Ebola ist nicht ein rein medizinisches Problem. In erster Linie ist es ein gesellschaftliches Problem, das Erzeugnis eines Gesellschaftssystems, das zwar zahllose Technologien und wissenschaftliches Know-how besitzt, um das Erleiden von Epidemien für die Menschen weltweit auf ein Minimum zu reduzieren, aber dennoch nicht in der Lage ist, dies umzusetzen.
In ihrer Geschichte war die Menschheit immer wieder mit Naturkatastrophen konfrontiert, die riesige Massen der Weltbevölkerung dahinrafften. Aber die Entwicklung des Wissens versetzte die Menschheit zunehmend in die Lage, Mittel zu finden, um die katastrophalen Auswirkungen und die Zahl der Opfer zu reduzieren.
Die vermutlich erste bekannte massive und globale Pandemie war der so genannte „Schwarze Tod“, die Pest, die in Europa ihren Höhepunkt zwischen 1346 und 1353 erreichte. Es war eine der verheerendsten Epidemien und kostete nach Schätzungen etwa 30 bis 60 Prozent der Bevölkerung Europas das Leben. Durch die Einführung von Quarantänemaßnahmen gelang es der Menschheit schließlich, die Ausbreitung dieser Seuche einzudämmen. 1826 brach in Europa eine Cholera-Epidemie aus, die allein in Großbritannien Zehntausende infizierte. Zunächst ging man davon aus, dass dieser Ausbruch durch den unmittelbaren Kontakt mit Schmutz und Unrat ausgelöst wurde. Dann aber gelang es ein paar wenigen Ärzten, mit recht simplen Untersuchungsmethoden festzustellen, dass die Ausbreitung der Seuche auf die mangelnde Hygiene bei der Wasserversorgung zurückzuführen war. Auf diese Problematik wies auch Friedrich Engels ausdrücklich hin:
„… trotz der Aufregung, in die zur Cholerazeit die Gesundheitspolizei über den Zustand von Klein-Irland geriet, (ist) dennoch alles heute im Jahr der Gnade 1844 fast in demselben Zustande (…) wie 1831. Dr. Kay erzählt, dass nicht nur die Keller, sondern sogar die Erdgeschosse aller Häuser in diesem Bezirk feucht seien; dass früher eine Anzahl Keller mit Erde aufgefüllt worden, allmählich aber wieder ausgeleert und jetzt von Irländern bewohnt würden – dass in einem Keller das Wasser – da der Boden des Kellers tiefer lag als der Fluss – fortwährend aus einem mit Lehm verstopften Versenkloch herausgequollen sei, so dass der Bewohner, ein Handweber, jeden Morgen seinen Keller habe trocken schöpfen und das Wasser auf die Straße gießen müssen!“ („Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, MEW, Bd. 2, S. 292f.)
Auch in Hamburg, eine der damals am schnellsten wachsenden Städte in Deutschland, wütete die Cholera für etwa zehn Wochen. Dies führte zum Stillstand jeglichen Handels und Gewerbes. 8600 Menschen starben.
Im Jahr 1892 hoffte Friedrich Engels, dass die „…wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien (…) dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert (haben), seine Städte gesund zu machen…“(„Vorwort zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, MEW, Bd. 22, S. 319)
Die Wissenschaft hatte endlich bewiesen, dass die Cholera durch verseuchtes Trinkwasser und den direkten Kontakt mit infizierten Menschen übertragen wird.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts erzielte die Medizin wichtige Erkenntnisse und Durchbrüche. Die Entwicklung von Impfungen und, noch wichtiger, die Einführung von Hygienemaßnahmen, gepaart mit einem besseren Verständnis für infektiöse Krankheiten (Epidemiologie), wurden so zu den wichtigsten Waffen im Kampf um für die menschliche Gesundheit. „Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Missstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht“ (ebenda).
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die wissenschaftliche Entwicklung fort, und das mit beträchtlichen Erfolgen. Die Entdeckung von Antibiotika und die Einführung wirksamer Impfungen gegen eine wachsende Zahl von Erkrankungen hatten zur Folge, dass die Sterblichkeitsraten nach dem 2. Weltkrieg bei einer Reihe von Erkrankungen drastisch zurückgingen. Hieraus schlussfolgerte die Bourgeoisie vor etwa 60 Jahren, dass damit der globale Krieg gegen Infektionskrankheiten unaufhaltsam den Siegeszug angetreten habe.
Doch mit der Verschärfung der Gegensätze des kapitalistischen Systems, dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus, der historischen Krise des bürgerlichen Systems waren die Bedingungen reif für zwei Weltkriege und zahlreiche lokale Kriege. Dies sollte dramatische Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben. Insbesondere der Erste Weltkrieg hatte zu einem Ausbruch von neuen Pandemien geführt.
Der Krieg hatte zu einer kompletten Verwüstung großer Regionen Europas geführt, zur Vertreibung von Millionen von Menschen, zur Zerstörung von Produktionsmitteln sowie Wohnsiedlungen, zu massiven Truppentransporten um die ganze Welt… Mit anderen Worten: ein riesiges Chaos und ein enormer Rückschritt in den sanitären und hygienischen Bedingungen.
Ein neuer Stamm von Grippeerregern - wegen der Zensurregeln zu Kriegszeiten Spanische Grippe genannt – wurde im Herbst 1918 in Frankreich höchst infektiös. Es waren wohl chinesische Arbeitskräfte, die von Nordchina nach Frankreich verschifft worden waren, um unter schlimmsten Bedingungen knapp hinter der Kampfzone Arbeiten zu verrichten und kurz vor dem Verhungern standen, die die Soldaten in den Schützengräben ansteckten. Die Grippe verbreitete sich rasch bis in die USA und nach Asien. Schätzungen gehen davon aus, dass diese Grippe weltweit etwa 50 Millionen Menschen dahinraffte und damit eine der tödlichsten Epidemien in der Geschichte war. Die Bourgeoisie leugnete stets den Zusammenhang zwischen den Kriegsbedingungen und der riesigen Anzahl von Grippetoten oder spielte ihn zumindest herunter.
Die Fortschritte in der medizinischen Forschung und in den Gesundheitssystemen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht wurden, waren nie auf alle Länder weltweit ausgedehnt und in die Praxis umgesetzt worden. In den so genannten „Entwicklungsländern“ blieben der großen Mehrheit von Arbeitern und Bauern diese medizinischen Verbesserungen weitgehend vorenthalten. Und dies hat sich bis heute nicht geändert. Die zunehmenden Alarmrufe über hochinfektiöse Seuchen in diesen Regionen der Welt werfen einen Schatten auf die Propaganda über die „rosige Zukunft“ und die „Gesundheit“ des jetzigen Gesellschaftssystems.
Für den Marxismus ist dies nicht weiter überraschend. Diese Seuchen sind Ausdrücke der Tatsache, dass das kapitalistische System aufgrund der herrschenden Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen in der gegenwärtigen Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, am lebendigen Leib verrottet. Da das Proletariat zurzeit nicht in der Lage ist, seine Perspektive – die Revolution – zu bekräftigen, verschärfen sich die Widersprüche des Kapitalismus im Zerfall zusehends.
Die Zerfallsphase, die Ende der 1980er Jahre begann, provoziert eine Geisteshaltung des „Jeder für sich selbst“, die im Begriff ist, den sozialen Zusammenhalt aufzulösen, und zu einem moralischen Niedergang führt. Der Zerfall zeichnet sich vor allem durch die Tendenz zu völligem Chaos in allen Ecken und Enden der Welt aus. Der Kapitalismus im Zerfall scheitert nicht nur daran, solchen Seuchen nachhaltig etwas entgegenzusetzen, sondern tendiert sogar dazu, diese noch zu verschärfen oder gar zu initiieren.
Vor dem Hintergrund dieses wachsenden Chaos und der damit einhergehenden Verschlechterung der hygienischen Verhältnisse in großen Teilen der Welt sehen wir uns zu Beginn dieses neuen Jahrtausends damit konfrontiert:
Das Aufkommen neuer Infektionskrankheiten und das Wiederauftreten von alten Krankheiten in verschiedenen Gebieten der Welt, die ausweislich frei von solchen Krankheiten waren, haben eine neue Gesundheitskrise herbeigeführt, die alle bisherigen Errungenschaften zunichte zu machen droht. Krankheiten, die einst – wie die Cholera - geographisch begrenzt waren, schlagen nun in Regionen zu, die als sicher erschienen. Während einige Krankheiten fast vollständig bezwungen sind, schlagen andere, wie die Malaria und die Tuberkulose, die stets zu den größten „natürlichen“ Feinden der Menschheit zählten, mit neuer Heftigkeit zurück und verursachen alljährlich Millionen von Toten.
Es ist ganz klar der Zerfall der Gesellschaft, der dafür verantwortlich ist, dass die Gesundheitsfürsorge aus der Kontrolle gerät. Nehmen wir zum Beispiel SARS, eine der letzten gefährlichen Pandemien vor dem Ausbruch von Ebola. „Es wird angenommen, dass SARS in einem ärmlichen Gebiet in Südostchina von anderen Arten auf den Menschen übergesprungen ist, die mit ihren Tieren unter Bedingungen zusammenleben, die an mittelalterliche Zustände erinnern. Diese (Situation) steht am Anfang vieler der ernstesten Grippeepidemien weltweit. Der ‚Erfolg‘ des Weltmarktes in der Dekadenz liegt nicht in der Verhinderung des Auftretens von Krankheiten, sondern in der Schaffung der Mittel zu ihrer Verbreitung über den Globus.“ („SARS: Symptom einer niedergehenden Gesellschaft“, World Revolution, Mai 2003)
„In Afrika kommt der Abstieg des Kapitalismus in die militaristische Barbarei am deutlichsten zum Ausdruck. Aus den Dauerkonfliktherden, der Fragmentierung von kapitalistischen Staaten, dem Schleifen von Grenzen, der Rolle von Clans und Warlords (…) wird ersichtlich, wie sich die Zersplitterung und das Chaos über einen ganzen Kontinent ausbreiten, was uns eine Ahnung davon verschafft, was der Zerfall des Kapitalismus für die gesamte Menschheit noch in petto hat.“ („Die Ausbreitung von Kriegen – der Kapitalismus in der Sackgasse“, World Revolution, Mai 2013)
In den vergangenen Jahrzehnten sind von den drei Ländern, die am schlimmsten von Ebola getroffen wurden (Liberia, Sierra Leone und Guinea), zwei von Bürgerkriegen und ethischen Massakern verwüstet worden. Zwischen 1989 und 2003 wurde Liberias Infrastruktur in zwei Bürgerkriegen verheert. Sierra Leone wurde von einem elfjährigen Bürgerkrieg heimgesucht. Mehr als 100.000 Menschen verloren ihr Leben, und viele mehr erlitten eine „besondere Strafe“ in Form von Vergewaltigungen.
Darüber hinaus haben Rohstoffprojekte von ausländischen Unternehmen, die schonungslos Erdöl und Gas oder eine der Mineralquellen für die neuen Ökonomien ausbeuten, zu einer massiven Entwaldung und Zerstörung der lokalen Habitate und natürlichen Infrastruktur geführt. Der Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts beeinträchtigte in schlimmer Weise die Lebensgrundlagen der ländlichen Bevölkerung. Indigene Völker wurden gezwungen, ihr Land zu verlassen und in die städtischen Elendsviertel zu ziehen.
Unter den drei Ländern ist Liberia wirtschaftlich eines der unterentwickeltsten und ärmsten Länder in der Welt. Laut dem World Food Program (WFP) leben 1,3 Millionen Menschen in Liberia in extremer Armut. In Sierra Leone leben 70 Prozent der Bevölkerung in äußerster Armut. Die Hälfte der Bevölkerung in den drei Ländern lebt im größten Elend; es mangelt an grundlegendster Hygiene wie den Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Die fortgesetzte Entwaldung hat ebenfalls zu einer radikalen Veränderung der klimatischen Bedingungen in den Ländern West- und Zentralafrikas geführt. Es wird prognostiziert, dass die Niederschlagsextreme zunehmen werden. Plötzliche Wechsel von feuchten zu trockenen Wetterbedingungen begünstigen den Ausbruch von Ebola. Es ist der kombinierte Effekt der Ausbeutung durch ausländische Unternehmen, der radikalen Veränderung in den Wetterbedingungen und der globalen Wirtschaftskrise, der die Bedingungen für die gegenwärtige Gesundheitskatastrophe geschaffen hat.
Der Ausbruch von Ebola im Verlaufe dieses Jahres war nicht der erste. Es gab nahezu jährlich wiederholte Ausbrüche, seitdem Ebola 1976 in Zentralafrika zum ersten Mal entdeckt worden war. Ebola ist zunächst eine ländliche Krankheit, wo die Nahrung, die durch Jagd zusammengetragen wird, die Menschen infizierten Tieren aussetzt und wo der Mangel an sauberem Wasser Infektionen verbreitet. Die isolierten Bedingungen in ländlichen Gebieten begrenzen jedoch die Zahl der Betroffenen und töten nur einige Hundert Menschen.
Dieses Jahr verbreitete sich Ebola zum ersten Mal in den bevölkerungsreichen Gebieten entlang der westafrikanischen Küste. In diesen Gebieten sind nicht nur die sanitären Bedingungen, sondern auch der Zustand der Gesundheitsfürsorge katastrophal und erhöhen die Verwundbarkeit von Stadtgemeinden gegenüber der Epidemie.
Der Virus überforderte komplett die Kapazitäten der örtlichen Gesundheitssysteme. Er war der Fähigkeit, ihn zu kontrollieren, permanent einen Schritt voraus. Nachdem 60 PflegerInnen durch den Ebola-Ausbruch ums Leben gekommen waren, machte sich eine gewisse Panik breit. Joseph Fair: „Es gab eine Menge Fälle, wo Leute das Heil in der Flucht erblickt haben.“ Nachdem die Seuche fast 1.000 Menschen getötet und nahezu 2.000 infiziert hatte, rief am 8. August die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesichts der Ebola-Epidemie den internationalen Gesundheitsnotstand aus.
Das Tempo der Infektionen beschleunigt sich noch immer. Das öffentliche Gesundheitssystem in Monrovia nähert sich dem totalen Kollaps. Alle grundlegenden Leistungen der Gesundheitsfürsorge, einschließlich der Malaria-Tabletten für Kinder und der medizinischen Versorgung für Schwangere, sind eingestellt worden.
Im Stadtteil West Point in Monrovia attackierten lokale Anwohner, aufgebracht durch die Ereignisse und voller Misstrauen gegenüber der Regierung, eine Schule, die die Behörden heimlich in ein Isolationszentrum für Menschen mit Ebola-Symptomen umgewidmet hatten. Die Protestierenden brachen in die Schule ein und entwendeten Bettzeug und andere Versorgungsmittel. Am Samstag, den 18. August, attackierten zornige Anwohner das Pflegepersonal.
Am 19. August wurde eine Quarantäne für West Point angekündigt, in der geschätzte 75.000 Menschen eingeschlossen wurden und die den betroffenen Stadtteil in einen riesigen Friedhof verwandelte. Die Anwohner befanden sich in den Killing Fields der Epidemie. Sie können sterben, doch wenigstens unter sich! Die Quarantäne, die den Tod von Hunderten von Menschen verursachten, die nicht nur an Ebola, sondern auch an Malaria (die Kinder) und am Mangel an Lebensmitteln und sauberem Wasser starben, musste nach zehn Tagen wieder aufgehoben werden. Ohnedies brachen Anwohner in großer Anzahl aus.
Der Ebola-Virus hat all das Potenzial, um zu einer Katastrophe zu werden, und zwar in einem Ausmaß, das seit der Spanischen Grippe 1918-20 vor fast hundert Jahren nie mehr erreicht wurde.
Bis jetzt blieb der Strom an Hilfsgütern aus den reichen Ländern nur sehr dünn. Mitte September waren Zusicherungen oder Spenden zusammengerechnet in Höhe von 326,7 Millionen US-Dollar dokumentiert. Abgesehen von der Mobilisierung einiger Hundert engagierter, freiwilliger Ärzte und Ärztinnen sowie PflegerInnen fanden größtenteils nur geringfügige Lieferungen von Versorgungsgütern, Ausrüstung und Gesundheitspersonal statt. Die dokumentierten Beiträge unterschritten immer noch die 600 Millionen US-Dollar, die für Krankenbetten, Personal und anderem Bedarf benötigt werden, um einen Ausbruch zu bändigen, der sich mit alarmierender Geschwindigkeit ausbreitet.
Die US-Spenden betrugen in den letzten neun Monaten knapp 150 Millionen Dollar. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Milliarden, die von den imperialistischen Mächten und ihren Verbündeten unter den Golf-Monarchien für den neuen Krieg in Syrien und im Irak zur Verfügung gestellt werden, gar nicht zu reden von den Hunderten von Milliarden, die für die Kriege in Libyen, im Irak und in Afghanistan verschleudert wurden. Dennoch beschreibt Obama den Ebola-Ausbruch als eine „nationale Sicherheitspriorität“ für die USA, denn er könnte eine Destabilisierung Westafrikas auslösen, was „weitreichende ökonomische, politische und sicherheitspolitische Auswirkungen“ haben könnte. Daher fiel ihm nichts anderes ein als die Entsendung von dreitausend Soldaten.
Berichte von der WHO weisen auf eine exponentielle Zunahme von Krankheitsfällen hin, die sich etwa alle drei Wochen verdoppeln. Das IRC hat im Namen von 34 Nichtregierungsorganisationen davor gewarnt, dass die Welt nur noch vier Wochen Zeit habe, um die Krise aufzuhalten, ehe sie außer Kontrolle gerät (2. Oktober 2014). Gleichzeitig stellt es fest, dass von den 1.500 neuen Medikamenten, die weltweit zwischen 1974 und 2004 zur Verfügung gestellt wurden, nur 10 tropischen Krankheiten gewidmet sind. Hinsichtlich Ebola wurden seit 1976 kaum Forschungen angestellt. So tangieren auch weiterhin tropische Erkrankungen mehr als eine Milliarde Menschen auf der Welt und töten jedes Jahr bis zu 500.00 Menschen.
John Ashton von der Fakultät für Öffentliche Gesundheit in London schildert die aktuelle Situation als „den moralischen Bankrott des Kapitalismus, der in Abwesenheit eines ethischen und sozialen Rahmens handelt“. Der New Yorker stellt rundheraus fest, dass „Krankheiten, die meistens arme Menschen in armen Ländern betreffen, keine Forschungspriorität haben, weil es unwahrscheinlich ist, dass jene Märkte jemals Rendite abwerfen“.
Die aktuelle Ausbreitung von Ebola löst eine riesige Sorge in den zentralen Ländern aus. Wie immer sind die sehr „antirassistischen“ Staaten ganz eifrig dabei, die Angst vor Reisenden aus Afrika zu nutzen, um fremdenfeindliche Ressentiments in der Bevölkerung Europas zu schüren. Die vorherrschenden Fraktionen der herrschenden Klasse ziehen ihren eigenen Nutzen aus der Atmosphäre von Angst und Panik:
Der Ebola-Ausbruch ist das Produkt einer Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus, der ein Jahrhundert lang „nur noch mehr Elend und Zerstörung in all ihren Formen gebracht hat. Angesichts des fortgeschrittenen Zerfalls ihres Systems hat die herrschende Klasse nichts anderes anzubieten als ideologische Lügen und Repression“ („SARS: It is capitalism which is responsible for the epidemic“, World Revolution, Mai 2003)
Zyart, 15.10.14
Cabu, Charb, Tignous, Wolinski – diese Vier unter den Zwanzig, die bei den Anschlägen von Paris am 7. und 9. Januar getötet wurden, waren ein einzigartiges Symbol. Sie waren die eigentlichen Ziele. Und warum? Weil sie für die Intelligenz und gegen die Dummheit standen, für die Vernunft und gegen den Fanatismus, für die Revolte und gegen die Unterwerfung, für den Mut und gegen die Feigheit[1], für die Sympathie und gegen den Hass sowie für jene spezifisch menschliche Qualität, den Humor und das Lachen, gegen den Konformismus und die dumpfe Selbstgerechtigkeit. Wir mögen einige ihrer politischen Positionen, von denen einige völlig bourgeois waren, ablehnen und gegen sie Stellung beziehen.[2] Doch was da getroffen wurde, das war das, was sie ausgezeichnet hatte. Dieser barbarische Amoklauf richtete sich gegen Menschen, die nur Karikaturisten oder Käufer in einem koscheren Supermarkt waren, die erschossen wurden, einfach weil sie Juden waren. Dieser Amoklauf hat nicht nur in Frankreich, sondern überall auf der Welt eine Menge Emotionen freigesetzt, und dies ist völlig verständlich. Die Art und Weise, wie diese Emotionen nun von all den konzessionierten Repräsentanten der bürgerlichen Demokratie verwendet werden, darf uns nicht den Blick darüber verstellen, dass die Empörung, der Zorn und die tiefe Trauer, die Millionen von Männern und Frauen ergriffen hatten und sie dazu brachten, am 7. Januar spontan auf die Straße zu gehen, eine elementare und gesunde Reaktion gegen diesen widerwärtigen Akt der Barbarei war.
Terrorismus ist nichts Neues.[3] Was neu ist, ist die Form, die er angenommen hat und die sich seit Mitte der 80er Jahre entwickelt hat, um seither zu einem beispiellosen globalen Phänomen zu werden. Die Serie von wahllosen Anschlägen, die Paris 1985-86 trafen und die zweifellos nicht von kleinen, isolierten Gruppen ausgeführt worden waren, sondern die Handschrift eines Staates trugen, leiteten eine neue Ära im Gebrauch des Terrorismus ein, der bislang völlig neue Ausmaße annahm und sich für eine wachsende Zahl von Opfern verantwortlich zeichnete.
Terroristische Anschläge durch islamistische Fanatiker sind auch nichts Neues. Die Geschichte des neuen Jahrhunderts hat dies regelmäßig erleben müssen, und dies in einem viel größeren Umfang als die Pariser Anschläge Anfang Januar 2015.
Die Kamikaze-Flieger, die am 11. September 2001 in die Twin Towers in New York stürzten, eröffneten eine neue Ära. Für uns steht fest, dass der US-Geheimdienst dies geschehen ließ und die Anschläge sogar erst ermöglicht hatte, weil sie dem amerikanischen Imperialismus erlaubte, einen Krieg gegen Afghanistan und gegen den Irak zu rechtfertigen und vom Zaun zu brechen, so wie der japanische Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941, der von Roosevelt vorausgesehen und gewünscht wurde, als Vorwand für den Eintritt der USA in den II. Weltkrieg gedient hatte.[4] Doch es ist ebenfalls klar, dass jene, die die Kontrolle über die Flugzeuge an sich gerissen hatten, völlig wahnhafte Fanatiker gewesen waren, die dachten, sie könnten Eintritt ins Paradies erlangen, indem sie in großem Stil töten und ihr eigenes Leben opfern.
Weniger als drei Jahre nach New York, am 11. März 2004, war Madrid Tatort eines fürchterlichen Massakers: „Islamistische“ Bomben verursachten 200 Tote und über 1.500 Verletzte im Bahnhof von Atocha; zum Teil waren die Opfer so zerfetzt, dass sie nur durch ihre DNA identifiziert werden konnten. Im folgenden Jahr, am 7. Juli 2005, war es London, das von vier Explosionen, ebenfalls im öffentlichen Nahverkehr, getroffen wurde; 56 Menschen wurden getötet, 700 verletzt. Auch Russland hat in den Nullerjahren etliche islamistische Anschläge erlebt, einschließlich jenes Anschlags am 29. März 2010, bei dem 39 Menschen getötet und 102 verletzt wurden. Und natürlich blieben auch die peripheren Länder nicht ausgespart, besonders der Irak seit der US-Invasion 2003 und Pakistan, wie wir jüngst in Peschawar gesehen haben, wo im vergangenen Dezember 141 Menschen, davon 132 Kinder, in einer Schule getötet wurden.[5]
Dieser Anschlag, bei dem Kinder die ausgemachten Ziele waren, zeigt in all seinem Horror die wachsende Barbarei dieser „Dschihad“-Anhänger. Doch der Anschlag in Paris am 7. Januar drückt, obwohl er weitaus weniger opferreich und schrecklich war als jener in Pakistan, eine neue Dimension dieses Abgleitens in die Barbarei aus.
In früheren Fällen gab es, wie abstoßend die Massaker an Zivilisten, einschließlich Kinder, auch immer waren, so etwas wie eine „Rationalität“: Es sollte Vergeltung geübt oder versucht werden, Druck auf Staaten und deren bewaffnete Kräfte auszuüben. Das Massaker in Madrid 2004 sollte Spanien wegen seiner Einmischung im Irak an der Seite der USA „bestrafen“. Dasselbe trifft auf die Londoner Bombenanschläge 2005 zu. Der Anschlag in Peschawar zielte darauf ab, Druck auf das pakistanische Militär auszuüben, indem seine Kinder abgeschlachtet werden. Doch im Fall der Anschläge in Paris am 7. Januar gab es nicht das geringste „militärische Ziel“, auch kein illusorisches. Die Karikaturisten von Charlie Hebdo und ihre Kollegen wurden ermordet, um „den Propheten zu rächen“, da die Zeitung Karikaturen von Mohammed veröffentlicht hatte. Und dies geschah nicht in einem Land, das vom Krieg verwüstet ist oder von religiösen Dunkelmänner regiert wird, sondern in Frankreich, dem „demokratischen, säkularen und republikanischen“ Frankreich.
Hass und Nihilismus sind stets die treibenden Kräfte in den Aktivitäten von Terroristen, besonders jener, die bewusst ihr Leben opfern, um so viele Menschen wie möglich zu töten. Doch dieser Hass, der Menschen in kalte Killermaschinen verwandelt, ohne Rücksicht auf die Unschuldigen, die sie töten, hat zu seinem Hauptziel eine andere „Killermaschine“ ausgemacht – den Staat. Nichts von alldem am 7. Januar in Paris: Hier konnte der obskure Hass und der fanatische Rachedurst in ihrer reinsten Form betrachtet werden. Ihr Ziel ist der/die Andere, der nicht so denkt wie ich, und besonders jener, der denkt, weil man selbst beschlossen hat, nicht zu denken, das heißt, nicht diese Fähigkeit auszuüben, die dem Menschen so eigen ist.
Aus diesem Grund haben die Morde vom 7. Januar solche Auswirkungen. In gewisser Weise sehen wir uns dem Unfassbaren gegenüber: Wie können Menschen, die in einem „zivilisierten“ Land erzogen wurden, in ein solch barbarisches und absurdes Projekt, das dem der fanatischsten Nazis mit ihrer Bücherverbrennung und der Vernichtung der Juden so ähnlich ist, hineingezogen werden?
Und damit nicht genug. Das Schlimme ist, dass der Gewaltexzess der Kouachi-Brüder, von Amedy Coulibaly und ihrer KomplizInnen nur die Spitze des Eisbergs der gesamten Bewegung ist, die besonders gut in den armen Wohnbezirken gedeiht, eine Bewegung, die sich zeigte, als eine Reihe von jungen Leuten äußerte, dass „Charlie Hebdo es verdient hat, weil es den Propheten beleidigt hatte“, und dass der Mord an Karikaturisten etwas „Normales“ sei.
Dies ist auch eine Manifestation der Barbarei in ihrem fortgeschrittenen Stadium, einer ernsten Störung in unserer „zivilisierten“ Gesellschaft. Dieser Abstieg eines Teils der Jugend, und nicht nur jener, die die Immigration durchgemacht hatten, in Hass und religiösen Obskurantismus – dies ist ein Symptom unter vielen für die Verwesung der kapitalistischen Gesellschaft, aber ein besonders bedeutender Fingerzeig auf das Ausmaß der heutigen Krise.
Heute werden überall auf der Welt (in Europa genauso und besonders in Frankreich) viele junge Leute ohne jegliche Zukunft, die ein chaotisches Alltagsleben führen und von anhaltender Erfolgslosigkeit, von kultureller sowie sozialer Armut erniedrigt werden, leichte Opfer für skrupellose Anwerber (die häufig irgendwelchen Staaten oder politischen Manifestationen wie die ISIS angehören), die diese Außenseiter nach ihrer plötzlichen wie unerwarteten Konvertierung in ihren Netzwerken ertränken und sie in potenzielle Killer oder Kanonenfutter für den „Dschihad“ verwandeln. In Ermangelung einer eigenen Perspektive in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, die eine wirtschaftliche, aber auch eine soziale, moralische und kulturelle Krise ist, und im Angesicht einer Gesellschaft, die am lebendigen Leib verrottet und aus jeder Pore Zerstörung absondert, scheint für viele dieser jungen Leute das Leben sinn- und wertlos geworden zu sein. Ihre Verzweiflung nimmt häufig eine religiöse Färbung an, eine Form der blinden und fanatischen Unterwerfung, die, angefeuert von einem selbstmörderischen Nihilismus, zu allen möglichen irrationalen und extremen Verhaltensweisen animiert. Der Horror der kapitalistischen Gesellschaft im Zerfall, der anderswo riesige Mengen an Kindersoldaten schafft (zum Beispiel in Uganda, im Kongo und Tschad besonders seit Beginn der 90er Jahre), bringt nun im Herzen Europas junge Psychopathen, professionelle, kaltblütige Killer hervor, die völlig gefühllos und zum Schlimmsten bereit sind, ohne irgendeine Gegenleistung dafür zu erhalten. Kurz, diese verrottende kapitalistische Gesellschaft kann, wenn sie ihrer eigenen morbiden und barbarischen Dynamik überlassen bleibt, die gesamte Menschheit in ein blutiges Chaos, in einen mörderischen Irrsinn und in den Tod stürzen. Wie am Anwachsen des Terrorismus deutlich wird, produziert diese Gesellschaft immer mehr total verzweifelte Individuen, die derart niedergedrückt worden sind, dass sie zu den schlimmsten Gräueltaten bereit sind. Kurz, sie zieht sich diese Terroristen nach ihrem eigenen Antlitz heran. Wenn solche „Monster“ existieren, dann deshalb, weil die kapitalistische Gesellschaft „monströs“ geworden ist. Und wenn nicht alle jungen Leute von diesem obskuren und nihilistischen Trend, der geradewegs in den „Dschihad“ führt, betroffen sind, so beweist die Tatsache, dass viele von ihnen jene, die diesen Schritt gemacht haben, als „Helden“ betrachten, das wachsende Gewicht der Verzweiflung und der Barbarei, die die Gesellschaft überschwemmen.
Doch die Barbarei der kapitalistischen Welt findet nicht nur in diesen Terrorakten und in der Sympathie, auf die diese in Teilen der Jugend stoßen, ihren Ausdruck. Sie drückt sich ebenfalls in der niederträchtigen Weise aus, in der die Bourgeoisie dieses Drama für sich vereinnahmt.
Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde, ist die kapitalistische Welt, angeführt von den wichtigsten „demokratischen“ Führern, gerade dabei, ihre schäbigsten Winkelzüge durchzuführen. Für Sonntag, den 11. Januar, ist in Paris eine Straßendemonstration anberaumt worden, mit Präsident Hollande und all den politischen Führern, zusammen mit Weltführern wie Angela Merkel, David Cameron, die Regierungschefs aus Spanien, Italien und vielen anderen europäischen Ländern, aber auch mit dem König von Jordanien, Mahmud Abbas, Präsident der palästinensischen Behörden, und Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident Israels.[6]
Während Hunderttausende von Menschen spontan am Abend des 7. Januar auf die Straße gegangen waren, begannen die Politiker, mit François Hollande an der Spitze, und die französischen Medien ihre Kampagne: „Es ist die Pressefreiheit und die Demokratie, die gefährdet sind“, „Wir müssen uns mobilisieren und vereinen, um die Werte unserer Republik zu verteidigen.“ Auf den Versammlungen, die jenen vom 7. Januar folgten, vernahm man zunehmend die französische Nationalhymne, die „Marseillaise“, deren Chor singt: „bewässert unsere Furchen mit dem Blut der Unreinen!“… Die „nationale Einheit“, die „Verteidigung der Demokratie“ – dies sind die Botschaften, die die Bourgeoisie in unsere Köpfe hämmern möchte, das heißt, die Schlachtrufe, die einst rechtfertigen sollten, Millionen von Arbeitern im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriege zu zwingen und zu massakrieren. Hollande sprach es in seiner ersten Rede aus: Indem es die Armee nach Afrika, besonders nach Mali, entsendete, hat Frankreich bereits begonnen, den Terrorismus zu bekämpfen (so wie Bush erklärte, dass die US-Militärintervention in den Irak 2003 denselben Zweck hatte). Die imperialistischen Interessen der französischen Bourgeoisie haben natürlich nichts mit diesen Interventionen zu tun!
Arme Cabu, Charb, Tignous und Wolinski! Zuerst wurden sie von fanatischen Islamisten getötet. Und dann wurden sie ein zweites Mal getötet, diesmal von den Repräsentanten und „Fans“ der bürgerlichen „Demokratie“, von all diesen Staats- und Regierungschefs eines zerfallenden Weltsystems, das für die Barbarei verantwortlich ist, die in die menschliche Gesellschaft eindringt: der Kapitalismus. All diese politischen Führer zögern nicht, zu Terror, Anschlägen und Repressalien gegen Zivilisten zu greifen, wenn es darum geht, die Interessen dieses Systems und seiner herrschenden Klasse, die Bourgeoisie, zu verteidigen.
Das Ende der Barbarei, die in den Morden im Januar 2015 in Paris zum Ausdruck kam, wird sicherlich nicht durch die Handlungen jener herbeigeführt werden, die die Hauptanhänger und Gewährsleute des Wirtschaftssystems sind, das diese Barbarei generiert. Es kann nur aus der Überwindung dieses System durch das Weltproletariat und seiner Ersetzung durch eine wahrhaft universelle Gemeinschaft resultieren, die nicht mehr auf Profit, Konkurrenz und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen basiert, sondern auf der Abschaffung dieser Überbleibsel aus der menschlichen Vorgeschichte. Eine Gesellschaft, die „eine Assoziation (ist), worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“[7], die kommunistische Gesellschaft.
Révolution Internationale, 11.1.2015
[1]Jahrelang hatten diese Karikaturisten regelmäßig Morddrohungen erhalten.
[2]Arbeitete der Alt-68er Wolinski nicht für die Zeitung der Kommunistischen Partei, L’Humanité? Schrieb er nicht selbst: „… wir machten Mai 68, weil wir nicht so sein wollten, wie wir heute geworden sind“?
[3]Im neunzehnten Jahrhundert nahmen kleine Minderheiten, die sich im Aufstand gegen den Staat befanden, wie die Volkstümler in Russland und einige Anarchisten in Frankreich oder Spanien, zu terroristischen Handlungen Zuflucht. Diese sterilen gewalttätigen Aktionen wurden von der Bourgeoisie stets gegen die Arbeiterbewegung benutzt, um die Repression zu rechtfertigen und zu legalisieren.
[4]Siehe den Artikel auf unserer Website: „Pearl Harbor 1941, die Twin Towers 2001: Der Machiavellismus der US-Bourgeoisie“; in: /content/719/pearl-harbor-1941-twin-towers-2001 [3].
[5]Nur einige Tage vor den Pariser Anschlägen führte die islamistische Boko Haram in Nigeria die schlimmsten Gräueltäten aus, als sie wahllos 2.000 Bewohner der Stadt Baga hinmetzelten. Dieser Vorfall blieb in den Medien nahezu unerwähnt.
[6]Der Aufruf zur Kundgebung für die „Nationale Einheit“ wurde unisono von den Gewerkschaften und den politischen Parteien (nur der Front National war nicht präsent) verbreitet. Selbst die Sportzeitung L’Équipe rief zur Demonstration auf!
[7]Marx, Das Kommunistische Manifest, 1848.
Am 8. November 2014 wurde in Marseille eine Konferenz über das Thema „Die radikale Linke in den 1920er Jahren, der Internationalismus und die proletarische Autonomie“ abgehalten.
Bevor wir über das Treffen selbst berichten, möchten wir unsere LeserInnen mit einigen Hintergrundinformationen über den Redner auf der Konferenz, Philippe Bourrinet, versorgen, der der Öffentlichkeit als „Autor zahlreicher Artikel und Bücher über die revolutionäre Arbeiterbewegung und Mitglied des Smolny Pressekollektiv“ präsentiert wurde1. Andernfalls wäre es unmöglich, Philippe Bourrinets Präsentation oder die darauffolgende Diskussion zu verstehen.
Man könnte Marx‘ berühmte Polemik gegen Proudhon2 wie folgt paraphrasieren:
„Philippe Bourrinet hat das Pech, auf eigenartige Weise falsch gewürdigt zu werden. Unter jenen, die für die Kommunistische Linke Interesse bekunden oder behaupten, ihr anzugehören, gilt er als seriöser und ehrlicher Historiker. Unter Historikern gilt er als Vertreter der Idee der Kommunistischen Linken und als Kenner ihrer Hauptorganisation, der IKS, da jeder weiß, dass er mehr als fünfzehn Jahre lang Mitglied der IKS gewesen war. Der IKS angehörend und daher einem seriösen und ehrlichen Verständnis der Geschichte zugeneigt (auch wenn wir nicht behaupten, Historiker zu sein), möchten wir gegen diesen doppelten Irrtum Einspruch einlegen.“
Kehren wir – nach unserem Protest gegen die Ignoranz, der Philippe Bourrinet zum Opfer gefallen ist - zu einigen Episoden seiner politischen Karriere zurück, weil dies uns gestatten wird, viele falsche Vorstellungen über ihn, die in diesen Tagen im Umlauf sind, zu widerlegen.
Nach einem kurzen Aufenthalt in den Reihen der trotzkistischen Organisation Lutte Ouvrière Anfang der 1970er Jahre trat Philippe Bourrinet in die Gruppe Révolution Internationale ein, die kurz danach französische Sektion der IKS werden sollte. Da er eine gewandte Feder führte und große Kenntnisse hatte, wurde ihm bald die Verantwortung übertragen, unter dem Pseudonym Chardin Artikel für die Organisation zu verfassen. Er trat auch dem Zentralorgan der IKS kurz nach dessen Einrichtung 1975 bei, wobei einer der Gründe für seine Nominierung seine sprachlichen Fähigkeiten, besonders im Deutschen, waren.
Philippe Bourrinet hatte da seine historischen Untersuchungen bereits begonnen, und es wurde zwischen ihm und der IKS vereinbart, dass er seine Magister-Dissertation einer Studie der Italienischen Kommunistischen Linken widmen sollte, damit jene von unserer Organisation als Broschüre publiziert werden konnte. Er erhielt vollste Unterstützung für diese Arbeit, von der selbstverständlich seine Universitätskarriere profitierte, durch unsere Organisation: nicht nur materielle Unterstützung, sondern auch politische Unterstützung, da unser Genosse Marc Chirik3, der ein Mitstreiter jener Italienischen Linken gewesen war, ihn mit umfangreichen Dokumenten und Informationen aus erster Hand wie auch mit wertvollen Ratschlägen versorgte. Wie geplant, wurde seine Dissertation kurz darauf von unserer Organisation in Buchformat veröffentlicht. Als ein Werk der IKS, das Analysen der IKS vorstellte, blieb es ohne Autorenangabe, wie alle unseren Broschüren.
Nachdem das Buch veröffentlicht worden war, ermutigten wir Philippe Bourrinet dazu, eine ähnliche Studie über die deutsch-holländische Linkskommunisten für seine Doktorarbeit zu erstellen. Die ersten Kapitel wurden in den Ausgaben 45, 50 und 52 der Internationalen Revue der IKS (engl., franz. und span. Ausgabe) veröffentlicht. Auch hier profitierte Philippe Bourrinet von der umfangreichen politischen und materiellen Unterstützung der IKS.4 Er legte seine Arbeit im März 1988 vor, und anschließend begannen wir mit der langen Arbeit am Buch-Layout, um es im November 1990 in den Druck zu geben; Philippe Bourrinet hatte die IKS einige Monate zuvor verlassen. Er gab keine politischen Gründe für seinen Rückzug an und sagte lediglich, dass er nicht mehr Militanter sein wolle.
Zwei Jahre später erhielten wir in unserem Postfach, ohne jeglichen Begleitbrief, eine Kopie zweier erstaunlicher Dokumente [7]. Das erste Dokument, datiert vom 21. August 1992, war der „Beleg für die Einsendung eines Manuskripts von Philippe Bourrinet mit dem Titel Die deutsch-holländische Linke 1907-1950“. Dieser Beleg war ausgestellt worden von der Urheberrechtsabteilung der Société des Gens des Lettres.5 Das zweite Dokument, datiert vom 27. Juli 1992, war noch verwunderlicher. Es war ein maschinengeschriebener Text mit dem Titel „Betreffs der anonymen Veröffentlichungen, die von der Gruppe Internationale Kommunistische Strömung (IKS) in Frankreich und anderswo verbreitet werden“.
In diesem Dokument lesen wir: „Das Buch mit dem Titel DIE HOLLÄNDISCHE LINKE, unterschrieben mit ‚Internationale Kommunistische Strömung‘, gedruckt im November 1990 von ‚Litografia Libero, Napoli‘ und in Frankreich sowie Belgien verbreitet, wurde vollständig von Philippe Bourrinet, Doktor an der Universität von Paris 1 – Sorbonne (22. März 1988) - verfasst“. Dies traf vollständig zu. Doch dann folgte eine Reihe von Anschuldigungen, die die IKS der „Piraterie“ bezichtigten und die wir mit Philippe Bourrinet aufzuklären wünschten. Folglich traf sich eine Delegation der IKS mit ihm in einem Café am Place de Clichy in Paris in der Nähe seiner damaligen Wohnung. Diese Delegation betonte gegenüber Philippe Bourrinet den wahren Sachverhalt, dem er sich nicht zu widersetzen versuchte. Die Delegation fragte ihn, warum er plötzlich so viel Aufhebens darüber macht, dass sein Name nicht auf dem Buch über die Holländische Linke erscheint, hatte er doch nie zuvor diese Forderung gestellt. Er entgegnete, dass es für ihn mit Blick auf anstehende Stellenbewerbungen vorteilhaft sei, wenn er als Autor dieses Buches erscheine und dass er wünsche, dass sein Name auf künftigen Ausgaben steht. Obwohl Philippe Bourrinet in seiner Stellungnahme eine Reihe von empörenden Attacken gegen die IKS geritten hatte, entschlossen wir uns, ihm dies nicht übelzunehmen; wir legten ihm beispielsweise keinen Stein in den Weg, was seine beruflichen Ambitionen anbetraf. Wir beschlossen, auf seine Forderung einzugehen, aber da die französische Ausgabe bereits gedruckt worden war, teilten wir ihm mit, dass es für diese Ausgabe zu spät sei, worauf er dennoch der Verbreitung dieser Ausgabe zustimmte. Wir unsererseits verpflichteten uns, in allen zukünftigen Ausgaben folgende kurze Stellungnahme zu veröffentlichen: „Dieses Buch, das zuerst in Frankreich 1990 erschien, wird unter der Verantwortung der IKS veröffentlicht. Es wurde geschrieben von Philippe Bourrinet im Zusammenhang mit seiner Arbeit für sein Doktorat, aber es wurde vorbereitet und diskutiert von der IKS, als der Autor eines ihrer Mitglieder war. Aus diesem Grund wurde es konzipiert und veröffentlicht als das kollektive Werk der IKS, ohne Autorenangabe und in dessen völligem Einverständnis.
Philippe Bourrinet ist seit April 1990 nicht mehr Mitglied der IKS, und er hat seither Ausgaben seines Buches unter seinem eigenen Namen veröffentlicht, unter Hinzufügung gewisser ‚Korrekturen‘ in Verbindung mit der weiteren Entwicklung seiner politischen Positionen.
Die IKS ihrerseits beabsichtigt auch weiterhin, dieses Buch zu veröffentlichen. Es sollte klar sein, dass unsere Organisation für keinerlei zusätzliche oder divergierende politische Positionen verantwortlich gemacht werden kann, die Philippe Bourrinet in die Ausgaben eingebaut hat, die unter seiner eigenen Verantwortlichkeit veröffentlicht werden.“6
Philippe Bourrinet akzeptierte diesen Vorschlag.
Für die IKS war damit die Angelegenheit erledigt, und wir schenkten der Karriere von Dr. Bourrinet keine Aufmerksamkeit mehr.7 Unser Desinteresse war umso größer, als seine späteren literarischen Bemühungen von unvergleichlich geringerer Qualität waren als die beiden Bücher über die Italienische und die Deutsch-Holländische Linke. Selbstverständlich haben wir via Internet zur Kenntnis genommen, dass Dr. Bourrinet die beiden Dokumente neu veröffentlicht hat, mit einigen Modifikationen am IKS-Original, die den Text näher an die Positionen des Rätismus rückten. Es stellte sich heraus, dass Dr. Bourrinet im Nachwort zu der neuen Ausgabe der Deutsch-Holländischen Linken schrieb: „Die aktuelle Ausgabe enthält Mängel, die in einer Arbeit, die innerhalb des universitären Rahmens ausgeführt wird, unvermeidbar sind. Es erscheint ebenfalls die Mitgliedschaft des Autors in der oben genannten Gruppe (die IKS) in Form von ideologischen Spuren mit einigem Abstand von einer stringenten marxistischen Analyse der revolutionären Bewegung und Theorie (…) Ich habe soweit wie möglich versucht, die Passagen zu entfernen oder abzuschwächen, die zu viel ‚anti-rätistische‘ Polemik enthielten, die diese Gruppe kennzeichnete, unter deren Einfluss ich mich damals befand.“
Aus dieser Passage entnehmen wir einige Dinge. Erstens, dass Dr. Bourrinet die IKS verlassen musste, um sich endlich „eine stringente marxistische Analyse der revolutionären Bewegung und Theorie“ anzueignen. Er vergisst zu erwähnen, dass es die Gruppe Révolution Internationale gewesen war, die ihm die Basics des Marxismus beibrachte, als er gerade Lutte Ouvrière verlassen hatte, eine Gruppe, die – was immer sie im Gegenteil vorgibt zu sein – weder mit dem Marxismus noch mit der revolutionären Bewegung irgendetwas zu tun hat. Er erkennt auch die im universitären „Marxismus“ sehr beliebte Idee als legitim an, dass man „Marxist“ bleiben kann, auch wenn man jegliche Form von politischer Organisation vermeidet, die für die Verteidigung proletarischer Prinzipien kämpft. Diese Idee kommt der Ablehnung der Notwendigkeit solch einer Organisation durch den degenerierten Rätismus sehr entgegen – was erklärt, warum viele „marxistische Professoren“ solch eine Affinität zum Rätismus haben. Wir könnten auf Dr. Bourrinets Standpunkt mit den Worten des IKS-Mitglieds… Philippe Bourrinet antworten: „Anders als die Otto Rühle-Spielart des ‚Rätismus‘ in den 1920ern oder die holländische Spielart in den 1930ern hat die heutige rätistische Strömung mit den ‚rätekommunistischen‘ Traditionen der Kommunistischen Linken gebrochen. Sie korrespondiert viel mehr mit der Revolte von Fraktionen des Kleinbürgertums oder mit proletarischen Elementen, die gegenüber jeglichen politischen Organisationen misstrauisch sind. Die rätistische Gefahr von Morgen wird nicht mit der Niederlage der Revolution auftauchen, wie dies in den 1920er Jahren in Deutschland der Fall gewesen war, sie wird zu Beginn der revolutionären Welle auftreten und das negative Moment der Bewusstwerdung des Proletariats sein“ (aus dem Protokoll eines Studientages über die Gefahr des Rätismus, der von der IKS-Sektion in Frankreich im April 1985 abgehalten wurde, S. 19).
„Arbeitertümelei koexistiert allzu gut, ja man kann sagen: perfekt mit dem Intellektualismus. In diesem Sinn haben wir eine Art von kleinbürgerlichem Anarchismus gesehen, im Sinne einer Ablehnung jeglicher Autorität oder Organisation, etc., etc.; ähnlich der Vision von arbeitertümelnden Intellektuellen, die bereits Lenin in Was tun? verurteilt hatte.“ (ebenda, S. 32)
Und schließlich erfahren wir, dass das Mitglied Philippe Bourrinet damals diese Fehler begangen hatte, weil er unter fremdem Einfluss stand. Dr. Bourrinet, ausnahmsweise bist Du diesmal viel zu bescheiden!8 Das Mitglied Philippe Bourrinet befand sich nicht „unter dem Einfluss“ der IKS-Positionen, im Gegenteil, er war ihr entschlossener und talentierter Vertreter im Kampf der Organisation gegen die Tendenzen in ihrer Mitte zu rätistischen Positionen. Genau aus diesem Grund vertraute ihm die IKS auch den Artikel an, der öffentlich gegen diese Tendenzen Stellung bezog (siehe Internationale Revue Nr. 9: Die ‚rätistische‘ Gefahr).
Nachdem er die beiden Texte über die Italienische Linke und die Deutsch-Holländische Linke überarbeitet hatte, ließ Dr. Bourrinet neue Ausgaben drucken, die er zum Verkauf ins Internet stellte. Diese Texte hatten einen geringfügig größeren Inhalt und etwas weniger Fehler als jene, die von der IKS veröffentlicht wurden. Unter anderem drückten sie die neue theoretische Linie des guten Doktors aus. Und diese Änderungen hatten ihren Preis: Während die IKS ihr Buch über die Deutsch-Holländische Linke für 12 Euro veräußerte, betrug der Preis des guten Doktors 75 Euro [8]. Ähnlich bei der Italienischen Linken: hier betrug der Preis nicht 8 Euro, sondern 50 Euro [9] (40 Euro für die englische Ausgabe) [10].9 Natürlich, die Ausgabe des guten Doktors hatte einen bunten Einband! In einem berühmten Brief vom 18. März 1872 an den französischen Verleger des Kapital schrieb Marx: „Ich begrüße Ihre Idee, die Übersetzung des ‚Kapitals‘ in periodischen Lieferungen herauszubringen. In dieser Form wird das Werk der Arbeiterklasse leichter zugänglich sein, und diese Erwägung ist für mich wichtiger als alle anderen.“ Es liegt auf der Hand, dass diese Betrachtungsweise für Dr. Bourrinet keine große Relevanz besitzt, dessen Methoden eher jenen der Privatärzte ähneln, deren Honorare zehnmal höher sind als die der Allgemeinärzte, und die den angenehmen Nebeneffekt haben, jeglichen Kontakt zu den verschwitzten Massen vermeiden zu können.
Ist Habsucht die Erklärung für den exorbitanten Preis von Dr. Bourrinets Werken? Gut möglich, war doch der Militante Philippe Bourrinet für seine Knauserigkeit in der IKS bekannt; er wurde deswegen von Marc Chiric, damals der Schatzmeister der IKS-Sektion in Frankreich, auf die Schippe genommen. Abgesehen davon ist es jedoch unwahrscheinlich, dass seine Geldgier, wie obsessiv sie sein mag, den guten Doktor völlig töricht gemacht hat. Selbst ein Idiot kann sehen, dass die Werke des Doktors mutmaßlich keine Käufer finden, selbst wenn die IKS ihren eigenen Verkauf einstellen würde, wie der Doktor nie aufgehört hat zu fordern.10 Es ist wahrscheinlicher, dass die überhöhten Preise des Doktors seiner eigenen überhöhten Wertschätzung für seine Werke und sich selbst entsprechen. Seine literarische Produktion „billig“ zu veräußern (und sie muss in seiner Einschätzung mehr wert sein als das Kapital) hieße, ihren Wert zu vermindern, gemäß der klassischen und verachtenswerten bürgerlichen Logik, die wir bereits in seinem Appell an die „Société des Gens des Lettres“ wahrgenommen haben. Wenn unsere Erklärung falsch ist, muss Dr. Bourrinet nur seine eigene liefern, die wir mit Freude veröffentlichen werden, so wie jegliche Antwort, die er auf diesen Artikel zu geben bemüht ist.
Doch all diese Beispiele von Dr. Bourrinets Kleinkariertheit und Böswilligkeit verblassen bis zur Unkenntlichkeit, verglichen mit den Verleumdungen, die er 1992 über unsere Organisation verbreitet hat. Damals hatten wir nicht öffentlich darauf reagiert; nun beabsichtigen wir es zu tun, weil sie seit März 2012 über das Internet verbreitet werden. Auf der Seite www.left-dis.nl/f [11] gibt es nun den Titel: „Une mise au point publique (Paris, décembre 1991) sur le parasitisme ‚instinctif‘ de la secte ‚CCI‘“ („Öffentliche Stellungnahme [Paris, Dezember 1991] über den ‚instinktiven‘ Parasitismus der ‚IKS‘-Sekte“). Der Text ist mit einer PDF-Datei11 verknüpft, die die oben genannten Dokumente enthält, die die IKS 1992 erhalten hatte und auf die wir nun zurückkommen wollen.
In der „Stellungnahme“ vom 27. Juli 1992 lesen wir:
„Anlässlich der Veröffentlichung der Doktorarbeit des Autors und seiner vorherigen Magister-Dissertation über die Italienische Kommunistische Linke (1926-1945) ohne Zustimmung des Autors und versehen mit willkürlichen Ergänzungen und Kürzungen durch diese Gruppe, die meint, sie besäße das Dokument unter dem Vorwand, dass der unterzeichnende Autor einst Mitglied der IKS war, ist folgende Klarstellung für den Leser notwendig:
Diese Arbeit wurde 1991 von der IKS anonym auf Französisch ohne Zustimmung des Autors und ohne ihn im Voraus darauf hinzuweisen sowie ohne seine Korrekturen veröffentlicht. Der Autor wurde vor vollendete Tatsachen gestellt, ein wahrhaftiger Akt der ‚Piraterie‘.“
(Dann folgt die oben zitierte Passage, der wir entnehmen, dass Philippe Bourrinet Doktor auf der Universität von Paris 1 ist, und ein weiteres Zitat, das die Umstände wiedergibt, unter denen er seine These vorgetragen hat.)
„Dieses Buch ist eine Fortsetzung des Buches über DIE ITALIENISCHE KOMMUNISTISCHE LINKE 1912-1945, eine Magister-Dissertation desselben Autors (Paris 1 – Sorbonne, 1980, betreut von Jacques Droz).
Diese Dissertation wurde 1981 und 1984 anonym – auf Französisch und Italienisch – von der IKS-Gruppe veröffentlicht, mit der stillschweigenden, und nur stillschweigenden, Zustimmung des Autors.“
Beginnen wir mit der „stillschweigenden, und nur stillschweigenden, Zustimmung“, die der Militante Philippe Bourrinet für die Publizierung des Werkes über die Italienische Kommunistische Linke ohne Benennung des Autors gab. Was ist das für eine komplizierte Geschichte, Dr. Bourrinet, Du bemitleidenswerter Heuchler? Hast Du zugestimmt oder hast Du nicht zugestimmt, dass der Text, den Du geschrieben hast, als IKS-Broschüre veröffentlicht werden sollte? Als Du ausführlich mit anderen Militanten der Organisation über das Layout und das Cover dieser Broschüre (wo in der Tat der Name des Autors keine Rolle spielte) diskutiert hast, tatest Du dies „stillschweigend“?
Was das Werk über die Deutsch-Holländische Linke anbelangt, das angeblich ohne Zustimmung des tollen neuen „Doktors“ Bourrinet veröffentlicht wurde, so sind wir überrascht, dass Deine Nase Dir nicht im Weg stand, als Du diese Zeilen geschrieben hast: Sie muss länger gewachsen sein als Pinocchios Nase! Wirklich, Dr. Bourrinet, Du bist ein durchtriebener Lügner, wenn Du vorgibst, „vor vollendete Tatsachen gestellt“ worden zu sein. Und hier ist der Beweis, dass Du ein Lügner bist, ein Artikel, der in der Internationalen Revue Nr. 58, 1989 (engl., franz. und span. Ausgabe) veröffentlicht wurde und den Titel trug: „Beitrag zu einer Geschichte der revolutionären Bewegung: Einführung in die Deutsch-Holländische Linke“, wo wir lesen: „Die Geschichte der Internationalen Kommunistischen Linken seit Beginn des Jahrhunderts, auf die wir uns in unseren Broschüren zu beziehen begonnen haben, ist keine Sache für simple Historiker. Nur von einem militanten Standpunkt, dem Standpunkt jener, die sich dem Befreiungskampf der Arbeiter verpflichten, kann man sich der Geschichte der Arbeiterbewegung annähern. Und für die Arbeiterklasse ist die Geschichte nicht eine Frage des reinen Wissens, sondern wegen der Lehren aus der Vergangenheit, die sie enthält, auch und vor allem eine Waffe in ihren gegenwärtigen und künftigen Kämpfen. Von diesem militanten Standpunkt aus veröffentlichen wir als einen Beitrag zur Geschichte der revolutionären Bewegung eine Broschüre über die deutsch-holländische Kommunistische Linke, die auf Französisch später in diesem Jahr erscheinen wird. Die Einführung in diese Broschüre, unten veröffentlicht, beschäftigt sich mit der Frage, wie man sich der Geschichte dieser Strömung am besten annähert.“
Wer also ist der Schleimscheißer von IKS-Mitglied, der die „Piraterie“ der Thesen des Dr. Bourrinet im Voraus rechtfertigt, der willige Komplize in einem Manöver, das darauf abzielt, den guten Doktor vor „vollendete Tatsachen“ zu stellen? Der Artikel ist unterschrieben mit „Ch“ alias Chardin alias…. Bourrinet.
So haben wir hier den Militanten Philippe Bourrinet (höchstwahrscheinlich „unter fremdem Einfluss“), der öffentlich die Verantwortung für die Veröffentlichung übernimmt, und nun über das schändliche Verbrechen schreibt, das die IKS im Begriff ist, an dem armen Dr. Bourrinet zu begehen. Doch als dieser Artikel geschrieben wurde, hatte er bereits seinen Doktortitel von der Universität von Paris 1 – Sorbonne – erhalten. Mit anderen Worten: einer der Hauptverantwortlichen für die niederträchtigen Handlungen gegen Dr. Bourrinet ist kein anderer als Dr. Bourrinet selbst. Ist Dr. Bourrinet ein Masochist? Auf jeden Fall ist er ein ausgemachter Lügner, daran gibt es nicht den leisesten Zweifel. Ein verachtenswerter Lügner und Verleumder.
Man mag denken, dass Dr. Bourrinet sich nicht tiefer erniedrigen konnte als im März 2012 mit dieser Veröffentlichung seiner 20 Jahre alten Dokumente. Nichts könnte irriger sein. Zur gleichen Zeit erhielten etliche Mitglieder der IKS ein Einschreiben [7], datiert von 23. März 2012, von der Rechtsabteilung der Société des Gens des Lettres. Hier folgen die Hauptpassagen:
„Wir intervenieren im Namen von Herrn Philippe Bourrinet, Mitglied der Société des Gens des Lettres, in der Sache seiner Dissertation und seiner Doktorarbeit (…)
Wir sind sehr überrascht zu entdecken, dass diese beiden Werke das Objekt systematischer Nachahmungen sind und somit sowohl die Eigentumsrechte als auch die moralischen Rechte von Herrn Bourrinet verletzen.
Wir fordern Sie daher auf, sofort die Verwendung dieser Texte einzustellen, sowohl auf den verschiedenen Internet-Seiten, wo sie anzutreffen sind, als auch in Print-Publikationen.
Falls er keine Entschädigung erhält, behält sich der Autor das Recht vor, die ihm geeignet erscheinenden Schritte einzuleiten.“
Mit anderen Worten: Dr. Bourrinet „behält sich das Recht vor“, einen Richter auf bestimmte IKS-Mitglieder zu hetzen, sollte die IKS fortfahren, die Bücher über die Deutsch-Holländische Linke und die Italienische Linke zu verbreiten. Und die Spitze ist, dass einer dieser Militanten, die Ziel dieser Drohbriefe waren, zu jenen gehörte, die Dr. Bourrinet bei seiner Doktorarbeit am meisten unterstützt haben, indem er den Photokopierer auf der Arbeit nutzte (unter dem Risiko, sich ernsthaften Ärger, bis hin zur Kündigung, mit seinem Arbeitgeber einzuhandeln), um Hunderte und Aberhunderte von Seiten (Entwürfe von Philippe Bourrinets Arbeit, so dass sie von anderen Militanten überprüft werden konnten, Publikationssammlungen der Kommunistischen Linken, die ihm ausgeliehen worden waren, Kopien seiner Dissertation und Doktorarbeit für die Universität…) zu kopieren.
Heute besitzt Dr. Bourrinet – mit seiner charakteristischen Feigheit, da er sich hinter der Société des Gens des Lettres versteckt, die er mit seinen Lügen an Bord geholt hat – die groteske Anmaßung, Anspruch auf das Vermächtnis der Kommunistischen Linken und auf Texte der Arbeiterbewegung zu erheben, die niemand gehören außer der Arbeiterklasse und derer die proletarischen Organisationen die politischen und moralischen Bürgen und Treuhänder sind. Dieser Spießbürger denkt, er könne sich wie irgendein gewöhnlicher Kapitalist benehmen, der seine Patente schützt, indem er verbreitet, dass das Produkt der universellen Geschichte der ausgebeuteten Klasse eine Ware sei, die auf das „geistige Eigentum“ seiner eigenen erbärmlichen Persönlichkeit reduziert werden kann. Dies ist ein notbedürftiger Schwindel, ein feindliches Übernahmeangebot, das Hollywood-reif ist. Die Arbeiterklasse bringt keine Militanten als Individuen hervor, sondern revolutionäre Organisationen, die das Produkt von Kämpfen und einer historischen Kontinuität sind. Dies ist bereits in den Statuten der IAA 1864 enthalten: „In seinem Kampf gegen die vereinigte Macht der herrschenden Klassen kann das Proletariat nur dann als Klasse auftreten, wenn es sich selber zu einer politischen Partei konstituiert, die allen früheren, von den besitzenden Klassen gebildeten Parteien gegenübersteht“ (Artikel 7a). Arbeiterorganisationen vertreten Prinzipien, die die Frucht historischer Erfahrungen sind. In diesem Sinn ist die Arbeit ihrer Militanten Teil einer Bewegung, die nicht ihr „persönliches Eigentum“ ist und nicht sein kann. Die Statuten der IKS stellen mit äußerster Klarheit fest, was einst eine moralisch selbstverständliche Tatsache im Proletariat war: „… muss jedes Mitglied, das die IKS verlässt, selbst im Falle einer Spaltung der Organisation, die Gesamtheit des Materials der Organisation zurückgeben (Geld, technisches Material, Publikationslager usw.), die vorher eventuell zu seiner Verfügung gestellt wurden“ (unsere Hervorhebung).
Hier zeigt Dr. Bourrinet also sein wahres Gesicht! Die Beute ergreifen und sich dann an die bürgerliche Justiz wenden, aus persönlicher Rache und um seine verletzte Eitelkeit zu schmeicheln. Diese Missachtung seiner einstigen moralischen Verpflichtung, als er noch Militanter war, ist nicht bloß erbärmlich, sie ist der Arbeiterbewegung völlig fremd. Dieser pedantische, kleinbürgerliche Legalismus ist, angefeuert von persönlicher Rachsucht, etwas Beispielloses in der Kommunistischen Linken, die dieser Hochstapler zu vertreten behauptet. Welche Begriffe kann man benutzen, um über Dr. Bourrinet zu sprechen? Es fallen einem viele ein, so dass wir uns in der Verlegenheit befinden, irgendeinen Begriff zu wählen; also sagen wir einmal, er ist „unglaublich“.
Dies sind nicht alle Heldentaten des unglaublichen Doktors. Nicht nur dass er willens ist, die widerwärtigsten Methoden zu benutzen, um seiner einstigen Organisation, der IKS, zu schaden, er macht sich auch auf, das Andenken an einen Militanten zu attackieren, der eine entscheidende Rolle bei der Formierung der IKS gespielt hatte: Marc Chiric, verstorben im Dezember 1990.
Zu diesem Zweck nutzt er einen biografischen Abriss [12], den er auf seiner Webseite veröffentlichte und der unter anderem Bemerkungen miteinschließt, die er am Ende seiner neuen Version des Buches über die Italienische Linke veröffentlichte.
In dem biografischen Abriss, der am Ende des Buches publiziert wurde, erlaubt er sich eine kleinkarierte Attacke gegen Marc Chiric: „Für Jean Malaquais, einen langjährigen Freund, verkörperte er eine gewisse Art von politischem ‚Propheten‘, der ständig versucht, anderen und sich selbst zu beweisen, dass er ‚niemals einen Fehler begangen‘ hat.“ Wir erkennen hier den Stil des doppelgesichtigen Dr. Bourrinet. Er beginnt mit dem „langjährigen Freund“, um ihm dann umso besser ein negatives Image überzustülpen, ohne zu sagen, dass Malaquais zwar ein großartiger Schreiber und subtiler Polemiker war, der die Positionen der Kommunistischen Linken teilte, aber nicht die Persönlichkeit eines kommunistischen Militanten und auch kein Verständnis dessen hatte, was es bedeutete, einer zu sein. In den Tagen, als Malaquais in Paris lebte und häufig zu unseren öffentlichen Veranstaltungen kam, bat er einmal darum, der IKS beitreten zu dürfen; Marc Chiric hatte einige Schwierigkeiten, die anderen Genossen davon zu überzeugen, dass wir seine Kandidatur angesichts seines oft hochfahrenden Verhaltens sowohl unseren Mitgliedern als auch unseren Aktivitäten gegenüber nicht akzeptieren sollten.
Dr. Bourrinets Charakterisierung von Marc Chiric ist ein kleingeistiger Angriff aus dem Hinterhalt, aber es sollte noch schlimmer kommen. In einem Zusatz wiederholt er die widerlichsten Verleumdungen, die gegen unsere Organisation in Umlauf gebracht wurden, insbesondere durch die Meute von Hooligans und Spitzel, die sich selbst die „Interne Fraktion der IKS“ nennen.
„1991-93, kurz nach seinem Tod, wurde Marc Chirics Gruppe von einem heftigen ‚Erbfolgekrieg‘ zwischen den ‚Führern‘ geschüttelt, die sich selbst an die Spitze der ‚Massen‘ der IKS setzten, wobei es sich in Wahrheit um groteske Konflikte handelte, die eines Irrenhauses würdig sind.“
Dr. Bourrinet reicht sodann das Mikrophon weiter an die „Gegner“ unseres Genossen und unserer Organisation, um eine Wagenladung Mist auf beide zu kippen:
„Für seine politischen Gegner blieb Marc Chiric eine Figur aus der Vergangenheit, die den schlimmsten Aspekten der leninistischen und trotzkistischen Strömung anhing, ein ferngesteuerter Jünger von Albert Treint, der sich zu ‚sinowjewistischen‘ Manövern herabließ und nicht zögerte – während einer anderen Spaltung 1981 -, ‚tschekistische Angriffe‘ gegen ‚Dissidenten‘ durchzuführen, um ‚die Organisation zu verteidigen‘ und ihr ‚Zubehör zu überholen‘.
Eine monolithische Kontrolle über ‚seine‘ Organisation ausübend, half Marc Chiric mit, sie schon in einem frühen Stadium in eine Art paranoider Psychose zu stürzen. Eine triste Realität, die in den Augen vieler Ex-Mitglieder die ‚chirikistische‘ Organisation auseinanderriss, deren sichtbarste Defekte waren: politische Unehrlichkeit, die auf die Ebene eines kategorischen Imperativs gehoben wird, ‚schikanöse Polizeitaktiken‘, eine sorgsam gepflegte Atmosphäre ultra-sektiererischer Paranoia, die bis zum Erbrechen die ‚Komplotttheorie‘ benutzt und zur Lösung politischer Divergenzen die prophylaktische Ausmerzung des ‚Parasitismus feindlicher Organisationen‘ empfiehlt.
Um zu schließen:
eine triumphierende (und gewollte) Rückkehr des ‚unterdrückten‘ Stalinismus in der ‚Praxis‘;
eine oberflächliche Anbindung an die ‚Errungenschaften des Freudianismus‘, wo der ‚Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie’ neben dem ‚ewigen Kampf des Eros und Thanatos‘ und zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ existiert, die ‚proletarische Moralität‘, deren Treuhänder die IKS und ihre ‚Zentralorgane‘ sind;
eine quasi-religiöse Hingabe zum Darwinismus als eine Methode zur ‚Auswahl‘ der ‚angepasstesten‘ politischen Spezies, unter dem Deckmantel der Entwicklung des ‚sozialen Instinkts‘, dessen ultimative Inkarnation die IKS ist;
unter dem ‚rechtschaffenen‘ Mantel der ‚proletarischen Moralität‘ der Triumph der politischen Amoralität, die ‚ewige Rückkehr‘ von ‚Netschajews Katechismus‘, der alles erlaubt, was den politischen Gegner zerstört.“
Wie jeder sehen kann, zielen die Anschuldigungen, die von Dr. Bourrinet wiederholt werden, nicht nur gegen Marc Chiric und die IKS zu seinen Lebzeiten, sondern auch und größtenteils gegen Letztere nach seinem Tod. Zum Beispiel diskutierte die IKS nie den Darwinismus oder veröffentlichte Artikel über dieses Thema zu Marc Chirics Lebzeiten. Erst seit 2009, Jahre nach seinem Tod, hat sich die IKS mit der Frage in unseren internen Diskussionen beschäftigte und veröffentlichte Artikel zu diesem Thema. In der Tat ist es Dr. Bourrinets Absicht, zwei Fliegen mit einer Klatsche zu schlagen: sowohl Marc Chiric als auch die IKS zu vernichten, deren wichtigstes Gründungsmitglied er gewesen war.
Im Grunde bietet uns dieser Wust von Anschuldigungen eine kondensierte Version der „Bourrinet-Methode“ an. Er beugt sich formal den historiographischen Standards, indem er seinen Abriss mit einem Quellennachweis versieht, wo wir in der Tat die Quellen all dieses Irrsinns finden. Aber der Quellennachweis ist so umfangreich, dass die verleumderischen Veröffentlichungen darin ertränkt werden. Darüber hinaus ist es selbst für „Spezialisten“ derart schwierig, Zugang zu vielen Texten zu finden, auf die Bezug genommen wurde, so dass die meisten LeserInnen schon gar nicht überprüfen können, „wer was sagte“. Und genau darum geht es. Wenn man in einer Biographie über Trotzki eine Passage mit einfließen lässt, was seine politischen Gegner über ihn sagten, und wenn in einer unter vielen Anschuldigungen behauptet wird, dass er „ein Agent Hitlers“ gewesen sei, dann reicht die bloße Tatsache, dass diese Beschuldigungen von Wyschinski kamen, dem Ankläger in den Moskauer Prozessen, aus, um die Anschuldigungen zu diskreditieren. Wir haben nicht die Absicht, den Leser/die Leserin mit einer systematischen Widerlegung all der gegen Marc Chiric und die IKS gerichteten Verleumdungen in den Artikeln zu behelligen, auf die der gute Doktor sich so geflissentlich bezog. Es reicht aus zu sagen, dass die meisten von Ex-Mitgliedern der IKS kamen, die, aus welchen Gründen auch immer, zerfressen sind von einem zähen Hass gegen unsere Organisation. Manche stehen noch immer unter dem Einfluss anarchistischer Ideen, die sie dazu verleiteten, den Slogan „Lenin = Stalin“ zu ihrem eigenen zu machen. Andere meinten, dass die Organisation ihre Arbeit nicht genug würdigte, oder konnten keine Kritik aushalten und fanden, dass ihr verletzter Stolz wichtiger ist als die Verteidigung kommunistischer Positionen. Andere haben sich selbst durch aggressives Verhalten isoliert und waren gleichzeitig bereit, die Polizei zu alarmieren, als die IKS sie besuchte, um sich die unserer Organisation gestohlenen Ausrüstung wieder zu bemächtigen. Andere – oder dieselben – fuhren fort, das dubiose Element Chénier zu verteidigen, der 1981 ausgeschlossen wurde und kurz danach Karriere in der damals an der Macht befindlichen Sozialistischen Partei machte.
Wenn Dr. Bourrinet bestimmte Anschuldigungen wiederholt, deren absurder und gar irrsinniger Charakter für jeden ersichtlich ist, geschieht dies möglicherweise nicht, weil er denkt, dass sie als solche geglaubt werden, sondern weil sie es ermöglichen, die Idee zu verbreiten, dass „es keinen Rauch ohne Feuer gibt“ und dass „hinter den Übertreibungen ein Körnchen Wahrheit steckt“. Wieder die Bourrinet-Methode: wenn man mit genug Dreck um sich wirft, bleibt immer etwas hängen.
Ein letztes Wort dazu. Dr. Bourrinet hat zu vielen Militanten der Kommunistischen Linken biographische Anmerkungen gemacht, doch nur Marc Chiric hatte das „Privileg“ gehabt, dass nicht nur sein militantes Leben, sondern auch die Vorwürfe gegen ihn im Detail dargelegt wurden. All dies, versteht sich, ohne ein Wort oder einen Bezug zu den Texten (Artikeln, Interventionen auf Foren, etc.), die diese Vorwürfe widerlegen, und all dies im Namen einer „seriösen“, „ehrlichen“ historischen Untersuchung!12
Kehren wir zurück zu der Idee, dass Dr. Bourrinet ein „seriöser und ehrlicher Historiker“ ist. Wie Marx einst sagte, müssen wir uns gegen solche Idee „schützen“. In seinem 1989er Artikel für unsere Presse, die die bevorstehende Veröffentlichung des IKS-Buches über die Deutsch-Holländische Linke ankündigte, bezog sich der gute Dr. Bourrinet auf etliche seriöse und ehrliche Historiker der Arbeiterbewegung: Franz Mehring, Leo Trotzki, beide revolutionäre Militante, aber auch Georges Haupt, der „alles andere als revolutionär war“, um Dr. Bourrinets Worte zu benutzen: „In diesem Punkt lohnt es sich, erneut den Historiker Georges Haupt zu zitieren, der 1980 verstarb und für die Seriosität seiner Werke über die II. und III. Internationale bekannt war:
‚Mit Hilfe unerhörter Fälschungen, die die elementarsten historischen Realitäten mit Verachtung strafen, hat der Stalinismus systematisch das Feld der Vergangenheit ausradiert, verstümmelt, umgestaltet, um es mit seinen eigenen Darstellungen, seinen eigenen Mythen, seiner eigenen Selbst-Glorifizierung zu ersetzen…‘.“
Das letzte, was man sagen kann, ist, dass dieselbe Integrität Dr. Bourrinet charakterisiert. Wie wir gesehen haben, zögert er keinen Augenblick, um die kolossalsten Lügen auszusprechen, wenn es ihm gerade passt – d.h. wann immer die historische Realität nicht zu seiner „Selbst-Glorifizierung“ passt. Als er Mitglied der IKS war, war Dr. Bourrinets Beitrag interessant, wichtig und ehrlich. Seither sind seine Studien durchaus ehrlich, wenngleich nicht zwangsläufig interessant oder gar wichtig. Doch was feststeht, ist, dass seine Ehrlichkeit sich verflüchtigt, sobald das Thema seine obsessiven Lieblingshassobjekte betrifft: den Militanten Marc Chiric und die Internationale Kommunistische Strömung. Sicherlich gibt es stalinistische Historiker, die exzellente Untersuchungen über die Pariser Kommune angefertigt haben, doch es wäre des Guten zuviel, von ihnen zu erwarten, dass sie in der Lage sind, Gleiches für die Geschichte der „Kommunistischen“ Parteien zu leisten.
Was die anderen Illusionen über Dr. Bourrinet betrifft – dass er ein „Vertreter der Idee der Kommunistischen Linken und ein Kenner ihrer Hauptorganisation, die IKS“ sei -, auch hier gilt, was wir oben bereits gesagt haben, nämlich dass dies alles andere als wahr ist. Wir haben schon bessere Kenner der IKS erlebt: Entweder er nimmt die irren Anschuldigungen der „politischen Gegner“ der IKS und Marc Chirics für bare Münze; in diesem Fall wären seine „Kenntnisse“ dem Magazin Hello oder Minute13 würdig, oder er tut es nicht, was noch schlimmer wäre. Was die Verteidigung der Ideen der Kommunistischen Linken anbelangt, kann man nichts von jemand erwarten, dessen vorrangige Obsession die Verteidigung… seines geistigen Eigentums ist und der dabei nicht zögert, den bürgerlichen Staat dazu zu holen. Wenn jemand behauptet, bestimmte Ideen zu vertreten, dann ist das Mindeste, was man erwarten kann, dass er nicht in flagrantem Widerspruch zu diesen Ideen steht. Man kann nichts von jemand erwarten, der von Hass zerfressen ist, der soweit geht, das Andenken an Marc Chiric zu beschmutzen, einen der sehr wenigen Militanten der Kommunistischen Linken, der, statt sich krampfhaft an seine anfängliche Positionen zu klammern, fähig war, die wichtigen Erkenntnisse sowohl der italienischen als auch der deutsch-holländischen Linkskommunisten zu integrieren und sie bis zu seinem Tode zu verteidigen.
Für Dr. Bourrinet sind die Ideen der Kommunistischen Linken ein bloßer Warenbestand, die er aus jenen Tagen mitgenommen hat, als er ein Militanter war, und die er so gut wie möglich zugunsten seines Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Anerkennung zu vermarkten versucht (da er sie nicht direkt versilbern kann).
Um diese Aussage schwarz auf weiß zu beweisen, lohnt es sich, den biographischen Abriss zu lesen, der Latif Lakhdar (verstorben im Juli 2013) gewidmet wurde und auf der Internet-Seite Controverses veröffentlicht wurde, die sich selbst als ein „Forum für die Internationalistische Kommunistische Linke“ darstellt – ein Abriss, der mit Ph.B. unterzeichnet ist (niemand Geringeres als der gute Doktor in Person)14. In der Einleitung wird Latif Lakhdar dargestellt als „arabischer Intellektueller, Schriftsteller, Philosoph und Rationalist, ein Kämpfer in Algerien, im Nahen Osten und in Frankreich. Bekannt als ‚der arabische Spinoza‘.“ Im Abriss selbst lesen wir: „Ab 2009 nahm er mit dem Philosophen Mohammed Arkoun (1928-2010) am Aladin-Projekt der UNESCO teil, einem ‚intellektuellen und kulturellen Programm‘, das unter der Schirmherrschaft der UNESCO von Jacques Chirac und Simone Weil angestoßen wurde“. Wir lesen auch: „Im Oktober 2004 war er zusammen mit zahllosen liberalen arabischen Schriftstellern Ko-Autor eines Manifestes, das – veröffentlicht im Web (elaph.com [13], middleeasttransparent.com [14] – die UN dazu aufrief, ein internationales Tribunal einzurichten, um über Terroristen und Organisationen oder Institutionen, die zum Terrorismus anstiften, zu richten“. Offen gestanden, haben wir große Schwierigkeiten, zu erkennen, was diese Biographie auf einem „Forum für die Internationalistische Kommunistische Linke“ zu suchen hat und warum jemand, der der Kommunistischen Linken anzugehören behauptet, sie geschrieben hat. Soweit wir ermessen können, war Latif Lakdhar wahrscheinlich ein Mann voller guter Absichten und nicht ohne einen gewissen Mut, bot er doch den Drohungen der islamistischen Fanatiker die Stirn, dessen Aktionen jedoch völlig im Rahmen der bürgerlichen „Demokratie“ und im Sinne einer Verteidigung der Illusionen stattfanden, dank derer die Bourgeoisie ihre Vorherrschaft aufrechthält. Für jeden, der irgendetwas mit der Kommunistischen Linken zu tun hat, käme es überhaupt nicht in den Sinn, die UN (eine „Räuberhöhle“, um Lenins Ausdruck über den Völkerbund zu benutzen) aufzurufen, „ein internationales Tribunal einzurichten, um über Terroristen zu richten“. Sollen wir auf Terroristen reagieren, indem wir fordern, dass der bürgerliche Staat seine Polizei und sein juristisches Arsenal stärkt?15 In der Tat, unter den Leistungen Latif Lakhdars gibt es eine, die Dr. Bourrinet nicht erwähnt hat (hat er sie vergessen oder wollte er sie verschweigen?): einen Offenen Brief, datiert vom 16. November 2008, an den neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Barrack Obama, in dem er diesem vorschlägt, „die Welt in 100 Tagen zu verändern, indem eine Versöhnung zwischen Juden und Arabern besiegelt wird“.16 In dem Brief lesen wir folgende Passage:
„Diesen Konflikt mit seiner explosiven Mischung aus Religion und Politik zu lösen wäre eine angenehme Überraschung von Ihnen für die Völker der Region und der Welt. Es hätte zweifellos positive psychologische Auswirkungen auf all die anderen Krisen, einschließlich der Weltfinanzkrise.
Wie kann dies erreicht werden? (…) Entsenden Sie eine amerikanische Friedensdelegation, angeführt von Präsident Clinton und dem scheidenden israelischen Präsidenten Ehud Olmert17 und zusammengesetzt aus Prinz Talal Ben-Abdul Al-Aziz, dem symbolischen Repräsentanten der arabischen Friedensinitiative, und Walid Khalid sowie Shibli Talham als Repräsentanten des palästinensischen Volkes.
Und was ist die Lösung?
Zunächst die Umsetzung von Mr. Clintons Parametern, die den Juden gibt, was sie seit der Zerstörung des Tempels 586 v.Chr. vermissen, und den Palästinensern, was sie nie in ihrer Geschichte hatten: einen unabhängigen Staat. Dann die Umsetzung von Ehud Olmerts ‚Ratschlag‘ an seinen Nachfolger, den Palästinensern den Großteil ihrer Forderungen zuzugestehen…“
Und der Brief schließt:
„Präsident Barrack Obama, es heißt, dass Sie wenig Erfahrung haben; indem Sie in den ersten hundert Tagen ihrer Administration einen hundert Jahre alten Konflikt beilegen, der fünf blutige Kriege und zwei Intifadas auslöste, würden Sie der Welt demonstrieren, dass Sie ein kompetenter und verantwortungsvoller Führer sind, und 80 Prozent der Weltbevölkerung, die für Ihren Erfolg beteten und Ihren Sieg so sehr feierten, ein Geschenk machen.“ – Was hat das mit der Kommunistischen Linken zu tun?
Dr. Bourrinets biographischer Abriss von Latif Lakhdar ist auf der Website Controverses unter der Rubrik „Internationalistes“ veröffentlicht. Doch was genau ist ein Internationalist? Jemand, der nicht nur den Chauvinismus und die militärische Barbarei anprangert, sondern auch bis zum Äußersten die einzige Perspektive verteidigt, die ihnen ein Ende bereiten könnte: der Sturz des kapitalistischen Systems durch die proletarische Weltrevolution. Und dies beinhaltet zwangsläufig auch die Anprangerung aller pazifistischer und demokratischer Illusionen sowie aller politischen Kräfte der Bourgeoisie, die sie verbreiten, wie „demokratisch“, „aufgeklärt“ oder gutgläubig sie sein mögen. Wer auch immer dies nicht verstanden hat, steht nicht auf proletarischem Boden, sondern auf dem Boden der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums. Unser toller Doktor (wie auch die gleichermaßen ausgezeichneten Publizisten von Controverses) kennt offensichtlich nicht den Unterschied zwischen einem demokratisch-humanistischen Bourgeois und einem Internationalisten, mit anderen Worten: einem Revolutionär. Und dies, weil Dr. Bourrinets Auffassung nicht die Auffassung der Arbeiterklasse, sondern des Kleinbürgertums ist. Dies wird deutlich genug in unserem Bericht über das Verhalten des Doktors, seitdem er die IKS verlassen hat, doch sein Abriss über Latif Lakhdar bekräftigt es auf eine so auffällige Weise, wie man es sich nur wünschen kann.
Dr. Bourrinets hektische Suche nach offizieller gesellschaftlicher Anerkennung, seine Verwendung bürgerlicher Institutionen und des Staates, um sein „Copyright“ und sein „geistiges Eigentum“ zu verteidigen, sein Kleinkrämergeist, seine Arglist, seine Lügen, seine Feigheit, sein verachtungswürdiges Verhalten seit 1992 und, um alles zu toppen, sein Hass gegen die Organisation und ihre Mitglieder, dank derer er in der Lage gewesen war, seine beiden Bücher zu schreiben – all dies sind tatsächlich nicht bloße Ausdrücke seiner Persönlichkeit. Sie sind auch und vor allem Ausdrücke seiner Zugehörigkeit zu der gesellschaftlichen Kategorie, die all diese moralische Defekte in sich konzentriert: das Kleinbürgertum.
Wie wir jetzt sehen werden, bestätigt die Konferenz, auf der Dr. Bourrinet als Redner figurierte, gänzlich alles, was wir über seine Person gesagt haben.
Dr. Bourrinet begann mit einer langen und einschläfernden Einleitung. Doch die Lethargie, die sich über die Zuhörer (einschließlich der Diskussionsleitung) legte, lag nicht nur an Dr. Bourrinets Charisma einer Auster. Sie war vielmehr das Ergebnis einer Rede ohne Seele oder Kampfgeist, so dass am Ende die Diskussionsleitung den Schluss ziehen konnte, dass „die Vergangenheit Vergangenheit ist“ und dass „sich heute andere Fragen stellen“.
Es folgte natürlich eine ganze Reihe von „neuen“ Fragen aus dem Publikum, wie über „die Lage in den Gefängnissen“ (sehr neu!) und über die „prekäre Arbeit“, etc. Kurz, die einzige Wirkung, die Dr. Bourrinets Diskurs hinterließ, war, dass die Tradition der Kommunistischen Linken als etwas Belangloses für die Gegenwart oder die Zukunft erschien, als etwas aus einer verschwundenen Vergangenheit, die in Büchern steht, welche als Staubfänger auf den Regalen dienen und zur Verfügung von Universitätswissenschaftlern stehen.
Mit anderen Worten, Dr. Bourrinets Präsentation bestätigte, was sein ganzes Verhalten bis dahin bereits enthüllt hatte: dass fortan für unseren guten Doktor die Geschichte der Kommunistischen Linken zu einer bloßen akademischen Disziplin geworden ist und nichts mit den Worten des Militanten Philippe Bourrinet zu tun hat, als dieser unter dem Pseudonym Chardin schrieb, dass sie „wegen der Lehren aus der Vergangenheit, die sie enthält, in erster Linie eine Waffe in den gegenwärtigen und zukünftigen Kämpfen“ ist (Internationale Revue, Nr. 58, engl./frz./span. Ausgabe, ebenda).
Aber das ist noch nicht alles! Dr. Bourrinet nutzte die ermüdende Wirkung seiner Präsentation aus, um, wie er es gerne tut, einige historische Verfälschungen einfließen zu lassen – in vollkommener Übereinstimmung mit seinem Hang, die Geschichte „neu zu arrangieren“, so wie sie ihm passt.
So schilderte er die unterschiedlichen Strömungen der Kommunistischen Linken (Italiens, Hollands und Deutschlands), als seien sie untereinander völlig isoliert gewesen, als habe es kein Zusammenwirken zwischen ihnen gegeben. Nichts könnte falscher sein! Es trifft zu, dass 1926 die italienische Linke sich einem Vorschlag von Karl Korsch (damals Mitglied einer Gruppe in Deutschland rund um die Zeitschrift Kommunistische Politik) für eine gemeinsame Deklaration aller damaligen linken Strömungen verweigert hatte (vgl. Brief von Bordiga an Korsch am 28. Oktober 1926).18 Doch die linke Fraktion der Italienischen Kommunistischen Partei, die ab 1929 Prometeo und dann ab 1933 Bilan auf Französisch herausgab, verfolgte nicht nur die feste Absicht, ihre Position jenen der anderen linken Strömungen gegenüberzustellen, vor allem Trotzkis Linksopposition und der Deutsch-Holländische Linken, sondern nahm auch etliche Positionen der letztgenannten Strömung an. Zum Beispiel wurde die Analyse der nationalen Befreiungskämpfe, die von Rosa Luxemburg in der deutschen und polnischen Sozialdemokratie ausgearbeitet worden war und daraufhin von der deutschen Linken aufgegriffen wurde, Ende der 1930er Jahre in die Positionen von Bilan integriert.
Noch besser, dieser „Experte“ der Kommunistischen Linken schaffte es sogar, die Existenz der Französischen Kommunistischen Linken (Gauche Communiste de France, GCF) völlig zu ignorieren. So wie zu Stalins Lebzeiten Leute bei jedem Umschreiben der offiziellen Geschichte aus den Fotos verschwanden, so „vergaß“ unser guter Doktor irgendwie alles über diese Gruppe, die Ende des II. Weltkriegs, genauer: 1944, gebildet worden war. Und dies aus gutem Grund: das charakteristische Merkmal der GCF war eben ihre profunde Synthese der Linken verschiedener Länder in Kontinuität mit der Arbeit von Bilan. Indem sie ihre Inspirationen aus den theoretischen Fortschritten von Bilan und noch mehr aus ihren Visionen eines lebendigen, nicht-dogmatischen Marxismus bezogen, der jedem Ausdruck des Proletariats international offen stand, verhinderte die GCF, dass diese kleine Gruppe in Vergessenheit geriet, und machte sie im Gegenteil zu einer Brücke zwischen den besten proletarischen Traditionen der Vergangenheit und der Zukunft des proletarischen Kampfes. Mit anderen Worten, als Dr. Bourrinet die GCF von der Tafel der Geschichte wischte, löschte er in einem gewissen Sinn auch Bilan aus, brach er die historische Kontinuität zwischen revolutionären Gruppen ab und unterbrach die Überlieferung dieser kostbaren Erfahrungen unserer mutigen Vorgänger. In einem Wort, er entwaffnet das Proletariat noch vor dem Klassenfeind.
All dies geschieht völlig bewusst auf Seiten Dr. Bourrinets. Er kennt sehr gut die Existenz der GCF und ihren Platz in der Geschichte. Dies ist nicht das Resultat einer bedauernswerten Vergesslichkeit oder Unwissenheit; es ist ein bewusstes Bemühen darum, eine Wahrheit zu verbergen, die er zu ignorieren vorzieht: dass die GCF einen Beitrag höchster Wichtigkeit zum Gedankengut der Kommunistischen Linken geleistet hat.
Warum? Die Antwort ist einfach. Aus reinem Hass gegen die IKS, der einzigen Organisation, die ausdrücklich zu ihrer Herkunft von der GCF steht, und aus Hass gegen den Mitstreiter, der eine Schlüsselrolle bei der Bildung der IKS spielte und der Hauptdenker hinter der GCF war: Marc Chiric.
Dr. Bourrinets Hass, den wir bereits in seinen zahllosen schriftlichen Machwerken wahrgenommen hatten, trat auf dieser öffentlichen Konferenz für jeden sichtbar zu Tage.
Als die IKS-Delegation versuchte, den guten Doktor wegen seiner Fälschungen und seines „geistigen Eigentums“ zur Rede zu stellen, wurde er völlig hysterisch (wie für jeden ersichtlich): „Ihr seid Terroristen und Sozialschmarotzer“, schrie er, „Ihr habt viele Militante gezwungen, aus der IKS auszutreten, indem Ihr sie abgewürgt habt“ – mit anderen Worten, er wiederholte all die Verleumdungen von „Marc Chirics politischen Gegnern“, über die er im biographischen Abriss auf seiner Webseite so „objektiv“ berichtet hatte.
Bis jetzt hat unser Doktor sein Gift im Schutz offizieller Körperschaften, „frisierter“ biographischer Abrisse und von „Stellungnahmen“ im Internet verbreitet. Diesmal allerdings hatte er es gewagt, dies in aller Öffentlichkeit zu tun, vor den Augen und Ohren von vier Mitgliedern der IKS. Solch eine Verhaltensänderung verlangt nach einer Erklärung.
Wie wir gesehen haben, ist Dr. Bourrinet der Prototyp eines Kleinbürgers: feige, unehrlich und mit wenig Neigung, seine Galle bei Tageslicht zu verspritzen, außer – wenn er spürt, dass in der Gerüchteküche die Schreie des Hasses gegen die IKS anschwellen. Dann wird er trunken vor „Mut“ und ist bereit, seinen Teil zu den widerlichsten Verleumdungen und niveaulosesten Drohungen gegen unsere Organisation beizutragen. Pogromaufrufe sehen immer so aus: Jeder Beteiligte leistet seinen eigenen erbärmlichen Beitrag entsprechend seiner Motive, alle unterschiedlich, aber alle gleichermaßen schäbig und voller Hass. Fast jedes Mal wird diese Art von barbarischer Dynamik durch eine Art Provokateur gestartet – ob ein Professioneller oder Amateur ist unerheblich. Genau dem ist unser unglaublicher Doktor voll auf den Leim gegangen. Nachdem er die Anti-IKS-Prosa der IGKL19, jenes schäbige Pack von polizei-ähnlichen Hinterzimmer-Intriganten mit ihrem Provokateur Juan, gelesen hatte, war der gute Doktor geradezu munter geworden und ist nun bereit, der Aufforderung zur Schurkerei und zum Hass nachzukommen.
Am 28. April 2014 veröffentlichte die IGKL20 einen unbeschreiblich schlechten Artikel im Stil professioneller Provokation. Dieser verleumderische Text hatte den Titel „Eine neue (und endgültige?) Krise der IKS“21 und kündigte mit ironischem Vergnügen das Verschwinden der IKS an… was sich als „stark übertrieben“ herausstellte.22 Doch wie unbegründet auch immer, die schiere Vorstellung, dass die IKS angeschlagen ist, fast auf dem Sterbebett liegt, hat all jene wachgerüttelt, die von der Hoffnung besessen sind, uns tot und begraben zu sehen. Und in dieser „mutigen“ Meute erblicken wir Dr. Bourrinet, heiß und aufgeregt angesichts der Vorstellung, dass er nun mit den Wölfen gegen die IKS heulen kann. Doch selbst die Ermutigung durch den Provokateur der IGKL reichte nicht aus, um ihm einen Stoß zu geben; er benötigte zudem die angenehme Begleitung eines Gefolgsmannes, mit wenig Hirn, aber mit großen Muskeln ausgestattet und vor allem mit der Mentalität eines Strolchs, der zu jeder Schandtat gegen die IKS bereit ist: kein anderer als Pédoncule23, stets bereit, unseren Doktor zu beruhigen und anzutreiben, wenn Letzteren der Mut während der Konferenz verließ. Dieses Individuum hat ein ganz erbauliches und gewalttätiges Register aufzuweisen: körperliche Aggressionen gegen eine unserer Genossinnen, Aggressionen gegen einen anderen Genossen, der mit einem Springmesser bedroht wurde, das dieses Individuum stets bei sich trägt. Dasselbe Individuum drohte, einem weiteren Genossen „die Kehle aufzuschlitzen“.24
Die Verbindung zwischen dem Doktor und dem Hooligan (wie aus einem französischen Film mit Jean-Louis Trintignant und Depardieu in den Hauptrollen) mag paradox erscheinen, aber sollte eigentlich keine Überraschung sein. Das Bündnis zwischen dem intellektuellen Kleinbürgertum und dem Lumpenproletariat ist nicht neu und kommt im Allgemeinen immer dann zustande, wenn sie sich einem gemeinsamen Feind gegenübersehen: dem revolutionären Proletariat. 1871 tat sich die Mehrheit der französischen Schriftsteller (mit den bemerkenswerten Ausnahmen von Arthur Rimbaud, Jules Vallès und Victor Hugo) mit dem Abschaum von Paris zusammen, um den Versaillern zuzujubeln, die die Kommune abschlachteten: die Erstgenannten mit dem Stift, die Zweitgenannten konkreter durch Denunzierung und Mord.25 1919 benutzten die „ehrenwerten“ Führer der deutschen Sozialdemokratie das Lumpenproletariat, das sich in den Freikorps (den Vorgängern der Nazis) versammelt hatte, um Tausende von ArbeiterInnen und gleichzeitig Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Hauptakteure in der Deutschen Revolution, zu ermorden. Heute tut sich der Kleinbürger Bourrinet, Doktor der Universität Paris 1 – Sorbonne, mit Pédoncule, dem Schlitzer, zusammen – nichts normaler als dies. Beide teilen denselben obsessiven Hass gegen die IKS; beide möchten die IKS, mit anderen Worten, die Hauptorganisation, die die Positionen der Kommunistischen Linken international vertritt, untergehen sehen.
Was uns angeht, beabsichtigen wir die beiden Bücher über die Italienische Linke und die Deutsch-Holländische Linke weiterhin zu verbreiten, ob Dr. Bourrinet dies gefällt oder nicht. Und wir möchten unsere LeserInnen dazu drängen, diese Bücher zu lesen, die von Philippe Bourrinet geschrieben worden waren, als er noch ein Militanter der IKS gewesen war. Sie haben nichts an Wert eingebüßt, seitdem aus dem Kämpfer ein Doktor wurde, der die Sache, der er sich in seiner Jugend verpflichtet hatte, verraten hat. Auch werden wir nicht aufhören, die Niederträchtigkeit des Doktors, seine Lügen, seine Verleumdungen und seine verachtenswerten Bestrebungen zu brandmarken, die darin bestehen, die Einrichtungen des bürgerlichen Staates zu Hilfe zu rufen, um unsere Mitglieder zu bedrohen und seinen Hass auszuleben. Er braucht sich jedoch keine Sorgen zu machen, dass wir ihm ein Kommando schicken werden, um „ihm die Kehle aufzuschlitzen“ – wir überlassen es seinem Bodyguard, Pédoncule, dem Schlitzer, solche Drohungen auszusprechen.
Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist übersät von Mitstreitern, die einst revolutionäre, proletarische Positionen vertraten, nur um später die Seite zu wechseln, vor der bürgerlichen Ideologie zu kapitulieren und sich in den Dienst der herrschenden Klasse zu stellen. Wir alle wissen, was mit Mussolini geschah, der vor dem I. Weltkrieg ein Führer des linken Flügels der italienischen Sozialistischen Partei gewesen war. Plechanow, der den Marxismus in Russland eingeführt hatte und einer der führenden Figuren im Kampf gegen Bernsteins Revisionismus Ende des 19. Jahrhunderts gewesen war, verwandelte sich 1914 in einen eingefleischten Chauvinisten. Kautsky, der „Papst des Marxismus“ in der II. Internationalen und bis 1906 Rosa Luxemburgs Mitstreiter, griff 1914 zur Feder, um de facto dem imperialistischen Krieg einen Dienst zu erweisen, und verurteilte die Revolution in Russland 1917, alldieweil er bis zu seinem Tod 1938 formal seine Verbundenheit mit dem Marxismus bekundete.
Heute bekundet Dr. Bourrinet unbeirrt seine formale Verbundenheit mit der Kommunistischen Linken und ihren Positionen. Doch dies ist ein Schwindel. Die Kommunistische Linke ist nicht einfach eine Sache der politischen Positionen. Sie bedeutet auch Prinzipientreue, keine Kompromisse, den Willen, für die Revolution zu kämpfen, einen enormen Mut – alles Qualitäten, derer es Dr. Bourrinet gänzlich mangelt. Man lese Die Italienische Kommunistische Linke und Die Deutsch-Holländische Linke, und zwar nicht als Dr. Bourrinets „geistiges Eigentum“, sondern im Geiste von Philippe Bourrinet ein Vierteljahrhundert zuvor: „Man kann sich nur von einem militanten Standpunkt aus, vom Standpunkt jener, die sich dem Kampf der Arbeiter für ihre Emanzipation verpflichtet haben, der Geschichte der Arbeiterbewegung annähern.“
Internationale Kommunistische Strömung, 15. Januar 2015
1 Das Smolny-Kollektiv ist ein Verlag, der sich auf die Veröffentlichung von Büchern über die Arbeiterbewegung spezialisiert hat, insbesondere der Kommunistischen Linken. Siehe unseren Artikel auf Französisch "Les éditions participent a la récupération démocratique de Rosa Luxemburg [15].
2 „Herr Proudhon genießt das Unglück, auf eigentümliche Art verkannt zu werden. In Frankreich hat er das Recht, ein schlechter Ökonom zu sein, weil man ihn für einen tüchtigen deutschen Philosophen hält; in Deutschland darf er ein schlechter Philosoph sein, weil er für einen der stärksten französischen Ökonomen gilt. In unserer Doppeleigenschaft als Deutscher und Ökonom sehen wir uns veranlaßt, gegen diesen doppelten Irrtum Protest einzulegen“. (Marx, Vorwort zu Das Elend der Philosophie, 1847, MEW Bd.4, S. 65)
3 Siehe unsere Artikel in Internationale Revue Nr. 65-66 (engl., franz. und span. Ausgabe [16],
4 Diese materielle Unterstützung schloss die Bezahlung vieler Kosten seines Aktenstudiums mit ein, einschließlich der Anschaffung großer Mengen von Mikrofilmen aus dem Amsterdamer Internationalen Institut für Gesellschaftsforschung.
5 Die Société des Gens des Lettres ist ein französischer Organismus, der aus dem frühen 19. Jahrhundert stammt und sich besonders dem juristischen Schutz des Copyrights zugunsten ihrer Autorenmitglieder widmet. Kopien der fraglichen Dokumente sind dem Artikel beigefügt.
6 Dies erschien in der englischen Ausgabe The Dutch and German Communist Left, die 2001 veröffentlicht wurde.
7 Wir werden fortan dem Doktor seinen Titel zugestehen. Dies kann eigentlich nur sein intensives Verlangen nach gesellschaftlicher Anerkennung befriedigen.
8 Und, würden wir hinzufügen, ein Heuchler. Doch das ist eher die Regel als die Ausnahme.
9 Die Preisliste findet man bei: left-dis.nl/f/livre.htm [17]. Sollte der Link verschwunden sein – man weiß ja nie! -, so haben wir natürlich einen Bildschirm-Ausdruck aufgehoben, nachdem sie Seite am 15. Januar 2015 erschienen war.
10 Die KS hatte beschlossen, die englischen Ausgaben der deutsch-holländischen und italienischen Linken auf Amazon anzubieten, um ihre Verbreitung zu erhöhen. Im Oktober 2009 erhielten wir einen Brief von Amazon, in dem wir in Kenntnis darüber gesetzt wurden, dass diese Bücher nach dem Erhalt eines Briefes von Dr. Bourrinet zurückgezogen worden seien und dass ihr Verkauf nur mit der Zustimmung des Letztgenannten möglich sei. In einem Brief an Amazon vom 7. Oktober 2009, unterzeichnet mit „Doktor Philippe Bourrinet, Historiker“ steht: „Mein geistiges Eigentum ist von zwei Artikeln auf der Seite von Amazon.co.uk verletzt worden. Es hat mit dem kommerziellen Verkauf zweier Bücher von mir (mein Name wurde getilgt) durch die so genannte ‚Internationale Kommunistische Strömung‘ zu tun, die offensichtlich Akte der geistigen Piraterie begeht (es folgen Details zu den beiden Büchern). Diese beiden Bücher sind (elektronisch und in Papierform) unter meinen eigenen Namen auf meiner eigenen mehrsprachigen Webseite in den Niederlanden veröffentlicht worden (…) Sie sind seit langem (1989) durch das Gesetz über das geistige Eigentum geschützt (…) Ich bin der wahre Eigentümer der beiden erwähnten Bücher und dazu befugt, zusammen mit der SGDL in Paris für die oben geschilderten Rechte zu streiten.“ Die IKS schrieb am 24. Oktober 2009 an Dr. Bourrinet. In unserem Brief sagten wir: „Wir müssen eingestehen, dass wir ziemlich überrascht sind, erstens von der Tatsache, dass Du das Bedürfnis verspürtest, über dieses Thema an Amazon zu schreiben, und zweitens dass Du uns nichts darüber im Vorhinein mitgeteilt hast. Wir hatten den Eindruck, dass die Frage des ‚geistigen Eigentums‘ über die beiden Bücher über die deutsch-holländische Linke und die italienische Linke einvernehmlich zwischen uns auf einem Treffen zu Beginn der 1990er Jahre geklärt worden sei (…) Auf alle Fälle wollen wir nicht, dass dieses Problem des ‚geistigen Eigentums‘ die Verbreitung dieser Geschichte und dieser Idee behindert. Wenn Du willst, sind wir sofort bereit, die gleiche Bemerkung [siehe oben und Fußnote 6] (oder irgendeine Variante, die Dir genehm ist) auf der Amazon-Seite (wir können auch Deinen Namen mitberücksichtigen) und auf Deiner eigenen Internet-Seite zu veröffentlichen.“ Dieser Brief wurde niemals beantwortet. Vielleicht hätten wir dem Doktor eine Autorenvergütung an unseren Verkäufen zahlen sollen. Abgesehen davon, sollten wir betonen, dass die englischen Ausgaben, die von Dr. Bourrinet verbreitet werden, mit den von den Mitgliedern unserer Organisation angefertigten Übersetzungen identisch sind (mit der Ausnahme seiner Veränderungen seit seinem Austritt aus der IKS). Doch dem guten Doktor sei versichert: Wir haben nicht die Absicht, Copyright für unsere Übersetzungen zu beanspruchen.
12 Dieser abscheuliche Angriff gegen das Andenken unseres Genossen Marc Chiric ist nichts anderes als widerlich. Marc Chiric genoss einen großen Respekt unter der breiten Mehrheit der Militanten der alten Kommunistischen Linken, trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten und der Kritik, die er gegen sie gerichtet haben mag. Die Tiefe und die Strenge seines Denkens, seine Hingabe für die revolutionäre Sache, sein starker Charakter und gleichzeitig die Wertschätzung und Zuneigung, die er für jene Militante hatte, denen es gelungen war, der Konterrevolution zu widerstehen, waren Wesenszüge seines politischen Charakters, die allgegenwärtigen Respekt verdienen. Wenn wir den Irrsinn über ihn lesen, der von nichtigen Widerlingen verbreitet wird, deren Stolz einen kleinen Kratzer abbekommen hat oder deren „geistiges Eigentum“ ignoriert wurde, empfinden wir nichts anderes als Ekel. Diese Art von Verleumdungskampagne weist starke Ähnlichkeiten mit der von der stalinistischen Clique gesteuerten Kampagne auf, deren Opfer Trotzki ab Mitte der 1920er Jahre, noch vor seinem Ausschluss aus der bolschewistischen Partei, war; eine Kampagne, die von Bordiga (damals die bekannteste Figur der italienischen Kommunistischen Linken) energisch angeprangert wurde, trotz seiner profunden Meinungsverschiedenheiten mit Trotzki. Die servile Kanaille, die, ob aus Feigheit oder um der Karriere willen, Stalins Spuren hinterherkroch, stand Modell für die Verleumder von Marc Chiric heute.
13 Magazin der französischen Rechtsaußen.
15 Doktor Bourrinet hat keine Probleme damit. Wenig überraschend, da er selbst bereit ist, das bürgerliche Rechtssystem gegen Revolutionäre zu nutzen.
16 Latif Lakhdar schreibt an Präsident Obama.
17 Ehud Olmert, ein enger Verbündeter von Ariel Sharon (verantwortlich für das Massaker von Sabra und Schatila 1982), war israelischer Ministerpräsident von Januar 2006 bis März 2009 und verantwortlich für den israelischen Angriff gegen Libanon im Juli 2006, der mehr als 1200 Zivilisten das Leben kostete. Im September 2009 wurde er wegen „Betrugs“, „Untreue“ und „Erschleichung illegaler Einkünfte“ vor Gericht gestellt und im September 2012 zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt.
18 Bordiga an Korsch. [20]
19 Die „Internationale Gruppe der Kommunistischen Linken“ (IGKL) erblickte im Oktober 2013 das Licht der Welt. Sie besteht aus einer Verschmelzung zweier Elemente der Gruppe „Klasbatalo“ in Montreal und Elementen der selbst ernannten „Internen Fraktion“ der IKS, die 2003 als Denunzianten aus der IKS ausgeschlossen worden waren.
20 Siehe unsere Antworten: „Die polizeiähnlichen Methoden der ‚IFIKS‘“, [21] "Kein Zugang für Spitzel zu den öffentlichen Veranstaltungen der IKS [22]" "Calomnie et mouchardage, les deux mamelles de la politique de la FICCI [23]".
21 Siehe unsere Antwort: "Kommuniqué an unsere Leser: Die IKS unter Beschuss durch eine neue Agentur des bürgerlichen Staates [24]" oder "Weltrevolution 179".
22 Wir haben auf diesen ebenso niederträchtigen wie absurden Angriff in unserem Artikel über die Außerordentliche Konferenz beantwortet.
23 Wie Dr. Bourrinet ist auch dieser Pédoncule Mitglied des Smolny-Kollektivs. Er war ebenfalls jahrelang Mitglied dieser Meute von Spitzel und Ganoven, die unter dem Namen IFIKS firmieren.
24 Siehe unseren Artikel in Révolution Internationale Nr. 354: Défense de l'organisation: Des menaces de mort contre des militants de CCI [25]
25 Vgl. Paul Lidsky, Les écrivains contre la Commune, La Découverte Poche, Paris, 2010.
Nach der Berichterstattung in den Medien soll der Wahltriumph der Koalition von Syriza[1] in Griechenland die kapitalistischen Mächte nervös gemacht haben. Diese „Nervosität“ ist zur Schau getragen und passt zu den Manövern im Hinblick auf die Neuverhandlung der griechischen Schulden, Syriza ist Teil dieser Mächte, denn sie teilt mit ihnen die Sorge der Verteidigung der Nation, dies ist die Fahne, hinter der jedes nationale Kapital seine Interessen gegen das Proletariat und gegen seine imperialistischen Rivalen verteidigt.
Tsipras, der Chef von Syriza, fasste anlässlich seines letzten Auftritts vor dem Wahlerfolg sehr gut zusammen, wofür Syriza steht: „Ab Montag ist die nationale Erniedrigung vorbei, keine aus dem Ausland kommenden Anweisungen mehr.“ Dieses Programm steht in unvereinbarem Widerspruch zu demjenigen des Proletariats, dessen Ziel die Herstellung eines weltweiten menschlichen Gemeinwesens und dessen Triebkraft der Internationalismus ist.
Der Sieg Syrizas ist nicht derjenige des „Volkes“, sondern der Bedürfnisse des griechischen Kapitals. Seine Politik wird noch mehr Angriffe auf die gesamte Arbeiterklasse nach sich ziehen.
Die Daten über die griechische Wirtschaft sind erschreckend. Wir nennen hier nur zwei Zahlen: Das nominale Einkommen hat sich in 7 Jahren um 25% verringert, und die Exporte sind heute, trotz der drastischen Lohnkürzungen, 12% niedriger als 2007. Die Sportstadien und anderen Einrichtungen, die im Rahmen einer gigantischen Geldverschleuderung 2004 für die Olympischen Spiele aufgebaut wurden, sind Ruinen, die den Zustand der Wirtschaft versinnbildlichen.
Doch die Krise, unter der Griechenland leidet, ist keine lokale, die durch die schlechte Geschäftsführung der verschiedenen Regierungen hervorgerufen worden wäre, sondern Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise, die einer seit 1967 andauernden Krise unterworfen ist – seit fast einem halben Jahrhundert! –, einer Krise, in der diejenige der Subprimes von 2007 nur ein weiteres Kettenglied war, mit der darauf folgenden großen Finanzpanik 2008 und der Rezession 2009, die man die „Große Rezession“ nannte.
Die durch die großen kapitalistischen Staaten ergriffenen Maßnahmen konnten die gefährlichsten Auswirkungen dieser Ereignisse eindämmen, aber sie griffen nicht das Grundproblem der allgemeinen Überproduktion auf, in dem der Kapitalismus seit fast einem Jahrhundert feststeckt. Die gefundene „Lösung“ – eine noch stärkere Überdosis an Verschuldung unter der direkten Verantwortung der Staaten – verschlimmert nur die Lage, auch wenn sie für einen Augenblick als Flicken dient.
Eine der Folgen ist: „Es waren jetzt ganze Staaten, die mit einem enormen Gewicht an Schuldenlasten konfrontiert waren, mit „Staatsschulden“, was ihre Interventionsfähigkeit, die eigenen nationalen Ökonomien mit Budgetdefiziten zu beleben, noch mehr schwächte.“[2] Dieser Zustand ist unhaltbar geworden „in denjenigen Ländern der Eurozone, deren Wirtschaft am zerbrechlichsten oder am meisten abhängig von den illusorischen Präventivmaßnahmen war, die zuvor ergriffen worden waren – den PIIGS (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien)“[3].
In Griechenland hat die Staatsverschuldung 180% des BIP erreicht, das Defizit des Staatshaushalts betrug 2013 12,7%, es handelt sich dabei um eine Last, welche die Wirtschaft in einen Teufelskreis stößt: Um wenigstens die Zinsen für die Schulden bezahlen zu können, müssen neue Schulden aufgenommen und im Gegenzug drakonische Sparmaßnahmen ergriffen werden, welche die Wirtschaft noch mehr hinunterziehen, was nach einer neue Dosis Verschuldung ruft mit weiteren Sparmaßnahmen.
Der Teufelskreis, in dem sich die griechische Wirtschaft dreht, zeigt den Teufelskreis auf, in dem der gesamte Weltkapitalismus steckt. „Dies bedeutet aber nicht, dass es zu einer vergleichbaren Situation wie 1929 oder in den 1930er Jahren kommt. Vor 70 Jahren war die Bourgeoisie angesichts des Kollapses ihrer Wirtschaft komplett überrumpelt, und die Politik, in die sich jeder Staat im Alleingang stürzte, führte nur zu einer Verschärfung der Krise. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 40 Jahre hat gezeigt, dass, auch wenn es unmöglich ist, die Talfahrt in die Krise zu vermeiden, die herrschende Klasse fähig geworden ist, diese Dynamik zu verlangsamen und ein Szenario der allgemeinen Panik wie am „Schwarzen Donnerstag“ des 24. Oktobers 1929 zu verhindern. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb wir nicht auf eine Situation wie in den 1930er Jahren zusteuern. Damals ging die Schockwelle von der stärksten Macht der Welt aus, den USA, und breitete sich danach auf die zweitgrößte aus, Deutschland.“ [4]
Im Gegensatz zu damals ist es der Bourgeoisie – durch die systematische Verstärkung des Staatskapitalismus – gelungen, die Weltwirtschaft so zu „organisieren“, dass die Auswirkungen der Krise mit viel größerer Gewalt auf die schwächsten Länder fallen, während sie in den stärkeren Ländern in geringerem Maße spürbar sind. Deutschland und die USA waren 1929 die Epizentren der Krise, wohingegen sie heute am besten wegkommen und ihre Stellung gegenüber den Rivalen haben verbessern können.
Diese Politik erlaubt es dem Kapitalismus als Ganzes dem Versinken in der Krise insofern zu widerstehen, als es ihm gelingt, sich auf die Verteidigung der neuralgischen Zentren zu konzentrieren. Sie ist auch ein Mittel zur Spaltung des Proletariats, denn „dieser wichtige Faktor bei der Entwicklung der Krise unterliegt keinem strikt ökonomischen Determinismus, sondern spielt sich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse ab - dem Kräfteverhältnis zwischen den zwei wichtigsten sozialen Klassen der Gesellschaft - zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.“ [5] Die Wirtschaft ist nicht einfach eine blinde Maschine, die von selbst läuft, die Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes spielen dabei eine Rolle. Indem es der Bourgeoisie gelingt, die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die schwächsten Länder abzuschieben, verschafft sie sich Mittel zur Spaltung des Proletariats.
Dieses politische Krisenmanagement führt dazu, dass die griechischen Arbeiter_innen die wirtschaftliche Lage nicht so sehr als Ausdruck der Sackgasse wahrnehmen, in welcher der Kapitalismus weltweit steckt, sondern als Folge des „Wohlstandes“ der Klassenbrüder und -schwestern in Deutschland. Umgekehrt erschwert es der scheinbar gute Zustand der deutschen Wirtschaft den Arbeiter_innen in diesem Land, den Ernst der Lage wahrzunehmen, und macht sie empfänglich für die „Erklärungen“, wonach ihre „privilegierten“ Bedingungen durch die „Faulheit und Verantwortungslosigkeit“ der griechischen Klassenbrüder und -schwestern in Frage gestellt würden, und ganz allgemein durch die Migrant_innen, die an die Türen klopfen.
Dieses „politische Krisenmanagement“ begünstigt die Sichtweise bei den Proletarier_innen jedes Landes, die Probleme, die eigentlich weltweit bestehen und nur eine weltweite Lösung finden könnten, als solche „ihres Landes“ zu sehen – mit einer „Lösung im eigenen Land“. In Griechenland hat die Arbeitslosigkeit, die untragbare Rate von 27% erreicht, die Zahl der öffentlichen Angestellten – die normalerweise eine Anstellung fürs Leben hatten – ist von 900‘000 auf 656‘000 verringert worden; ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, etwa 40‘000 Menschen haben die Städte verlassen und sind aufs Land geflohen auf der verzweifelten Suche nach einem Überleben als bäuerliche Selbstversorger. Der Mindestlohn in Griechenland ist in den letzten Jahren um 200 € geschrumpft, die Altersrenten verringern sich jedes Jahr um 5% … Diese Entwicklung, die ein extremer Ausdruck einer Situation ist, die sich in sehr verschiedenem Ausmaß in allen Ländern abspielt, erscheint als ein Phänomen, das auf Griechenland reduziert und durch die rein griechischen Probleme hervorgerufen worden sei. Sie erlaubt es der Bourgeoisie, einen dicken Rauchvorhang aufzuziehen und mit ihm das Verständnis für die allgemeinen Tendenzen, die den Kapitalismus auf der Welt beherrschen, zu vernebeln.
Syriza ist ein Produkt der Entwicklung des politischen Apparats des griechischen Staats und somit von allgemeinen Tendenzen, die sich in den zentralen Ländern des Kapitalismus bemerkbar machen. Wie der Marxismus tausendfach aufgezeigt hat, ist der Staat ein ausschließliches und ausschließendes Organ des Kapitals, auch in seiner demokratischen Form hört er nicht auf, die Diktatur der herrschenden Klasse über die ganze Gesellschaft zu sein, und insbesondere über das Proletariat. In der Niedergangsphase des Kapitalismus wird der Staat totalitär, was sich in einer Tendenz zur Einheitspartei ausdrückt. Doch in den demokratischeren Ländern, die sich mit einem hochentwickelten Wahl- und Abstimmungssystem ausgestattet haben, drückt sich diese Tendenz in dem aus, was man „Zweiparteien-System“ nennt. Zwei Parteien, die eine mehr nach rechts orientiert, die andere mehr nach links, wechseln sich bei der Führung der Regierungsgeschäfte ab. Dieses Schema hat seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa, Nordamerika etc. perfekt funktioniert.
Doch mit der ständigen Zuspitzung der Krise und dem Gewicht des Zerfalls ist es ziemlich abgenutzt worden. Denn einerseits hat das Ansehen der „partnerschaftlich rivalisierenden“ Parteien unter dem Krisenmanagement unweigerlich gelitten, da sie einmal an der Regierung Sparmaßnahmen ergriffen, die ihren früheren Versprechen, die sie als Oppositionspartei gemacht hatten, widersprachen; in der Opposition sagen sie, was sie nie tun, als Regierungspartei tun sie, was sie nie gesagt haben.
Und andererseits führte der Zerfall in den Reihen der beiden „großen Parteien“ zu einer zunehmenden Zersetzung und einer immer offener auftretenden Verantwortungslosigkeit, die ihren spektakulärsten Ausdruck in einer Korruption fand, die alle Rekorde schlägt und bei der jeder neue Fall die früheren übertrifft, was die Geldgier, den Zynismus und die Schamlosigkeit betrifft.
Die beiden traditionellen großen Parteien Griechenlands – die Nea Dimokratia auf der rechten Seite, die Pasok auf der linken – stellen gewissermaßen die Karikatur dieses Systems dar. Dazu gehört – Zeichen der Rückständigkeit des griechischen Kapitals –, dass diese beiden Parteien von Dynastien geführt werden, welche sich an den Spitzen seit 70 Jahren ablösen – die Familie Karamanlis auf der Rechten und der Papandreu-Clan zur Linken. Die Gelder, die von Europa aus nach Griechenland geflossen sind, waren Gegenstand von „transversaler Korruption“: ohne jede Scham haben sich die Politiker beider Parteien die Taschen mit den abgeschöpften Kommissionen gefüllt.
Woher kommt Syriza? Sie ist eine Koalition, die sich 2012 in eine Partei umgewandelt[6] und die ein Sammelbecken für Fraktionen des Stalinismus und der Sozialdemokratie zur Verfügung gestellt hat, welcher Eintopf mit trotzkistischen, maoistischen und grünen Gruppen gewürzt worden ist. Der Gründungskern war das Resultat einer wichtigen Abspaltung von der stalinistischen Partei KKE, die mit dem Zusammenbruch der UdSSR 1989 die alten Formeln vom „Realsozialismus“ gegen neue in „demokratischem“ Gewand eintauschte, die besser zu den neuen liberalen Kostümen des Staatskapitalismus passten. Genau Tsipras war eine jener Ratten, die Karriere in der entsprechenden Gewerkschaft gemacht hatten und dann das sinkende Schiff des Stalinismus verließen.
So gleicht also Syriza den üblichen Erneuerungsbemühugen im Zweiparteien-System des politischen Schemas - wie ein Ei dem andern. Solche Bemühungen haben wir schon in anderen Ländern gesehen, wie zum Beispiel in Italien, wo das alte Modell, das während 40 Jahren auf der Christdemokratie als faktischer Einheitspartei – mit der Unterstützung der Sozialdemokratie – beruht hatte, durch ein neues ersetzt wurde, das aus einer rechten Partei unter dem viel geschmähten Berlusconi und einem linken Flügel mit einer chaotischen Koalition besteht, deren Gerippe die alte Kommunistische Partei ist, die sich zur „Demokratischen Partei“ erneuert hat. Es ist überaus bezeichnend, dass sich Syriza als Koalitionspartner für die Regierungsbildung die Partei ANEL von der äußeren Rechten ausgesucht hat.
Dieser Partner von Syriza, ANEL, verteidigt gegenüber den Migrant_innen eine ganz ähnliche Politik wie diejenige der schändlichen Goldenen Morgenröte. Diese Politik des Fremdenhasses und der Verfolgung von Migrant_innen, die als Eindringlinge dargestellt werden, die den Griech_innen die Arbeit und die Sozialleistungen stehlen würden, verfolgt zwei Zwecke:
Einerseits soll gegenüber den Arbeiter_innen und anderen Teilen der Bevölkerung mit dieser niederträchtigen Ideologie ein Sündenbock vorgeführt werden – personifiziert in den Schwarzen, den Arabern, den Slawen, allen, die das Pech haben, nicht Hellenen zu sein. Doch andererseits zielt diese politische und wirtschaftliche Rechnung darauf ab, sich die Rolle des Bullen an den Pforten Europas durch die EU möglichst teuer bezahlen zu lassen, eine Rolle, die auch noch andere ähnlich gelegene Länder wie Italien und Spanien zu spielen haben gegenüber den verzweifelten Massen, die vor dem schlimmsten Elend und dem Krieg fliehen. In diesem Game, das die Gangster der EU spielen, weiß die neue griechische Regierung sehr gut, welchen Trumpf sie mit der harten Haltung gegenüber Migranten in der Hand hat.
Die Verteidigung der Nation ist die Wertegemeinschaft aller Parteien des Kapitals, in welcher Farbe sie sich immer zur Schau stellen mögen. Eines der unheimlichsten Argumente auf der Linie der nationalen Verteidigung ist dasjenige, das Syriza mit ANEL und der Goldenen Morgenröte teilt: „Griechenland für die Griechen“, der fanatische Anspruch, sich in einer angeblichen „nationalen Gemeinschaft“ einzuschließen, in der man anständig leben könne. Das ist eine reaktionäre Utopie, aber es ist insbesondere ein frontaler Angriff auf das Bewusstsein und die Solidarität der Arbeiter_innen, deren Macht genau darin besteht, eine Gemeinschaft zu bilden, in der Menschen aller Rassen, Religionen und Nationalitäten sich vermischen und vereinen.
Der Nationalismus und die Verteidigung des Interesses des griechischen Kapitals ist das echte Programm Syrizas. Das gegenüber der Bevölkerung zur Schau getragene Programm der Strukturreform war lediglich Wahlpropaganda, das je länger je wässriger wurde, je näher der Regierungsantritt rückte. Wir stoßen dabei auf die alten und verbrauchten Litaneien der kapitalistischen Linken. Eine verstaatlichte Bank, die Wiedererwägung und eventuelle Rückgängigmachung von gewissen Privatisierungen, ein Plan zur Beschäftigungsgarantie, einige Notmaßnahmen zur Abfederung von Situationen extremer Armut … und nicht viel mehr.
Diese Maßnahmen sind schon tausend Mal angewandt worden im Kapitalismus, und nie haben sie dazu beigetragen, die Lebensbedingungen der Arbeiter_innen zu verbessern. Der Kapitalismus, sogar auf seiner rechten Flanke, „vergesellschaftet die Bank“, wenn sie sich in Gefahr befindet. De Gaulle, Hitler, Franco, und weitere Figuren der extremen Rechten schufen mächtige Staatsbanken. Bush ergriff in der Krise 2007-2008 radikale staatliche Interventionen gegenüber gewissen Banken, was den mittlerweile verstorbenen venezolanischen Präsidenten Chavez im Delirium veranlasste, Bush als Genossen zu bezeichnen und mit Lenin zu vergleichen.
Was das Versprechen eines „Plans der garantierten Anstellung“ betrifft, das an Luft verlor, je mehr sich Syriza der Macht näherte (aus den ursprünglich 300‘000 versprochenen neuen Stellen, sind inzwischen 15‘000 geworden), können wir die Ernsthaftigkeit der neuen Regierung in ihrer Politik gegenüber den Staatsangestellten sehen: Das Programm der Bestandesaufnahme, das die frühere Regierung erstellt und das Lohneinbußen, die Versetzung auf schlechtere Stellen oder sogar in die „Arbeitsreserve“ vorgesehen hat, was nur eine versteckte Form der Kündigung ist, ist nicht etwa außer Kraft gesetzt worden, sondern soll „gewissenhaft umgesetzt“ werden, wie der neue zuständige Minister versichert und dabei zudem angekündigt hat, dass die Löhne im öffentlichen Dienst weiterhin eingefroren bleiben.
Hinsichtlich der Bezahlung der gewaltigen griechischen Schulden betreibt Syriza im Stile eines echten Pokerspielers eine Bluff-Strategie. Mit dem Ziel des Stimmenfangs begann sie mit ultra-radikalen Positionen. Aber schon während der Wahlkampagne dämpfte sie die Parolen langsam ab. Im dem Maße, wie der Wahlsieg wahrscheinlicher wurde, gab es neue Abstriche. Nun, wo die Herren an der Regierung sind, verwässern sie ihren Wein noch mehr, bis er keine Farbe mehr hat. So ging es zuerst um die totale Weigerung, die Schuld zu bezahlen, später sprachen sie von einem Schuldenerlass, noch später von einem teilweisen Erlass, und schließlich schlagen sie einen Umtausch der Schulden in Dauerschuldscheine und andere Instrumente der „Finanzingenieure“ vor, was ziemlich dem Brady-Plan ähnelt, den die US-amerikanische Regierung in den 1980er Jahren gegenüber der argentinischen Schulden umsetzte und der berüchtigt wurde wegen der grausamen Angriffe, die er für das Leben der Arbeiter_innen in diesem Land bedeutete.
Die Schwierigkeiten des Proletariats
Das Proletariat erleidet in der gegenwärtigen Situation einen Verlust an Klassenidentität, an Selbstvertrauen. Zu dieser tiefen Schwäche, die nicht einfach durch die Erfahrung einer neuen Kampfwelle aufgehoben werden könnte, kommt eine Reihe von politischen, ideologischen Angriffen des „Linkspopulismus“ hinzu, die das Werk der „Rechtspopulisten“ vervollständigen. Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Die Linke in Deutschland, die Linksfront in Frankreich etc. nutzen diese Schwäche unserer Klasse aus und sprechen systematisch vom „Volk“, den „Bürgern“, um schamlos die Nation zu verteidigen als „Gemeinschaft derer, die auf dem gleichen Boden geboren“ worden sind …
Mit dieser Propaganda nutzen sie nicht nur wie Aasgeier die Schwierigkeiten des Proletariats aus, sondern streuen auch noch Salz in seine Wunden, ziehen Schranken hoch, welche die Rückgewinnung der Klassenidentität, des Selbstvertrauens der Arbeiter_innen noch mehr erschweren. Die Aufgabe, die vor uns steht, ist die Entlarvung der Lügen dieser neuen antiproletarischen Apparate, indem wir die wirklichen Positionen unserer Klasse vertiefen.
G, 15.02.15
[1] SYRIZA ist die Abkürzung für „Koalition der Radikalen Linken“ auf Griechisch.
[2] Resolution zur internationalen Lage von unserem 20. internationalen Kongress (2013), Internationale Revue Nr. 51, https://de.internationalism.org/20-Kongress-der-IKS-Resolution-zur-inter... [26]
[3] A.a.O.
[4] A.a.O.
[5] A.a.O.
[6] Syriza in Griechenland oder PODEMOS in Spanien stellen sich als Protagonisten einer „neuen Politik“ dar, die ehrlich, den „Bürgern“ verpflichtet und weit entfernt von den Manövern und Schleichwegen des üblichen Polit-Establishments sein soll. Ein Beweis dafür, dass diese „guten Absichten“ ein Betrug sind, lieferte Syriza, als sie sich 2012 als Partei registrieren ließ, um von der Prämie von 50 zusätzlichen Abgeordneten profitieren zu können, die gemäß griechischem Wahlgesetz derjenigen Partei winkt, welche die Wahlen gewinnt – unter der Voraussetzung allerdings, dass es sich dabei nicht um eine Koalition handelt. Das ist ein schlagender Hinweis auf die moralische Haltung der Herren von Syriza.
Ein Text der ehemaligen Mitglieder der Sektion der IKS in der Türkei mit dem Titel „Unser Austritt aus der Internationalen Kommunistischen Strömung“ ist seit kurzem auf ihrer neuen Website https://palebluejadal.tumblr.com/ [30] veröffentlicht.
Die IKS bedauert, dass diese Genossen verfrüht ausgetreten sind und nicht auf unsere wiederholte Aufforderung ihre Kritiken in geduldiger Weise innerhalb der Organisation darzulegen eingegangen sind, so wie es der geschichtlichen Tradition der Kommunistischen Linken entspricht. Wir bedauern ebenfalls, dass diese Genossen unsere Einladung für den kommenden Internationalen Kongress der IKS – dem höchsten Organ unserer Organisation – abgelehnt haben, um dort den anderen Genossen ihre Kritiken zu präsentieren und zu versuchen sie davon zu überzeugen.
Wir müssen klar aussprechen, dass nebst der fehlenden Verantwortung für die politische Debatte innerhalb der Organisation und einem Austritt ohne genügende vorgängige Klärung, der jetzt veröffentlichte Text eine Menge von Darstellungen enthält, die den Eindrücken der anderen Mitglieder der IKS entgegengesetzt sind.
Die IKS wird in einigen Wochen detailliert auf diesen Text antworten.
Wir rufen die ehemaligen Mitglieder der Sektion in der Türkei erneut zu einer ernsthaften Debatte mit uns auf.
IKS
Am 12. und 19. April kenterten im Mittelmeer zwei überladene Boote mit Flüchtlingen, welche versuchten, ihrer Lebensmisere zu entfliehen, und nahezu 1’200 Menschen ertranken. Solche Tragödien wiederholen sich seit Jahrzehnten: In den 1990er Jahren war die gut bewachte Straße von Gibraltar das Grab für viele Flüchtlinge. Seit dem Jahr 2000 sind 22’000 Menschen beim Versuch, Europa über das Meer zu erreichen, verschollen. Seit dem Drama von Lampedusa im Jahr 2013, wo 500 Menschen umkamen, sind die Zahl der Flüchtlinge und die fatalen Folgen dieses Stroms stetig angeschwollen. Mit 22’000 Überquerungen und 3500 Toten hatte das Jahr 2014 alle Rekorde übertroffen. In den ersten vier Monaten des laufenden Jahres 2015 forderte das Meer bereits das Leben von 1800 Flüchtlingen (alles gemäß offiziellen Zahlen).
In den letzten Jahren konnte man eine Art Industrialisierung des menschlichen Flüchtlingsstroms beobachten. Die Erzählungen der Geflüchteten zeichnen ein Bild von zahlreichen Flüchtlingslagern, von Menschen, die Kriegsgebiete durchqueren müssen, von Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sklaverei. Die Brutalität und der Zynismus der Menschenschmuggler scheint keine Grenzen zu haben. Die Flüchtlinge haben keine Wahl, als all dies über sich ergehen zu lassen, um dann in Europa weiter gedemütigt zu werden und als „Bürde“ gestempelt zu sein – so ein verächtlicher Ausdruck des Chefs der Operation Triton, welche angeblich dazu dient, die Flüchtlinge auf hoher See zu „retten“.
Wenn Menschen es auf sich nehmen, durch eine solche Hölle zu gehen, dann nur, weil sie vor noch Schlimmerem flüchten. Die Gründe für die anwachsende Flüchtlingswelle liegen in den unerträglichen Lebensbedingungen in immer mehr Gebieten der Welt. Diese Bedingungen sind nicht neu, doch sie verschlimmern sich stetig. Hunger und Krankheiten und vor allem eine Gesellschaft, die in sich verfault, treibt die Menschen in die Flucht: der zunehmende Zerfall in Afrika und im Nahen Osten mit seinen endlosen Konflikten, die permanente Unsicherheit, die Herrschaft von bewaffneten Banden, Erpressung, Massenarbeitslosigkeit.
Die Großmächte, getrieben von der Logik eines zunehmend irrationalen und mörderischen Kapitalismus, in welchem sie ihre imperialistischen Interessen mit schmutzigsten Methoden verteidigen, tragen eine Hauptverantwortung für die verheerende Situation in vielen Teilen der Erde. Das Chaos in Libyen ist eine Karikatur davon: westliche Bomben haben einen Tyrannen durch ein Regime von gesetzlosen Milizen ersetzt. Dies zeigt genau die Perspektive, die der Kapitalismus der Menschheit zu bieten hat, wenn durch das Auseinanderbrechen des Landes der Boden geschaffen wird für das Wuchern von skrupellosen Menschenschmugglerbanden, welche oft verbündet sind mit imperialistischen Akteuren: mit mafiösen Cliquen, Jihadisten und sogar selbsternannten Regimen, die alle gegeneinander kämpfen.
In der Phase der Dekadenz des Kapitalismus sind die Großmächte Festungen gegen die Migranten geworden
So wie das Überqueren des Mittelmeers ist die Entwurzelung in die Geschichte der Arbeiterklasse geschrieben. Seit Beginn des Kapitalismus wurden Teile der im Mittelalter gewachsenen ländlichen Bevölkerung von ihrem Land getrennt, sie sollten die erste Quelle der menschlichen Arbeitskraft für den Produktionsprozess in den Manufakturen bilden. Sie waren oft Opfer von brutalen Enteignungen, diese Unterklassen des feudalen Systems, zu zahlreich, um vom entstehenden Kapitalismus aufgenommen zu werden, und sie wurden wie Kriminelle behandelt: „Die Gesetzgebung behandelte sie als „freiwillige“ Verbrecher und unterstellte, dass es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten“ (Marx, Das Kapital, Bd. 1, 24. Kapitel, 3. Abschnitt). Mit der Entwicklung des Kapitalismus erzeugte der wachsende Bedarf an Arbeitskräften zahlreiche Wellen der Migration. Im 19. Jahrhundert, als der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase war, gingen Millionen von Migranten den Weg in die Ferne, um dort die Fabriken zu füllen. Mit dem historischen Niedergang des Systems, der durch den Ersten Weltkrieg seinen ersten Ausdruck fand, wurde die Verschiebung von Menschen nicht gestoppt, sondern nahm eher noch zu. Imperialistische Kriege, Wirtschaftskrisen, Klimakatastrophen – es gibt zahlreiche Gründe für den Versuch, der Hölle zu entfliehen.
Dabei sind die Migrant_innen in der Gegenwart, wo die permanente Krise des kapitalistischen Systems vorherrscht, ständig mit dem Problem konfrontiert, dass das Kapital nicht mehr so viel zusätzliche Arbeitskraft braucht. Gleichzeitig gibt es eine lange Reihe von Hindernissen, welche die Regierungen aufstellen mit ihren Gesetzen und ihrer Polizei, und diese Hindernisse haben über Jahre nach und nach zugenommen: limitiertes Bleiberecht, Abschiebung, öffentliche und private Belästigungen, Verfolgung durch die Polizei, Luft- und Seepatrouillen an den Grenzen und auch Internierungslager. Diese Hindernisse verfolgen ein klares Ziel: Die Immigrant_innen davon abzuhalten, in die 'meistentwickelten' bzw. 'bessergestellten' Länder zu gelangen. Es gibt dazu auch Vergleiche in der Geschichte: Vor dem Ersten Weltkrieg, als die USA bestrebt waren, ihre Produktivität zu vergrößern, waren sie als Einwanderungsland trotz strengen Einreisekontrollen das Symbol der Verheißung und des Asyls. Heute ist die Grenze zu Mexiko durch einen gigantischen Wall beschützt. Auch das demokratische Europa entkommt dieser gegenwärtigen Dynamik keineswegs. In den 1980er Jahren hatte das für seine Demokratien gerühmte Europa begonnen, eine Kriegsflotte im Mittelmeer aufzubauen. Dabei wurde ohne weiteres mit dem sogenannten "Revolutionsführer" Muammar Gaddafi kollaboriert. Auch seine Verbündeten: "Seine Majestät" der König von Marokko oder der "Präsident auf Lebzeiten", der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika, waren an dieser Kollaboration beteiligt. Diese Zusammenarbeit verfolgte das klare Ziel, die Flüchtlinge in die Wüste zurückzuschicken. Während die europäische Bourgeoisie triumphierend den 'Eisernen Vorhang' niederriss, errichtete sie an verschiedenen Orten neue unbezwingbare Mauern. Auch die Heuchelei rund um den freien Personenverkehr kann in diesem Kontext gesehen werden. Diejenigen, die den Grenzübertritt überleben, werden von Polizeikontrollen und Erniedrigungen empfangen und in abscheuliche Internierungslager gesteckt. Hinter den ab und zu vergossenen Krokodilstränen steckt ein grenzenloser Zynismus – vergleichbar mit dem der Schlepper.
Im Mittelmeer kentern überfüllte Boote, und dabei ertrinken Hunderte Passagiere. Diese Situation dauert schon Jahre – nicht erst seit dem April 2015. Man fragt sich: Warum dieser Medienrummel in diesem Moment?
Es passt zur Logik der 'ideologischen Vergiftung', zu welcher jede Fraktion der Bourgeoisie aufruft. Während die Staaten in wahrhafte Festungen umgebaut werden, wird eine abscheuliche ausländerfeindliche Ideologie verbreitet. Dabei werden die "Ausländer" für die Auswirkungen der Krise verantwortlich gemacht und als kriminelle Banden dargestellt, welche die öffentliche Ordnung untergraben. Die oft sehr hysterisch und populistisch geführten Kampagnen versuchen, das Proletariat zu spalten. Dies mit dem Ziel, dass sich die Arbeiterklasse mit der eigenen Nation und im speziellen mit ihrer herrschenden Klasse identifiziert. Solche Kampagnen bauen auf der entschlossen verteidigten Idee auf, dass die Teilung der Menschheit in Nationen etwas "normales", "natürliches" und "angeborenes" sei. Der heuchlerische Versuch, zwischen „guten“ und „schlechten“ Ausländern zu unterscheiden, ist Teil dieser Logik: Die als „gut“ Beurteilten sind brauchbar für die nationale Ökonomie, die als „schlecht“ Verurteilten haben mit dieser Bürde als Stigmatisierte zu leben.
Man sieht an den Solidaritätsbekundungen von Arbeiter_innen in Italien für die Migrant_innen, welche die Küste von Sizilien erreicht haben, dass ein großer Teil des Proletariats empört ist über das Schicksal, in das die Bourgeoise die Immigrant_innen stößt. Wer aber könnte diese berechtigte Reaktion besser kanalisieren und in Sackgassen lenken als die anerkannten Experten für solche Angelegenheiten: der linke Teil des bürgerlichen Apparats? Diese so genannten "Freunde der Bevölkerung" verhindern die wirkliche Empörung und schieben die Arbeiter_innen in die Krallen des kapitalistischen Staates. Die Nicht-Regierungs-Organisationen, sogenannte NGOs, arbeiten einmal mehr als Zudiener des Imperialismus. Die NGOs haben energisch militärische Antworten gefordert - und dies im Namen der Menschenrechte. Nach den "humanitären Kriegen" in Afrika (Libyen, Mali etc.) haben wir nun die "Grenzkontrollen im Namen der Wohltätigkeit"! Welche abscheuliche Heuchelei. In Frankreich hat die trotzkistische Gruppe 'Lutte Ourvrière' diesen Ansatz in einem Artikel sehr gut zum Ausdruck gebracht: "Das kapitalistische Europa treibt die Immigranten in den Tod"1: „Durch die Reduzierung der Anzahl der Patrouillenboote und der Regelmäßigkeit der Fahrten haben die Regierungen der EU die Entscheidung getroffen, die „Überquerenden“ sich selbst zu überlassen. Das ist die Politik der ‚Unterlassung der Hilfeleistung für Menschen in Gefahr’. Achtzehn Kriegsschiffe und zwei Helikopter wurden zum Schauplatz des Dramas geschickt, zu spät und erst nach dem Ertrinken. All das erhöht die Schmach der selbsternannten Retter.“ Mit anderen Worten, die bourgeoise Partei, die sich selbst marxistisch nennt, ruft nach mehr Kriegsschiffen, um die Immigrant_innen zu „retten“. Dafür instrumentalisiert die Bourgeoisie ihre Hekatombe (Opferstätte), um ihre eigene Vorstellung der Repression gegen die Migrant_innen zu bekräftigen, und sie verschafft sich die Mittel, die für die Einheit Frontex verwendet werden. Diese Truppeneinheit leitet die Koordination des Grenzschutzes der Staaten Europas gegen die Migrant_innen und die Operationen auf dem Territorium: Patrouillen, Razzien im großen Stil, Durchsuchungen, Verhaftungen, Fichierung. Es scheint, dass die Bourgeoisie alles organisiert hat, um den Migrant_innen zu „helfen“. Luftangriffe in Libyen sind dabei auch vorgesehen! Hinter all dem versucht die Bourgeoisie, eine bedrohliche Atmosphäre zu schüren, in der es möglich ist, die polizeiliche Repression gegen die Arbeiterklasse einzusetzen.
Truth Martine, 5.5.15
1 Lutte Ouvrière 2438, Wochenzeitung, 24.4.15, Editorial
„Syrien erlebt täglich neue Massaker. Das Land ist nur eine weitere Bühne des imperialistischen Krieges in Nahost. Nach Palästina, Irak, Afghanistan und Libyen ist nun Syrien an der Reihe. Leider stellt sich in dieser Situation eine sehr beunruhigende Frage: Was wird demnächst geschehen? Der Nahe Osten scheint sich am Rande eines Flächenbrandes zu befinden, dessen Ende kaum absehbar ist. Hinter dem Krieg in Syrien steht der Iran im Fokus der imperialistischen Ängste und des imperialistischen Heißhungers, doch alle großen imperialistischen Banditen sind bereit, ihre Interessen in der Region zu verteidigen. Dies ist eine Weltregion im Kriegszustand – es droht ein Krieg, der irrationale und vernichtende Konsequenzen für das gesamte kapitalistische System haben könnte.“ So begann der Artikel „Die Gefahr einer imperialistischen Katastrophe in Nahost“ in der Internationalen Revue Nr. 149 (engl., franz., span. Ausgabe), der fast auf den Tag genau vor drei Jahren geschrieben worden war. Seither haben sich die Militarisierung und der Zerfall des Nahen Osten noch weiter verschärft, und die Gefahr eines allgemeinen Flächenbrandes ist größer denn je.
Wir befinden es mittlerweile im fünften Jahr eines imperialistischen Krieges in Syrien, in dem die Großmächte Amerikas, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands gemeinsam mit Regionalmächten wie den Iran, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel, etc. verstrickt sind. Statt dass sich irgendein Ende andeutet, verschärft sich dieser Konflikt. Krieg und Instabilität verbreiten sich immer weiter und tiefer, und ein besonders markanter Ausdruck der kapitalistischen Irrationalität und des Zerfalls, der Islamische Staat und sein Kalifat, wird sogar noch stärker. Gerade einmal ein paar Hundert seiner Kämpfer haben Tausende von irakischen Soldaten und schiitischen Milizen dabei aufgehalten, die irakische Stadt Tikrit – die laut des Pentagons am 14. April noch „umkämpft“ (The Guardian, 15.4.15) war – zurückzuerobern; im irakischen Mossul und im syrischen Rakka wird der IS noch stärker, zudem breitet er sich auf weitere Gebiete aus. Ende März nahmen die dschihadistischen Kräfte von al-Nusra Syriens zweite Provinzhauptstadt, Idlib, ein, nur ein paar Tage nachdem al-Nusra mit der Hilfe israelischen Militärinterventionen, die den Dschihadisten de facto in die Hände spielen, die antike römisch-arabische Kapitale Bosra al-Sham im Daraa-Distrikt eingenommen hatte. In einigen Fällen haben al-Nusra und der IS miteinander kooperiert, doch solche Kooperationen sind angesichts des allgemeinen Misstrauens und des Konfliktes „jeder gegen jeden“ zerbrechlich. Ähnliche Ausdrücke haben sich im riesigen palästinensischen Flüchtlingslager von Jarmuk am Rande Damaskus‘ manifestiert, als al-Nusra den Weg für den Vormarsch des mörderischen IS in diese Enklave ebnete, deren Bewohner bereits das Opfer einer zweijährigen Belagerung und des Hungers waren und die ihrerseits einen Mikrokosmos des allgemeinen Verfalls darstellt. In Jarmuk zeigten sich starke Gegentendenzen zu jeglicher dschihadistischen Kooperation. Diese Allianzen innerhalb der vielen sunnitischen Fraktionen sind selbst sehr anfällig und mit vielen Fraktionen belastet, die ihre eigenen Rivalen oft mehr hassen als die Schiiten. In Jarmuk bricht gerade ein Drei- oder Vierfrontenkrieg aus. Der IS hat sich unter dem militärischen Druck von al-Nusra ein Stück weit zurückgezogen; palästinensische Pro-Assad-Kräfte sind genauso verwickelt wie die gegen die Regierung eingestellte sunnitische Dschihadisten-Gruppe von Aknaf Beit al-Maqdes (der Mudjahedin Shura-Rat in der Umgebung von Jerusalem – auch auf der Sinai-Halbinsel aktiv), die sowohl vom IS als auch von al-Nusra gehasst wird. Die ersten Scharmützel sind bereits ausgebrochen. Die giftige Atmosphäre der kapitalistischen Desintegration durchdringt mit den vielfältigen religiösen Fraktionen und ihren Abspaltungen die Gesellschaft und generiert Hass, Misstrauen und Pogrommentalität.
Der IS hat sich trotz der Intervention des ägyptischen Militärregimes auch in Nordafrika ausgebreitet, in den von den USA, Großbritannien und Frankreich destabilisierten Weiten Libyens und auf dem noch immer instabilen Sinai. All dies bedeutet, dass es infolgedessen weitere mögliche terroristische Anschläge in Europa und darüber hinaus geben wird – eine Frage, zu der wir später zurückkehren werden. Mittlerweile reicht diese Flut des Zerfalls, angefeuert von der Instabilität und den Waffen Libyens, der massiven Arbeitslosigkeit in der gesamten Region und der irrationalen religiösen Ideologie, die inmitten eines allgemeinen Zusammenbruchs der kapitalistischen Gesellschaft um sich greift, bis zu den mit al-Qaida verknüpften Gruppen Ost- und Westafrikas, Boko Haram in Nigeria und al-Shabab in Kenia, die Krieg und Terror sowohl inner- wie außerhalb der Grenzen ihrer Länder verbreiten. Die betroffenen Länder hier sind Somalia, Südsudan (wo chinesische Soldaten anwesend sind), Kamerun – deren von den Israelis ausgebildeten schnellen Interventionskräfte zurückschlagen – und der Tschad, dessen Antiterror-Spezialkräfte mit britischen Ausbildern und französischen Spezialisten zusammenarbeiten. Die Kräfte des französischen Imperialismus sind schon vor und erst recht nach den Pariser Anschlägen verstärkt worden; Anschläge, die von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) angezettelt wurden.
Jetzt schon bedeutet der Aufstieg des Dschihadismus eine beispiellose Spirale der Gewalt und Zerstörung in Nahost und Afrika. Um zum Beispiel die syrische Grenzstadt Kobane dem IS zu entreißen, wo die Kämpfe bis heute in den Dörfern der Umgebung fortdauern, mussten der Westen und seine kurdischen Kämpfer die Stadt dem Erdboden gleichmachen, und dasselbe scheint auch im irakischen Tikrit zu geschehen: Der verbrannten Erde und dem Terror des IS begegnet der Westen und seine Verbündeten mit… verbrannter Erde und Terror, und dies wird immer mehr zum Leitthema in dieser ganzen Kette von Kriegen. Die Verwüstungen in der Region sind nahezu unermesslich. Während die heuchlerischen Demokraten Großbritanniens, der USA und Frankreichs wie auch die UN-Räuberhöhle die Zerstörung antiken Kulturstätten durch den IS anprangern, sind ihre eigenen Militärjets oder jene ihrer „Verbündeten“ kaum weniger zerstörerisch. All diese Verwüstungen in Nahost und Afrika, der Zusammenbruch oder die Errichtung festungsähnlicher Grenzen, das Elend der gigantischen Zahlen von Flüchtlingen und entwurzelten Familien, die damit einhergehen, sind zu groß, um hier eingehend behandelt zu werden. Doch so grauenvoll sie sind, wir werden auch auf diese Frage in Zukunft zurückkehren müssen. Trotz der Luftschläge gegen ihn ist der IS wegen der Art und Weise seiner Kampfführung eine beeindruckende Kraft und bleibt eine wachsende Bedrohung. Der sachkundige Patrick Cockburn schrieb am 20.2.2015 in The Independent: „Der Islamische Staat ist ganz und gar nicht dabei, etwa aufgrund der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung innerhalb seiner Grenzen zu implodieren. Seine Feinde mögen seine Ambitionen, ein realer Staat zu sein, verspotten, aber in puncto seiner Fähigkeit, Truppen auszuheben, Steuern einzutreiben und seine brutale Variante des Islam durchzusetzen, ist er stärker als viele seiner Nachbarn in der Region.“
Das Beispiel von Tikrit zeigt, wie schwierig es sein wird, den IS zu vertreiben, ganz zu schweigen davon, ihn zu besiegen. Hier hielten gerade einmal ein paar Hundert Dschihadisten einem koordinierten Angriff irakischer Spezialkräfte und schiitischer Milizen wochenlang stand, und auch wenn Bagdad behauptet, es hätte Tikrit eingenommen (The Guardian, 1.4.15), kontrolliert der IS noch immer Teile der Stadt so wie auch die Provinzen von Anbar und Nineveh. Der Angriff scheint einige Verwicklungen zwischen der irakischen Regierung, den USA und den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen verursacht zu haben, mit dem Ergebnis, dass die US-Luftschläge gesteigert und die iranischen Kräfte de facto unterstützt wurden.1 Und genau dieses Verhältnis zwischen Amerika und dem Iran sorgt dafür, dass die amerikanischen Verbündeten, die sich nach dem Zusammenbruch des alten Blocksystems des Kalten Krieges und mit dem Aufkommen der Tendenzen des Jeder-für-sich ohnehin mit den USA zerstritten haben, äußerst konsterniert und alarmiert sind – nicht zuletzt in Israel und Saudi-Arabien.
Es hat faktisch bereits einige Elemente einer Annäherung zwischen den beiden im Krieg gegen den IS sowohl im Irak als auch in Syrien gegeben. Der Aufstieg des IS hat die Kriegsmaschinerie der USA in ein noch größeres Dilemma gestürzt. Würde das Assad-Regime geschlagen werden, wäre für den IS das Tor nach Damaskus offen. Dies wurde erst kürzlich ausdrücklich von CIA-Direktor John Brennan anerkannt, als er sagte, er wolle keinen Zusammenbruch des Assad-Regimes (Middle East Eye, 14.3.15), Worte, die einige Tage später bei US-Außenminister Kerry anlässlich der Atomverhandlungen mit iranischen Offiziellen auf Widerhall stießen. Die Spannungen zwischen den USA und Israel, insbesondere der Netanjahu-Clique, die schon seit geraumer Zeit wegen des immer noch ruinierten Gazastreifens und des zunehmenden Siedlungsbaus schwelen, sind öffentlich übergekocht und haben ähnliche Ausmaße erreicht wie 1992, als Präsident Bush mit Präsident Yitzhak Shamir einen Streit wegen des Siedlungsbaus vom Zaun brach. Doch die gegenwärtige Lage scheint weitaus ernster zu sein, fühlen sich die Israelis doch hintergangen und verletzlich infolge dessen, was einige israelische Politiker „Schwerpunktverlagerung nach Persien“ nannten (nach Obamas so genannter „Schwerpunktverlagerung nach Asien“). Assad oder IS, Israel oder Iran, Pest oder Cholera, dies ist das unlösbare Dilemma, mit dem es die US-Außenpolitik zu tun hat, deren Sackgasse im Grunde die Sackgasse des gesamten globalen Netzwerkes der imperialistischen Bündnisse und Rivalitäten ist.
Wenn die Israelis über eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und dem Iran besorgt sind, Beziehungen, die faktisch bereits in den späten 1970er Jahren existierten, als der Schah von Persien der Hilfspolizist der USA und Großbritanniens in der Region war, dann gilt dies auch für die Saudis, deren Besorgnisse ein Hauptantrieb für ihr gegenwärtiges Abenteuer im Jemen sind. Die iranische islamische „Revolution“ 1979, die den Schah absetzte, war mit ihren „Appellen an die Unterdrückten“ - eine Waffe des iranischen Imperialismus, um einen Vorteil gegenüber seinen lokalen Rivalen zu erlangen - eine Bedrohung für Saudi-Arabien. Von da an fiel der Iran aus der Gunst des Westens, und unabhängig davon, aber zur gleichen Zeit förderte das saudische Regime einen kompromisslosen wahhabitischen Islam, um extrem anti-schiitische Ressentiments zu schüren2. Besorgt über eine mögliche iranische Nuklearkapazität, hat das saudische Fürstenhaus seine eigenen nuklearen Ansprüche deutlich gemacht, und es scheint aus Gesprächen, die bereits stattgefunden hatten, hervorzugehen, dass Pakistan bereit wäre, Saudi-Arabien mit Nuklearkapazitäten auszustatten (The Guardian, 11.5.10: „Die pakistanische Bombe und Saudi-Arabien“). Der Nahe Osten plus ein nukleares Wettrüsten! Dies ist jetzt sehr wohl möglich.
Ein anderer Faktor in einer US-iranischen „Achse“ – und wir sind immer noch um einiges davon entfernt, auch wenn es ein Abkommen über Irans Atomprogramm gibt – ist, dass Russland, Irans Hauptverbündeter wie auch Assads Unterstützer, einen ernsten Rückschlag erleiden würde. Es würde weiter aus seiner globalen Präsenz herausgedrängt werden, umzingelt und eingezwängt in seine Kerngebiete, was Europa zu einem noch gefährlicheren Platz machen würde angesichts der steigenden Gefahr durch den russischen Imperialismus, der längerfristig auszubrechen versuchen wird.
Selbst für die Verhältnisse in Nahost, seine Irrationalität, die mutwillige Zerstörung, für die ständigen, sich zuspitzenden imperialistischen Machenschaften und Kriege wird mit dem saudischen Angriff auf den Jemen ein neuer Grad an surrealer Absurdität erreicht: Die Saudis führen eine sunnitisch-islamische Koalition von zehn Nationen in einem Angriff gegen den Jemen an, einschließlich der nicht-arabischen Atommacht Pakistan. Lokale Gangster wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait und Katar sind beteiligt, aber auch der ägyptische Diktator al-Sisi und die völkermörderische Clique von Sudans al-Bashir. All diese Despoten werden von den USA und Großbritannien gestützt, die der Koalition „logistische und geheimdienstliche“ Unterstützung angeboten haben. Die Stärke dieser Koalition ist unklar, wenn man bedenkt, dass der Oman sich geweigert hat, sich ihnen anzuschließen, Katar schwankt und Pakistan die Koalition schnell wieder verlassen hat.
Die Lage im Jemen ist weitaus komplexer, als auf dem ersten Blick anmutet. Es geht nicht nur darum, dass eine Koalition von Sunniten einen schiitischen Verbündeten des Irans angreift – schwerwiegend genug, aber es reicht noch darüber hinaus. Dieses Land ist angesichts seiner Lage ein weiteres Afghanistan, wie britische, französische und andere imperialistische Mächte zu ihrem Leidwesen in der Vergangenheit erfahren mussten. Jemen ist das ärmste Land in der arabischen Welt. Es gibt geschätzte zehn Millionen Kinder, die sich am Rande einer Unterernährung befinden; die Korruption wuchert wild. Dieses Land, das keine ernsthafte ethnische Zwietracht in seiner Geschichte gekannt hat, wird in den letzten Jahren von Imperialismus und Krieg bis aufs Mark zerfressen; und ein Ende ist nicht in Sicht. Im letzten September nannte US-Präsident Obama den Einsatz von US-Drohnen im Jemen eine „Erfolgsgeschichte“, gar ein „Modell“.3 Der Jemen und sein leidgeprüftes Volk sind im Begriff, eine neue Runde von Spannungen und Zerstörungen zu erleiden, die nach aller Wahrscheinlichkeit lediglich die Stellung von al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel und den IS stärken werden. Obwohl diese beiden Gruppierungen anderswo koexistierten oder zusammenarbeiteten, ist dieses Einvernehmen äußerst anfällig; im Jemen gehen sich im Moment die Huthis, die AQAP, der IS und das von den Saudis gestützte Rumpfregime gegenseitig an die Kehle. Das Jeder-für-sich-selbst erreicht hier neue Dimensionen, wenn selbst die dschihadistischen „Terroristen“, gelegentlich von einigen Staaten gestützt, sich gegenseitig bekämpfen – und es gibt (und gab) ähnliche Geschehnisse auch in Syrien.
Die Huthi-Rebellen, die nun so stark im Jemen geworden sind, stammen von der Zaidi-Sekte ab – ein obskurer Zweig des schiitischen Islam aus dem al-Huthi-Clan im Norden des Landes, wo dieses Volk seit Jahrtausenden lebt. Die Sekte wurde Anfang der 1990er Jahre als eine, den Berichten zufolge, friedliche Erweckungsbewegung in die Welt gesetzt, die sich „Gläubige Jugend“ nannte. Wie so viele andere radikalisierte sie sich durch die vom Westen angeführte Invasion des Irak 2003. Die Iraner nannten dies die „Ansarullah“-Revolution und haben ihr sicherlich einigen Beistand geleistet, doch insgesamt gesehen war ihre Hilfe nur von geringem Umfang; die Huthis sind keine simplen Schachfiguren Teherans. Es gibt hier langjährige Verbindungen zwischen den Schiiten und dem Iran sowie zwischen den Saudis und den Sunniten, doch erst kürzlich, mit dem Verrotten der gesellschaftlichen Bande und dem allgemeinen Zusammenbruch durch den kapitalistischen Zerfall, fielen diese Spaltungen und ihre staatlichen Manipulationen zusammen.
Die Huthis haben zuvor die Regierungskräfte des von den USA und Saudi-Arabien gestützten Präsidenten Saleh genauso wie die AQAP bekämpft. 2012 trat Präsident Saleh zurück, und nun unterstützten er, sein Sohn und hunderttausend Soldaten von ihm den Vormarsch der Huthis, ein Vormarsch, der auch durch die Verzweiflung und das Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen erleichtert worden war. Der erst neulich installierte jemenitische Präsident Hadi, der von den Saudis und vom Westen gestützt wurde, floh vor dem Huthi-Vormarsch, der sich in Richtung Aden bewegte, wo einige ihm günstig gestimmte Kräfte geblieben waren. Es wird berichtet, dass er sich in Riad aufhält. Hadis besondere Beziehung zu den Sunniten ist in Saudi-Arabien ungesetzlich, was eine weitere Wendung in dieser Geschichte ist. Botschaften wurden geschlossen, und auch US-Soldaten flohen vor den vorrückenden Huthis, die, wie berichtet wurde, zudem Militärgeräte der USA im Wert von einer halben Milliarde Dollar erbeuteten. Ein weiterer Faktor des Jeder-für-sich-selbst hier ist, dass das Bündnis des Ex-Präsidenten Saleh mit den Huthis bestenfalls wacklig ist; einige seiner Soldaten wurden abtrünnig und liefen zu den Saudis über, um den Luftangriffen auf ihre Quartiere zu entkommen. Dies deutet die Möglichkeit an, dass sich seine Armee gegen die Huthis wendet und zu den Saudis und seinen früheren westlichen Unterstützern überläuft.
Einige Journalisten,4 die über den Nahen Osten schrieben, haben die Komplexität wie auch die Gefahren eines sich entfaltenden Krieges im Jemen bemerkt. Sie nennen es „vielschichtig“, was eine angemessene Beschreibung des Zusammenbruchs ist. Da gibt es die Huthis, die nun aufgerüstet werden, nicht dank der Liebenswürdigkeit der Iraner, sondern jener der USA; die AQAP – deren Filiale hier seit fünfzehn Jahren von tödlicher Effektivität gegen westliche und lokale Ziele war; der IS, der letztes Jahr die Eröffnung seiner jemenitischen Niederlassung verkündete und hinter dem Bombenanschlag am 21. März gegen eine Moschee steckte, der über einhundert schiitische Huthis tötete; das niedergehende Rumpfregime der von den Saudis gestützten sunnitischen Kräfte und eine westliche Seeküste, die teilweise von Piraten und Warlords dominiert wird. Und in dieses Inferno hinein will Saudi-Arabien bombardieren und eine Invasionsstreitmacht entsenden! Saudi-Arabien mobilisiert offensichtlich 150.000 Soldaten und Artillerie, um den Jemen anzugreifen. Die militärischen, ökonomischen und geostrategischen Dimensionen des Konflikts im Jemen, mit dem Roten Meer und dem Suezkanal an dem einen Ende und dem Golf von Aden am anderen, woran sich die jemenitische Meerenge von Bab-el-Mandeb anschließt, sind denselben Journalisten durchaus nicht entgangen; ein weiterer Grund, warum der Jemen solch eine wichtige Bühne für die imperialistischen Spiele ist. Saudische Militärjets haben nun begonnen, den Jemen zu bombardieren, wobei sie unvermeidlich Flüchtlingslager und zivile Bereiche in Mitleidenschaft ziehen. Die Saudis sind auch besorgt wegen ihrer eigenen Bevölkerung und der Stabilität ihres eigenen Landes, da die Krise sich überall verschärft; fast die Hälfte der saudischen Armee setzt sich laut Berichten aus Angehörigen jemenitischer Stämme zusammen.
Die von den Saudis geplante Invasion des Jemen erinnert an ihre Invasion des Bahrain 2011 während des „Arabischen Frühlings“ und unterscheidet sich gleichzeitig von ihr. Die Repression der Proteste durch die von den Saudis gestützte Regierung hatte die Unterstützung des Westens, bis hin zu gepanzerten Fahrzeugen aus Großbritannien. Wie die Israelis werden die Saudis alarmiert sein über die Stärkung des Iran im Irak und die notwendige Kooperation mit den USA. Die Saudis haben ihre jemenitischen Kriegspläne „Operation entscheidender Sturm“ genannt und sich dabei an die „Operation Wüstensturm“ der USA im Irak 1991 angelehnt, die unter anderem das Massaker an irakischen Wehrpflichtige und Zivilisten beim berüchtigten „Truthahnschießen“ (Turkey shoot) auf der Straße nach Basra umfasste. Im Jemen sind nun bereits Zivilisten bombardiert worden, so wie sie schon seit einiger Zeit von der einen oder anderen Fraktion bombardiert worden waren. Der Iran wird nicht glücklich sein über den Zug Saudi-Arabiens und wird sich der von Wikileak ans Tageslicht gebrachten saudischen Bitte an die Amerikaner gewahr sein, „der Schlange den Kopf abzuschneiden“ (Reuters, 29.11.10). Ob es eine amerikanisch-iranische Annäherung gibt oder nicht, die Spannungen und Kriege werden sich in dieser Region verschärfen. Dies ist die Zukunft, die der Kapitalismus dieser Region und letztendlich der gesamten Welt verheißt.
Boxer, 15.4.15
1 Man kann nicht viel von diesem Kram über „Argumente“, etc. glauben, besteht doch ihr Zweck darin, in die Irre zu führen, Maskirowka, d.h. bewusstes Lügen aus strategischen Gründen. Anfang des Jahres gab der Admiral des US-Flugzeugträgers George W. Bush, verantwortlich für die US-Luftschläge gegen den IS im amerikanischen Fernsehsender Channel 4 News zur Überraschung des Interviewers offen zu, seine Aktionen mit dem iranischen Oberkommando zu koordinieren. Es herrsche, sagte er, „ein professionelles Verhältnis“. Später stritt er seinen Kommentar ab.
2 In anderen Artikeln werden wir auf die Bedeutung des religiösen Fundamentalismus und der religiösen Spaltungen im Nahen Osten zurückkommen. Die imperialistischen Mächte in der Region und natürlich die mannigfaltigen sunnitischen und schiitischen bewaffneten Banden haben unübersehbar eine bedeutende Rolle beim Aufheizen der schiitisch-sunnitischen Spaltungen gespielt, die in der Vergangenheit von weitaus geringerem Belang waren. Doch die Verschlimmerung dieser Spaltungen sind ebenfalls „spontane“ Produkte des Zerfalls einer Gesellschaft, in der alle gesellschaftlichen Bande bersten und von der fauligen Atmosphäre des Verfalls und des Pogroms ersetzt werden.
3 Der Sunday Telegraph veröffentlichte kürzlich einen Artikel über einen UN-Report, der aufzeigt, dass 2011 Präsident Saleh, obwohl vom Westen und Saudi-Arabien gestützt, hohe Repräsentanten der AQAP traf und ihnen einen sicheren Rückzugsort im Süden des Lands zusicherte, wo sie vor seinen Truppenbewegungen geschützt waren. Dies ist typisch für die machiavellistischen Verhältnisse des kapitalistischen Zerfalls. Wie seinesgleichen prellten auch Saleh und seine Clique das Land um Milliarden Dollar.
4 Siehe zum Beispiel Nussalbah Younis in The Observer, 29.3.15, und Robert Fisk in The Independent, 28.3.15.
Nach vier Jahren des Krieges in Syrien und rund ein Jahr nach der Errichtung des „Kalifats“ des Islamischen Staates erleben wir eine neue Wendung angesichts einer Türkei, die, voll und ganz von den NATO-Kräften gestützt, in den Krieg tritt, indem sie ihre früheren dschihadistischen Verbündeten entsorgt und das Feuer auf ihre kurdischen „Friedenspartner“ richtet. Bis jetzt war die Türkei gegenüber den dschihadistischen Kräften zumindest äußerst tolerant gewesen; sie gestattete ihnen, ihre Grenzen zu überqueren, um den gemeinsamen Feind, das Assad-Regime in Syrien, zu bekämpfen. Führer des IS sind dabei gesichtet worden, wie sie offen in der Nähe türkischer Städte und Zufluchtsorte herumstolzierten. Seine verletzten Kämpfer haben Krankenhausbehandlung erhalten und sind anschließend zu den Schlachtfeldern zurückgeschickt worden (so wie auch Israel mit al-Nusra verfährt)[1]. Türkische Polizisten, die hochrangige IS-Mitglieder festgenommen hatten, sind selbst ins Gefängnis geworfen worden. Auch gab es schon vor Jahren glaubwürdige Berichte, dass mit der Unterstützung des türkischen Geheimdienstes MIT ganze Flugzeugladungen von Dschihadisten und schweren Waffen aus Libyen, die vom CIA beschafft worden waren, in der Türkei landeten und die Grenze nach Syrien überquerten, um Assads Truppen und seine Hisbollah-Vertreter zu bekämpfen. Auch wenn all dies nur selten an die Öffentlichkeit gelangt, gibt es keinen Zweifel, dass dies beträchtliche Spannungen in der NATO, deren Mitglied die Türkei ist, verursacht und die türkisch-amerikanischen Beziehungen schwer belastet hat, auch wenn US-Geheimdienste in der Unterstützung der Dschihadisten involviert waren. Es stellt sich eine Reihe von Fragen angesichts der neuen Front, die die Türkei aufgemacht hat: warum jetzt diese Wendung durch die Türkei? Was bedeutet dies für den türkisch-kurdischen „Friedensprozess“ und seinen zweijährigen „Waffenstillstand“? Gibt es irgendwelche Elemente unter den Kräften des kurdischen Nationalismus, die die Interessen der Arbeiterklasse in irgendeiner Weise vertreten? Wird diese Wendung zu irgendeiner Art von Halt oder Abbremsung des Abstiegs der ganzen Region in die Instabilität und den Krieg führen?
Die Türkei und die herrschende AKP vertreten ihre eigenen und größeren imperialistischen Interessen
Am 20. Juli tötete ein Selbstmordattentäter in Suruç nahe der türkisch-syrischen Grenze 32 junge Aktivisten und verletzte viele andere, die für oder in Verbindung mit einer linksextremistischen Gruppe, die Föderation der Sozialistischen Jugend, gearbeitet hatten. Der Selbstmordattentäter, ein mit den Dschihadisten sympathisierender Kurde, wurde schnell vom MIT identifiziert, und es ist gut möglich, dass der türkische Geheimdienst selbst in dem Bombenanschlag verwickelt ist. Er hat eine entsprechende Erfolgsbilanz vorzuweisen (Reyhanli, 2013); und auch wenn nicht immer der, der vom Verbrechen profitiert, es auch begeht, so verhält es sich dennoch meistens genau so. Es gibt keinen Zweifel, dass, wer immer dahinter steckt, die herrschende AKP-Clique um Präsident Recep Erdoǧan den Bombenanschlag genutzt hat, um ihre innere Stellung und die Verteidigung der türkischen imperialistischen Interessen, so wie sie sie sieht, zu stärken. Erdoǧans AKP versucht wie jede andere nationalistische Bande, ihre eigenen Interessen innerhalb des Staates zu schützen; doch sie scheint dabei die Unterstützung des türkischen Militärs und der Geheimdienste zu genießen, beide immens wichtig für ihr Verbleiben an der Macht. Offensichtlich ist der IS kein verlässlicher Partner, doch die Gespräche zwischen dem türkischen Staat und der US-Administration über eine ernsthafte Konfrontation des expandierenden IS begannen bald nach den Wahlen in der Türkei im Juni, als die AKP schockiert zusehen musste, wie sie allerorten ihre Mehrheit verlor und die kurdisch-freundliche Demokratische Volkspartei (HDP), die 13 Prozent der Stimmen erhielt, aufkam. Die Anspannungen in Erdoǧans Partei wie auch im türkischen Militär wuchsen, als sie sahen, dass die kurdische Armee der YPG[2] (die „Volksschutz-Einheiten“, der militärische Arm der PYD[3] und der PKK in der byzantinischen Organisation der kurdischen nationalistischen Kräften) als engster Verbündeter der USA bei ihren Angriffen gegen den IS handelt. Es ist wahrscheinlich eine Kombination dieser beiden Elemente, die hausgemachten Wahlprobleme der AKP und der Aufstieg der YPG sowie die Stärkung ihrer Stellungen entlang der türkisch-syrischen Grenze, die die türkischen Gemüter erhitzte und sie zu einem Einvernehmen mit den USA über die Verfügbarkeit der Luftwaffen-Basen, besonders die Luftwaffen-Basis in Incirlik, für US-Jagdbomber und bewaffnete Drohnen drängte, um ihre Bombardierungen gegen den IS in Syrien fortzusetzen.
In den Tagen nach dem Bombenanschlag in Suruç griffen türkische Jagdbomber und Artillerie ein oder zwei IS-Stellungen und Ziele der PKK-Stellungen (PKK: Kurdische Arbeiterpartei) in der Türkei, im Nordirak wie auch YPG-Stellungen an der syrischen Grenze an (BBC World News, 3.8.15). Die Heftigkeit der türkischen Angriffe gegen die Kurden und ihre Unverhältnismäßigkeit im Vergleich mit den Angriffen gegen den IS zeigen die wahren Absichten der AKP. Im Großen und Ganzen gleicht die ganze Situation einem Wespennest und drückt den Verfall der internationalen Beziehungen sowie die Schwäche des US-Imperialismus aus: die Unterstützung des IS-Kalifats durch ein NATO-Mitglied; die Abstempelung einer der engsten Verbündeten der USA im Kampf gegen den IS als kurdische Terroristen; die soundsovielte Übernahme von US-ausgebildeten und ausgerüsteten Kräften durch die immer weiter wachsenden dschihadistischen Kräfte (siehe Fußnote 4); eine Türkei, die dem IS freien Bewegungsspielraum auf beiden Seiten der Grenze mit Syrien gewährt, während sie mit den US-„Beratern“ Anti-IS-Kräfte anderswo im Land ausbildet. Und mittendrin die Divergenzen und Spannungen zwischen den unterschiedlichen (und vielen) kurdischen Fraktionen – u.a. die PKK, die YPG und die nordirakische Regierung von Massoud Barsanis irakischen Kurden. Es liegt eine völlige Absurdität in der ganzen Situation, die das Kennzeichen eines Großteils des Imperialismus von heute ist.
Wie jeder kapitalistischer „Waffenstillstand“ oder „Friedensprozess“ ist der „Friedensprozess“ zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen PKK nur eine Atempause im sich intensivierenden imperialistischen Krieg. Dies wird von der Tatsache bestätigt, dass just nach dem Suruç-Anschlag die türkischen Behörden eine Handvoll von IS-Kämpfern verhaftete und ein paar Luftangriffe gegen IS-Stellungen flog, während ihre Angriffe gegen kurdische Interessen und die allgemeine Repression, die jene beinhalteten, viel umfassender waren. Nur ein paar Tage nach dem Suruç-Angriff praktizierte die türkische Regierung eine Politik der verbrannten Erde gegen Gebiete der PKK in der Südtürkei, indem ihre Militärhubschrauber Ernten, Viehbestände und Gebäude vernichteten, während sie gleichzeitig militärische Kontrollpunkte errichten und jeden Verdächtigen festnehmen ließ (The Times, 5.8.15). Die Kräfte des kurdischen Nationalismus wiederum griffen sofort das türkische Militär an. Dies schloss Sabotageaktionen mit ein, die mindestens einen türkischen Eisenbahnarbeiter in der östlichen Provinz von Kars töteten (AP, 31.7.15). Und wie jede „Widerstandskraft“ sind diese Art von Attacken in Wirklichkeit spalterisch und laden zur allgemeinen Vergeltung gegen die kurdische Bevölkerung ein. Unter dem Deckmantel eines Angriffs gegen den IS verbirgt sich das wahre Ziel der türkischen Behörden: der Angriff gegen kurdische Interessen, die unter anderem, so ihr Kalkül, die Kräfte des türkischen Nationalismus aufbringen und die Chancen einer AKP-Mehrheit im Falle von Neuwahlen erhöhen könnten, was der herrschenden Clique ein offenes Mandat verschaffen könnte. Auf jeden Fall ist das Letzte, was der türkische Staat langfristig will, die Ausrufung eines neuen kurdischen Staates, der sich als ein weiteres ethnisches „Kalifat“ herausstellen könnte; als eine weitere nationalistische Abscheulichkeit, eine weitere kuriose staatliche Struktur als Ausdruck des Zerfalls rund um die Region. Ethnische Clans und religiöse Clans haben sicherlich ihre eigenen Besonderheiten, aber sie sind in vielem dasselbe: kapitalistische Körperschaften, die die Interessen der Arbeiterklasse erdrücken. Und dies trifft über den Nahen Osten hinaus auf die gesamte kapitalistische Welt zu. Man betrachte nur den jüngsten Nationalstaat des Kapitalismus, die Republik Südsudan, die 2011 ihre Unabhängigkeit erlangte. Die lokale Bande, ihre Führung, wurde mit beträchtlicher Unterstützung, Geheimdienstinformationen, militärischem Beistand und finanzieller Förderung der wichtigsten Länder des Westens errichtet und gestützt und ist fast unmittelbar nach der Gründung in einem Wust von Kriegen, vernichtenden Konflikten, Korruption und Banditentum kollabiert.
Es gibt wichtige Implikationen aus diesen jüngsten Ereignissen für die NATO. Die türkische Armee ist mit ihren 700.000 Mann die zweitstärkste Armee in der NATO, und ihre Kehrtwendung gegen den „Terrorismus“, den IS und die PKK ist von den US-dominierten Kräften willkommen geheißen worden, wissen doch Letztere die Unterstützung wertzuschätzen, die die Türkei gewähren kann, nicht nur indem sie ihre Basen zur Verfügung stellt, sondern auch indem sie das vom IS kontrollierte Gebiet zwischen der türkischen Grenze und Aleppo in Syrien[4] befreien wie auch den kurdischen Einfluss entlang der Grenze schwächen kann. Die Türkei handelt hier in einer gewissen Position der Stärke gegenüber den USA, denen die Optionen ausgehen. Auf einem außerordentlichen Treffen am 28. Juli in Brüssel begrüßte die NATO trotz einiger interner Differenzen und Bedenken die Winkelzüge der Türkei mit offenen Armen. Trotz einiger lauwarmer Worte zugunsten der Kurden, Worte, die prompt von Ankara ignoriert wurden, fasste der NATO-Generalsekretär die Meinungen auf dem Treffen der 28 Botschafter zusammen: „Wir alle sind vereint in der Verurteilung des Terrorismus, in Solidarität mit der Türkei.“ (Jens Stoltenberg, Independent, 29.7.15) Die unmittelbare Gegenleistung für die Türkei könnten durchaus mehr Patriot-Raketen, Geheimdienstinformationen und logistische Unterstützung durch die USA sein. Eine weitere Konzession der USA, die denkbar ist, nachdem sie eine geraume Zeit von Letzteren verwehrt worden waren, ein Zugeständnis, das die AKP ankurbeln würde, wäre die Errichtung einer „Sicherheitszone“, einer „Pufferzone“ jenseits der türkisch-syrischen Grenze, die gegenwärtig größtenteils von der YPG kontrolliert wird. Das aktuell zur Debatte stehende Territorium würde das YPG-Territorium in zwei Hälften spalten und vollständig von türkischem Militär besetzt werden. Dies wäre eine „Flugverbotszone“ unter anderem Namen. Es würde eine Invasion Syriens bedeuten und weitere Eskalation des Krieges wie auch ein Sprungbrett für weitere türkische „Aktivitäten“ in Syrien. Von dieser potenziellen Annexion syrischen Territoriums (faktisch existiert ein Land namens „Syrien“ nicht mehr) aus wäre es möglich, weitere Angriffe zu starten, auch wenn dies unmittelbar nicht denkbar scheint.
So wie Arbeiterkooperativen und Selbstverwaltung der Fabriken selbst mit dem besten Willen in der Welt nicht dem Gesetz der kapitalistischen Produktion entgehen können, so wie nationale „Befreiungskämpfe“ in den Rachen des Imperialismus fallen, so kann eine jegliche nationalistische, proto-nationalistische oder ethnische Bewegung nur Funktionen des kapitalistischen Staates übernehmen. Und dies passt sehr gut auf die „libertäre“ Wendung der PKK und ihre Ideen einer Föderalisierung von „Mini-Staaten“, die nicht für irgendeine Kohärenz stehen, sondern im Gegenteil für den globalen kapitalistischen Prozess des Zusammenbruchs und der Zersplitterung. Als solche kann sie nur diametral entgegengesetzt zu jeglichem unabhängigen Ausdruck der Arbeiterklasse stehen.
Auf der Website von libcom fragt auf einem Forum über die Türkei[5] ein Unterstützer der ethnischen Kurden, ein gewisser Kurremkarmerruk, wo es denn eine Forderung oder so etwas gebe, mit der die kurdische Befreiungsbewegung zu einem Staat aufruft. Wir haben uns bereits in einem breiteren Kontext mit der Frage eines neuen Staates befasst, aber Ende der 80er Jahre rückte die PKK von einer „proletarischen Orientierung“ (durch diesen kurdischen Nationalismus, d.h. einer Organisation der stalinistischen Art), von einem Modell des „Nationalstaates mit eigener Regierung“ zu einer Form des „kommunalen Gesellschaftsleben mit der Freiheit der Frauen“. Sehen wir einmal ab von der sexuellen Jagd auf Frauen, die in der PKK grassiert, so wird die neu entdeckte „Befreiung der Frauen“ größtenteils ausgedrückt in ihrer Gleichheit als Kanonenfutter für die kurdischen Verwicklungen im imperialistischen Krieg. Der neue kurdische „Anti-Autoritarismus“ und die „Kommunalisierung, in der das Individuum die Priorität genießt“, innerhalb der Föderation ist nichts anderes als eine andere Form der kapitalistischen Verhältnisse mit einem anarchistischen Touch – völlig vereinbar mit einer ethnischen oder nationalen Befreiungsbewegung.[6] Es gibt hier überhaupt nichts, das die Klassengesellschaft oder den imperialistischen Krieg in Frage stellt; im Gegenteil, beides wird durch das nationalistische Begehren der Kurden nach einem Platz in der „internationalen Gemeinschaft“ gestärkt. Seit dem I. Weltkrieg hat der kurdische Nationalismus und die kurdische Volkszugehörigkeit das kurdische Volk zu Schachfiguren und Kanonenfutter im Großen Spiel der Imperialisten gemacht. Dieser ethnische Rahmen hat mit Sicherheit nichts mit dem Marxismus zu tun und ist auch kein Element der Arbeiterbewegung. Die PKK basiert auf Terror, nicht zuletzt gegen ihre eigene Bevölkerung. Sie basiert auf den ethnischen Ausschluss und hat häufig eine Rolle auf dem imperialistischen Schachbrett gespielt. Wie so viele andere nationale „Befreiungsbewegungen“ war sie sowohl materiell als auch ideologisch durch den Zusammenbruch des Stalinismus Ende der 80er Jahre komplett unterminiert, und nichts davon hat sich geändert, wenn man bedenkt, dass die „sozialistische“ YPG bis vor kurzem der engste Verbündete des US-Imperialismus in der Region war. In der Vergangenheit sind die ethnischen, kurdischen Interessen von Russland, Syrien, dem Iran, Irak, Armenien, Deutschland, Großbritannien und Griechenland ausgenutzt worden. Die PKK hat auch die kapitalistischen Werte der Demokratie und des Pazifismus angenommen und weiterverbreitet. Jegliche nationalistische oder ethnische Bewegung, selbst eine besonders föderalistische, ist im Kern eine etatistische Organisation, die innerhalb des Kapitalismus und seiner imperialistischen Kräfte wirkt. Die Verteidigung der kurdischen Ethnie fußt wie jede andere auf Ausschluss. Was immer die Mystifikationen und die Sprache der Linksextremisten ist, die „gemeinsame Heimat“, eine allumfassende kapitalistische Struktur, bleibt das Ziel der kurdischen Ethnie.
Es hat nun den Anschein, dass Erdoǧans AKP-Clique, mit dem Militär hinter sich, genug vom „friedlichen und demokratischen“ Aufstieg der Kurden innerhalb der „internationalen Gemeinschaft“ (d.h. das imperialistische Schachbrett) hat und beschlossen hat, gegen sie in die Offensive zu gehen und gleichzeitig ihre Partei innerhalb des Staates zu stärken. Und kurdische Kräfte werden dies wiederum als einen Angriff auf ihre so genannten „sozialistischen Prinzipien“ präsentieren und weiterhin an ihrem „Selbstverteidigungskrieg“ teilnehmen, was auf eine weitere Spaltung der Arbeiterklasse hinausläuft.
Für die Arbeiterklasse der Hauptländer sowohl innerhalb als auch außerhalb der Region sind die Generalisierung dieses Krieges und seiner Ausdrücke ein großer Anlass zur Besorgnis, nicht zuletzt wegen der Verwicklung ihrer „eigenen“ Staaten und der Ausbreitung des Militarismus im Allgemeinen. Insgesamt sieht es für die lokale Bevölkerung des Mittleren und Nahen Osten angesichts der Gewissheit von noch mehr Kriegen, Gewalt, Chaos und Instabilität düster aus. Der IS dehnt sein Kalifat aus und ähnliche Kräfte werden sich ihm anschließen, während die Schwäche des US-Imperialismus fortdauert und es der Türkei erlaubt, neue, aggressive Schritte zu unternehmen. Es war in erster Linie eine Schwäche der USA, auf kurdische Kräfte zu setzen, eine Entwicklung, die in einem gewissen Umfang die Krise verschlimmerte. Und unmittelbar können die türkischen Angriffe gegen die Kurden nur den Kampf gegen den IS schwächen. Es gibt noch weitere Gefahren hier. Nach einem Jahr der Bombardierungen bis zum Juli, mit 5.000 Luftschlägen, 17.000 Bomben und mindestens Hunderten von toten Zivilisten, die zu diesem Blutbad hinzukommen, sowie einem IS, der relativ unbeschadet und noch etablierter daraus hervorgegangen ist, hat Obama nun Flächenbombardements für die Bodentruppen in Syrien bewilligt (World Socialist Web, 4.8.15). Das Problem für die Amerikaner besteht darin, dass die Bodentruppen, auf die sie in Syrien setzen können, derzeit nicht präsent sind. Eine weitere Komplikation in diesem Zusammenhang ist, dass das Assad-Regime ein sehr ausgeklügeltes, russisches Flugabwehrsystem besitzt.
In diesem Mix von Irrationalität, ethnischen und religiösen Rivalitäten, die vom Imperialismus angeleitet werden, der Entwicklung des Jeder-für-sich hat die Schwächung des US-Imperialismus mit dazu beigetragen, Letzteren dazu zu zwingen, ein Nuklearabkommen mit dem Iran abzuschließen, das viel weiter reichende Konsequenzen und Folgen haben wird. Dieses Abkommen wird Auswirkungen auf die Türkei, die anderen regionalen Mächte, Russland und weit darüber hinaus haben. Wir werden auf die Elemente des US-iranischen Deals und seine Auswirkungen zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.
Boxer, 8.8.2015
[1] Im Oktober 2014 sprach der Nahost-Experte Ehud Yarri über Israels Beziehungen zu al-Nusra (www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/tough-dilemma-southern-syria [39]).
[2] Die Wikipedia-Website der YPG malt ein rosiges Bild vom „Sozialismus“ und der Toleranz. Die Flötentöne werden jedoch konterkariert von ihrer ethnischen Kohärenz und der militärischen „Säuberung“ arabischer Gebiete, wie im Fall der Stadt Tal Abyad, wo 50.000 Menschen im Juni dieses Jahres von den vorrückenden YPG-Truppen hinausgezwungen wurden und sich dem Millionenheer von Flüchtlingen, die durch den Krieg heimatlos gemacht worden waren, anschlossen. (https://www.alaraby.co.uk/english/politics/2015/7/2/kurds-lead-campaign-to-displace-arabs-in-tal-abyad [40]). Die YPG ist unübersehbar Teil einer imperialistischen Armee; folglich ist die ethnische Säuberung Teil ihrer Arbeitsplatzbeschreibung.
[3] Wie im Falle des Krieges in der Ukraine offenbaren viele Elemente aus dem Anarchismus, die die YPG und die so genannte „Rojava-Revolution“ unterstützen, ihre Handlangerdienste für den imperialistischen Krieg. Siehe unseren Artikel Der Anarchismus und der imperialistische Krieg: Nationalismus oder Internationalismus? /content/2468/der-anarchismus-und-der-imperialistische-krieg-nationalismus-oder-internationalismus [41]
[4] Die besonders große Hoffnung in „unabhängige“, von den USA ausgebildete Kräfte, die dies unternehmen, hat bereits einen weiteren Rückschlag erlitten: Eine von den USA ausgebildete, in der Türkei stationierte, nicht-dschihadistische Anti-Assad-Truppe von Kämpfern, die Division 30, ist von den al-Nusra-Brigaden entführt worden (Independent, 31.7.15). Kein Zweifel, dass sie dem IS übergeben worden sind, wo sie verhört, gefoltert werden und wo ihr Schicksal besiegelt wird.
Wenige Tatsachen reichen aus, um den Horror der Situation, in der die Migranten stecken, zu zeigen:
Am 27. August wurden in Österreich nahe der ungarischen Grenze 71 Leichen (einschließlich acht Frauen und vier Kinder) im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung entdeckt, eingesperrt in einem Lastwagen, der am Fahrdamm abgestellt worden war.
Einige Tage später wurde die Leiche eines kleinen dreijährigen Jungen, der gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder ertrunken war, an einem Strand bei Bodrum in der Türkei angeschwemmt.
In beiden Fällen handelte es sich um Migranten aus Syrien, die vor dem Alptraum eines vierjährigen Krieges geflohen waren. Dieses Flüchtlingsphänomen hat sich mittlerweile in einem nie gekannten Ausmaß globalisiert, ein Ausmaß, das weit über die Vertreibungen in den schlimmsten Jahren des 20. Jahrhunderts hinausgeht.
Eines fällt in diesem Zusammenhang auf. Die Medien versuchen erst gar nicht, den unerträglichen Horror der Situation zu verbergen. Im Gegenteil, sie widmen dem Thema ihre Schlagzeilen und warten mit immer schockierenderen Bildern auf, wie das mit dem toten Jungen am Strand. Warum?
Tatsächlich beutet die Bourgeoisie sowohl die Barbarei, für die sie selbst verantwortlich ist, als auch die Gefühle der Empörung, die sie verursacht, und die spontanen Ausdrücke der Solidarität zwischen den einheimischen Berufstätigen und den Migranten, die sich in den letzten paar Monaten in etlichen Teilen Europas zu entwickeln begonnen haben, für Propagandazwecke aus. Die Propaganda zielt darauf ab, schon im Ansatz jeglichen möglichen unabhängigen Gedanken abzuwürgen und uns auf heimtückische Weise nationalistische Ideologien einzuflößen. In den Augen der herrschenden Klasse handeln Proletarier in Europa, wenn sie sich selbst überlassen werden, auf merkwürdige und gar unverantwortliche Weise: Sie helfen und unterstützen Migranten. Trotz des permanenten ideologischen Bombardements sehen wir, dass sehr häufig diese Proletarier in direktem Kontakt mit den Flüchtlingen stehen; sie bringen ihnen, was immer sie zum Überleben benötigen – Nahrungsmittel, Getränke, Decken –, und manchmal nehmen sie sie mit nach Hause. Wir haben solche Beispiele der Solidarität auf Lampedusa in Italien, in Calais in Frankreich und in einer Reihe von Städten in Deutschland und Österreich gesehen. Als Züge voller Flüchtlinge, die zuvor vom ungarischen Staat schikaniert worden waren, in den Bahnhöfen eintrafen, wurden die Migranten von Tausenden von Einheimischen, die ihnen Hilfe und materielle Unterstützung anboten, willkommen geheißen. Österreichische Eisenbahnangestellte leisteten Überstunden, um die Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen. In Paris demonstrierten Tausende am 5. September, um gegen die Behandlung der Flüchtlinge zu protestieren. Sie skandierten Parolen wie: „Wir sind alle Kinder von Migranten“.
Angesichts solch massiver und internationaler Ausdrücke der Solidarität der Zivilbevölkerung musste die herrschende Klasse, deren Hauptinteresse es bisher gewesen war, die Flüchtlinge einzuschüchtern und sie unter Kontrolle zu halten, reagieren. Fast überall musste die Bourgeoisie ihren Anti-Immigranten-Kurs der letzten Jahre modifizieren und sich der veränderten Lage anpassen. In Deutschland hat die Kehrtwende der Bourgeoisie geholfen, das Image des Landes als eine sehr fortgeschrittene Demokratie zu stärken und die Geister der Vergangenheit in Reaktion auf seine Rivalen auszutreiben, die nie eine Gelegenheit versäumen, um auf Deutschlands dunkle Geschichte hinzuweisen. Auch das Trauma des Zweiten Weltkrieges erklärt die Sensibilität des deutschen Proletariats in der Flüchtlingsfrage. Die deutschen Behörden mussten das Übereinkommen von Dublin suspendieren, das die Abschiebung der Asylsuchenden vorsieht. In den Augen der Migranten aller Welt ist Angela Merkel zur Heldin eines Deutschlands der Offenheit und Menschlichkeit geworden. In Großbritannien musste David Cameron seine kompromisslose Haltung modifizieren, und neben ihn auch die wüstesten rechten Boulevardzeitungen, die bis dahin Migranten als eine bedrohliche und untermenschliche Horde geschildert hatten. Für die Bourgeoisie war es eine Schlüsselfrage, die Tatsache zu verbergen, dass hier zwei völlig antagonistische Logiken am Werk sind: der kapitalistische Ausschluss und das „Jeder-für-sich“ versus die proletarische Solidarität; ein sterbendes System, das in die Barbarei versinkt, versus die Bestätigung einer Klasse, die das künftige Gedeihen der Menschheit in sich trägt. Die Bourgeoisie kommt nicht um die Notwendigkeit herum, auf die realen Gefühle der Empörung und Solidarität zu reagieren, die in den zentralen Ländern aufkeimen.
Die Lage ist nicht völlig neu. 2012 zählte der Hohe Flüchtlingskommissar (UNHCR) bereits 45,2 Millionen „heimatvertriebene“ Menschen (displaced people) und läutete die Alarmglocken angesichts dieses wachsenden humanen Desasters. 2013 flohen 51,2 Millionen vor allen Arten des Schreckens. Somit war die 50 Millionen-Marke zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder überschritten worden. Der UNHCR erklärte dies zum Resultat der „Vervielfachung neuer Krisen“ und des „Fortbestehens alter Krisen, die nie abzuebben scheinen“. Das Jahr 2015 ist dabei, einen neuen Rekord zu erzielen: 60 Millionen Flüchtlinge weltweit, was sich vor allem auf Europa auswirkt. Seit Januar hat sich die Zahl der Asylanträge um 78 Prozent erhöht. In Deutschland hat sich laut Angaben des Innenministers die Zahl der Asylanträge vervierfacht und erreichte die rekordträchtige Zahl von 800.000. Mazedonien erklärte den Notstand und schloss seine Grenzen. Offiziell ertranken in den letzten Monaten mehr als 2.800 dieser Exilanten, Männer, Frauen und Kinder, im Mittelmeer. Auch in Asien tritt das Phänomen massiv auf. Zum Beispiel flüchtet eine wachsende Zahl von Menschen vor Repression und Verfolgung aus Myanmar und sucht verzweifelt Zuflucht in anderen südostasiatischen Ländern. In Lateinamerika haben Kriminalität und Armut ein solches Ausmaß angenommen, dass Hunderttausende von Menschen versuchen, in die USA zu gelangen. Tausende von Migranten reisen illegal auf einem Güterzug mit, der regelmäßig vom Süden in den Norden Mexikos fährt und den Spitznamen „Das Biest“ trägt. Sie laufen nicht nur Gefahr, von den Wagendächern zu stürzen oder in den Tunneln vom Zug gerissen zu werden, sondern riskieren auch, von den Behörden bedroht zu werden; vor allem aber sind sie den Drogenbanden oder anderen Banditen ausgeliefert, die sie nur gegen Lösegeld freilassen, vergewaltigen, die Frauen für die Prostitution kidnappen und sehr oft töten. Und all jene, die das Glück haben, durchzukommen, sehen sich an der gesamten US-Grenze einem Stacheldrahtzaun gegenüber, der von bewaffneten Grenzschützern kontrolliert wird, die nicht zögern, auf sie zu schießen.
In der Tat passen die heuchlerischen und zivilisierten Reden der Demokraten sehr gut zu den widerlichen und ausgesprochen fremdenfeindlichen Tiraden. Erstere lösen Gefühle der Machtlosigkeit aus, Letztere Gefühle der Angst. Beide obstruieren jegliches wirkliche Nachdenken, jegliche wirkliche Entfaltung von Solidarität.
Ganze Regionen des Planeten sind verwüstet und unbewohnbar. Dies ist besonders in den Regionen der Fall, die die Ukraine via Nahost mit Afrika verbinden. In einigen dieser Kriegsgebiete befindet sich die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht und wird in gigantischen Lagern gehalten, den skrupellosesten Menschenhändlern ausgeliefert, die ihr Geschäft auf industrieller Ebene organisieren. Die wirkliche Ursache dieser Hölle ist der Ruin des weltweiten Ausbeutungssystems. Der Umfang des Flüchtlingsphänomens ist ein klarer Ausdruck der Abwärtsspirale des Kapitalismus, die in ihrem Gefolge Pogrome und Gewalt aller Art, wachsende Verelendung aufgrund der Wirtschaftskrise und Umweltkatastrophen mit sich bringt. Natürlich sind Kriege, Krisen und Umweltvergiftung nichts Neues. Alle Kriege haben dazu geführt, dass Menschen flohen, um ihr Leben zu retten. Doch die Intensität dieser Phänomene steigert sich kontinuierlich. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb die Zahl der Flüchtlinge verhältnismäßig limitiert. Der Krieg war dann der Startschuss für massive Vertreibungen, „Bevölkerungsaustausch“, etc. Diese Spirale nahm mit dem Zweiten Weltkrieg eine ganz neue Dimension an, als die Zahl der Flüchtlinge nie gekannte Höhen erreichte. Dann, während des Kalten Krieges, generierten die zahllosen Stellvertreterkriege zwischen Ost und West wie auch die Hungerkatastrophen in Schwarzafrika in den 70er und 80er Jahren eine signifikante Anzahl von Flüchtlingen. Doch mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 ist eine wahrhaftige Büchse der Pandora geöffnet worden. Der Antagonismus zwischen den beiden imperialistischen Blöcken erzwang eine gewisse Ordnung und Disziplin: Die meisten Ländern folgten dem Diktat ihres entsprechenden Blockführers, die USA oder die UdSSR. Die Kriege in dieser Zeit waren zwar unmenschlich und mörderisch, aber in einem gewissen Sinn „geordnet“ und „klassisch“. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR hat die wachsende Instabilität eine Vervielfachung lokaler Konflikte, alle Arten wechselnder Bündnisse bewirkt. Konflikte haben sich endlos hingezogen und mündeten in die Auflösung von Staaten und in den Aufstieg von Warlords und Gangstern, in die Aushebelung des gesamten gesellschaftlichen Gefüges.
Obendrein haben die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten (gekennzeichnet von der Entwicklung des „Jeder-für-sich“, in der jede Nation ihre eigene imperialistische Karte mit immer kurzfristigeren Zielen spielt) Letztere dazu verleitet, immer regelmäßiger, ja nahezu permanent militärische Interventionen zu unternehmen. Jede Großmacht unterstützt, in Verteidigung ihrer imperialistischen Interessen, diese oder jene Mafiaclique, diesen oder jenen Warlord, diese oder jene in wachsendem Maße irrationale Bande von Fanatikern. Was heute in der kapitalistischen Gesellschaft vorherrscht, ist die Auflösung ganzer Regionen, wo die schlimmsten Ausdrücke des gesellschaftlichen Zerfalls betrachtet werden können: ganze Regionen, die von Drogenbanden kontrolliert werden, der Aufstieg des Islamischen Staates mit all seinen Gräueltaten, etc.
Die Staaten, die die Hauptverantwortung für dieses soziale, ökologische und militärische Chaos tragen, sind gleichzeitig regelrechte Festungen geworden. Vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit und chronischer Krise sind Sicherheitsmaßnahmen drastisch ausgebaut worden. Die Staaten „verschanzen“ sich. Lediglich den qualifiziertesten Migranten ist es gestattet, sich ausbeuten zu lassen, um die Kosten der Arbeitskraft zu senken und Spaltungen innerhalb des Proletariats zu schaffen. Der Mehrheit der Flüchtlinge und Migranten, den „Unerwünschten“, jenen, die ins Elend und in den Hunger geworfen werden, wird zynischerweise auferlegt, da zu bleiben, wo sie sich gerade befinden, und sterben, ohne jemand zu belästigen. Die nördlichen Staaten haben sie buchstäblich in die Ecke gedrängt, wie im Falle Frankreichs mit seinem „Dschungel“ nahe dem Kanaltunnel bei Calais. Gepeinigt von einer Überproduktionskrise, kann der Kapitalismus ihnen keine Perspektive mehr anbieten. Statt geöffnet zu werden, werden die Tore geschlossen: Die Staaten verbarrikadieren ihre Grenzen, setzen Grenzzäune unter Strom, konstruieren immer neue Mauern. Während des Kalten Krieges, der Zeit der Berliner Mauer, gab es um die 15 mauerbewehrte Grenzen. Heute sind derer 60 gebaut oder konstruiert worden. Von der „Apartheid-Mauer“, die von Israel gegen die Palästinenser errichtet wurde, bis zum fast 6500 Kilometer langen Stacheldrahtzaun, der Indien von Bangladesch trennt - überall verfallen Staaten einer regelrechten Sicherheitsparanoia. In Europa ist der Mittelmeer-Raum übersät mit Mauern und Hindernissen. Im vergangenen Juli begann die ungarische Regierung einen vier Meter hohen Zaun aus NATO-Draht zu errichten. Was den Schengenraum in Europa und die Arbeit der Frontex-Agentur (oder Triton, wie sie sich heute nennt) angeht, so ist ihre industriell-militärische Wirksamkeit ganz formidabel: eine ständige Flotte von Überwachungs- und Militärschiffen, die dazu da ist, Flüchtlinge daran zu hindern, das Mittelmeer zu überqueren. Eine ähnliche Militärmaschinerie wurde an der australischen Küste aufgeboten. All diese Hindernisse erhöhen erheblich die Todesrate unter den Flüchtlingen, die gezwungen werden, immer mehr Risiken auf sich zu nehmen, um die Barrieren zu überwinden.
Auf der einen Seite verbarrikadiert sich der bürgerliche Staat. Er befeuert bis zum Geht-nicht-mehr die Untergangswarnungen der fremdenfeindlichen, populistischen Parteien und verschärft den Hass, die Angst sowie die Spaltung. Konfrontiert mit sich verschlechternden Lebensbedingungen, werden die schwächsten Teile des Proletariats voll von dieser nationalistischen Propaganda erfasst. In einer Reihe von Ländern hat es Anti-Migranten-Demos, physische Attacken, Brandanschläge gegen Flüchtlingsheime gegeben. Die Flüchtlinge sind das Ziel von Kampagnen gegen „Ausländer, die unsere Lebensweise bedrohen“. Der Staat legalisiert all dies, indem er Internierungslager (über 400 in Europa) errichtet, wohin er all jene deportiert, derer er habhaft wird, indem er die Grenzen verstärkt überwacht.
Auf der anderen Seite täuscht dieselbe Bourgeoisie in Gestalt von Politikern ihre Empörung vor, die über die „moralische Herausforderung“ sprechen, die von den Flüchtlingen gestellt werde, und die ihnen Alibiunterstützung und –beistand anbieten. Kurz, der kapitalistische Staat, dieser Erzkriminelle, stellt sich als ihr Rettungsanker dar.
Doch solange der Kapitalismus andauert, wird es keine wirkliche Lösung für die Migranten und die Flüchtlinge geben. Wenn wir nicht gegen dieses System kämpfen, wenn wir nicht zu den Wurzeln des Problems vordringen, wird unsere Empörung und Solidarität nicht über das Stadium der elementaren Unterstützung hinausgehen, und die tiefsten und edelsten menschlichen Gefühle werden von der Bourgeoisie vereinnahmt und in groß aufgemachte Wohltätigkeitsakte umgewandelt werden, die benutzt werden, um eine verstecktere Form des Nationalismus zu schüren. Daher müssen wir zu verstehen versuchen, was tatsächlich passiert. Das Proletariat muss seinen eigenen kritischen und revolutionären Standpunkt über diese Fragen entwickeln.
In weiteren Artikeln werden wir auf dieses historische Thema zurückkommen.
WH, 6.9.2015
Am Mittwoch, den 7. Oktober, verstarb unsere Genossin Bernadette nach einer langen und schweren Krankheit: Lungenkrebs. Bernadette wurde am 25. November 1949 im Südwesten Frankreichs geboren. Ihr Vater war ein Facharbeiter in einem Maschinenbaubetrieb, ihre Mutter ging keiner bezahlten Tätigkeit nach, da sie sich um ihre acht Kinder kümmern musste. Mit anderen Worten, es war eine Familie in bescheidenen Verhältnissen, eine – für damalige Zeiten - authentische Arbeiterfamilie. Bernadette kannte also aus eigener Erfahrung die Realität der Lebensbedingungen der ArbeiterInnen seit frühester Kindheit. Ebenfalls seit jungen Jahren war sie von einer glühenden intellektuellen Leidenschaft, von einem Wunsch, die Welt und die Gesellschaft zu verstehen, angetrieben. Sie war von der Literatur angezogen und liebte es ganz allgemein zu lesen. Nach dem gymnasialen Abschluss schrieb sie sich in die Universität von Toulouse ein und erlangte den Magister in Linguistik und Literatur. Anschließend erhielt sie eine Arbeitsstelle als Büroangestellte im Erziehungsministerium.
Noch als Studentin lernte sie Mitte der 70er Jahre zufällig einen Mitstreiter der IKS kennen. Dieser Genosse, der bemerkte, was Bernadette umtrieb, empfahl ihr, das Kommunistische Manifest zu lesen. Für sie war dies eine Art von Offenbarung: Zum ersten Mal fand sie eine klare und kohärente Antwort auf die Fragen, die sie sich gestellt hatte. „Das ist es, genauso ist es“ – so schilderte sie 40 Jahre später ihre Gefühle, als sie diesen Text gelesen hatte. Die Texte der IKS, die sie kennenlernen wollte, hinterließen einen ähnlichen Eindruck auf sie.
Sie entschied sich sehr schnell, dass die IKS – anders als andere Gruppierungen, die sich selbst revolutionär und gar kommunistisch nannten, wie die Maoisten und Trotzkisten, auf die sie ebenfalls stieß – eine wahre Erbin der marxistischen Tradition war, und nachdem sie einmal die Zusage gemacht hatte, in ihren Reihen mitzukämpfen, ist sie nie mehr von ihrer Überzeugung abgewichen, dass die revolutionäre Militanz, sich dem Aufbau der revolutionären Organisation und besonders der IKS zu widmen, ein absolut wichtiger Faktor in der Befreiung der Arbeiterklasse ist. Bernadette war als Mitglied auf unserem zweiten internationalen Kongress zugegen.
Bernadette trug auf vielerlei Art zum Leben der IKS bei. Sie hatte eine scharfsinnige Wahrnehmung hinsichtlich der internationalen Lage, der Manöver der Bourgeoisie und Fortschritte sowie Rückschritte des Klassenkampfes, und ihre Fähigkeit, darüber zu schreiben, ihre meisterhafte Beherrschung der französischen Sprache prädestinierte sie dazu, für die Publikationskommission der französischen Presse zu arbeiten. Es gelang ihr auch, unsere Ideen mit den einfachsten Worten, „auf der Straße“ zu vermitteln, aber auch gegenüber Menschen, die sie unter vielfältigen Umständen traf, wie die Ambulanzfahrer, die sie jede Woche zum Krankenhaus für ihre Chemotherapie brachten und die uns erzählten: „Bernadette war kein leichter Charakter, aber es war außerordentlich interessant, mit ihr zu diskutieren.“ Auf Demonstrationen verblüffte sie GenossInnen, die mit ihr zusammen intervenierten, mit der Anzahl der von ihr verkauften Zeitungen, was darauf zurückzuführen war, dass sie stets die Worte und den Tonfall fand, die notwendig waren, um Demonstranten davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, unsere Presse zu lesen.
Doch ihre größte Stärke war unbestritten ihr Verständnis der Organisationsprinzipien der IKS und insbesondere der Notwendigkeit, unsere Organisation gegen alle Angriffe und Verleumdungen, die gegen sie gerichtet werden, zu verteidigen. Bernadette war stets davon überzeugt, dass die revolutionäre Organisation ein Fremdkörper im Kapitalismus ist. Daher war sie kompromisslos, wenn es darum ging, die Statuten der Organisation und insbesondere die Frage der Sicherheit zu respektieren.
Bernadette war eine der Genossinnen aus der alten Generation, die am offensten gegenüber dem politischen Vermächtnis des Genossen MC, unserer lebenden Verknüpfung mit den kommunistischen Fraktionen der Vergangenheit, waren. Obgleich sie durchaus im Stande war, ihre Fragen und Meinungsverschiedenheiten mit MC zu äußern, hatte sie kein Interesse an die kleinbürgerliche Ideologie, die „alte Generation“ unter Generalverdacht zu stellen, was eine besondere Schwäche der Studentenbewegung war, die Mai `68 entstanden war. Was sie von ihm lernte, war ein Bewusstsein über die zentrale Bedeutung der Organisationsfrage als eine selbständige politische Frage und die Notwendigkeit, an strengen Prinzipien – einer proletarischen Moralität eigentlich – in den Beziehungen festzuhalten, die zwischen den Militanten und der Organisation und unter den Mitgliedern selbst aufgebaut werden mussten.
Bernadette wirkte in etlichen Sektionen der IKS mit: Toulouse, Paris, Marseille, London wie auch in der Schweizer Sektion, mit der sie zeitweilig eng zusammenarbeitete. Doch sie betrachtete sich selbst zuallererst als eine Militante der IKS, und GenossInnen aus der Schweiz und aus London können ihre Fähigkeit bezeugen, die Dinge vom Staub des Lokalismus zu befreien, indem sie das Fenster zur IKS als internationale Organisation öffnete.
Wie alle Menschen und Militanten hatte Bernadette natürlich auch ihre Fehler, die manchen Genossen gegen sie aufgebracht hat, besonders wenn ihr kritisches Urteilsvermögen außer Kontrolle zu geraten schien und wie ein Maschinengewehr, das in alle Richtungen feuert, funktionierte, ein Ausdruck ihres glühenden und leidenschaftlichen Charakters. Doch ihre Fehler waren auch ihre Qualitäten: Ihre Dickköpfigkeit, die eiserne Entschlossenheit, die einen ihrer Ärzte dazu brachte, sie als eine „Naturgewalt“ zu beschreiben, machte sie auch äußerst beharrlich in ihrem Kampf gegen den Krebs, der schließlich ihr Leben einforderte. In den vergangenen zwei Jahren verblüffte Bernadette das medizinische Personal ein ums andere Mal, zum einen weil sie weit länger am Leben blieb, als diese es für möglich gehalten hatten, und zum anderen mit ihrem Bewusstsein, ihrer Fähigkeit zum Nachdenken und ihrem Willen zu verstehen. Sie bekämpfte ihre Krankheit, nicht nur um ihren militanten Kampf fortzusetzen, sondern auch um vom größten Geschenk zu profitieren, das der eigene Sohn ihr gemacht hatte: ihre kleine Enkeltochter. Die Geburt ihrer Enkelin, die Anhänglichkeit Letzterer an ihrer Großmutter und ihre Lebensfreude war eine enorme Hilfe, um Bernadette dabei zu helfen, die Schmerzen ihrer Krankheit zu ertragen.
Bernadette betrachtete ihre Militanz nie als etwas allein „Politisches“ im „allgemeinen“ Verständnis des Begriffs. Stattdessen brachte sie anderen Bereichen ihres Lebens die gleiche Leidenschaft und Hingabe entgegen. Sie nahm den Namen „Flora“ als ihren nom de guerre in der IKS an, weil er ihre Liebe zu Blumen wiedergab und weil sie eine große Bewunderin der Bücher von Flora Tristan war. Sie hatte ein Gespür für die Künste: Sie liebte die Malerei, die Literatur und Poesie. Sie widmete sich genauso gern der Kunst des Kochens, die sie mit anderen GenossInnen der IKS und ihren persönlichen Freunden, die sie stets mit Wärme und Großzügigkeit empfing, zu teilen liebte. Sie hatte ein Auge für die Schönheit, was sich in der Art und Weise, wie sie die Räume, in denen sie lebte, organisierte und ausschmückte, und in den Geschenken widerspiegelte, die sie für ihre Familie, Freunde und GenossInnen auswählte.
Während ihrer Krankheit erhielt sich Bernadette ihre Liebe zum Lesen, und dies verhalf ihr, mit den Schmerzen, die der Krebs auslöste, und mit den ermüdenden Behandlungen, die sie durchlitt, fertigzuwerden. Bis zu ihrem Lebensende fuhr sie fort, die Klassiker der Arbeiterbewegung, Marx und besonders Rosa Luxemburg, zu lesen, und versuchte solange wie möglich, sich die Texte und Beiträge, die die internen Debatten der IKS generierten, anzueignen, indem sie Stellung zu ihnen bezog, wenn es ihr Zustand erlaubte.
Bernadette hatte einen tiefen Sinn für Solidarität. Auch wenn sie noch so sehr unter dem Krebs litt und wusste, dass es keine Heilung gibt, sorgte sie sich weiterhin um die Gesundheit anderer GenossInnen, indem sie ihnen Rat und Tat anbot, sie dazu drängte, sich untersuchen zu lassen und nicht ihre Gesundheit zu vernachlässigen. So war es nur allzu gebührend, dass Genossen aus allen Sektionen der IKS während der gesamten Krankheit ihre Solidarität ausdrückten, ihr schrieben, sie besuchten, ihr alle Unterstützung angedeihen ließen, die sie benötigte, um so heiter wie möglich weiterzuleben.
Bernadette hatte keine Angst vor ihrem eigenen Tod, auch wenn sie das Leben leidenschaftlich liebte. Sie wusste, dass jedes menschliche Wesen ein Glied in der langen Kette der Menschheit ist und dass jene, die bleiben, die Schlacht fortsetzen werden. Sie gab den Ärzten, die sich um sie kümmerten, klare Anweisungen: Sie wollte in physischer, intellektueller und moralischer Würde sterben und verweigerte jegliche schonungslose Therapie, die lediglich darauf abzielte, sie am bloßen Leben zu halten. Sie wollte ihr Leben friedlich beenden, umgeben von GenossInnen im Kampf und von der Liebe ihres Sohnes und ihrer Enkelin. Ihre Wünsche wurden respektiert. Bernadette verließ uns in vollem Bewusstsein. Noch drei Wochen vor ihrem Tod zwang sie sich selbst, die Zeitungen zu lesen und die internationale Situation zu verfolgen. Weil sie in ihren Knochen all die Leiden des Proletariats spürte, sagte sie dem Arzt, der sich am Ende ihres Lebens um sie kümmerte: „Es ist notwendig, meine Schmerzen zu beenden, und es ist notwendig, die Barbarei des Kapitalismus zu beenden.“
Bis zu ihrem Ende demonstrierte Bernadette einen außergewöhnlichen Mut und eine große Klarheit. Sie war wirklich eine Naturgewalt. Und diese Kraft zog sie aus der Tiefe ihrer militanten Überzeugung, ihrer Hingabe für die Sache des Proletariats und ihrer unerschütterlichen Loyalität zur IKS. Die IKS richtet an ihren Sohn und an ihre Enkelin all ihre Sympathien und Solidarität.
IKS, 15.10.2015
Ein bewusster Versuch, so viele Menschen wie möglich zu töten. Ein Gemetzel. Am Freitag, den 13. November, wurden die Straßen von Paris und ihrer Vororte in ein makabres Schauspiel blutiger und barbarischer Akte verwandelt, ausgeübt von einer Handvoll, mit Kalaschnikows und Sprengstoffgürteln bewaffneter Terroristen. Ihre Ziele? All jene, die „prostituiert“ seien von der „westlichen Lebensweise“1, und insbesondere junge Leute2.
Am 11. Januar wollte der IS mit der Hinrichtung der Cartoonisten des Satiremagazins Charlie Hebdo die „Väter“3 einer libertären Strömung töten, die von der sozialen Bewegung des Mai 1968 beeinflusst waren. Diesmal nahm der IS mit den Angriffen gegen Veranstaltungs- und Unterhaltungsorte (das Stade de France in Saint-Denis, die Bistros und Restaurants des 10. und 11. Arrondissements, die Konzerthalle Bataclan4) bewusst junge Leute ins Visier, die das Verbrechen begingen, gern zusammen zu sein, zu diskutieren, etwas zu trinken, zu tanzen und zu singen, mit anderen Worten: die gerne lebten (was die Bourgeoisie, die von der emotionalen Atmosphäre und der Gehirnwäsche der Medien profitierte, mit Patriotismus gleichzusetzen versuchte!). Es ist dieselbe Generation, die davon träumte, die Fackel des Mai ‘68 in der sozialen Bewegung 2006 in Frankreich wieder zu entzünden5, und die im Januar völlig richtig ihre Solidarität mit den ermordeten Künstlern von Charlie Hebdo ausdrückte, indem sie zu Massendemonstrationen auf die Straße ging6.
Diese neuerlichen Verbrechen, kaltblütig geplant und von einer obskuren und morbiden Ideologie motiviert, die dem Nazismus ebenbürtig ist, sind nicht die Frucht einiger weniger „Monster“, die schlicht und einfach ausgemerzt werden müssen7. So stellt die Bourgeoisie die Dinge dar. Es ist ein Argument, das allein dazu dient, den Krieg zu rechtfertigen und noch mehr Hass und Verbrechen auszulösen. An der Wurzel dieser Übel befindet sich das gesamte kapitalistische System, ein System ohne Zukunft, ohne Perspektive, das Stück für Stück zerfällt und die gesamte Menschheit in seinem mörderischen Niedergang mitreißt.
Der IS ist eine besonders enthüllende Manifestation der selbstmörderischen Dynamik des Kapitalismus. Er ist ein reines Produkt der Dekadenz, ein direkter Ausfluss ihrer finalen Zerfallsphase.
Hier wurzeln die Verschärfung und Vervielfachung imperialistischer Konflikte, die sich beschleunigende Auflösung der sozialen Bande in einer Gesellschaft, die keine historische Perspektive besitzt. Keine der beiden fundamental antagonistischen Klassen in der Gesellschaft, Bourgeoisie und Proletariat, hat sich als fähig erwiesen, ihr historisches Projekt, Weltkrieg auf der einen, kommunistische Revolution auf der anderen Seite, durchzusetzen. Seit Mitte der 80er Jahre sieht sich die Gesamtheit der Gesellschaft im Unmittelbaren gefangen, bar jeder Zukunft und Stück für Stück bei lebendigem Leib verrottend8. Der Zusammenbruch der UdSSR 1991, ein Produkt der Dynamik dieser letzten Stufe im Niedergang des Kapitalismus, verschlimmerte all die Widersprüche des Kapitalismus noch. Die Ausdrücke dieser Phase sind vielfältiger Natur: Individualismus und Jeder-für-sich-selbst, Bandenwesen, Rückzug in unterschiedliche Identitäten, Obskurantismus, Nihilismus und vor allem die Verschärfung des Kriegschaos. Bis zu dem Punkt, wo die schwächsten Staaten destabilisiert und an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt werden und militärische Konflikte ganze Regionen des Planeten verwüsten. In diesem Prozess tragen die imperialistischen Großmächte eine zentrale Verantwortung, besonders in Afrika und Nahost. Ein Blick auf die Geschichte der Konflikte in diesen Regionen in den letzten Jahrzehnten veranschaulicht diese Realität sehr gut. In dieser Periode erwies es sich für die USA immer schwieriger, sich selbst als Weltsheriff durchzusetzen. Es mag paradox erscheinen, aber die Existenz des russischen Gegners hatte all ihre Widersacher gezwungen, hinter den USA Schutz zu suchen. Die Nationen des westlichen Blocks waren gezwungen gewesen, Uncle Sams Blockdisziplin zu akzeptieren. Sobald die UdSSR untergegangen war, löste sich auch der westliche Block auf; all seine Komponenten begannen, ihre eigenen imperialistischen Karten auszuspielen. Die USA versuchten immer mehr, ihre Führerschaft mit Gewalt durchzusetzen. Dies steckte hinter der riesigen militärischen Machtdemonstration des Golfkriegs von 1990, in dem es der amerikanischen Bourgeoisie gelungen war, all ihre Verbündeten zu zwingen, sich hinter ihnen zu scharen. Doch die Situation für die USA verschlechterte sich zusehends; sie wurden noch mehr isoliert, als es zur Invasion in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 kam; die Folge dieser Abenteuer war die völlige Destabilisierung beider Länder. Wir haben diese Dynamik 1990 vorhergesehen:
„Der Krieg im Golf zeigt, dass angesichts der Tendenz zu generalisiertem Chaos, die dem Zerfall eigentümlich ist und die sich seit dem Kollaps des Ostblocks beträchtlich beschleunigt hat, der Kapitalismus keinen anderen Ausweg bei seinem Versuch hat, seine unterschiedlichen Komponenten zusammenzuhalten, als ihnen die eiserne Zwangsjacke der militärischen Macht aufzuzwingen. In diesem Sinn sind die Methoden, die er benutzt, um zu versuchen, den zunehmend blutigen Zustand des Chaos einzudämmen, selbst ein Faktor bei der Zuspitzung der militärischen Barbarei, in der sich der Kapitalismus stürzt.“9
So setzte die amerikanische Intervention im Irak 2003, ganz abgesehen von den 500.000 Toten, die sie verursachte, die sunnitische Regierung von Saddam Hussein10 ab, ohne in der Lage zu sein, sie durch einen stabilen Staat zu ersetzen. Im Gegenteil, der Ausschluss der sunnitischen Fraktion von der Macht und ihre Ersetzung durch eine schiitische hat einen Zustand des permanenten Chaos hinterlassen. Auf der Grundlage dieser Trümmer, dieses Machtvakuums, das das Versagen des irakischen Staates hinterlassen hat, wurde der IS geboren. Seine Existenz reicht zurück bis zum Jahr 2006, als al-Qaida, zusammen mit fünf weiteren dschihadistischen Gruppierungen, eine „Ratsversammlung der Mudschaheddin im Irak“ bildete. Am 13. Oktober 2006 verkündete die Ratsversammlung den „Islamischen Staat des Irak“, der sich selbst als einen echten Staat betrachtete. Viele Ex-Generäle aus Saddams Armee, militärisch kompetent und von einem Rachegeist gegen den Westen erfüllt, schlossen sich den Reihen des künftigen IS an. Die Destabilisierung Syriens verschuf dem Islamischen Staat schließlich die Gelegenheit zur Weiterentwicklung. 2012 begann er sich nach Syrien auszubreiten, und am 9. April 2013 wurde er zum „Islamischen Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS).
Jeder neue imperialistische Konflikt, in dem die Großmächte eine bedeutende Rolle spielen, verschafft dem IS eine weitere Gelegenheit, seinen Einfluss, der auf dem Boden des Hasses und der Rache besonders gut gedeiht, auszudehnen. Etliche dschihadistische Gruppierungen, wie Boko Haram im Nordwesten Nigerias, Ansar Shuras Shabab al-Islam in Libyen, Jund al-Khalifa in Algerien und Anar Dawlat al-Islammiya im Jemen, haben dem Islamischen Staat ihre Loyalität geschworen. Es steht außer Frage, dass der IS vom imperialistischen Krieg genährt wird. Es gibt ein Phänomen, das Mitte der 80er Jahre entstanden und seither beständig gewachsen ist: Unter dem Gewicht sowohl innerer wirtschaftlicher und politischer Widersprüche als auch der Auswirkungen des imperialistischen Krieges neigen die schwächeren Staaten dazu, zusammenzubrechen. In den 90er Jahren nahm dies im Osten, besonders auf dem Balkan, die Form von Abspaltungen neuer Nationen und von blutigen Konflikten an, wie die Explosion von Jugoslawien. Vom Kaukasus (Tschetschenien) bis nach Zentralasien (Afghanistan) oder Afrika (das ehemalige Zaire, das Horn von Afrika, etc.) erlaubte die staatliche Instabilität das Aufkommen paralleler und unkontrollierbarer Proto-Staaten, die von Warlords gelenkt werden. Der IS ist ein weiterer Ausdruck dieses Wundbrandes, allerdings in einem viel größeren geographischen Ausmaß als jemals zuvor.
Doch kehren wir zurück zur Verantwortung der Großmächte, die nicht aufhören, ganze Regionen allein für ihre strategischen und militärischen Interessen zu destabilisieren. Sie sind auch direkt in der Kreation dieser mörderischen, obskuren Cliquen verwickelt und haben versucht, sie zu ihren Instrumenten zu machen. Der Islamische Staat setzt sich aus den „radikalsten“ sunnitischen Fraktionen zusammen; ihr Hauptfeind ist folglich das große Land des schiitischen Islam: der Iran. Daher haben alle Feinde des Iran (Saudi-Arabien, die USA11, Israel, Qatar, Kuwait…) den IS zumindest zeitweise finanziell und gelegentlich militärisch unterstützt. Die Türkei hat den Islamischen Staat auch mit dem Hintergedanken unterstützt, ihn gegen die Kurden einzusetzen. Dieses flüchtige und heterogene Bündnis zeigt, dass religiöse Unterschiede nicht die wirklichen Treibmittel hinter diesem Konflikt sind; es sind in der Tat imperialistische Interessen, nationale kapitalistische Interessen, die vor allem anderen die Spaltungslinien bestimmen und die Wunden der Vergangenheit in den Hass von heute umwandeln.
Nun müssen sie alle in ihrem Eifer umdenken. Saudi-Arabien hat mittlerweile jegliche finanzielle Hilfe für den IS verboten und alle zu Gefängnisstrafen verurteilt, die auch weiterhin als Befürworter des IS agieren; die USA haben offiziell eine gewisse Annäherung an den Iran initiiert, um den IS zu bekämpfen. Warum diese Kehrtwende? Die Antwort sagt einiges aus über die Fäulnis des kapitalistischen Systems. Der religiöse Obskurantismus und vor allem die Zerstörungskraft des IS sind so ausgeufert, dass die Gruppierung völlig außer Kontrolle geraten ist. Solche Staaten, ohne jegliche Zukunft und von der Gesetzgebung der Scharia dominiert, haben schon vorher existiert, zum Beispiel in Zentralafrika, doch haben sie sich bisher stets auf eine bestimmte Region beschränkt. Das Phänomen IS betrifft viel größere Gebiete und vor allem die hochwichtige geostrategische Region des Nahen und Mittleren Ostens12.
Die pausenlosen Wechsel der Bündnisse, diese kurzfristige Sichtweise und zunehmend destruktive Herangehensweise, wie die Existenz der islamischen Proto-Staaten, offenbaren die Sackgasse, die der Kapitalismus erreicht hat, die Abwesenheit jeglicher nachhaltiger Lösung oder Perspektive für die Nationen.
Auch hier versetzt uns der Kompass des Marxismus in die Lage zu verstehen, dass 1990 die gesamte Gesellschaftsordnung diese Sackgasse erreicht hatte.
„In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die die Ereignisse am Golf bestätigt haben, erscheint die Welt als eine riesige gesetzesfreie Zone, in der die Tendenz des ‚Jeder-für-sich‘ in Gänze wirkt und wo die Bündnisse zwischen Staaten weit entfernt sind von der Stabilität, die die imperialistischen Blöcke charakterisiert hat, sondern dominiert werden von den unmittelbaren Bedürfnissen des Augenblicks. Eine Welt des blutigen Chaos, wo der amerikanische Polizist versuchen wird, durch einen immer massiveren und brutaleren Gebrauch militärischer Mittel ein Minimum an Ordnung aufrechtzuerhalten.“13
Die letzte Kehrtwende: Frankreich ist durch seine Annäherung an Russland bereit, Bashir el-Assad (offiziell verantwortlich für den Tod von 200.000 Menschen seit dem Beginn des Bürgerkriegs!) gegen den IS zu unterstützen, auch wenn es seit 2011 sein ganzes diplomatisches Gewicht für die „syrische Opposition“ in die Waagschale geworfen hatte. Putin, mit all seinen schamlosen Verbrechen in Tschetschenien und dann in der Ukraine, ist wieder zurück im Geschäft.
Indem sie all diese Kriege ausfechten, indem sie Tod und Verwüstung säen, indem sie mit ihren Bombenangriffen Terror praktizieren und im Namen der „Selbstverteidigung“ Hass provozieren, indem sie dieses oder jenes Killer-Regime unterstützen, indem sie keine andere Lösung als immer mehr Konfrontationen anbieten, und all dies, um ihre schmutzigen imperialistischen Interessen zu verteidigen, tragen die Großmächte die größte Verantwortung für die Verschlimmerung der globalen Barbarei, einschließlich der Barbarei des IS. Dieser so genannte Islamische Staat ist mit seiner Heiligen Dreifaltigkeit von Vergewaltigung, Raub und Repression, die sämtliche Kultur zerstört (derselbe Hass auf die Kultur wie das Nazi-Regime14), die Frauen und Kinder verkauft, manchmal wegen ihren Organen – dieser IS ist mehr als ein besonders eklatanter und „ehrlicher“ Ausdruck der kapitalistischen Barbarei, die zu begehen alle Nationen in der Lage sind. „Geschändet, entehrt, im Blute watend, vor Schmitz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, gelehrt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in der wahren, nackten Gestalt.“15.
Es sind also zuallererst die Großmächte, die ihre eigene Barbarei auf dem Planeten und vor allem in den schwächsten kapitalistischen Nationen ausüben. Und nun entgleitet diese Barbarei ihrer Kontrolle und trifft das Herz des Systems wie ein Bumerang. Dies ist die wahre Bedeutung der Anschläge vom 13. November in Paris. Sie sind nicht nur ein weiterer terroristischer Akt; sie zeigen, dass dies auch ein neuer Schritt bei der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und des Verfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist. Angesichts der Tatsache, dass solche Aktionen üblicherweise die Bevölkerungen Afrikas und des Nahen Ostens massakrieren16, ist der Umstand, dass sie nun auch die Herzländer des Kapitalismus treffen, besonders bedeutsam. Zurzeit der Bombenanschläge in Paris 1985 und 1986 schrieben wir:
„Was die gegenwärtige Welle terroristischer Anschläge zeigt, ist, dass dieser Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft solch ein Ausmaß erreicht hat, dass die Großmächte sich immer weniger von seinen barbarischsten Manifestationen abschirmen können, dass sie es immer schwerer haben, diese extremen Formen der Erschütterungen eines sterbenden Systems auf die Dritte Welt einzugrenzen. So wie zu Beginn der Krise, als die kapitalistischen Metropolen in der Lage waren, die katastrophalsten Auswirkungen, die diese Krise bewirkt, vor allem bewaffnete Konflikte, und deren Ursprünge eigentlich im Herzen des Systems liegen, auf die peripheren Länder abzuwälzen. Doch heute trifft die Krise nicht nur mit neuer Kraft die zentralen Länder des Kapitalismus, sie bringt auch einige der Barbareien mit sich, die in der Dritten Welt hervorgerufen wurden.“17
Mit den Attentaten vom 13. November hat sich der Prozess, der Mitte der 80er Jahre und vor allem 2001, mit der Zerstörung der Twin Towers, begonnen hatte, noch einmal ausgeweitet. Doch er hat auch qualitativ eine neue Ebene erreicht, selbst im Vergleich zu den Gewalttaten in Madrid (2004), London (2005) oder Boston (2013). Als diese Zeilen verfasst wurden, betrug die Zahl der Toten 130 und die Zahl der Verletzten 351, 98 von ihnen sehr schwer. Diese entsetzliche Hekatombe ist eine der schlimmsten inmitten Europas seit dem Zweiten Weltkrieg und wäre noch weitaus schlimmer geworden, wenn der Versuch, das Stade de France anzugreifen, nicht fehlgeschlagen wäre18. Doch der wirkliche Unterschied ist nicht allein quantitativer Natur – bei den Bombenanschlägen in Madrid kamen ebenfalls viele Menschen um (200 Tote, 1400 Verletzte). Diesmal aber war es kein kurzer, isolierter Akt: Dem Islamischen Staat gelang es, mehrere Plätze gleichzeitig anzugreifen und die Dauer des Gemetzels auf drei Stunden auszudehnen, und dies mitten in Paris. So erlebten Menschen in Westeuropa einen ganzen Abend lang eine Kriegsatmosphäre, die die Bevölkerung Afghanistans, Syriens, des Iraks, Pakistans, Nigerias täglich durchleben muss (und vor der so viele von ihnen zu fliehen versuchen). Das „minutiös“19 vorbereitete Szenario löste eine wahre Schock- und Panikwelle aus. Die direkte Übertragung der Ereignisse, dieser Bilder eines Straßenkrieges durch all die Fernsehsender der Welt, die Ungewissheit über die Zahl der Opfer, über die Zahl der Angriffe und der beteiligten Terroristen… all dies schuf ein unerträgliches Klima des Terrors. Millionen ohnmächtiger Zuschauer blieben wie angewurzelt vor den Bildschirmen sitzen und waren anschließend nicht in der Lage, Schlaf zu finden in dieser Nacht.
Dem Islamischen Staat war es gelungen, zu beweisen, dass eine große wirtschaftliche und militärische Macht wie Frankreich unfähig ist, solche Aktionen zu verhindern; auch wenn man jeden Anlass hatte, solche Angriffe zu erwarten, konnte das Töten nicht gestoppt werden.
Schlimmer noch, der IS war in der Lage, Männer und Frauen zu benutzen, die in Frankreich und Belgien geboren und imstande waren, die schlimmsten Verbrechen im Namen einer morbiden, widerwärtigen Ideologie zu begehen. Viele von jenen, die die Terroristen aus nächster Nähe erlebt und überlebt haben, drückten ihr Erstaunen über die banale Erscheinung der Killer aus: junge Leute zwischen 20 und 30, angstschlotternd und heftig schwitzend20, die ihre mörderischen Aktionen mit dem Vorwand rechtfertigten, „die von der französischen Armee in Syrien begangenen Verbrechen zu rächen“. Diese monströsen Akte wurden nicht von Monstern ausgeübt, sondern von Menschen, die total zermürbt und indoktriniert worden waren. Die Mehrheit dieser Terroristen wuchs im „zivilisierten“ Europa auf. Viele europäische Dschihadisten in Syrien kommen aus dem Kleinbürgertum, das in Ermangelung jeglicher Perspektive, voller Neid auf das von der Großbourgeoisie errichtete Modell und vor allem mit jeglichem Projekt einer alternativen Gesellschaft fremdelnd, zutiefst vom Nihilismus infiziert ist. Es sind dieselben Schichten, die in den 1930er und 40er Jahren die Stoßtruppen des Nazismus gebildet hatten.
Ein anderer beträchtlicher Teil der IS-Armee kommt aus den armen Vorstädten, Schmuddelkinder mit einer chaotischen Vorgeschichte, gedemütigt von einem System, das ihnen den Eintritt zu den meisten Formen der wirtschaftlichen Aktivität wie auch zu jeglichem gesellschaftlichen und kulturellen Leben verweigert. Auch hier sind der Wunsch nach Rache auf der einen und der Nihilismus auf der anderen Seite wahrscheinlich die Hauptantriebskraft hinter ihrem Trip. Mit ihren feigen, schmählichen und absurden Massakern haben diese Elemente ihrem eigenen Leben endlich einen Sinn gegeben. Dabei kümmerte es sie wenig, ob sie sterben, solange sie die fixe Idee hatten, dass sie in das System zurückkehren, das sie ausgeschlossen hatte. Ein letzter Teil, besonders unter den Kamikaze-Elementen, ist direkt aus dem Milieu der Kleinkriminellen rekrutiert worden. Es sind häufig Leute, die in der Vergangenheit schon mehrfach Raub und Körperverletzung begangen hatten und sich heute mit einer Kalaschnikow in ihren Händen wiederfinden, um nun unter einem pseudo-religiösen Vorwand zu töten.
Mit einem Wort, der Mangel an jeglicher Perspektive für die Gesellschaft und seine Konsequenzen – die gesellschaftliche Fäulnis, Bandenunwesen, die Entwicklung der Moral des Lumpenproletariats – liefern in Europa, im Nahen und Mittleren Osten wie auch im Rest der Welt den Boden für dieses giftige Gebräu. Das Zusammentreffen dieser jungen Leute, die in Europa geboren wurden, mit den obskuren syrischen und irakischen Banden, die die militärischen Kenntnisse besitzen, ist keineswegs ein Zufall.
Fassen wir zusammen: Der Imperialismus und Zerfall sind die Eltern des heutigen Imperialismus. Krieg, Zukunftslosigkeit, Furcht und Hass, moralischer Ruin, Terrorismus und schließlich wieder Krieg – es ist ein endloser Teufelskreis. Der Kapitalismus wird die gesamte Menschheit in den Ruin drängen, wenn er nicht zerstört und durch eine andere Gesellschaftsform ersetzt wird.
Doch wie war die Reaktion all der großen Nationen direkt nach den Angriffen am 13. November? Die Worte des sozialistischen Premierministers von Frankreich, Manuel Valls, verkündet am Tag danach im größten nationalen Fernsehsender, gaben den Ton an: „Es muss der Wille herrschen, den IS auszulöschen“; dies sei ein Krieg, der „Monate und vielleicht Jahre dauern könnte“ und der nach „außergewöhnlichen Maßnahmen“ verlange; Valls fügte hinzu: „Ich werde alles tun, damit die nationale Einheit geschützt wird“, und schloss seine Rede, indem er zu den Waffen rief: „Lasst uns Patrioten sein, um den Terrorismus zu vernichten“. Und alle nationalen Zeitungen stimmten ein in den Chor: „Jetzt ist Krieg!“, „Frankreich angegriffen!“ Diese patriotische Kampagne ist auf internationaler Ebene verstärkt worden, orchestriert rund um Rot, Weiß und Blau sowie die Marseillaise. Überall auf der Welt, auf allen Denkmälern, in allen sozialen Netzwerken, in Sportstadien wurde die französische Fahne abgelichtet; die Worte der Marseillaise wurden in allen englischen Zeitungen veröffentlicht, damit das Publikum des Fußballfreundschaftsspiels England-Frankreich am 18. November im Wembley-Stadion beim Abspielen der französischen Nationalhymne mitsingen konnte. Es gibt natürlich keine echte Solidarität der anderen Großmächten gegenüber Frankreich – alle von ihnen sind in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf ökonomischer und gelegentlich militärischer Art verstrickt. Nein, alle nationalen Bourgeoisien haben die 130 Toten in Paris und die Furcht, die sie bewirkt haben, nur dazu benutzt, die widerliche Idee zu vermitteln, dass die nationale Einheit die höchste und schönstmögliche Einheit sei, die uns erlaube, „zusammen zu leben“ und uns selbst vor der „Außenwelt“ zu schützen. In Wahrheit sind Nationalflaggen stets Kriegsflaggen! Die Nationalfahne ist das Symbol einer Ideologie, die dafür sorgt, dass die unterschiedlichen Klassen einer Nation im Kampf gegen andere Nationen an einem Strang ziehen. Grundsätzlich ist es dieselbe Ideologie wie die des Islamischen Staates. Und in Frankreich heute ist es die an der Macht befindliche Sozialistische Partei, die die Speerspitze in diesem kriegsähnlichen Geist darstellt. Resultat: das militärische Hauptquartier der französischen Armee hat bereits Vergeltungsschläge für die Gewaltakte ausgeführt, indem sie in wenigen Tagen Dutzende von Bomben über Syrien abwarfen und ihren Flugzeugträger Charles de Gaulle entsandten, um die Schlagkraft der französischen Luftwaffe in Syrien zu verdreifachen. Diese Attacken kommen neben den 4.111 Zielen hinzu, die von der russischen Luftwaffe in den vergangenen Wochen bereits getroffen wurden. Zwar berichtet die Presse täglich von den „Kollateral“-Opfern dieser massiven Bombenangriffe21, doch ist es unmöglich, Zugang zu den wirklichen Zahlen zu erhalten. Dies trifft auf jeden Krieg zu, der von den großen demokratischen Nationen, die im Namen des Friedens, der Menschlichkeit und des Schutzes der Menschen intervenieren, geführt wird. Und jedes Mal sind die Bilanzen des menschlichen Blutzolls, die erst Jahre später veröffentlicht werden, erschreckend. Laut eines sehr seriösen Reports (“Body Count: Casualty Figures after 10 Years of the ‚War on Terror‘”22) verursachte der Krieg, der von den USA 2001 nach den Angriffen von 9/11 vom Zaun gebrochen wurden, in den vergangenen zwölf Jahren den Tod von mindestens 1,3 Millionen Menschen in drei Ländern (Irak, Afghanistan und Pakistan), wobei der Report deutlich machte, dass es sich um eine „Minimalschätzung“ handelt, die andere Konflikte (Jemen, Somalia, Libyen, Syrien) unberücksichtigt ließ. Der Irak hat den schlimmsten Preis gezahlt für den Krieg gegen den Terror, mit rund einer Million Toten, im Gegensatz zu den 111.000, die von den US-Medien lanciert wurden, und den 30.000 gemäß Ex-Präsident George W. Bush. Der Bericht spricht von einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nahe am Völkermord“. Dies ist das wahre Antlitz des imperialistischen Krieges. Dies ist die wahre Bedeutung der so genannten „chirurgischen“ Schläge!
Die aktuellen Luftschläge in Syrien mögen den IS beschädigen, was ihn noch verzweifelter und selbstmörderischer machen wird, doch vor allem werden sie Angst und Hass in der ganzen Region säen. Das Phänomen, das den IS zum Aufstieg verhalf, wird am Ende gestärkt. Die „Antwort“ der Großmächte auf den Terrorismus ist Bestandteil der Eskalation der Barbarei, Bestandteil einer Spirale der irrationalen Gewalt.
Die Lehren aus den Nachwirkungen des Angriffs gegen Charlie Hebdo am 7. Januar ziehend, als die Bourgeoisie, überrascht von den spontanen Demonstrationen, gezwungen war, schnell noch auf den Zug zu springen und das Kommando zu übernehmen, verhinderte der französische Staat diesmal denselben spontanen Antrieb zur Solidarität, der möglicherweise ein Nachdenken und Diskutieren befördert und die Möglichkeit birgt, dass die Menschen „die Straße“ als einen Ort der politischen Machtausübung sehen. Im Gegenteil, jedermann wurde gezwungen, zuhause zu bleiben und sich mit „la patrie“ (dem Vaterland) zu identifizieren, die Logik des Krieges zu akzeptieren. Die Idee des Wehrdienstes und einer „Nationalgarde“ tauchte wieder auf. Die Sozialistische Partei in Frankreich hat sich an der Situation schadlos gehalten und die Gelegenheit genutzt, um ihr Arsenal der Überwachung und Repression aufzustocken. Der Ausnahmezustand, der erste seit dem Algerienkrieg 1958 und 1961, wurde vorerst auf drei Monate befristet und auf das gesamte Hauptland sowie auf die Übersee-Departments (Guadeloupe, Martinique, Guyana, La Réunion und Mayotte) ausgedehnt. Dieser Ausnahmezustand basiert auf Sondermaßnahmen, die die „Freiheit“ einschränken. Er „verleiht in den Bereichen, wo er Anwendung findet, den zivilen Behörden außerordentliche polizeiliche Befugnisse“23, wie die Möglichkeit, ohne Haftbefehl Razzien durchzuführen. Es geht darum, die Bevölkerung an die drastische Verstärkung der Repression zu gewöhnen, die die Bourgeoisie, wie sie sehr gut weiß, in Zukunft auch gegen die Arbeiterklasse nutzen wird. Ein ganzer Blumenstrauß an neuen Gesetzen zur Festigung der „nationalen Sicherheit“ steht zur Diskussion, und dieselbe Sicherheitskampagne wird überall auf der Welt geführt.
Der Staat profitiert also vom Terrorismus, indem er sich selbst als Garanten des Friedens, um Krieg zu führen, als Beschützer der Menschenrechte, um die Kontrolle über die Bevölkerung zu stärken, und als Wächter der gesellschaftlichen Einheit präsentiert, um den Hass zu verschärfen. Täglich wird der Hass auf Fremde, auf Muslime, werden all die anderen Spaltungen angefacht, die es der kapitalistischen Ordnung gestattet, über die Ausgebeuteten zu herrschen. Gewalttaten gegen Immigranten vervielfachen sich, wie in Deutschland, wo Flüchtlingslager in Brand gesetzt werden. In Frankreich spielen der Front National und ein Teil der rechten Politiker wie Nadine Morano mit ihren Diskursen auf derselben Klaviatur wie der Islamische Staat: Furcht, Ausschluss, der Hass gegen die Anderen.
In solch einem gesellschaftlichen Kontext erscheinen die wenigen Ausdrücke wirklicher Solidarität als heroisch. Trotz der Risiken und Gefahren kamen sofort Menschen zusammen, um den Verletzten zu helfen. In der Umgebung der Angriffsziele zögerten Anwohner nicht, ihre Türen zu öffnen, um Leuten, die auf den Straßen in Panik geraten waren, Zuflucht zu gewähren. Allerdings wurde fast überall die vorübergehende Tendenz, aus Solidarität und Empörung zusammenzukommen, schnell erstickt. All dies zeigt, dass die Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber dem Mitmenschen, die normalerweise in der kapitalistischen Gesellschaft vorherrscht, überwunden werden kann, wenn es ein bewusstes Anliegen ist, Solidarität auszudrücken, den Menschen zu helfen, die sich realen Gefahren gegenübersehen. Wir haben dies in den letzten Monaten gesehen, als ein bedeutender Teil der Arbeiterklasse die Flüchtlinge willkommen geheißen hat, besonders als die ersten in Deutschland eintrafen. Doch die aktuelle Lage zeigt auch, dass dieser zerbrechliche Impetus angesichts der bösen Schwächen der Arbeiterklasse heute schnell auf das falsche Terrain des Patriotismus und Nationalismus gelenkt werden kann, hinter denen die mörderische und fremdenfeindliche Logik der demokratischsten Staaten steckt. Das Klima der Furcht und des Terrors wird zusammen mit dem Kampagnentrommelfeuer nach den Pariser Anschlägen schwer auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse lasten: Der Ruf nach nationaler Einheit und nach einem Staat als Retter vor diesen Gefahren können den Einfluss tödlicher Illusionen über die Verteidigung der Demokratie und der Stärkung der Sicherheit nur bekräftigen, und zwar auf internationaler Ebene. Und dies wird das Aufkommen einer realen Perspektive noch weiter erschweren, die selbstmörderischen Tendenzen dieses verrottenden Systems noch weiter verstärken.
Eine wirkliche Arbeitersolidarität kann nur auf internationale Weise, außerhalb des Einflusses aller Formen der bürgerlichen Ideologie, und in den Arbeiterkämpfen ausgedrückt werden. Die Generation, die das erste Ziel der Anschläge vom 13. November war, war in der sozialen Bewegung 2006 in der Lage gewesen, eine große Welle der Solidarität in der gesamten Arbeiterklasse zu generieren. Und als junge Leute aus den Vorstädten kamen, um Leute auszurauben, die an den Demonstrationen teilnahmen, weigerte sich diese Generation von Studenten und prekär Beschäftigten, in die Falle der Spaltung zu tappen. Sie sandten Delegationen zu diesen Vorstädten, um zu versuchen, die Leute dort für den allgemeinen Kampf zu gewinnen. Wenn sie so handelten, dann deshalb, weil die soziale Bewegung in der Lage war, sich selbst in allgemeinen Versammlungen zu organisieren, die es erlaubten, gemeinsam nachzudenken, zu diskutieren und zu arbeiten, mit anderen Worten: das Bewusstsein anzuheben. Dies ist der einzige Weg, um angesichts der schlimmsten Auswirkungen des Zerfalls vorwärts zu schreiten: Solidarität im Kampf, offene und freie Debatten, die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Letztendlich kann nur diese Logik, die in den Massenkämpfen der Arbeiterklasse enthalten ist, das Aufkommen einer politischen Klassenidentität, die Entwicklung der historischen Perspektive einer neuen Gesellschaft ermöglichen. Dies ist die Perspektive einer Welt ohne Klassen, ohne Kriege und Grenzen, eine menschliche Gemeinschaft, die auf der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und nicht auf den Bedürfnissen des Profits beruht.
„Der Wahnwitz wird erst aufhören, und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Russland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“24
IKS, 21.November 2015
1Originalton des IS-Kommuniqués, das die Verantwortung für die Anschläge übernahm.
2Eine große Zahl der Opfer war zwischen 25 und 35 Jahre alt. Siehe zum Beispiel „A Paris, une génération visée“ (Le Monde) oder „La jeunesse qui trinque“ (Libération, 15.11.15).
3 Z.B. Cabu, 76, Wolinski, 80, Bernard, 68.
4Wo „Hunderte von Götzenanbetern sich in einer lasterhaften Prostitutionsparty versammelt hatten“ (IS-Kommuniqué).
5Siehe den Artikel auf unserer Website „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“, /content/876/thesen-ueber-die-studentenbewegung-frankreich-im-fruehling-2006 [52]
6Hierzu siehe „Les portraits poignants des victimes du 13 novembre“ auf der Website von Libération.
7« Wenn alle Länder zusammen 30.000 Menschen, die Monster sind, nicht austilgen können, dann ist nichts begriffen worden.“ (Laurent Fabius, Außenminister der sozialistischen Regierung in Frankreich (Erklärung im Radiosender France Inter, 20. November)
8„Der Zerfall: die letzte Phase der kapitalistischen Dekadenz“, Internationale Revue, Nr. 13, /content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [53]
9„Militarismus und Zerfall“, Internationale Revue, Nr. 13, /content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall [54]
10Es sei auch daran erinnert, dass es dieselben USA waren, die 1979 einen bedeutenden Beitrag dazu geliefert hatten, Saddam, als Verbündeten der USA gegen den Iran, im Irak an die Macht zu bringen.
11„IS hat einen wahrhaftigen ‚Kriegsschatz‘ zu seiner Verfügung (zwei Milliarden Dollar laut der CIA), massive und autonome Einnahmen – es gibt keinen Vergleich mit dem, wozu al-Qaida Zugang hatte. Der IS hat alle Arten der militärischen Ausrüstung, einiges davon sehr rustikal, aber auch einige schwere und hochentwickelte Waffen. Statt mit einer terroristischen Bewegung sind wir mit einer echten Armee konfrontiert, die von professionellen Offizieren angeführt wird. Wer ist der Doktor Frankenstein, der dieses Monster geschaffen hat? Lasst uns ganz deutlich sagen, weil dies Konsequenzen hat: Es sind die USA. Zwar haben auch andere Akteure durch kurzsichtige politische Interessen – einige von ihnen werden von ihren Freunden im Westen geteilt – als Komplizen oder absichtlich, dazu beigetragen, es aufzubauen und zu stärken. Doch die Hauptverantwortung liegt bei den USA.“ (Aus einer Rede von General Vincent Desportes, ein assoziierter Professor der politischen Wissenschaften in Paris, befragt vom französischen Senat zur Operation „Chammal“ im Irak. Verfügbar auf der Website des Senats.
12Das Kalifat, das sie mit Waffengewalt zu erobern vorgeben, umfasst somit: Irak, Syrien, Libanon, Kurdistan, Kasachstan, die Golf-Länder, den Jemen, den Kaukasus, den Maghreb, Anatolien, Ägypten, Äthiopien, Libyen, das ganze Horn von Afrika, Andalusien und Teile Europas. Dieses unrealisierbare Projekt ist völlig selbstmörderisch und nicht weniger verheerend.
13„Militarismus und Zerfall“, a.a.O.
14Ein anderer Punkt, den der IS mit dem Nazi-Regime gemeinsam hat, ist, dass Letzteres dieselbe unrealistische und selbstmörderische Eroberungspolitik hatte. Daher ist der Begriff Islamo-Faschismus in der Tat geeignet, um die Ideologie des IS zu beschreiben.
15Rosa Luxemburg, Die Junius-Broschüre.
16Die Liste der Anschläge in der ganzen Welt seit den einstürzenden Twin Towers im September 2001 ist endlos. Jüngstes Beispiel: der Angriff und die Geiselnahme internationaler Gäste und Einheimischer in einem Hotel nahe des Zentrums von Bamako in Mali durch eine mit al-Qaida verbundene Gruppe eine Woche nach dem Pariser Massaker, die somit 27 weitere Tote der Liste hinzufügte.
17„Terroristische Angriffe in Frankreich: ein Ausdruck der Barbarei und des Zerfalls des kapitalistischen Systems“, Révolution Internationale, Nr. 149, Oktober 1986.
18Das Ausmaß des Gemetzels, das von den Selbstmordattentätern verursacht wird, die regelmäßig Marktplätze im Mittleren Osten heimsuchen, geben uns eine Ahnung von dem fürchterlichen Blutbad, das stattgefunden hätte, wenn es den Terroristen gelungen wäre, in das Stadion zu gelangen.
19Dieser Begriff ist im IS-Kommuniqué benutzt worden.
20Diese Kamikaze-Kommandos werden oftmals auch unter schwere Drogen gesetzt, um ihre Handlungen zu fördern, wie es bei dem jungen Mann der Fall war, der das Massaker im Hotel Sousse in Tunesien im Juni dieses Jahres angerichtet hatte.
21Ein Beispiel unter vielen: „Gestern wurden mindestens 36 Menschen, einschließlich zehn Kindern, getötet und Dutzende verletzt bei den 70 Angriffen, die von den russischen und syrischen Streitkräften gegen etliche Ortschaften in Deir Ezzor ausgeführt wurden“, laut Rami Abdel Rahman, Direktor der syrischen Beobachtergruppe der Menschenrechte (L’Express, 20.11.15).
22Veröffentlicht von folgenden Organisationen: Association Internationale des Médecins pour la Prévention de la Guerre Nucléaire (IPPNW, Friedensnobelpreis 1985), Physiker für die gesellschaftliche Verantwortung und Physiker für das globale Überleben.
23Senat, Étude de legislation comparée, No. 156, Januar 2006, „L’état d’urgence“.
24Junius-Broschüre.
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/4/55/afrika
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/3/54/zerfall
[3] https://de.internationalism.org/content/719/pearl-harbor-1941-twin-towers-2001
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/islamismus
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1233/zerfall
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/3/51/terrorismus
[7] https://fr.internationalism.org/files/fr/lettre_de_societe_des_gens_de_lettres_a_des_militants_du_cci_noms_effaces.jpg
[8] https://en.internationalism.org/files/en/paiement_la_gauche_communiste_germano-hollandaise.jpg
[9] https://fr.internationalism.org/files/fr/paiement_courant_bordiguiste_0.jpg
[10] https://fr.internationalism.org/files/fr/the_bordigist_current_vente.jpg
[11] https://www.left-dis.nl/f/
[12] https://fr.internationalism.org/files/fr/notice_bio_de_marc_chirik_0.pdf
[13] https://elaph.com
[14] https://middleeasttransparent.com/
[15] https://fr.internationalism.org/revolution-internationale/201411/9150/editions-smolny-participent-a-recuperation-democratique-rosa-l
[16] https://en.internationalism.org/series/1998
[17] https://left-dis.nl/f/livre.htm
[18] https://www.left-dis.nl/f/puntofinal91.pdf
[19] https://www.leftcommunism.org/spip.php?article368&lang=fr
[20] https://www.quinterna.org/lingue/deutsch/historische_de/brief_von_amadeo_bordiga_an_korsch.htm
[21] https://en.internationalism.org/262_infraction.htm
[22] https://de.internationalism.org/content/932/kein-zugang-fuer-spitzel-zu-den-oeffentlichen-veranstaltungen-der-iks
[23] https://fr.internationalism.org/icconline/2006_ficci
[24] https://de.internationalism.org/die-iks-unter-beschuss-durch-eine-neue-agentur-des-buergerlichen-staates
[25] https://fr.internationalism.org/node/715
[26] https://de.internationalism.org/20-Kongress-der-IKS-Resolution-zur-internationalen-Lage
[27] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/griechenland
[28] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/linksextreme
[29] https://de.internationalism.org/en/tag/2/31/der-parlamentarische-zirkus
[30] https://palebluejadal.tumblr.com/
[31] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1251/immigration
[32] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1252/ertrinken-im-mittelmeer
[33] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1253/verbrechen-gegen-die-menschlichkeit
[34] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1255/fluechtlinge
[35] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1261/emigration
[36] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/naher-osten
[37] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1250/militarismus
[38] https://de.internationalism.org/en/tag/3/43/imperialismus
[39] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/tough-dilemma-southern-syria
[40] https://www.alaraby.co.uk/english/politics/2015/7/2/kurds-lead-campaign-to-displace-arabs-in-tal-abyad
[41] https://de.internationalism.org/content/2468/der-anarchismus-und-der-imperialistische-krieg-nationalismus-oder-internationalismus
[42] https://libcom.org/forums/middle-east/turkey-news-27072015
[43] https://en.internationalism.org/icconline/201304/7373/internationalism-only-response-kurdish-issue
[44] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/turkei
[45] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/naher-osten
[46] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/pkk
[47] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1232/imperialismus
[48] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1258/kurdenfrage
[49] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1256/refugees
[50] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1259/migranten
[51] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1260/migration
[52] https://de.internationalism.org/content/876/thesen-ueber-die-studentenbewegung-frankreich-im-fruehling-2006
[53] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[54] https://de.internationalism.org/content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall
[55] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/frankreich
[56] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1278/paris