kam es schon Anfang 1967 zu größeren Zusammenstößen in Bordeaux (im Flugzeugwerk Dassault), in Besançon und in der Gegend von Lyon (Streik und Besetzung in Rhodia, Streik bei Berliet mit anschließender Aussperrung der Arbeiter durch die Arbeitgeber und Besetzung des Werkes durch die Bürgerkriegspolizei CRS), in den Bergwerken Lothringens, in den Schiffswerften von Saint-Nazaire (die am
11. April durch einen Generalstreik lahmgelegt wurden).

In Caen in der Normandie fanden die wichtigsten Kämpfe der Arbeiterklasse vor dem Mai 1968 statt. Am 20. Januar 1968 hatten die Gewerkschaften von Saviem (LKW-Hersteller) zu einem anderthalbstündigen Streik aufgerufen, aber die Gewerkschaftsbasis, die diese Maßnahme als unzureichend betrachtete, trat am 23. Januar spontan in den Streik. Am übernächsten Tag, um 4.00 Uhr morgens, griff die CRS die Streikposten an und vertrieb sie, um den Managern und den Streikbrechern den Zugang zur Fabrik zu ermöglichen. Die Streikenden beschlossen, in das Stadtzentrum zu ziehen, wo sich ihnen Arbeiter anderer Betriebe anschlossen, die ebenfalls in den Streik getreten waren. Um acht Uhr morgens bewegten sich ca. 5.000 Menschen friedlich auf das Stadtzentrum zu, bis sie von der Bürgerkriegspolizei<!--[if !supportFootnotes]-->[12]<!--[endif]--> brutal angegriffen wurden. So schlugen diese mit ihren Gewehrkolben auf die Demonstranten ein. Am 26. Januar bekundeten Beschäftigte aus allen Bereichen (unter ihnen Lehrer) wie auch viele Studenten ihre Solidarität. An einer Solidaritätsveranstaltung um 18 Uhr auf dem Marktplatz beteiligten sich ca. 7.000 Menschen. Am Ende der Veranstaltung griff die CRS erneut an, um den Platz zu räumen – aber sie wurde vom heftigen Widerstand der Arbeiter überrascht. Die Zusammenstöße dauerten die ganze Nacht. Über 200 Menschen wurden verletzt, Dutzende verhaftet. Sechs junge Demonstranten, alles junge Arbeiter, wurden zu Haftstrafen von 15 Tagen bis zu drei Monaten verurteilt. Aber anstatt die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu schwächen und diese zurückzudrängen, bewirkte diese Repression nur die weitere Ausdehnung der Bewegung. Am 30. Januar zählte man ca. 15.000 Streikende in Caen. Am 2. Februar wurden die staatlichen Behörden und die Arbeitgeber zum Rückzug gezwungen. Die Strafverfolgungen gegen die Demonstranten wurden fallengelassen; die Löhne wurden um drei bis vier Prozent angehoben. Am nächsten Tag nahmen die Beschäftigten die Arbeit wieder auf, aber unter dem Druck der jungen Beschäftigten kam es mindestens noch einen Monat lang zu weiteren Arbeitsniederlegungen bei Saviem.

Doch Saint-Nazaire im April 67 und Caen im Januar 68 waren nicht die einzigen von Generalstreiks betroffenen Städte. Auch in anderen, weniger großen Städten wie Redon im März, Honfleur im April kam es zu größeren Streiks. Diese massiven Streiks aller Beschäftigten einer Stadt sollten einen Vorgeschmack von dem liefern, was im Mai im ganzen Land passieren sollte.

Deshalb kann man nicht behaupten, dass das Gewitter des Mai 68 wie ein Blitz aus heiterem Himmel erfolgt war. Die Studentenbewegung hatte etwas angezündet, das längst bereit war zu brennen.

Natürlich haben die „Spezialisten“, insbesondere die Soziologen, versucht, die Ursachen dieser „Ausnahme“ Frankreich aufzuzeigen. Sie haben vor allem auf die hohen Wachstumszahlen der Industrie in Frankreich während der 1960er Jahre verwiesen, wodurch das alte, landwirtschaftlich geprägte Land zu einem modernen und mächtigen Industriestaat wurde. Diese Tatsache erkläre das Auftreten und die Rolle einer großen Zahl von jungen Arbeitern, die in Fabriken angestellt waren, die oft erst kurz zuvor errichtet worden waren. Diese jungen Arbeiter, die häufig vom Land kamen, seien meistens nicht gewerkschaftlich organisiert gewesen; auch seien sie schlecht mit der Kasernendisziplin in den Betrieben zurechtgekommen, zudem sie trotz ihrer Berufsausbildung meist lächerlich geringe Löhne erhielten.

So lässt sich erklären, warum die jüngsten Mitglieder der Arbeiterklasse als erste den Kampf aufgenommen haben, und auch, warum die meisten wichtigen Bewegungen, die dem Mai 1968 vorhergingen, in Westfrankreich ausgelöst wurden: Diese Region wurde erst relativ spät industrialisiert. Aber die Erklärungen der Soziologen vermögen nicht zu erklären, warum nicht nur die jungen Arbeiter 1968 in Streik getreten sind, sondern die große Mehrheit der ganzen Arbeiterklasse, d.h. quer durch alle Generationen, gestreikt hat.

… und international

Hinter einer solch tiefgreifenden und weitreichenden Bewegung wie die des Mai 68 steckten notwendigerweise tiefergehende Ursachen, die weit über Frankreich hinausreichten. Die gesamte Arbeiterklasse Frankreichs ist damals faktisch in einen Generalstreik getreten, da alle Teile der Arbeiterklasse mittlerweile von der Wirtschaftskrise erfasst worden waren, die 1968 erst in ihrer Anfangsphase steckte. Diese Krise war aber keineswegs auf Frankreich beschränkt, sondern erfasste den Weltkapitalismus insgesamt. Die Auswirkungen dieser weltweiten Wirtschaftkrise in Frankreich (Anstieg der Arbeitslosigkeit, Lohnstopps, Produktivitätserhöhungen, Angriffe auf die Sozialleistungen) liefern die Haupterklärung für den Anstieg der Kampfbereitschaft in Frankreich 1967: „In allen Industriestaaten Europas und in den USA stieg die Arbeitslosigkeit an und die wirtschaftlichen Aussichten verschlechterten sich. England, das trotz einer Vielzahl von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts Ende 1967 dazu gezwungen war, das Pfund abzuwerten, löste eine Reihe von Abwertungen vieler anderer Währungen aus. Die Regierung Wilson kündigte ein außergewöhnliches Sparprogramm an: massive Kürzung der Staatsausgaben (...), Lohnstopps, Einschränkung der Binnennachfrage und der Importe, besondere Anstrengungen zur Ankurbelung der Exporte. Am 1. Januar 1968 schrie Johnson [der damalige US-Präsident] Alarm und kündigte unumgängliche harte Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Gleichgewichts an. Im März brach die Dollarkrise aus. Die Tag für Tag pessimistischere Wirtschaftspresse erwähnte immer öfter das Gespenst der Wirtschaftskrise von 1929 […] Die ganze Bedeutung des Mai 1968 lag darin, eine der ersten und größten Reaktionen der Arbeiter gegen eine sich weltweit verschlechternde wirtschaftliche Lage gewesen zu sein“ (Révolution Internationale – alte Reihe, Nr. 2, Frühjahr 1969).

Tatsächlich haben besondere Umstände dazu geführt, dass der erste große Kampf der Arbeiterklasse gegen die Angriffe der Kapitalisten, die später an Schärfe noch zunehmen sollten, in Frankreich ausgefochten wurde. Doch sehr schnell traten auch Arbeiter anderer Länder in den Kampf. Den gleichen Ursachen folgten die gleichen Wirkungen.

Am anderen Ende der Welt, in Cordoba (Argentinien), kam es im Mai 1969 zu dem, was später als „Cordobazo“ in die Geschichte eingehen sollte. Nach einer ganzen Reihe von Arbeitermobilisierungen in vielen Städten gegen die brutalen wirtschaftlichen Sparmaßnahmen und die Repression durch das Militärregime hatten Polizei und Armee am 29. Mai die Kontrolle verloren, obwohl Letztere sogar Panzer aufgeboten hatte. Die Arbeiter hatten die zweitgrößte Stadt des Landes übernommen. Die Regierung konnte die „Ordnung“ am folgenden Tag nur dank des massiven Einsatzes des Militärs wiederherstellen.

In Italien begannen zum gleichen Zeitpunkt die größten Arbeiterkämpfe seit dem II. Weltkrieg. Bei Fiat in Turin legten mehr und mehr Arbeiter die Arbeit nieder, zunächst im größten Werk der Stadt, bei Fiat-Mirafiori, ehe die Bewegung dann die anderen Werke in Turin und Umgebung erreichte. Während eines gewerkschaftlichen Aktionstages am 3. Juli 1969 gegen die Mietpreiserhöhungen zogen demonstrierende Arbeiter, denen sich Studenten anschlossen, zum Mirafiori-Werk. Die Polizei griff daraufhin die Demonstrierenden gewalttätig an. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen hielten die ganze Nacht an und dehnten sich auf andere Stadtviertel aus.

Ab Ende August, als die Arbeiter aus ihrem Sommerurlaub zurückkehrten, kam es erneut zu Arbeitsniederlegungen – dieses Mal jedoch auch bei Pirelli (Reifenhersteller) in Mailand und in vielen anderen Betrieben.

Doch die italienische Bourgeoisie, die aus der Erfahrung des Mai 68 gelernt hatte, ließ sich im Gegensatz zu der französischen Bourgeoisie nicht überraschen. Sie versuchte mit aller Macht zu verhindern, dass die spürbare, starke gesellschaftliche Unzufriedenheit zu einem gesellschaftlichen Flächenbrand aus-
uferte. Deshalb versuchte der zu ihren Diensten stehende Gewerkschaftsapparat, die anstehenden Tarifverhandlungen, insbesondere in der Metallindustrie, in der Chemiebranche und im Baugewerbe, auszunutzen, um Spaltungsmanöver durchzuführen, mit denen die Arbeiter dazu veranlasst werden sollten, für „gute Abschlüsse“ in ihrer jeweiligen Branche zu kämpfen. Die Gewerkschaften verfeinerten die Taktik der „Schwerpunktstreiks“: An einem Tag streikten die Metaller, an einem anderen die Beschäftigten der chemischen Industrie, an einem dritten die des Baugewerbes. Man rief auch zu „Generalstreiks“ auf, aber diese sollten jeweils auf eine Provinz oder eine Stadt beschränkt bleiben. Sie richteten sich gegen die Preiserhöhungen oder Mietpreissteigerungen. In den Betrieben selbst plädierten die Gewerkschaften für rotierende Streiks; eine Abteilung nach der anderen sollte die Arbeit niederlegen. Dies geschah unter dem Vorwand, so dem Arbeitgeber den größtmöglichen Schaden zuzufügen und für die Streikenden den Schaden so gering wie möglich zu halten. Gleichzeitig unternahmen die Gewerkschaften alles, um die Kontrolle über eine Basis wiederherzustellen, die ihnen immer mehr entglitt. Nachdem die Arbeiter in vielen Betrieben aus Unzufriedenheit mit den traditionellen Gewerkschaftsstrukturen Vertrauensleute wählten, wurden diese postwendend als „Fabrikräte“ institutionalisiert, die die „Basisorgane“ der Einheitsgewerkschaft sein sollten, welche die drei Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL gemeinsam gründen wollten.

Nach mehreren Monaten, während derer die Kampfbereitschaft durch eine Reihe von „Aktionstagen“ erschöpft wurde, die jeweils voneinander abgeschottet in verschiedenen Branchen und Städten stattfanden, wurden zwischen Anfang November und Ende Dezember die Tarifverträge Zug um Zug unterzeichnet. Und schließlich explodierte am 12. Dezember – wenige Tage vor dem Abschluss des Tarifvertrages in der bedeutendsten Branche, der privaten Metallindustrie, wo die Arbeiter am radikalsten gekämpft hatten – eine Bombe in einer Mailänder Bank. Dabei kamen 16 Menschen ums Leben. Das Attentat wurde Anarchisten in die Schuhe geschoben (einer von ihnen, Giuseppe Pinelli, starb in den Händen der Mailänder Polizei), aber viel später stellte sich heraus, dass das Attentat von gewissen Kreisen des Staatsapparates angezettelt worden war. Die geheimen Strukturen des bürgerlichen Staates leisteten so den Gewerkschaften Hilfestellung, um für Verwirrung in den Reihen der Arbeiter zu sorgen, während gleichzeitig ein Vorwand für die Verstärkung des Repressionsapparates gefunden worden war.

Das Proletariat Italiens war jedoch nicht das einzige, das sich im Herbst 1969 regte. In geringerem Maße traten auch die Arbeiter in Deutschland auf den Plan; im September 1969 kam es zu wilden Streiks gegen die von den Gewerkschaften unterzeichneten Tarifabschlüsse der Lohndämpfung. Diese Tarifabschlüsse wurden von den Gewerkschaften in Anbetracht der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland als „realistisch“ gelobt. Die Wirtschaft in Deutschland war trotz des Wirtschaftswunders von den zunehmenden Schwierigkeiten der Weltwirtschaft seit 1967 nicht verschont geblieben – 1967 rutschte Deutschland zum ersten Mal seit dem II. Weltkrieg in die Rezession ab.

Auch wenn dieses Wiedererwachen der Arbeiterklasse in Deutschland noch sehr verhalten war, kam diesem eine besondere Bedeutung zu. Auf der einen Seite handelt es sich um den zahlenmäßig größten und konzentriertesten Teil der Arbeiterklasse in Europa. Aber vor allem hat die Arbeiterklasse in Deutschland in der Geschichte eine herausragende Stellung innerhalb der Weltarbeiterklasse eingenommen – und diesen Platz wird sie auch in Zukunft einnehmen. In Deutschland war der Ausgang der internationalen revolutionären Welle von Kämpfen, die von Oktober 1917 in Russland an die kapitalistische Herrschaft auf der ganzen Welt bedroht hatte, infragestellt worden. Die von den Arbeitern in Deutschland erlittene Niederlage nach ihrem revolutionären Ansturm zwischen 1918–1923 hatte der schrecklichsten Konterrevolution, die die Weltarbeiterklasse jemals erlebt hatte, den Weg bereitet. Dort, wo die Revolution am weitesten gediehen war, in Deutschland und Russland, hatte die Konterrevolution die schlimmsten und barbarischsten Formen angenommen: Stalinismus und Naziherrschaft. Diese Konterrevolution hatte fast ein halbes Jahrhundert gedauert und erlebte ihren Gipfelpunkt im II. Weltkrieg, der es im Gegensatz zum I. Weltkrieg dem Proletariat nicht ermöglicht hatte, sein Haupt zu erheben, sondern seine Niederlage nur verschärft hatte, insbesondere durch die durch den Sieg der „Demokratie“ und des „Sozialismus“ entstandenen Illusionen.

Die gewaltigen Streiks des Mai 1968 in Frankreich, schließlich der „Heiße Herbst“ in Italien hatten den Beweis erbracht, dass die Weltarbeiterklasse die Zeit der Konterrevolution überwunden hatte, und dass im Gegensatz zur Krise von 1929 die nun mehr neu einsetzende Krise nicht zu einem neuen Weltkrieg führen sollte, sondern zu einer Intensivierung der Klassenkämpfe, welche die herrschende Klasse daran hinderten, ihre barbarische Lösung für die Erschütterungen ihrer Wirtschaft durchzusetzen. Die Kämpfe der Arbeiter in Deutschland im September 1969 bestätigten dies später, und in einem noch größeren Maße taten dies auch die Kämpfe der polnischen Arbeiter aus den Ostseestädten im Winter 1970–71.

Im Dezember 1970 reagierte die Arbeiterklasse in Polen spontan und massiv auf eine Erhöhung der Preise von mehr als 30%. Die Arbeiter zerstörten den Sitz der stalinistischen Partei in Gdansk, Gdynia und Elblag. Die Streikbewegung dehnte sich von der Ostseeküste auf Poznan, Katowice, Wroclaw und Krakov aus. Am 17. Dezember schickte Gomulka, der Generalsekretär der an der Macht befindlichen stalinistischen Partei, seine Panzer an die Ostküste. Mehrere Hundert Arbeiter wurden getötet. Straßenkämpfe fanden in Szczecin und Gdansk statt. Die Bewegung konnte aber nicht durch Repression unterdrückt werden. Am 21. Dezember brach eine Streikwelle in Warschau aus. Gomulka musste abtreten. Sein Nachfolger, Gierek, verhandelte sofort persönlich mit den Werftarbeitern von Szczecin. Gierek machte einige Konzessionen, aber weigerte sich die Preiserhöhungen zurückzunehmen. Am 11. Februar brach ein Massenstreik in Lodz aus. Gierek musste schließlich nachgeben: die Preiserhöhungen wurden gestrichen. Die stalinistischen Regimes waren die schlimmste Verkörperung der Konterrevolution gewesen. Im Namen des „Sozialismus“ und im „Interesses der Arbeiterklasse“ wurde die schrecklichste Terrorherrschaft gegen die Arbeiter ausgeübt. Der „heiße“ Winter der polnischen Arbeiter 1970–71 sowie auch die Streiks, die nach Bekanntwerden der Kämpfe in Polen auf der anderen Seite der Grenze ausbrachen, insbesondere in Lwow (Ukraine) und Kaliningrad bewiesen, dass selbst dort, wo die Konterrevolution in Gestalt der „sozialistischen“ Regimes immer noch das Zepter in der Hand hielt, ein Durchbruch erzielt worden war.

Wir können an dieser Stelle nicht alle Arbeiterkämpfe aufzählen, die nach 1968 stattgefunden haben und diese grundlegende Umwälzung des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat auf Weltebene bewirkt haben. Wir wollen stellvertretend nur zwei Beispiele erwähnen: Spanien und England.

Trotz einer wütenden Repression, die vom Franco-Regime ausgeübt wurde, hielt die Kampfbereitschaft der Arbeiter noch bis 1974 massiv an. In Pamplona, Navarra, überstieg die Zahl der Streiktage pro Arbeiter noch die der französischen Arbeiter 1968. Alle Industriegebiete (Madrid, Asturien, Baskenland) wurden erfasst. In den großen Arbeiterzusammenballungen der Vororte von Barcelona dehnten sich die Streiks am weitesten aus. Fast alle Betriebe der Region wurden bestreikt. Es kam zu exemplarischen Solidaritätsstreiks (oft begannen Streiks in einem Werk ausschließlich aus Solidarität mit den Beschäftigten anderer Betriebe).

Das Beispiel des englischen Proletariats ist ebenfalls sehr aufschlussreich, denn hier handelte es sich um das älteste Proletariat der Welt. Während der 1970er Jahre fanden dort massive Kämpfe gegen die Ausbeutung statt (1979 wurden mehr als 29 Millionen Streiktage registriert, die englischen Arbeiter standen in der Streikstatistik an zweiter Stelle hinter den französischen Arbeitern mit ihren Streiks 1968). Diese Kampfbereitschaft zwang die englische Bourgeoisie zweimal dazu, sogar ihren Premierminister auszutauschen: Im April 1976 wurde Callaghan durch Wilson ersetzt, und Anfang 1979 wurde Callaghan durch das Parlament abgesetzt.

So liegt die grundlegende historische Bedeutung des Mai 68 weder in den „französischen Besonderheiten“ noch in der Studentenrevolte, ebensowenig in der heute so viel gepriesenen ‚Revolution der Sitten?’, sondern darin, dass die Weltarbeiterklasse die Konterrevolution überwunden hatte und in einen neuen historischen Zeitraum von Zusammenstößen mit der kapitalistischen Ordnung eingetreten war. Diese neue Periode zeichnet sich ebenso dadurch aus, dass sich politisch-proletarische Strömungen, welche von der Konterrevolution praktisch eliminiert oder zum Schweigen gebracht worden waren, neu entwickelt haben, darunter die IKS. Darauf werden wir in einem weiteren Artikel eingehen.

Das internationale Wiederauftauchen revolutionärer Kräfte

Die Schäden der Konterrevolution in den Reihen der Kommunisten

Anfang des 20. Jahrhunderts führte das Proletariat während und nach dem 1. Weltkrieg gigantische Kämpfe, in denen der Kapitalismus beinahe überwunden worden wäre. 1917 wurde die bürgerliche Macht in Russland gestürzt. Zwischen 1918–1923 gab es in dem wichtigsten Land Europas, in Deutschland, mehrere Anläufe zur Überwindung des Kapitalismus. Diese revolutionäre Welle fand in allen Winkeln der Erde ihren Widerhall, d.h. überall wo es eine entwickelte Arbeiterklasse gab, von Italien bis Kanada, von Ungarn bis China.

Aber der Weltbourgeoisie gelang es, diese gigantische Bewegung der Arbeiterklasse einzudämmen, und sie blieb nicht dabei stehen. Sie brach die schrecklichste Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterbewegung vom Zaun. Diese Konterrevolution entwickelte sich in Gestalt einer unvorstellbaren Barbarei, deren bedeutendsten Ausdrücke der Stalinismus und Nationalsozialismus waren. Diese wüteten besonders stark dort, wo die Revolution am weitesten gegangen war, nämlich in Russland und in Deutschland.

In diesem Zusammenhang verwandelten sich die kommunistischen Parteien, welche in der revolutionären Welle von Kämpfen an der Spitze gestanden hatten, zu Parteien der Konterrevolution.

Der Verrat der kommunistischen Parteien löste in ihren Reihen die Entstehung von linkskommunistischen Fraktionen aus, welche wirklich revolutionäre Positionen weiter verteidigen wollten. Ein ähnlicher Prozess hatte schon innerhalb der sozialistischen Parteien stattgefunden, als diese 1914 aufgrund ihrer Unterstützung des imperialistischen Krieges ins bürgerliche Lager übergewechselt waren. Aber während diejenigen, welche innerhalb der sozialistischen Parteien gegen deren opportunistisches Abgleiten und deren Verrat ankämpften, an Stärke und Einfluss in der Arbeiterklasse gewannen, so dass sie nach der Russischen Revolution sogar eine neue Internationale gründen konnten, verlief die Entwicklung der linken Strömungen, die aus den kommunistischen Parteien hervorgingen, aufgrund des zunehmenden Gewichtes der Konterrevolution anders. Während sie anfänglich eine Mehrheit der Mitglieder in den Parteien in Deutschland und Italien umfassten, verloren diese Strömungen schrittweise ihren Einfluss in der Arbeiterklasse und den größten Teil ihrer Mitglieder. Oder sie gingen unter durch eine Zersplitterung in eine Reihe von kleinen Gruppen, wie in Deutschland, noch bevor das Hitler-Regime die letzten Militanten auslöschte oder sie ins Exil zwang.

Während der 1930er Jahre zählten neben der Strömung um Trotzki, welche immer mehr vom Opportunismus zerfressen wurde, die Gruppen, welche die revolutionären Positionen weiterhin entschlossen verteidigten wie die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) in Holland (die sich auf den „Rätekommunismus“ berief und die Notwendigkeit einer proletarischen Partei verwarf) und die Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens (welche die Zeitschrift Bilan veröffentlichte) nur einige wenige Dutzend Mitglieder. Diese konnten keinen Einfluss auf die Arbeiterkämpfe ausüben.

Im Gegensatz zum 1. Weltkrieg hat der 2. Weltkrieg keine Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie ermöglicht. Ganz im Gegenteil. Durch die historische Erfahrung klüger geworden und dank der wertvollen Unterstützung der stalinistischen Parteien setzte die Bourgeoisie alles daran, jegliche neue Regungen der Arbeiterklasse im Keim zu ersticken. In der demokratischen Euphorie der „Befreiung“ standen die Gruppen der Kommunistischen Linken noch isolierter da als in den 1930er Jahren. In Holland löste der Communistenbond Spartacus den GIC bei der Verteidigung rätistischer Positionen ab. Diese wurden ebenfalls ab 1965 von der Gruppe Daad en Gedachte, einer Abspaltung vom Bond, vertreten. Diese beiden Gruppen veröffentlichten viele Texte, obwohl sie durch ihre rätekommunistische Position behindert waren, welche die Rolle einer Avantgardeorganisation für die Arbeiterklasse verwarf. Aber das größte Hindernis war das ideologische Gewicht der Konterrevolution. Dies traf auch auf Italien zu, wo die Bildung der Partito Comunista Internazionalista (die Battaglia Comunista und Prometeo veröffentlichte) im Jahre 1945 um Damen und Bordiga die Versprechen nicht hielt, welche ihre Mitglieder sich erhofft hatten. Während diese Organisation bei ihrer Gründung über ca. 3.000 Mitglieder verfügte, wurde sie infolge von Demoralisierung und Spaltungen – insbesondere nach der von Bordiga betriebenen Spaltung 1952, die zur Bildung der Parti Communiste International führte (sie veröffentlichte Programma Comunista), immer mehr geschwächt. Einer der Gründe für die Spaltungen und Schwächung liegt in der Aufgabe einer ganzen Reihe von Errungenschaften, die von Bilan in den 1930er Jahren erzielt worden waren.

In Frankreich verschwand 1952 die Gruppe Gauche Communiste de France (GCF), die 1945 gebildet worden war, und welche die Kontinuität mit den Positionen Bilan’s (bei gleichzeitiger Integration programmatischer Positionen der Deutsch-Holländischen Linken) darstellte und 42 Ausgaben ihrer Zeitschrift Internationalisme herausbrachte. Abgesehen von den Leuten, die der Parti Communiste International verbunden waren und Le Prolétaire veröffentlichten, vertrat eine andere Gruppe bis Anfang der 1960er Jahre Klassenpositionen in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (SouB). Aber diese aus dem Trotzkismus hervorgegangene Abspaltung nach dem 2. Weltkrieg gab schrittweise und ausdrücklich den Marxismus auf. Infolgedessen verschwand die Gruppe 1966.

Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre hatten mehrere Spaltungen von Socialisme ou Barbarie insbesondere gegenüber der Frage des Marxismus zur Bildung von kleinen Gruppen geführt, welche sich der rätistischen Bewegung anschlossen, insbesondere gehörte dazu ICO (Informations et Correspondances Ouvrières).

Man könnte noch andere Gruppen in anderen Ländern erwähnen, die zu dieser Zeit existierten, aber kennzeichnend für die Lage der damaligen Strömungen, die in den 1950er und Anfang der 1960er Jahren kommunistische Positionen vertreten haben, war ihre besonders schwache Mitgliederzahl. Ihre Publikationen zirkulierten eher in eingeweihten Kreisen, sie waren international isoliert. Darüber hinaus gab es theoretisch-programmatische Rückschritte, die entweder einfach zu ihrem Verschwinden oder zu einer sektenhaften Entwicklung geführt haben, wie das insbesondere bei der Parti Communiste International der Fall war, die sich als die einzige kommunistische Organisation auf der Welt betrachtete.

Das Wiedererstarken der revolutionären Positionen

Der Generalstreik 1968 in Frankreich, schließlich die verschiedenen massiven Bewegungen der Arbeiterklasse, über die wir im vorherigen Artikel berichtet haben, haben erneut die Idee der kommunistischen Revolution in zahlreichen Ländern auf die Tagesordnung gestellt. Die Lügen des Stalinismus, der sich als „kommunistisch“ und „revolutionär“ darstellte, zerbrachen überall. Daraus schlugen natürlich die Strömungen Kapital, die die UdSSR als „Mutterland des Sozialismus“ kritisierten, wie die maoistischen oder trotzkistischen Organisationen. 1968 erlebte die trotzkistische Bewegung, die sich auf ihren Kampf gegen Stalinismus berief, eine Art Neugeburt. Sie konnte damals aus dem Schatten der stalinistischen Parteien treten, der lange auf ihnen gelegen hatte. Ihr Wachstum war teilweise spektakulär, insbesondere in Frankreich, Belgien oder Großbritannien. Aber seit dem 2. Weltkrieg gehörte diese Strömung dem proletarischen Lager nicht mehr an, insbesondere weil sie „die Arbeitererrungenschaften der UdSSR“ verteidigt hatte, d.h. sie hatte das von der UdSSR beherrschte imperialistische Lager verteidigt. Nachdem die Arbeiterstreiks, die sich seit Ende der 1960er Jahre entfalteten, die arbeiterfeindliche Rolle der stalinistischen Parteien und Gewerkschaften, der wahren Rolle der Wahlen und der Demokratie als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie offenbart hatten, wurden viele Leute dazu bewogen, sich mit politischen Strömungen zu befassen, die in der Vergangenheit die Rolle der Gewerkschaften und des Parlamentarismus am deutlichsten entblößt hatten und den Kampf gegen den Stalinismus am klarsten verkörperten – die Kommunistische Linke.

Nach Mai 1968 wurden die Schriften Trotzkis sehr weit verbreitet, aber auch die Pannekoek’s, Gorter’s<!--[if !supportFootnotes]-->[13]<!--[endif]-->, Rosa Luxemburgs, die als eine der Ersten kurz vor ihrer Ermordung im Januar 1919 die bolschewistischen Genossen vor gewissen Gefahren gewarnt hatten, die die Revolution in Russland bedrohten.

Neue Gruppen sind in Erscheinung getreten, die sich mit der Erfahrung der Kommunistischen Linken befassten. Diejenigen, die verstanden, dass der Trotzkismus eine Art linker Flügel des Stalinismus geworden war, wandten sich eher dem Rätismus zu als der Italienischen Linken. Dafür gab es mehrere Gründe. Die Verwerfung der stalinistischen Parteien ist oft mit der Verwerfung des Begriffs der kommunistischen Partei selbst verbunden. Dies war gewissermaßen der Preis, den die Neuen, welche sich der proletarischen Revolution zuwandten, der stalinistischen Lüge von der Kontinuität zwischen Bolschewismus und Stalinismus, zwischen Lenin und Stalin, zu zahlen hatten Diese falsche Idee wurde im Übrigen zum Teil durch die Positionen der bordigistischen Strömung mit verbreitet. Sie war die einzige Strömung, die aus der Italienischen Linken hervorgegangen war, welche sich international ein wenig ausbreiten konnte, und sich auf den „Monolithismus“ in ihren Reihen berief. Andererseits war dies eine Folge der Tatsache, dass die Strömungen, welche sich weiterhin auf diese Gruppierung beriefen, im Wesentlichen die Ereignisse des Mai 1968 nicht verstanden und sie verpasst haben, weil sie hinter ihnen nur einen Studentenprotest sahen und nicht die tiefer dahinter liegende historische Bedeutung.

Während gleichzeitig neue, vom Rätismus inspirierte Gruppen auftauchten, verbuchten die schon früher bestehenden Gruppen große Erfolge. Ihre Mitgliederzahlen nahmen spektakulär zu, während sie gleichzeitig zu einem politischen Bezugspunkt wurden. Dies traf insbesondere auf die Gruppe Informations et Correspondance Ouvrières (ICO= Arbeiterkorrespondenz und –informationen) zu, die aus einer Abspaltung von SouB 1958 hervorgegangen war, und die 1969 ein internationales Treffen in Brüssel organisierte, an der sich insbesondere Cohn-Bendit, Mattick (ein ehemaliges Mitglied der Deutschen Linken beteiligte, welcher in die USA ausgewandert war und dort verschiedene rätistische Zeitschriften veröffentlichte) und Cajo Brendel, Haupttriebkraft von Daad en Gedachte. Aber die Erfolge des „organisierten“ Rätismus waren nur von kurzer Dauer. Die Gruppe ICO löste sich 1974 auf. Die holländischen Gruppen fielen zusammen, nachdem ihre Haupttriebkräfte ihre Aktivitäten einstellten

In Großbritannien fiel die Gruppe Solidarity, die von den Positionen von Socialisme ou Barbarie inspiriert wurde, und einen ähnlichen Erfolg wie ICO hatte, nach einer Reihe von Spaltungen 1981 auseinander (obwohl ihre Londoner Sektion die Zeitschrift noch bis 1992 veröffentlichte). In Skandinavien haben die rätistischen Gruppen, die sich nach 1968 entwickelt haben, eine Konferenz im September 1977 in Oslo organisiert – aber dieser folgten keine weiteren Schritte.

Letztendlich hat sich die Strömung in den 1970er Jahren am weitesten entwickelt, die mit den Positionen von Bordiga (der im Juli 1970 starb) verbunden ist. Ihre Mitgliedschaft stieg damals insbesondere nach dem Ausbruch von Krisen bei linksextremen Gruppen (insbesondere bei maoistischen Gruppen). 1980 war die Internationale Kommunistische Partei die Organisation, welche sich auf die Kommunistische Linke berief, mit dem größten Einfluss auf internationaler Ebene. Aber diese „Öffnung“ der bordigistischen Strömung für Leute, die sehr stark von der extremen Linken geprägt waren, führte 1982 zu ihrem Zusammenbruch. Seitdem besteht sie weiter als eine Reihe von kleinen, auf sich beschränkten Sekten.

Der Anfang der IKS

Der bedeutendste langfristige Ausdruck dieses wieder erwachten Interesses an den Positionen der Kommunistischen Linken war unsere eigene Organisation<!--[if !supportFootnotes]-->[14]<!--[endif]-->. Diese wurde im Wesentlichen vor gerade 40 Jahren gegründet, im Juli 1968 in Toulouse, als ein kleiner Kern von Leuten, der ein Jahr zuvor einen Diskussionskreis um einen Genossen R.V. gegründet hatte, eine erste Prinzipienerklärung verabschiedete. Dieser Genosse R.V. hatte seine ersten politischen Erfahrungen in der Gruppe Internacionalismo in Venezuela gesammelt. Diese Gruppe war 1964 von dem Genossen MC gegründet worden, der die Haupttriebkraft bei der Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs – GCF – 1944–52) gewesen war, nachdem er zuvor von 1938 an der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken angehört hatte, und der schon seit 1919 Militant gewesen war (im Alter von 12 Jahren). Zunächst war er in der Kommunistischen Partei Palästinas, dann in der Französischen Kommunistischen Partei aktiv gewesen. Während des Generalstreiks im Mai 1968 hatten Mitglieder des Diskussionszirkels mehrere Flugblätter mit dem Namen „Bewegung für den Aufbau von Arbeiterräten“ (MICO) verteilt. Sie hatten mit anderen Leuten diskutiert, bevor sie dann im Dezember 1968 die Gruppe Révolution Internationale gründeten. Diese Gruppe hatte Kontakt aufgenommen mit zwei anderen Gruppen, die der rätekommunistischen Bewegung angehörten – Rätekommunistische Organisation Clermont-Ferrand und „Rätekommunistische Hefte“, die in Marseille ansässig war. Mit diesen beiden Gruppen wurden dann weitere Diskussionen geführt.

Schließlich schlossen sich diese drei Gruppen 1972 zusammen, um die spätere Sektion der IKS in Frankreich, Révolution Internationale, zu gründen, welche dann mit der Veröffentlichung der Zeitschrift mit dem gleichen Namen (neue Serie) begann. In Fortsetzung der Politik von Internacionalismo, der GCF und Bilan’s, nahm Révolution Internationale Diskussionen mit verschiedenen Gruppen auf, die ebenfalls nach 1968 aufgetaucht waren, insbesondere in den USA (Internationalism). 1972 schickte Internationalism ein Schreiben an ca. 20 Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen, und rief zur Schaffung eines Netzes zum Austausch und der internationalen Debatte auf. Révolution Internationale reagierte darauf sehr positiv, und schlug dabei als Arbeitsperspektive die Organisierung einer internationalen Konferenz vor. Die anderen Gruppen, welche positiv reagierten, gehörten alle der rätekommunistischen Bewegung an. Die Gruppen, welche sich an die Italienische Linke anlehnten, stellten sich entweder taub oder hielten diese Initiative für verfrüht. Auf der Grundlage dieser Initiative fanden zwischen 1973 und 1974 mehrere Treffen in England und Frankreich statt, an denen sich insbesondere aus Großbritannien (World Revolution, Revolutionary Perspectives und Workers’ Voice) beteiligten, die ersten beiden Gruppen waren aus einer Abspaltung von Solidarity hervorgegangen und die letzte aus einer Abspaltung von den Trotzkisten).

Schließlich führte dieser Zyklus von Treffen im Januar 1975 zu einer Konferenz, bei der die Gruppen, welche die gleiche politische Orientierung teilten – Internacionalismo, Révolution Internationale, Internationalism, World Revolution, Rivoluzione Internazionale (Italien) und Accion Proletaria (Spanien) beschlossen, sich zur Internationalen Kommunistischen Strömung zusammenzuschließen.

Die IKS beschloss dann die Fortsetzung der Politik der Kontaktaufnahme und Diskussionen mit anderen Gruppen der Kommunistischen Linken. So nahm die IKS an den Konferenzen in Oslo 1977 (mit Revolutionary Perspectives) teil und antwortete positiv auf die 1976 von Battaglia Comunista vorgeschlagene Initiative zur Abhaltung einer internationalen Konferenz von Gruppen der Kommunistischen Linken.

Die drei danach stattgefundenen Konferenzen – 1977 in Mailand, 1978 in Paris, 1980 in Paris – stießen auf ein wachsendes Interesse unter den Leuten, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen, aber die Entscheidung Battaglia Comunista’s und der Communist Workers’ Organisation (die aus einem Zusammenschluss von Revolutionary Perspectives und Workers’ Voice in Großbritannien hervorgegangen war), die IKS aus dem Diskussionsprozess auszuschließen, bedeutete dann auch das Ende der Konferenzen<!--[if !supportFootnotes]-->[15]<!--[endif]-->. Der sektiererische Rückzug (zumindest die Abgrenzung gegenüber der IKS) von Battaglia Comunista und der Communist Workers’ Organisation (die sich 1984 im Internationalen Büro für die Revolutionäre Partei – IBRP zusammenschlossen) zeigte, dass die Initialzündung durch das historische Wiederauftauchen der Arbeiterklasse im Mai 1968, die zur Bildung der Kommunistischen Linken geführt hatte, nun zu Ende gekommen war.

Aber trotz der Schwierigkeiten, auf die die Arbeiterklasse während der letzten Jahrzehnte gestoßen ist, insbesondere aufgrund der ideologischen Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“ nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, hat es die Weltbourgeoisie nicht geschafft, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen. Dies kommt durch die Tatsache zum Ausdruck, dass die Kommunistische Linke (die hauptsächlich durch das IBRP<!--[if !supportFootnotes]-->[16]<!--[endif]--> und vor allem die IKS verkörpert wird) ihre Positionen aufrechterhalten hat und heute auf ein wachsendes Interesse bei den Leuten stößt, die infolge des langsamen Wiedererstarkens des Klassenkampfes seit 2003 nach einer revolutionären Perspektive suchen.

Fabienne 6. Juli 2008

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<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Kommunistische Partei Frankreichs

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<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> CGT= Confédération générale du Travail: Sie ist die stärkste Gewerkschaftszentrale, insbesondere im Industriebereich, im Transportwesen und unter den Beamten. Sie wird von der KPF kontrolliert.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> Confédération francaise démocratique du Travail. Dieser Gewerkschaftsverband ist christlichen Ursprungs aber Anfang der 1960er Jahre verwarf sie ihren Bezug auf das Christentum und sie wurde seitdem stark von der Sozialistischen Partei beeinflusst sowie von einer kleinen sozialistischen Partei (PSU), die seitdem eingegangen ist.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> Fernsehberichterstatter, der sehr auf „Ausgleich“ bedacht war.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> Sportkommentator mit zügellosem Chauvinismus

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<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]--> Am Morgen nach der Rede weigerten sich die Beschäftigten der Kommunalbetriebe an vielen Orten, das Referendum zu organisieren. Auch wussten die Behörden nicht, wo sie die Stimmzettel drucken sollten. Die staatliche Druckerei wurde bestreikt und die nicht streikenden privaten Druckereien verweigerten die Annahme des Auftrags. Ihre Arbeitgeber wollte keine zusätzlichen Scherereien mit ihren Arbeitern haben.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]--> Georges Séguy war ebenso Mitglied des Politbüros der KPF.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]--> Man erfuhr später, dass Chirac, Staatssekretär im Sozialministerium ebenso Krasucki (auf einem Speicher) getroffen hat. Dieser war damals die Nummer 2 der CGT.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[9]<!--[endif]--> Eine geheime bewaffnete Organisation: eine geheime Militär- und Partisanenorganisation, die für den Verbleib Frankreichs in Algerien kämpfen wollte. Anfang der 1960er Jahre verübte sie terroristische Attentate und sie versuchte gar de Gaulle umzubringen.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[10]<!--[endif]--> Electricité de France

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<!--[if !supportFootnotes]-->[11]<!--[endif]--> CRS=Compagnies républicaines de Sécurité: nationale Polizeikräfte, spezialisiert auf die Niederschlagung von Straßendemonstrationen.

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<!--[if !supportFootnotes]-->[12]<!--[endif]--> Kräfte der Nationalgendarmerie (d.h. der Armee), die die gleiche Rolle wie die CRS haben

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<!--[if !supportFootnotes]-->[13]<!--[endif]--> Die beiden Haupttheoretiker der Holländischen Linken

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<!--[if !supportFootnotes]-->[14]<!--[endif]--> Eine umfassendere Darstellung der Geschichte der IKS findet man in „Aufbau der revolutionären Organisation: 20 Jahre IKS – Internationale Revue Nr. 16 – und „30 Jahre IKS: Von Vergangenheit für die Zukunft lernen“ – Internationale Revue Nr. 37

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<!--[if !supportFootnotes]-->[15]<!--[endif]--> Zu den Konferenzen siehe unseren Artikel: „Die internationalen Konferenzen der Kommunistischen Linken (1976-1980) – Lehren einer Erfahrung für das proletarische Milieu“ – Internationale Revue Nr.38

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<!--[if !supportFootnotes]-->[16]<!--[endif]--> Jegliche Entwicklung des IBRPs im Vergleich zur IKS ist hauptsächlich auf ihr Sektierertum sowie seine opportunistische Umgruppierungspolitik zurückzuführen (wodurch sie oft schon auf Sand gebaut hat). Siehe dazu unseren Artikel „Eine opportunistische Politik der Umgruppierung führt lediglich zu „Fehlgeburten“, Internationale Revue Nr. 36)

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Links
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