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Internationale Revue - 1996

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Internationale Revue 17

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Deutsche Revolution Teil I

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Als im Aug. 1914 der 1. Weltkrieg ausgelöst wurde, der mehr als 20 Mio. Opfer hinterließ, da war für alle Beteiligten klar, welche entscheidende Rolle damals die Gewerkschaften und vor allem die deutsche Sozialdemokratie gespielt hatten.

Im Reichstag hatte die SPD einstimmig den Kriegskrediten zugestimmt. Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften einen Burgfrieden ausgerufen, der jegliche Streiks verbot und ausschlaggebend dafür war,  alle Kräfte für den Krieg einzuspannen.

Die Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten rechtfertigte die Sozialdemokratie damit: “Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen (…). von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite”. “Vaterland in Gefahr”, “nationale Verteidigung”, “Volkskrieg um Existenz”, “Kultur und Freiheit” - das waren die Stichworte, die von der parlamentarischen Vertretung der SPD gegeben wurden

Das war der erste große Verrat einer Arbeiterpartei gewesen. Als ausgebeutete Klasse ist die Arbeiterklasse eine internationale Klasse. Deshalb ist der Internationalismus für die Arbeiterklasse der grundlegendste Bestandteil der Positionen  aller ihrer Organisationen - und der Verrat desselben führt diese Organisationen  unvermeidlich ins gegnerische Lager, in das des Kapitals.

Während das Kapital in Deutschland den Krieg nie ausgelöst hätte, wenn es nicht auf die Gewerkschaften und die SPD-Führung als sichere Stützen hätte rechnen können, und für das Kapital deren Verrat somit nicht als Überraschung kam,  sorgte dieser Verrat jedoch in den Reihen der Arbeiterbewegung selbst für einen großen Schock. Selbst Lenin wollte am Anfang nicht glauben, dass die SPD in Deutschland den Kriegskrediten zugestimmt hatte. Er hielt die ersten Nachrichten für eine Manipulation zur Spaltung der Arbeiterbewegung.(1)

Denn da die imperialistischen Spannungen seit Jahren zugenommen hatten, war die 2. Internationale schon sehr früh gegen diese  Kriegsvorbereitungen auf die Bühne getreten. 1907 auf dem Stuttgarter Kongress, 1912 auf dem Basler Kongress und gar bis in die letzten Juli-Tage des Jahres 1914 hinein hatte sie gegen die Kriegspropaganda mobilisiert - auch wenn dies gegen den erbitterten Widerstand des damals schon starken rechten Flügels geschah.

“Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.” (schon 1907 angenommen, 1912 bestätigt).

“Gefahr ist im Verzuge, der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muss den Gewalthabern in die Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!” (Aufruf des Vorstands der SPD am 25. Juli 1914, d.h. 10 Tage vor dem Votum für den Krieg am 4.8.1914).

Als die Sozialdemokratischen Abgeordneten dem Krieg zustimmten, taten sie das als Repräsentanten der größten Arbeiterpartei in Europa, deren Einfluss weit über Deutschland hinausging und als Partei, die vor dem Krieg in jahrzehntelanger Aufbauarbeit errichtet worden war   - selbst unter den ungünstigsten Bedingungen des Sozialistengesetzes, als sie verboten war. Die SPD hatte Dutzende von Wochen-, Tageszeitungen in ihren Händen. Schon 1899 hatte die SPD über 73 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 400.000 Exemplaren, 49 Zeitungen erschienen täglich. Schon um 1900 hatte sie über 100.000 Mitglieder, 1914 ca. eine Million.

So stand die revolutionäre Bewegung nach dem Verrat der Führung der SPD vor der Grundsatzfrage: sollte man es zulassen, dass diese Arbeiterorganisation  mit Mann und Maus ins Feindeslager überwechselt?

Aber nicht nur die SPD-Führung in Deutschland hatte verraten. In Belgien wurde der Vorsitzende der Internationale, Vandervelde, Minister, Jules Guesde, Führer der sozialistischen Partei in Frankreich wurde auch Minister. Die sozialistische Partei in Frankreich stimmte auch einstimmig für den Krieg. In England, wo es keine Wehrpflicht gab, übernahm die Labour-Partei die Organisierung der Rekrutierung. Auch wenn die österreichische SP formell nicht für den Krieg stimmen musste, rührte sie die Werbetrommel für ihn. In Schweden, Norwegen, der Schweiz, den Niederlanden bewilligten die SP-Führer jeweils die Kredite. In Polen rief die SP im galizisch-schlesischen Teil zur Unterstützung für den Krieg, in Russisch-Polen aber dagegen auf. In Russland gab es ein geteiltes Bild: ehemalige Führer der dortigen Arbeiterbewegung wie Plechanow, der Führer der russischen Anarchisten Kropotkin, eine Handvoll Mitglieder der Bolschewistischen Partei in der französischen Emigration riefen zur Verteidigung vor dem preußisch-deutschen  Militarismus auf. In Russland gab die sozialdemokratische Dumafraktion eine Erklärung gegen den Krieg. Sie war die erste offizielle Antikriegserklärung einer Parlamentsfraktion in einem großen kriegführenden Land. Die Sozialistische Partei Italiens nahm von Anfang an eine ablehnende Stellung gegen den Krieg ein. Im Dez. 1914 schloss die Partei eine Gruppe von Renegaten unter der Führung von Benito Mussolini aus, die auf  die Seite der ententefreundlichen Bourgeoisie getreten war und die Teilnahme Italiens am Weltkrieg propagierten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Bulgarien  (Tesnyaks) verteidigte ebenfalls einen konsequenten internationalistischen Standpunkt. Die wenigen serbischen sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten gegen den Krieg.

Die Internationale, der Stolz der Arbeiterklasse, war in den Flammen des Weltkrieges zerfallen. Die deutsche SPD war ein “stinkender Leichnam” geworden. Die Internationale löste sich, wie Rosa Luxemburg meinte, “in einen Haufen wildgewordener nationalistischer Bestien auf, die sich gegenseitig zur höheren Ehre der bürgerlichen Rechtsordnung und Moral zerfleischten.” Nur wenige Gruppen in Deutschland die “Internationale”, “Lichtstrahlen”, die Bremer Linke, Trotzkis Gruppe, Martow, Teile französischer Syndikalisten, die Gruppe Tribune (Gorter, Pannekoek) in Holland sowie die Bolschewiki verfochten einen resolut internationalistischen Standpunkt.

 

Gleichzeitig mit diesem entscheidenden Verrat der Mehrzahl der Parteien der II. Internationale wurde die Arbeiterklasse zur Zielscheibe eines ideologischen Angriffs, in dem ihr eine fatale Dosis nationalistisches Gift injiziert wurde.  Im August 1914 hatten sich nicht nur große Teile des Kleinbürgertums für die Expansionspläne Deutschlands einspannen lassen, sondern auch Bereiche der Arbeiterklasse waren dem  Nationalismus aufgesessen. Die bürgerliche Propaganda verbreitete die Hoffnung, “in einigen Wochen, spätestens Weihnachten” sei der Krieg vorbei, das ganze Gespenst beendet und man sei wieder zu Hause.

Nach der Auslösung des Krieges zog sich die Minderheit der Revolutionäre, die den Prinzipien des proletarischen Internationalismus treu geblieben war, nicht resigniert zurück und sie gab auch nicht in Anbetracht der besonders ungünstigen Bedingungen den Kampf auf.

Die Revolutionäre und ihr Kampf gegen den Krieg

Während große Teile der Arbeiterklasse noch nationalistisch benebelt waren, versammelten sich noch am Abend des 4. August führende Vertreter der Linken der Sozialdemokratie in Rosa Luxemburgs Wohnung (K. und H. Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, F. Mehring, E. Meyer, W. Pieck). Auch wenn ihre Zahl an diesem Abend verschwindend gering war, sollte ihr Wirken während der nächsten 4 Jahre von ungeheurer Ausstrahlung sein.

Auf der Tagesordnung des Treffens stand:  Wie sieht das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, wie innerhalb der SPD aus, welche Ziele muss der Widerstand gegen den Verrat der Parteiführung verfolgen, welche Perspektiven stehen an, wie müssen wir kämpfen?

Auch wenn die Situation momentan bedrückenden und niederschlagenden war, war das für die Revolutionäre kein Anlaß zu resignieren. Ihre Haltung war: wir dürfen die Organisation jetzt nicht über Bord schmeißen, sondern müssen entschlossen in der Organisation um ihre proletarischen Prinzipien kämpfen.

In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hatte es vor der offiziellen Abstimmung eine interne gegeben, in der 78 Abgeordnete für, 14 gegen die Kriegskredite gestimmt hatten. Aus Fraktionszwang hatten sich die 14 Abgeordneten, auch Liebknecht, dem Mehrheitsvotum gebeugt - und den Krediten zugestimmt. Diese Tatsache wurde von der SPD-Führung geheim gehalten.

Vor Ort sah es in der Partei noch uneinheitlicher aus. Aus vielen Ortsvereinen wurden sofort Proteste gegen den Vorstand laut. Am 6. August sprach die überwältigende Mehrheit der Ortsversammlung in Stuttgart der Reichstagsfraktion das Misstrauen aus. Dort gelang es den Linken gar, die Rechten aus der Partei zu schließen und die örtliche Zeitung an sich zu reißen. In Hamburg sammelten Laufenberg und Wolfheim die Opposition um sich, in Bremen trat die Bremer-Bürger-Zeitung um Knief entschlossen gegen den Krieg auf, der Braunschweiger Volksfreund, das Gothaer Volksblatt, “der Kampf” in Duisburg, Zeitungen in Nürnberg, Halle, Leipzig und Berlin protestierten ebenfalls und spiegelten die Ablehnung großer Teile der Parteibasis wider. Auf einer Versammlung in Stuttgart am 21. Sept. 1914 wurde Kritik am Verhalten Liebknechts geübt. Dieser sprach dann selbst von einem verheerenden Fehler, aus Fraktionsdisziplin so gehandelt zu haben. Da aber von Kriegsbeginn alle Zeitungen unter Zensur gestellt wurden, wurden die Proteststimmen sofort abgewürgt. Die SPD-Opposition stützte sich daher auf die Möglichkeit, im Ausland ihre Stimme zum Ausdruck zu bringen. Der “Berner Tagwacht” sollte zum Sprachrohr der SPD-Linken werden, auch in der Zeitschrift ‘Lichtstrahlen’, die von Borchardt herausgegeben wurde und von Sept. 1913 bis April 1916 erschien, konnten die Internationalisten ihre Position zum Ausdruck bringen.

Ein Überblick über die Lage innerhalb der SPD zeigte: auch wenn die Führung verraten hatte, nicht die ganze Organisation hatte sich für den Krieg einspannen lassen. Deshalb war die Perspektive klar: Um die Organisation zu verteidigen, um sie  nicht den Verrätern zu überlassen, musste für deren Rausschmiss gesorgt,  für klare Trennung von ihnen eintreten werden.

Bei dem Treffen in Rosa Luxemburgs Wohnung kam auch die Frage auf,  ob man nicht aus Protest, aus Abscheu vor dem Verrat aus der Partei austreten sollte? Einstimmig wurde diese Idee verworfen, denn man durfte den Verrätern nicht das Feld überlassen, die Organisation  sozusagen als Geschenk in den Dienst der herrschenden Klasse stellen.  Man konnte nicht einfach die Partei verlassen, die unter größten Anstrengungen aufgebaut worden, so wie Ratten das sinkende Schiff verlassen. Deshalb bedeutete damals die Verteidigung der Organisation nicht Austritt sondern für deren Rückeroberung eintreten.

Niemand dachte daran die Organisation zu verlassen. Das Kräfteverhältnis zwang die Minderheit nicht dazu, auch ging es jetzt noch nicht darum, eine neue, eigenständige Organisation außerhalb der SPD zu aufzubauen, erst einmal musste um die Organisation gekämpft werden, Rosa Luxemburg und ihre Genossen gehörten damit zu den konsequentesten Verteidigern der Notwendigkeit der Organisation.

Tatsache ist, lange bevor die Arbeiterklasse anfing, aus der nationalistischen Betäubung zu erwachen, hatten die Internationalisten längst den Kampf aufgenommen. Als Avantgarde warteten sie nicht auf die Reaktionen der Klasse insgesamt, sondern sie waren ihrer Klasse voraus. Während das nationalistische Gift in der Arbeiterklasse noch wirkte, die Klasse damals sowohl ideologisch wie auch physisch dem Maschinengewehrfeuer des imperialistischen Krieges ausgeliefert war, hatten die Revolutionäre selbst schon - unter den schwierigsten Bedingungen der Illegalität - das imperialistische Wesen des Krieges selber enttarnt. Auch hier - bei ihrer Arbeit gegen den Krieg - sind die Revolutionäre nicht in Wartestellung auf die ganze Klasse gegangen, um auf die Bewusstwerdung größerer Teile der Klasse zu harren. Und - wir werden ausführlich darauf zurückkommen - die Internationalisten erkannten ihre Verantwortung als Revolutionäre, als Mitglieder einer politischen Organisation - die sie sofort verteidigten. Es war noch keine Nacht vergangen, da hatten die Revolutionäre sich schon um die späteren Spartakisten versammelt, um die Verteidigung der Organisation in die Hand zu nehmen - und faktisch die Grundlagen für den Bruch mit den Verrätern zu legen. Soweit zum angeblichen Spontaneismus der Spartakisten und Rosa Luxemburg.

Sofort traten die Revolutionäre in Kontakt mit den Internationalisten in den anderen Ländern. Liebknecht wurde deshalb als prominentester Vertreter ins Ausland geschickt. In Belgien und Holland nahm er Kontakt auf mit der dortigen sozialistischen Partei.

Und auf zwei Ebenen wurde der Widerstand gegen den Krieg  vorangetrieben. Einmal auf der Ebene des Parlamentes, wo die Spartakisten die Parlamentstribüne noch ausnutzen sollten. Andererseits - viel wichtiger - durch die Entfaltung des Widerstandes vor Ort in der Partei selbst und im direkten Kontakt mit der Arbeiterklasse. So sollte in Deutschland selbst  Liebknecht bald zum Fanal des Widerstandes werden.

Innerhalb des Parlamentes gelang es Liebknecht,  immer mehr Abgeordnete auf seine Seite zu ziehen. Zwar überwog am Anfang noch Angst und Zögern, am 22. Okt. 1914 verließen 5 SPD-Abgeordnete aus Protest den Saal, am 2. Dez. 1914 stimmte Liebknecht als einziger öffentlich gegen die Kriegskredite, im März 1915 verließen ca. 30 Abgeordnete bei der Abstimmung den Saal, und ein Jahr später  - am 19. August 1915 stimmten schon 36 Abgeordnete gegen die Kredite. Der wirkliche Schwerpunkt lag jedoch bei den Aktivitäten der Arbeiterklasse selber - zum einen an der Basis der Arbeiterparteien - zum anderen in den Massenaktionen der Arbeiter in den Fabriken und auf der Straße.

Unmittelbar nach der Auslösung des Krieges hatten die Revolutionäre energisch und klar gegen das imperialistische Wesen des Krieges Stellung bezogen (2). Im April wurde die erste und einzige Nummer der “Internationale” mit 9.000 Exemplaren gedruckt, von denen allein am ersten Abend 5.000 Exemplare abgesetzt wurden.(daher der Name der Gruppe “Die Internationale”).  Ab den Wintermonaten 1914/15 wurden die ersten illegalen Flugblätter gegen den Krieg verteilt, am berühmtesten wurde “Der Feind steht im eigenen Land”.

In vielen Versammlungen vor Ort zirkulierte das Material gegen den Krieg. Allein die Tatsache, dass Liebknecht seine Zustimmung verweigert hatte, dies öffentlich bekannt wurde, ließ ihn schnell zum bekanntesten Kriegsgegner in Deutschland und später auch in den Nachbarländern werden. Die Texte wurden als “höchst gefährlich” von den bürgerlichen Sicherheitskräften eingestuft. In einigen Ortsversammlungen denunzierten die örtlichen Parteiführer diejenigen Mitglieder, die Material gegen den Krieg verteilten. Oft genug wurden sie kurz danach verhaftet! Die SPD war bis ins Innerste gespalten!

Hugo Eberlein berichtete später auf dem Gründungsparteitag der KPD am 31.Dez. 1918, dass eine Verbindung mit ca. 300 Städten bestand.  Um die ständig anwachsende Gefahr des Widerstands in den Reihen der SPD zu bannen, beschloss der Parteivorstand im Jan. 1915 gemeinsam mit der militärischen Führung, Liebknecht sollte mundtot gemacht werden, indem er zum Militär eingezogen wurde. Damit erhielt er Redeverbot, durfte nicht auf Versammlungen auftreten. Am 18. Feb. 1915 wurde Rosa Luxemburg inhaftiert bis Feb. 1916.  Mit Ausnahme einiger Monate zwischen Feb. und Juli 1916 hielt sie das Regime bis zum 8. Nov. 1918 im Gefängnis. Im Sept. 1915 wurden Ernst Meyer, Hugo Eberlein, später der 70jährige Mehring, und viele andere verhaftet. Aber selbst unter diesen schwierigsten Bedingungen betrieben sie ihre Arbeit gegen den Krieg weiter und unternahmen alles, um das Organisationsnetz weiter aufzubauen.

Mittlerweile hatte die Wirklichkeit des Krieges auch immer mehr Arbeiter aus ihrem nationalistischen Getaumel zurückgeholt. Denn die deutsche Offensive in Frankreich war schnell  ins Stocken geraten und ein langer Stellungskrieg hatte angefangen. Allein bis Ende 1914 waren schon 800.000 Soldaten gefallen. Die Stellungskriege in Belgien und Frankreich kosteten im Frühjahr 1915 Hunderttausende Tote. Allein an einem Tag starben 60.000 Soldaten an der Somme. An der Front kehrte schnell Ernüchterung ein, vor allem aber an der “Front zu Hause” wurde die Arbeiterklasse ins Elend gestürzt. Frauen wurden in die Kriegsproduktion gezerrt, Nahrungsmittel wurden horrend teuer und später rationiert. Am 18. März 1915 kam es zur ersten Frauendemo gegen den Krieg. Vom 15.-18. Okt. wurden blutige Zusammenstöße von Anti-Kriegsdemonstranten mit Polizei in Chemnitz gemeldet, am 30. Nov. 1915 demonstrierten ca. 10-15.000 gegen den Krieg in Berlin. Auch in anderen Ländern kam Bewegung in die Arbeiterklasse. In Österreich brachen zahlreiche ‘wilde’ Streiks gegen den Willen der Gewerkschaften aus. In England streikten 250.000 Bergarbeiter in Südwales, in Schottland streikten Maschinenbauer im Clydetal, in Frankreich gab es Streiks im Textilbereich.

 Die Arbeiterklasse hatte angefangen, langsam aus der nationalistischen Benebelung zu erwachen und wieder ihre Interessen als Ausgebeutete zu manifestieren. Der Burgfrieden geriet allmählich ins Wanken.

 

Die Revolutionäre international

Mit der Auslösung des 1. Weltkriegs und dem Verrat verschiedener Parteien der 2. Internationale war eine Epoche zu Ende gegangen. Die Internationale war damit gestorben, denn einige ihrer Mitgliedsparteien vertraten nicht mehr eine internationalistische Richtung, sondern waren auf die Seite der jeweiligen nationalen Bourgeoisie übergewechselt. Eine Internationale, aus verschiedenen nationalen Mitgliederparteien zusammengesetzt, verrät als solche nicht; sie stirbt dann, verliert ihre Rolle für die Arbeiterklasse,  kann als solche nicht mehr aufgerichtet werden.

Aber der Krieg hatte zu einer Polarisierung  innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung geführt: Auf der einen Seite die Parteien, die Verrat betrieben hatten, auf der anderen Seite die revolutionäre Linke, die konsequent und unnachgiebig revolutionäre Positionen vertrat, aber anfänglich nur eine kleine Minderheit bildete.

Dazwischen trieb eine zentristische Strömung, die zwischen den Verrätern und den Internationalisten schwankte und ständig zögerte, klar und unzweideutig Stellung zu beziehen und  keinen klaren Bruch mit den Sozialpatrioten herbeiführen wollte.Innerhalb Deutschlands selbst war die Opposition gegen den Krieg ebenfalls sehr früh in mehrere Gruppierungen gespalten:

- auf der einen Seite die Zögernden, von denen die meisten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion angehörten; Haase, Ledebour, waren einige bekannte Namen.

- die Gruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, DIE INTERNATIONALE, die ab 1916 den Namen “Spartakusgruppe” annahm,

- die Gruppen um die “Bremer Linke” (Bremer Bürgerzeitung, die ab Juli 1916 erschien), mit Knief, K. Radek an ihrer Spitze, die Gruppe um Borchardt (Lichtstrahlen), dann in verschiedenen Städten (Hamburg: Wolfheim, Lauffenberg), Dresden: Rühle. Ab Ende 1915 firmierten die Bremer Linken und Borchardt unter dem Namen Internationale Sozialisten Deutschland (ISD).

Nach einer ersten Phase der Desorientierung und unterbrochener Kontakte konnten ab Frühjahr die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz vom 26. bis 28. März, die Internationale Sozialistische Jugendkonferenz  vom 5. bis 7. April 1915 jeweils in Bern abgehalten werden. Und nach mehrmaligem Verschieben konnten sich vom 5. bis 8. Sept. 1915 in Zimmerwald (in der Nähe von Bern) 37 Delegierte aus 12 europäischen Ländern treffen. Die zahlenmäßig stärkste Delegation war die deutsche, ihr gehörten 10 Vertreter an, die 3 oppositionelle Gruppen repräsentierten: die Zentristen,  die Gruppe “Internationale” (E. Meyer, B. Thalheimer), von den ISD (Internationale Sozialisten Deutschlands) Julian Borchardt. Während die zentristischen Kräfte nur für die Beendigung des Krieges - ohne Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse - eintraten, stellten die Linken den Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution in den Mittelpunkt. Die Zimmerwalder Konferenz endete nach heftigen Diskussionen mit der Annahme eines Manifestes, in dem die Arbeiter aller Länder aufgefordert wurden, durch unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf für die Befreiung der Arbeiterklasse, für die Ziele des Sozialismus einzutreten. Dagegen hatten die Zentristen sich gegen die Betonung des organisatorischen Bruch mit dem Sozialchauvinismus gestellt und die Forderung nach dem Sturz der eigenen imperialistischen Regierung verhindert. Das Zimmerwalder Manifest sollte dennoch eine große internationale Ausstrahlung auf die Arbeiter und Soldaten haben. Auch wenn es ein Kompromiss war, der von den linken Kräften selbst kritisiert wurde, da die Zentristen noch zu stark vor klaren Stellungnahmen  zurückweichen konnten, war es ein Schritt hin zum Zusammenschluss der revolutionären Kräfte.

In einem früheren Artikel der International Review (Nr. 44)  haben wir die Schwächen gerade der Gruppe “Internationale” kritisiert, die anfänglich noch zögerlich war, die Notwendigkeit des Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg anzuerkennen.

Das Kräfteverhältnis gerät ins Wanken

Während die Klasse insgesamt langsam anfing, aus dem Taumel des Nationalismus zu erwachen, hatten die Revolutionäre ihren Zusammenschluss vorangetrieben.  Ihre Intervention stieß auf ein immer größeres Echo.

Am 1. Mai 1916 demonstrierten ca. 10.000 Teilnehmer gegen den Krieg. Liebknecht ergriff das Wort  und rief: “Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung”. Daraufhin wurde er verhaftet, was eine Protestwelle auslösen sollte. Das mutige Auftreten K. Liebknechts diente als Ansporn und Orientierung. Die Entschlossenheit der Revolutionäre- gegen den sozialpatriotischen Strom zu schwimmen und die proletarischen Prinzipien weiter zu verteidigen, trieb sie nicht in eine größere Isolierung, sondern wirkte als Aufforderung für den Rest der Klasse, selbst in den Kampf zu treten.

Im Mai 1916 traten Bergleute im Kreis Beuthen für Lohnerhöhungen in den Streik. In Leipzig, Braunschweig, Koblenz kam es zu Demonstrationen hungernder Arbeiter und Kundgebungen gegen Lebensmittelwucher. Über Leipzig wurde der Belagerungszustand verhängt. Aber die Aktionen der Revolutionäre,  die Tatsache, dass trotz Zensur und Versammlungsverboten sich die Nachricht vom zunehmenden Widerstand gegen den Krieg immer mehr ausbreitete, sollte der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse insgesamt weiter Auftrieb geben.

Am 27. Juni 1916 demonstrierten 25.000 Arbeiter in Berlin gegen die Verhaftung Liebknechts. Einen Tag später kam es zum ersten politischen Massenstreik gegen die Verhaftung Liebknechts, ca 55.000 Arbeiter streikten. In Braunschweig, Bremen, Leipzig und vielen anderen Städten kam es auch zu Solidaritätskundgebungen und Hungerdemonstrationen. In nahezu einem Dutzend Städten versammelten sich Arbeiter. Wir haben hier eine Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen den Revolutionären und der Arbeiterklasse. Die Revolutionäre stehen nicht außerhalb der Arbeiterklasse oder irgendwie über ihr, sondern sind nur der entschlossenste, klarste und in politischen Organisationen zusammengefasste Teil. Ihre Ausstrahlung hängt aber selbst von der ‘Empfangsbereitschaft’ der Arbeiterklasse insgesamt ab. Wenn die organisierte Anhängerschaft der Spartakusbewegung noch klein war, so folgten doch schon Hunderttausende ihren Losungen. Sie war Träger der Massenstimmung geworden. Der Burgfrieden hatte seine bändige Kraft verloren. Das Erwachen begann.

Das Kapital selbst versuchte die Revolutionäre von der Arbeiterklasse zu isolieren, denn gerade in dieser Phase löste es eine Repressionswelle aus. Viele Mitglieder des Spartakusbundes wurden in ‘Schutzhaft’, genommen. So Rosa Luxemburg, nahezu die ganze Zentrale des Spartakusbundes wurde in der zweiten Hälfte 1916 verhaftet. Viele Spartakisten wurden, nachdem sie in Sitzungen der SPD Flugblätter verteilt hatten, von den SPD-Funktionären denunziert; die Polizeizellen waren gefüllt mit Spartakisten.

Die Schlachten an der Westfront (Verdun) hinterließen immer mehr Opfer, gleichzeitig verlangte das Kapital in den Fabriken den an der ‘Heimatfront’ kämpfenden Arbeitern immer mehr ab. Ein Krieg kann nur geführt werden, wenn die Arbeiterklasse bereit ist,  ihr ganzes Leben für das Kapital zu opfern. Und hier stieß das Kapital auf einen immer stärkeren Widerstand.

Die Proteste gegen den Hunger rissen nicht mehr ab (die Bevölkerung erhielt nur ein Drittel ihres Kalorienbedarfs!) . Im Herbst 1916 gab es nahezu jeden Tag in einer größeren Stadt Proteste und Demos - im Sept. in Kiel, im Nov. in Dresden, im Jan. 1917 die Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit begann sich hier langsam zu wenden.

Auch innerhalb der SPD selbst geriet die sozialpatriotische Führung immer mehr in Bedrängnis. Auch wenn sie noch durch enge Zusammenarbeit mit der Polizei jeweils oppositionelle Arbeiter durch das Militär verschleppen ließ, auch wenn sie durch Manipulationen bei Abstimmungen innerhalb der Partei die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten aufrechterhalten konnte, der wachsende Widerstand gegen ihre Haltung war nicht mehr kleinzukriegen. Die SPD-Führung geriet immer mehr in die Minderheit. Ab Herbst 1916 beschlossen immer mehr Ortsvereine eine Beitragssperre für den Vorstand. Die Opposition strebte zu diesem Zeitpunkt nach dem Zusammenschluss ihrer Kräfte, um den Vorstand auszuhebeln und die Partei wieder in ihre Hände zu bekommen.

Der SPD-Vorstand sah klar, wie sich dieses  Kräfteverhältnis zu seinen Ungunsten entwickelte. Nachdem sich die Opposition am 7. Januar 1917 auf einer Reichskonferenz getroffen hatte,  beschloss der Vorstand den Ausschluss aller Oppositionellen.  Die Spaltung war vollzogen. Der organisatorische Bruch war da! Die internationalistischen Aktivitäten und das politische Leben der Arbeiterklasse konnte sich nicht mehr innerhalb der SPD entwickeln, sondern nunmehr nur noch außerhalb. Das proletarische  Leben innerhalb der SPD war ausgelöscht, nachdem die revolutionären Minderheiten ausgeschlossen worden waren. Eine Arbeit innerhalb der SPD war nicht mehr möglich, die Revolutionäre mussten sich außerhalb organisieren. (3)

Die Opposition stand nunmehr vor der Frage, welche Organisation neu errichten? An dieser Stelle sei nur gesagt, dass zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 1917, die verschiedenen Strömungen innerhalb des linken Lagers in Deutschland verschiedene Richtungen einschlugen.

Wie die Organisationsarbeit zum damaligen Zeitpunkt einzuschätzen war, werden wir in einem nächsten Artikel näher aufgreifen.

Die russische Revolution - Auftakt der revolutionären Welle

Gleichzeitig hatte international der Druck der Arbeiterklasse gegen den Krieg einen entscheidenden Durchbruch erzielt. Im Februar (März westeuropäischer Zeitrechnung) hatten in Russland die Arbeiter und Soldaten bei ihrem Kampf gegen den Krieg wie schon 1905 Arbeiter- und Soldatenräte errichtet. Der Zar wurde gestürzt. Eine revolutionäre Entwicklung hatte in Russland eingesetzt, die sehr schnell ein Echo in den Nachbarländern, ja auf der ganzen Welt finden sollte. Dies ließ in den Reihen der Arbeiter Hoffnung aufkommen.

Die weitere Entwicklung der Kämpfe kann nur verstanden werden im Lichte der Revolution in Russland. Denn die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in einem Land den Herrscher gestürzt hatte, anfing, an den kapitalistischen Grundmauern zu rütteln,  wirkte wie ein Leuchtstern, auf den die Arbeiterklasse in der ganzen Welt zu blicken begann. Nicht nur in den Nachbarländern, sondern weltweit. Die Kämpfe der Arbeiterklasse in Russland sollten vor allem eine große Ausstrahlung in Deutschland haben.

Im Ruhrgebiet kam es vom 16. bis 22. Februar  1917 zu einer Streikwelle. Weitere Massenaktionen gab es in zahlreichen anderen deutschen Städten.  Es sollte keine Woche mehr ohne größere Widerstandsaktionen mit Forderungen nach Lohnerhöhungen und besserer Lebensmittelversorgung vergehen. In nahezu allen Großstädten wurde von Lebensmittelunruhen berichtet. Als im April eine erneute Kürzung der Lebensmittelrationen angekündigt wurde, schwappte die Wut der Arbeiterklasse über. Ab dem 16. April kam es zu einer großen Welle von Massenstreiks in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Hannover, Braunschweig, Dresden.  Das Militär, führende bürgerliche Politiker, Gewerkschaftsführer und die SPD-Führer Ebert und Scheidemann berieten gemeinsam, wie sie der Streikbewegung Herr werden können.

In mehr als 300 Betrieben streikten ca. 300.000 Arbeiter. In den Straßen bildeten sich Demonstrationszüge. Es war nach den Streiks gegen die Verhaftung Liebknechts im Juli 1916 der zweite große Massenstreik.  “Unzählige Versammlungen fanden in Lokalen und unter freiem Himmel statt, es wurden Reden gehalten und Beschlüsse gefasst. So ist im Nu der Belagerungszustand durchbrochen worden und zerflossen in nichts, sobald die Masse sich rührte und entschlossen von der Straße Besitz ergriff.” (Aus Spartakusbriefe, April 1917).

Die Arbeiterklasse in Deutschland trat damit in die Fußstapfen ihrer Klassenbrüder in Russland, die in einem gewaltigen Massenkampf dem Kapital entgegentraten.

Sie kämpften genau mit den Mitteln, die Rosa Luxemburg in ihrer Schrift “Massenstreik”  nach den Kämpfen 1905 geschrieben hatte: Massenversammlungen, Demonstrationen, Kundgebungen, Diskussionen und gemeinsame Beschlüsse in den Betrieben, Vollversammlungen bis hin zur Bildung von Arbeiterräten.

Nachdem die Gewerkschaften ab 1914 in den Staat integriert worden warten, dienten sie nunmehr als Bollwerk gegen die Abwehrkämpfe der Arbeiter. Sie sabotierten den Kampf der Arbeiter mit allen Mitteln. Die Arbeiter mussten sich selber organisieren, sich selbst aktivieren, sich selbst zusammenschließen. Keine vorher aufgebaute Organisation nahm ihnen diese Arbeit ab. Und die Arbeiterklasse in Deutschland, dem höchst entwickelten Industrieland der damaligen Zeit, zeigte ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Entgegen dem Gerede, das uns heute noch unaufhörlich präsentiert wird, ist die Arbeiterklasse sehr wohl dazu fähig, massenhaft in den Kampf zu treten. Dazu konnte sie ihren Kampf nicht mehr in gewerkschaftlichen Bahnen führen, wo in den verschiedenen, voneinander getrennten  Berufszweigen jeweils um Reformen gerungen wurde. Die Arbeiterklasse schloss sich  über alle Berufsgruppen, Fabrikzweige hinweg zusammen und trat ein für Forderungen, die alle Arbeiter vereinigten: Brot und Frieden, die Freilassung ihrer revolutionären Kräfte. Überall erscholl der Ruf nach der Freilassung K. Liebknechts.

Die Kämpfe konnten vorher nicht mehr sorgfältig, generalstabsmäßig vorbereitet werden, wie im vorigen Jahrhundert. Aufgabe einer politischen Organisation war es, eine politische Führungsrolle in diesen Kämpfen zu spielen, und nicht die Klasse zu organisieren.

Bei dieser Streikwelle waren die Arbeiter zum ersten Mal voll mit den Gewerkschaften zusammengeprallt. Während die Gewerkschaften im vorigen Jahrhundert von den Arbeitern selbst geschaffen worden waren, während sie zu Kriegsbeginn schon als Stützpfeiler für das Kapital in den Fabriken dienten, sollten sie nunmehr eine Hürde für den Kampf der Arbeiter selber werden. Die Arbeiter in Deutschland machten als erste die Erfahrung, dass sie nunmehr in den Kampf nur gegen den Widerstand der Gewerkschaften treten konnten.


Die Auswirkungen der begonnenen Revolution in Russland griffen vor allem auch auf die Reihen der Soldaten über. Nach dem Beginn der russischen Revolution debattierten die Soldatenmassen mit größter Erregtheit das Geschehen, an der Ostfront häuften sich Verbrüderungen zwischen russischen und deutschen Soldaten. Im Sommer 1917 kam es dann im Juli zu den ersten Meutereien in der deutschen Flotte. Zwar konnte auch hier noch eine blutige Repression die ersten Flammen wieder ersticken, aber die Ausdehnung und Intensivierung des revolutionären Elans ließ sich langfristig nicht mehr aufhalten. Die Spartakusanhänger und Angehörige der Bremer Linksradikalen hatten einen großen Einfluss auf Matrosen

Auch in den Industriestädten rumorte der Widerstand weiter:  Vom Ruhrgebiet über Mitteldeutschland, Berlin und Küste, überall war die Klasse dabei, dem Kapital die Stirn zu zeigen. Am 16. Juli erließen die Arbeiter in Leipzig einen Aufruf, dass sich die Arbeiter in  anderer Städte ihnen anschließen sollten.

Die Intervention der Revolutionäre

Die Spartakisten standen bei diesen Bewegungen an vorderster Stelle. Vom Frühjahr 1917 an hatten sie die Bedeutung der Entwicklung in Russland erkannt. Sie waren die Kräfte, die die Brücke zur Arbeiterklasse in Russland schlagen, die die Perspektive des internationalen Ausdehnung der revolutionären Kämpfe in Russland aufzeigten wollten. In ihren Schriften, in Flugblättern, in Redebeiträgen, in den Betrieben - immer wieder traten sie gegen die schwankenden, zögernden, vor klaren Stellungnahmen sich drückenden Zentristen an und trugen zum Begreifen der neuen Lage bei. Immer wieder entblößten sie den Verrat der Sozialpatrioten und zeigten den Weg auf, wie die Arbeiterklasse zu ihrem Klassenterrain zurückfinden konnte.

Die Spartakisten pochten unaufhaltsam darauf:

- wenn die Arbeiterklasse ein ausreichend großes Kräfteverhältnis entwickeln könnte, würde sie den Krieg zu Ende bringen und den Sturz der Kapitalistenklasse herbeiführen können,

- dazu war es aber notwendig, die revolutionäre Flamme, die die Arbeiterklasse in Russland angezündet hatte, weiterzutragen. An entscheidender Stelle stand die Arbeiterklasse in Deutschland!

 “In Russland haben Arbeiter und Bauern... die alte zarische Regierung gestürzt und die Leitung ihrer Geschicke selbst in die Hand genommen. Streiks und Arbeitseinstellungen von gleicher Zähigkeit und Geschlossenheit bringen uns in der gegenwärtigen Zeit nicht nur kleine Erfolge, sondern das Ende des Völkermordens, bringen den Sturz der deutschen Regierung und der  ..... Die Arbeiterklasse war nie mächtiger als jetzt im Krieg, wenn sie geschlossen, solidarisch handelnd und kämpfend sich betätigt, die herrschende Klasse nie sterbliche .r.... Nur die deutsche Revolution kann allen Völkern den heißersehnten Frieden und die Freiheit bringen. Die siegreiche russische Revolution im Bunde mit der siegreichen deutschen Revolution sind unbesiegbar. Von dem Tage an, wo unter den revolutionären Schlägen des Proletariats die deutsche Regierung samt dem deutschen Militarismus zusammenbricht, beginnt ein neues Zeitalter: ein Zeitalter, in dem Kriege, kapitalistische Ausbeutung und Bedrückung für immer verschwinden müssen.” (Flugblatt der Spartakisten, April 1917,

“Die Herrschaft der Reaktion und der imperialistischen Klassen in Deutschland gilt es zu brechen, wenn wir dem Völkermord ein Ende machen wollen... Nur durch Massenkampf, durch Massenauflehnung, durch Massenstreiks, die das ganze wirtschaftliche Getriebe und die gesamte Kriegsindustrie zum Stillstand bringen, nur durch Revolution und die Erringung der Volksrepublik in Deutschland durch die Arbeiterklasse kann dem Völkermord ein Ziel gesetzt und der allgemeine Frieden herbeigeführt werden. Und nur so kann auch die russische Revolution gerettet werden.”

“Die internationale Katastrophe vermag nur das internationale Proletariat zu bändigen. Den imperialistischen Weltkrieg kann nur eine proletarische Weltrevolution liquidieren.” (Spartakus Nr. 6, Aug. 1917)

Die Linksradikalen waren sich ihrer Verantwortung bewusst und sahen was auf dem Spiel stand, wenn die Revolution in Russland isoliert bleiben sollte: “ ..... das Schicksal der russischen Revolution: sie kann lediglich als Prolog der europäischen Revolution des Proletariats ihr Ziel erreichen. Werden hingegen die europäischen, die deutschen Arbeiter dem spannenden Schauspiel weiter wohlwollend zuschauen und nur die Zaungäste spielen, dann darf die russische Sowjetherrschaft nichts anderes gewärtigen (erwarten) als das Geschick der Pariser Kommune [sprich die blutige Niederschlagung].” (Spartacus, Jan. 1918)Deshalb musste gerade das Proletariat in Deutschland, das an der Schlüsselstelle zur Ausdehnung der Revolution stand, seine historische Rolle wahrnehmen. “Das deutsche Proletariat ist der treueste, zuverlässigste Verbündete der russischen und internationalen proletarischen Revolution.” (Lenin)

Überprüfen wir die Intervention der Spartakisten inhaltlich, können wir erkennen, dass sie klar, internationalistisch war  und die richtige Orientierung für den Kampf der Arbeiter gab: Sturz der Regierung, die Perspektive: ein weltweiter Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft, Bloßlegung der Sabotagetaktiken der Kräfte der Bourgeoisie.

Die Ausdehnung der Revolution auf die Zentren des Kapitalismus lebenswichtig

Während die Bewegung der Arbeiterklasse in Russland vom Februar 1917 gegen den Krieg gerichtet war, war die Arbeiterklasse in Russland selber zu schwach gewesen, den Krieg zu Ende zu bringen. Dazu ist es nötig, dass die Arbeiterklasse in den Industriehochburgen selber auf den Plan tritt. Die Arbeiter in Russland waren sich dieser Notwendigkeit bewusst, und unmittelbar nachdem sie im Okt. 1917 die Macht übernommen hatten,  sandten sie sofort einen Appell an die Arbeiterklasse in den kriegführenden Ländern mit dem Aufruf:

“Die Arbeiter- und Bauernregierung, die durch die Revolution vom 24/25. Oktober geschaffen wurde und sich auf die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten stützt, schlägt allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen vor, sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden aufzunehmen.” (26. Nov. 1917).

Die Weltbourgeoisie war sich jedoch der Gefahr, die für ihre Klassenherrschaft von dieser Lage ausging, voll bewusst. Sie wollte deshalb alles unternehmen, um die in Russland angezündete Flamme zu erlöschen. Deshalb setzte die deutsche Bourgeoisie ihre Kriegsoffensive gegen Russland fort, nachdem sie im Jan. 1918 den Friedensabschluss von Brest-Litowsk unterzeichnet hatte.

Die Spartakisten hatten gegenüber diesen Friedensverhandlungen in einem Flugblatt “Die Stunde der Entscheidung” im Dez. 1917 gewarnt: “Auch für das deutsche Proletariat schlägt nunmehr die Stunde der Entscheidung! Seid auf der Hut! Denn gerade durch diese Verhandlungen beabsichtigt die deutsche Regierung, dem Volke Sand in die Augen zu streuen, das Elend und den Jammer des Völkermordens noch zu verlängern und zu verschärfen.. Die Regierung und die deutschen Imperialisten verfolgen nur durch neue Mittel ihre alten Ziele. Unter dem Deckmantel des Selbstbestimmungsrechts der Nationen sollen aus den besetzten russischen Provinzen Zwergstaaten geschaffen werden, damit sie - zu einer Scheinexistenz verdammt und von den deutschen ‘Befreiern’ wirtschaftlich wie politisch abhängig - später bei der ersten günstigen Gelegenheit , von ihnen regelrecht verspeist werden können.” 

Es dauerte jedoch noch ein weiteres Jahr, bis die Arbeiterklasse in Industriezentren selbst stark genug war, um den imperialistischen, mörderischen Arm der jeweiligen Bourgeoisie zurückzuhalten. Aber die Ausstrahlung der siegreichen Revolution in Russland auf der einen Seite sowie die Intensivierung des Krieges durch die Imperialisten auf der anderen Seite führten jedoch nur zur einer noch größeren Entschlossenheit der Arbeiterklasse, den Krieg zu Ende zu bringen.

 Die revolutionäre Flamme griff langsam auf andere Länder über.

* In Finnland wurde im Jan. 1918 ein Arbeiterkomitee gegründet, das die Machtergreifung vorbereitete. Die Kämpfe in Finnland wurden dann im März militärisch niedergeschlagen. Das deutsche Militär mobilisierte alleine über 15.000 Soldaten. Bilanz der massakrierten Arbeiter: mehr als 25.000.

* Am 15. Jan. 1918 begann in Wiener Neustadt ein politischer Massenstreik, der sich über fast alle Teile der Habsburger Monarchie ausbreitete. In Brünn, Budapest, Graz, Prag, Wien und in anderen Städten kam es zu gewaltigen Demos für Frieden. Ein Arbeiterrat wurde gebildet, der die Aktionen der Arbeiterklasse bündelte. Am 1. Februar 1918 erhoben sich die Matrosen der österreichisch-ungarischen Flotte im Kriegshafen Cattaro gegen die Weiterführung des Krieges und verbrüderten sich mit den streikenden Arsenalarbeitern.

Zur gleichen Zeit fanden Streiks in England, Frankreich und Holland statt (siehe dazu Artikel in International Revue Nr. 80).

Die Januarkämpfe: Die SPD Speerspitze der Bourgeoisie gegen die Arbeiter

Nachdem die deutsche Regierung die Offensive gegen die junge revolutionäre Arbeitermacht in Russland fortsetzen wollte, kochte die Wut in den Reihen der Arbeiter in Deutschland über. Am 28. Januar traten in Berlin 400.000 Arbeiter in den Streik. Vor allem Rüstungsbetriebe wurden bestreikt. Am 29. Jan. erhöhte sich die Zahl der Streikenden gar auf 500.000. Die Bewegung pflanzte sich in andere Städte in Deutschland fort: In München erließ eine Streikversammlung folgenden Aufruf: “Die streikenden Arbeiter Münchens entbieten ihre brüderliche Grüße den belgischen, französischen, englischen, italienischen, russischen, amerikanischen Arbeitern. Wir fühlen uns eins mit Euch in dem Entschluss, dem Weltkrieg sofort ein Ende zu bereiten... Wir wollen gemeinsam den Weltfrieden erzwingen (..) Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!” (zitiert von R. Müller, S. 148)

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In dieser größten Massenbewegung im Krieg bildeten die Arbeiter in Berlin einen Arbeiterrat. Ein Flugblatt der Spartakisten rief dazu folgendermaßen auf:

“Wir müssen eine freigewählte Vertretung nach russischem und österreichischem Muster schaffen mit der Aufgabe, diesen und die weiteren Kämpfe zu leiten. Jeder Betrieb wählt pro 1000 Beschäftigten je einen Vertrauensmann.” Insgesamt kamen über 1.800 Delegierte zusammen.

Die Belegschaften wurden von den Spartakisten dazu aufgerufen, dass die “Gewerkschaftsführer, Regierungssozialisten und andere ‘Durchhalter’ unter keinen Umständen in die Vertretungen gewählt werden ..... Diese Handlanger und freiwilligen Agenten der Regierung, diese Todfeinde des Massenstreiks haben unter den kämpfenden Arbeitern nichts zu suchen (…) während des Massenstreiks im April 1917 haben sie in heimtückischer Weise der Streikbewegung das Genick gebrochen, indem sie die Unklarheit der Masse ausnutzten und den Kampf auf falsche Bahnen lenkten ..... von diesen Wölfen im Schafspelz droht der Bewegung eine viel schlimmere Gefahr als von der königlich-preußischen und anderweitigen Polizei.”.  Im Mittelpunkt der Forderungen standen: Frieden, Zuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Friedensverhandlungen ..... Die Versammlung der Arbeiterräte rief dazu auf: “Wir richten an die Proletarier Deutschlands wie der anderen kriegführenden Länder insgesamt die dringende Aufforderung, wie schon die Arbeitskollegen in Österreich-Ungarn erfolgreich uns vorangegangen sind, so nunmehr gleichfalls in Massenstreiks einzutreten, denn erst der gemeinsame internationale Klassenkampf schafft uns endgültig Frieden, Freiheit und Brot.”  Ein weiteres Flugblatt der Spartakisten betonte: “Wir müssen mit der Reaktion ‘russisch’ reden.”  Es rief dazu auf, gemeinsam Demonstrationen auf der Straße durchzuführen.

Nachdem sich ca. 1 Mio. Arbeiter der Bewegung angeschlossen hatten,  schlug die herrschende Klasse eine Taktik ein, die sie sie später immer wieder gegen die Arbeiterklasse einsetzte. Sie schaffte es, drei Vertreter der SPD in den Aktionsausschuß / Streikleitung zu schicken, die ihre ganze Kraft für den Abbruch der Streiks einsetzten. Sie waren die Saboteure von Innen. Ebert gab unumwunden zu: “Ich bin mit der bestimmten Absicht in die Streikleitung eingetreten, den Streik zum schnellen Abschluss zu bringen und eine Schädigung des Landes zu verhüten’. ‘Es war ja schließlich die Pflicht der Arbeiter daheim, ihre Brüder und Väter an der Front zu stützen und ihnen das Beste an Waffen zu liefern, was es gibt. Die Arbeiter Frankreichs und Englands verlieren auch nicht eine Arbeitsstunde, um ihren Brüdern an der Front zu helfen. Der Sieg ist selbstverständlich der Wunsch jedes Deutschen.” (Ebert, 31.Jan.1918) Die Arbeiter sollten ihre Illusionen über die SPD und ihre Führer noch teuer zu zahlen haben.

Nachdem die SPD die Arbeiter seit 1914 für den Krieg mobilisiert hatte, trat sie jetzt mit aller Kraft  den Streiks entgegen. Das zeigt die Klarheit und den Überlebensinstinkt der herrschenden Klasse, wie bewusst sie sich war über die Gefährlichkeit der Arbeiterklasse. Die Spartakisten hatten die tödliche Gefahr, die von der Sozialdemokratie ausging erkannt, und warnten die Arbeiter vor ihnen. Aber selbst die heimtückischen Methoden der Sozialdemokratie reichten nicht.

Denn gleichzeitig musste die herrschende Klasse direkt mit dem Militär brutal gegen die Streikenden vorgehen. Ein Dutzend Arbeiter wurden erschossen, mehrere Zehntausend Streikende zwangsrekrutiert... obgleich diese Zwangsrekrutierten in den darauffolgenden Monaten in der Armee agitierten und zu deren Destabilisierung beitrugen. Die Streiks wurden dann am 3. Februar abgebrochen.

Wir sehen hier, dass die Arbeiterklasse in Deutschland genau die gleichen Kampfmittel einsetzte, Massenstreik, gewählte und abwählbare Delegierte, massives Zusammenkommen auf der Straße... Dies sind seitdem die ‘klassischen’ Waffen der Arbeiterklasse.

Die Spartakisten gaben auch dieser Bewegung die richtige Ausrichtung, hatten aber selbst noch keinen ausschlaggebenden Einfluss. “Unter den Delegierten waren eine Menge unserer Leute gewesen, nur waren sie zersplittert, hatten keinen Aktionsplan und verschwanden in der Menge.” (Barthel, S. 591) Mit entscheidend war aber die Sabotagearbeit der Sozialdemokratie:

Diese Schwäche der Revolutionäre und die Sabotagearbeit der Sozialdemokratie waren die entscheidenden Faktoren für die Beendigung der Bewegung zum damaligen Zeitpunkt.

“Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären (…)  dann wäre der Krieg und alles andere meiner festen Überzeugung nach schon im Januar erledigt gewesen (…) Es bestand die Gefahr des totalen Zusammenbruchs und des Eintritts russischer Zustände. Durch unser Wirken wurde der Streik bald beendet und alles in geregelte Bahnen gelenkt.” (Scheidemann)

Wir können sehen, dass die Bewegung in Deutschland auf einen viel stärkeren Widerstand stoßen sollte als in Russland. Die Kapitalistenklasse hatte schon die Lehren gezogen, um gegenüber der Arbeiterklasse in Deutschland wie anderswo mit allen Mitteln vorzugehen.

Hier schon bewies die SPD, wie sie Fußangeln aufstellen konnte, und der Bewegung die Spitze brach. In den später folgenden Kämpfen sollte sich dies als noch verheerender erweisen. Die Januar-Niederlage der Arbeiterklasse gab dem Kapital wiederum die Möglichkeit, seinen Krieg noch einige Monate fortzusetzen. Im Laufe des Jahres 1918 sollte das Militär weitere Offensiven einleiten. Sie kosteten allein in Deutschland 1918 550.000 Tote und nahezu 1 Mio. Verwundete.

Nach der Niederlage der Arbeiter im Jan. 1918 war die Kampfbereitschaft trotzdem aber ungebrochen geblieben -und gerade unter dem Druck der sich weiter verschlechternden militärischen Lage desertierten immer mehr Soldaten, die Front fing an zu bröckeln. Ab dem Sommer 1918 nahm die Streikbereitschaft in den Betrieben wieder zu. Das Militär musste offen eingestehen, dass die Fronten sich nicht mehr halten lassen könnten. Es drängte auf einen Waffenstillstand.

Und die herrschende Klasse hatte eine entscheidende Lehre aus Russland gezogen. Während im April 1917 die deutsche Bourgeoisie noch Lenin im verplombten Zug durch Deutschland rollen ließ, in der Hoffnung, die russischen Revolutionäre würden dort für Chaos sorgen und damit die deutschen imperialistischen Ziele erleichtern (dass dann später im Okt. 1917 eine proletarische Revolution entstand, hatten die deutschen Militärs nicht erwartet), musste jetzt eine revolutionäre Entwicklung wie in Russland vermieden werden.

Die SPD wurde in eine neugebildete Regierung mit einbezogen, sie sollte als Puffer dienen. “Wenn wir jetzt unter allen Umstände unsere Mitarbeit verweigern, dann wäre mit der sehr ernsten Gefahr zu rechnen, ..... dass dann die Bewegung über uns hinweggeht und ein bolschewistisches Regime vorübergehend auch bei uns Platz greifen würde.” (G. Noske, 23.09.1918.

In den Fabriken brodelte es,  immer wieder brachen an verschiedenen Orten Streiks aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Massenstreikbewegung das ganze Land erfassen würde. Die aufsteigende Kampfbereitschaft lieferte dann den Nährboden für die Reaktion der Soldaten selber. Denn als das Militärs im Okt. eine neuen Flottenoffensive befahl, kam es zu  Meutereien. Die Matrosen von Kiel und anderen Ostseehäfen weigerten sich auszulaufen. Am 3. Nov. erhob sich eine Welle von Protesten und Streiks gegen den Krieg. Überall wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. Innerhalb einer Woche war ganz Deutschland von einer Welle von Arbeiter- und Soldatenräte ‘überrollt’.

Während in Russland die Fortsetzung des Krieges unter der Kerenski-Regierung nach Februar 1917 den entscheidenden Anstoß für den Arbeiterkampf geliefert, dass die Arbeiter im Okt. 1917 selber die Macht ergriffen und den Krieg beenden wollte, setzte die herrschende Klasse in Deutschland, die besser gerüstet war als die russische, alles daran, ihre Macht zu verteidigen.

Am 11. Nov., d.h. eine Woche nach der rapiden Ausdehnung der Arbeiterkämpfe, dem Entstehen von Arbeiter- und Soldatenräten,  wurde der Waffenstillstand vereinbart. In Deutschland beging die Bourgeoisie also nicht den Fehler, den Krieg ‘koste was es wolle’ gegen die Welle von Arbeiterkämpfen fortzusetzen. Mit der Beendigung des Krieges versuchte sie der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, damit es nicht zu einer Ausdehnung der Revolution kam. Darüber hinaus schickte sie ihr stärkstes Geschütz ins Feld: die SPD - mit den Gewerkschaften an ihrer Seite.

“Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg. Die proletarische Revolution wird über seine Leiche hinwegschreiten.” (Spartakus-Brief Okt. 1918)

Ende Dezember schrieb Rosa Luxemburg: “In allen früheren Revolutionen traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm, Schild gegen Schild... In der heutigen Revolution treten die Schutztruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer ‘sozialdemokratischen Partei’ in die Schranken. Es ist eine sozialistische Partei, es ist das ureigenste Geschöpf der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes, das sich in das wuchtigste Instrument der bürgerlichen Gegenrevolution verwandelt hat.” (Rosa Luxemburg, Ein Pyrrhussieg, 21.Dez.1918.

Wir werden in einem nächsten Artikel auf die konterrevolutionäre Rolle der SPD und die weitere Entwicklung der Kämpfe eingehen.

Die Beendigung des Krieges nur möglich durch das Wirken der Revolutionäre

Die Arbeiterklasse in Deutschland hätte nie diese Kraft entfalten können ohne die systematische Hilfe und Intervention der Revolutionäre in ihren Reihen. Der Übergang vom Rausch des Hurrapatriotismus in großen Teilen der Arbeiterklasse 1914  bis hin zur Erhebung im Nov. 1918 , und zur erfolgreichen Beendigung des Krieges war nur dank der Arbeit der Revolutionäre möglich. Nicht der Pazifismus, sondern die revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse hatte den Krieg zu Ende gebracht.

Wenn die Revolutionäre nicht von Anfang an den Verrat der Sozialpatrioten mutig zur Sprache gebracht hätten, wenn sie nicht laut und deutlich in den Versammlungen, Fabriken, auf den Straßen ihre Stimme erhoben hätten, wenn sie nicht entschlossen die Saboteure des Klassenkampfes bloßgestellt hätten, wäre der Widerstand der Arbeiterklasse ohne  Bezugspunkt geblieben.

 Wenn wir zurückblicken und Bilanz ziehen hinsichtlich der Arbeit der Revolutionäre, können wir viele Lehren für heute ziehen.Zunächst ließen sich Handvoll Revolutionäre im August 1914 nicht einschüchtern oder durch ihre geringe Zahl deprimieren. Sie behielten das Vertrauen in ihre Klasse und traten resolut weiter für die Prinzipien der Arbeiterklasse ein und intervenierten entschlossen ungeachtet der großen Schwierigkeiten, um das Kräfteverhältnis zum Kippen zu bringen. In den Ortsvereinen, an der Basis selber wie auch in anderen Ländern gruppierten die Revolutionäre schnell ihre Kräfte - ohne aufgrund der momentanen Niederlage der Arbeiterklasse ihre eigene Rolle zu verwerfen. Indem sie der Arbeiterklasse eine politische Orientierung anboten, indem sie eine richtige politische Analyse des Imperialismus, der Klassenverhältnisse lieferten, indem sie die richtige Perspektive aufzeigten, dienten sie als politischer Kompaß.

Die konsequente Verteidigung der Organisation, um die SPD nicht kampflos den Verrätern zu überlassen, wie auch der Aufbau einer neuen Organisation, auf den wir in der nächsten Nummer eingehen wollen, waren ebenso zentraler Bestandteil dieses Kampfes. Die Revolutionäre sind von Anfang für den Internationalismus und den internationalen Zusammenschluss der Revolutionäre zunächst (Zimmerwald & Kienthal) und der Klasse insgesamt (Zusammenschluss der Kämpfe) eingetreten.

Indem sie erkannten, dass der imperialistische Krieg nicht durch pazifistische Mittel, sondern nur durch Klassenkrieg, Bürgerkrieg beendet werden könnten, dass also der Sturz der Kapitalsherrschaft notwendig war, um die Welt von der Barbarei zu befreien, traten sie konkret für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft ein.

Diese politische Arbeit wäre nicht möglich gewesen, ohne die theoretische und programmatische Klärung vor dem Krieg. Ihr Kampf war eine Fortsetzung der Positionen der Linken innerhalb der II. Internationale gewesen, an deren Spitze Rosa Luxemburg und Lenin standen.

 Wir können sehen, auch wenn die Zahl der Revolutionäre und ihr Einfluss am Anfang des Krieges noch gering waren (für die führenden Köpfe reichte anfangs noch der Platz  Rosa Luxemburgs Wohnung, oder die Delegierten von Zimmerwald paßten in 3 Taxen), sollte ihre Arbeit ausschlaggebend werden. Auch wenn ihre Presse am Anfang noch in geringer Auflage zirkulierte, waren ihre inhaltlichen Aussagen und Orientierungen für die Arbeiterklasse unerläßlich und lieferten die Keime für die später aufgehende Saat. 

All das muss uns die Augen für die Wichtigkeit der Arbeit der Revolutionäre öffnen. 1914 brauchte die Arbeiterklasse 4 Jahre, um sich aus ihrer Niederlage zu erholen und gegen den Krieg zu erheben. Heute zerfleischt sich die Arbeiterklasse in den Industriezentren nicht in einem Krieg, sondern muss sich gegen die Folterkammer der Krise zur Wehr setzen. Es dauert länger, bis die Arbeiterklasse ihre Kraft sammelt, um das System zu überwinden - aber genauso wie sie damals den Krieg nie hätte zu Ende bringen können, wenn nicht die Revolutionäre in ihrer Mitte entschlossen und klar gekämpft hätten, hängt sie heute noch mehr von der Intervention der Revolutionäre ab.

Wir werden dies in weiteren Artikeln verdeutlichen.                                           Dv.

 

Fußnoten:

(1) “Aber nein, das ist eine Lüge! Das haben sie gefälscht, die Herren Imperialisten! Der ‘echte’ Vorwärts ist wahrscheinlich beschlagnahmt!” so Sinowjew über Lenin)

 (2) Pannekoek schrieb “Der große europäische Krieg und Sozialismus”, F. Mehring: “Vom Wesen des Krieges”,  Lenin “Der Zusammenbruch der II. Internationale”, “ Sozialismus und Krieg”,  “Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg”, C. Zetkin und K. Duncker “Thesen zum Krieg”, Rosa Luxemburg “Junius-Broschüre/Die Krise der Sozialdemokratie”,  Liebknecht “Der Hauptfeind steht im eigenen Land”

(3) bis 1917 war der Mitgliederstand der SPD von einer Million 1914: auf ca. 200.000 geschrumpft.

 

 

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [2]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • Mai 1968 in Frankreich [3]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Zweite Internationale [4]

Theoretische Fragen: 

  • Krieg [5]

Die I. Internationale und der Kampf gegen das Sektierertum

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Neben dem Kampf der Bolschewiki gegen die Menschewiki zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus und dem Anarchismus in der I. Internationale wahrscheinlich das berühmteste Beispiel der Verteidigung der proletarischen Organisationsprinzipien in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Für die Revolutionäre von heute, die von der lebendigen Organisationsgeschichte ihrer eigenen Klasse infolge der mehr als 50 jährigen stalinistischen Konterrevolution abgeschnitten sind, ist es wesentlich, sich die Lehren dieser Erfahrung wieder anzueignen. Der erste Artikel wird sich auf die Vorgeschichte dieser Auseinandersetzung konzentrieren und aufzeigen, wie Bakunin das Konzept entwickelte, die Führung der Arbeiterbewegung mittels einer geheimen Organisation zu übernehmen und unter seine eigene persönliche Kontrolle zu bringen. Wir werden aufzeigen, wie diese Auffassung notwendigerweise dazu führte, daß Bakunin von der herrschenden Klasse mit dem Ziel der Zerstörung der Internationale manipuliert werden konnte. Dabei werden wir die grundlegend arbeiterfeindlichen Wurzeln dieser Auffassung gerade was die Organisationsfrage bloßlegen.

Die geschichtliche Bedeutung des Kampfes des Marxismus gegen den Organisationsanarchismus

Die I. Internationale ist in den Geschichtsbücher eingegangen vor allem wegen des Kampfes zwischen Marx und Bakunin, welcher auf dem Haager Kongreß 1872 mit dem Ausschluß Bakunins und seiner rechten Hand Guillaume seinen vorläufigen Abschluß fand. Was aber die bürgerlichen Historiker als einen Kampf zwischen Persönlichkeiten, und die Anarchisten als einen Kampf zwischen "autoritären" und "freiheitlichen" Auffassungen des Sozialismus darstellen, war in Wirklichkeit ein Kampf der gesamten Internationale gegen diejenigen, welche ihre Statuten mit Füßen traten. Bakunin und Guillaume wurden in Den Haag ausgeschlossen, weil sie innerhalb der Internationale eine geheime "Bruderschaft" aufgebaut hatten, eine Organisation innerhalb der Organisation, mit ihren eigenen Strukturen und Statuten. Diese Organisation, die sogenannte "Allianz der sozialistischen Demokratie" existierte und handelte im verborgenen und zwar mit dem Ziel, die Kontrolle der Internationale aus den Händen ihrer Mitglieder zu reißen, um deren Kontrolle Bakunin zu übertragen.

 

Ein Todeskampf zwischen verschiedenen Organisationsauffassungen

Der Kampf, der in der Internationale ausgetragen wurde, war also nicht einer zwischen "Autorität und Freiheit", sondern zwischen zwei völlig entgegengesetzten, ja sich feindlich gegenüberstehenden Organisationsprinzipien.

1) Auf der einen Seite die Auffassung, die am entschlossensten von Marx und Engels, aber insgesamt vom Generalrat und von der großen Mehrheit der Mitglieder vertreten wurde, daß eine proletarische Organisation nicht von der Willkür einzelner, von der Gnade "führender Genossen" abhängen darf, sondern nach festgelegten, von allen unterstützten und für alle verbindlichen Regeln, genannt Statuten, funktionieren muß. Diese Statuten müssen den einheitlichen, zentralisierten, kollektiven Charakter einer solchen Organisation garantieren, für eine offene, disziplinierte, alle Mitglieder einbeziehende Form der politischen Debatte und der politischen Entscheidungsprozesse sorgen. Wer mit Entscheidungen der Organisation, oder mit Punkten der Statuten, nicht mehr einverstanden ist, hat nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht, seine Kritik offen vor der gesamten Organisation innerhalb des dafür vorgesehenen Rahmens vorzutragen. Diese Organisationsauffassungen, welche die Internationale Arbeiterassoziation(IAA) entwickelte, entsprachen dem kollektiven, einheitlichen, revolutionären Charakter des Proletariats.

2) Auf der anderen Seite vertrat Bakunin die elitäre, kleinbürgerliche Auffassung des "genialen Führers", dessen außerordentliche politische Klarheit und Entschlossenheit der eigentliche Garant der revolutionären "Leidenschaft" und Ausrichtung ist. Dieser Führer sieht sich dann "moralisch berechtigt", hinter dem Rücken der Organisation seine Anhänger zu sammeln und zu organisieren, damit er an die "Schaltstellen" der Organisation gelangen und seine "historische Mission" erfüllen kann. Da die Mitgliedschaft insgesamt zu dumm sei, um den Bedarf an solch revolutionärem Messias zu erkennen, muß man sie dazu bringen, das zu tun, was gut für sie ist, auch ohne sie in Kenntnis davon zu setzen, ja auch gegen ihren Willen. Die Statuten, die souveränen Entscheidungen von Kongressen oder gewählten Gremien, sind vielleicht gut für die Anderen, aber sie stehen der Elite im Wege.

Dies war die Auffassung Bakunins. Bevor er der IAA betrat, erklärte er seinen Anhängern, weshalb die Internationale keine revolutionäre Organisation sei. Die Proudhonisten seien reformistisch geworden, die Blanquisten alt, die Deutschen wie der von ihnen angeblich beherrschte Generalrat "autoritätsgläubig". Auffallend ist die Art und Weise, wie Bakunin die Internationale als die Summe ihrer Teile betrachtet. Vor allem mangelte es laut Bakunin an "revolutionärem Willen". Dafür wollte die Allianz sorgen, indem sie Programm und Statuten der Internationale mit Füßen trat und ihre Mitglieder hinters Licht führte.

Für Bakunin zählten die Organisationen, welche das Proletariat hervorbrachte, welche in jahrelanger, mühevoller Arbeit aufgebaut wurden, nichts. Die konspirativen Sekten, die er selber schuf und beherrschte, waren ihm dagegen alles. Nicht die Klassenorganisation interessierte ihn, sondern sein persönlicher Status und sein Ansehen, seine anarchistische "Freiheit" - was man heute "Selbstverwirklichung" nennt. Für Bakunin und seinesgleichen war die Arbeiterbewegung nichts als ein Vehikel, um die eigenen individuellen, individualistischen Pläne zu realisieren.

 

Ohne revolutionäre Organisation keine revolutionäre Arbeiterbewegung

Marx und Engels hingegen wußten, was der Organisationsaufbau für das Proletariat bedeutet. Während die Geschichtsbücher die Geschichte so darstellen, daß der Konflikt zwischen Marx und Bakunin ein allgemeinpolitischer war, zeigt die wirkliche Geschichte der Internationale vor allem einen Kampf um die Organisation. Für die bürgerlichen Historiker eine eher langweilig erscheinende Angelegenheit. Für uns hingegen etwas sehr lehrreiches, aufregend Wichtiges. Was Marx uns zeigt, ist, daß es ohne proletarische Organisation keine revolutionäre Klassenbewegung oder Theorie geben kann.

Und tatsächlich: der Gedanke, daß organisatorische Festigkeit, Entwicklung und Wachstum die Voraussetzungen sind für die programmatische Entfaltung der Arbeiterbewegung, liegt der gesamten politischen Tätigkeit von Marx und Engels zugrunde (1). Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus wußten nur zu gut, daß das proletarische Klassenbewußtsein nicht das Ergebnis von Individuen sein kann, sondern eines kollektiven, organisierten Rahmens bedarf. Deshalb ist der Aufbau der revolutionären Organisation eine der wichtigsten, wenn auch eine der schwierigsten Aufgaben des revolutionären Proletariats.

 

Der Kampf um die Statuten

Nirgends haben Marx und Engels entschiedener und fruchtbarer für dieses Verständnis gekämpft als in den Reihen der 1. Internationale. 1864 gegründet, entstand die Internationale zu einer Zeit, als die organisierte Arbeiterbewegung noch weitgehend beherrscht wurde durch kleinbürgerliche bzw. reformistische Ideologien und Sekten. Die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) war zunächst einmal eine Umgruppierung dieser Elemente. Vorherrschend waren die opportunistischen englischen Gewerkschaftsvertreter, der kleinbürgerlich-reformistische Proudhonismus der romanischen Länder, der konspiratorische Blanquismus und in Deutschland die Sekte unter Lassalle. Obwohl die verschiedensten Programme und Weltanschauungen aufeinander stießen, standen die Revolutionäre damals unter dem enormen Druck der Arbeiterklasse, die nach internationaler Einheit drängte, sich zusammenschließen wollte. Bei den ersten Treffen der IAA in London wußte kaum jemand, wie dieser Zusammenschluß vonstatten gehen sollte. In dieser Situation setzen sich die wirklich proletarischen Elemente, mit Marx an der Spitze, dafür ein, die programmatische Klärung zwischen den verschiedenen Gruppierungen erst einmal zu vertagen. Die jahrelange politische Erfahrung der Revolutionäre und die internationale Kampfwelle der gesamten Klasse sollten eingesetzt werden, um zunächst eine einheitliche Organisation zu schmieden. Der internationalen Einheit dieser Organisation, verkörpert durch die Zentralorgane, insbesondere den Generalrat, und durch die Statuten, welche von allen Mitgliedern akzeptiert werden mußten, würden die Internationale in die Lage versetzen, nach und nach die programmatischen Divergenzen auszuräumen und zu einer einheitlichen Auffassung zu gelangen. Der Umgruppierung im großen Maßstab konnte gelingen, solange der internationale Klassenkampf im Aufschwung begriffen war.

Der entscheidende Beitrag des Marxismus bei der Gründung der 1. Internationale lag somit eindeutig auf der Ebene der Organisationsfrage. Die verschiedenen bei dem Gründungstreffen anwesenden Sekten waren nicht in der Lage, den Wille zum internationalen Zusammenschluß, welchen vor allem die englischen und französischen Arbeiter gefordert hatten, zu konkretisieren. Die bürgerliche Atto di fratellanza, die Anhänger Mazzinis, wollten die konspiratorischen Statuten einer Geheimsekte durchsetzen. Die "Inauguraladresse" sowie die Statuten, welche Marx dann im Auftrag der Organisationskomitee vorlegte, verteidigten den proletarischen und einheitlichen Charakter der Organisation, und legten die unerläßliche Grundlage für die weitere Klärungsarbeit. Wenn die Internationale in der Folge sehr weit gehen konnte bei der Überwindung utopischer, kleinbürgerlicher, sektiererischer und konspiratorischer Vorstellungen, dann in erster Linie, weil ihre verschiedenen Strömungen sich mehr oder weniger diszipliniert an die gemeinsamen Regeln hielten.

Unter diesen Strömungen war das Besondere bei den Bakunisten, daß sie sich nicht an die Statuten halten wollten. Deshalb war es die bakunistische Allianz, welche es beinahe schaffte, die erste internationale Partei des Proletariats zu vernichten. Der Kampf gegen die Allianz ist in die Geschichte eingegangen als die große Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus. Und das war es auch. Aber im Mittelpunkt des Kampfes standen nicht allgemein-programmatische Fragen wie etwa das Verhältnis zum Staat, sondern Organisationsprinzipien.

Die Proudhonisten z.B. teilten viele der anarchistischen Auffassungen Bakunins. Sie traten aber für die Klärung ihrer Auffassungen nach den Regeln der Organisation ein. Auch sie glaubten daran, daß Organisationsstatuten von allen Mitgliedern ohne Ausnahme eingehalten werden müßten. Deshalb waren insbesondere die belgischen "Kollektivisten" in der Lage, sich in wichtigen Fragen dem Marxismus anzunähern. Ihr bekanntester Sprecher, De Paepe, war ein prinzipieller Gegner der von Bakunin für nötig gehaltenen geheimen Organisation.

 

Bakunins geheime Bruderschaft

Und gerade dieser Frage stand im Mittelpunkt des Kampfes der Internationale gegen Bakunin. Es ist eine auch von anarchistischen Historikern anerkannte Tatsache, daß Bakunin, der 1869 der IAA beitrat, eine geheime Bruderschaft zur Verfügung stand, mit der er die Kontrolle über die Internationale an sich reißen wollte.

"Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, welche unter der Maske des extremen Anarchismus ihre Angriffe nicht gegen die bestehenden Regierungen richtet, sondern gegen die Revolutionäre, welche sich nicht ihrer Orthodoxie und ihrer Leitung unterwerfen. Von der Minderheit eines Bourgeois-Kongresses gegründet, schleicht sie sich in die Reihen der internationalen Organisationen der Arbeiterklasse ein, versucht zuerst, sich ihrer Leitung zu bemächtigen, und arbeitet auf ihre Desorganisation hin, sobald sie diesen Plan scheitern sieht. In schamlosester Weise sucht sie ihr sektiererisches Programm und ihre beschränkten Ideen dem umfassenden Programm, den großen Anstrebungen unserer Assoziation unterzuschieben; sie organisiert in den öffentlichen Sektionen der Internationalen ihre geheime Sektiönchen, welche, derselben Parolen gehorchend, durch vorher abgekartetes gemeinsames Vorgehen in vielen Fällen zur Herrschaft über jene gelangen; sie greift öffentlich in ihren Blättern alle Elemente an, welche sich weigern, sich ihrer Herrschaft zu fügen; sie provoziert den offenen Krieg - das sind ihre eignen Worte - in unseren Reihen."

Das sind die Worte des Berichtes "Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation", welchen Marx und Engels im Auftrag des Haager Kongresses von 1872 verfaßten (MEW Bd.18, S.333).

Bakunins Kampf gegen die Internationale war sowohl das Produkt der spezifisch historischen Situation der damaligen Zeit, als auch von allgemeinen, auch heute noch existierenden Faktoren. Was seinen Aktivitäten zugrunde lag, war die Infiltration des kleinbürgerlichen Individualismus und Fraktionalismus, welcher unfähig ist, sich dem Willen und der Disziplin der Organisation unterzuordnen. Hinzu kam die konspiratorische Haltung des deklassierten Boheme, der ohne Manöver und Komplotte zugunsten der eigenen persönlichen Ziele nicht auskommen kann. Die Arbeiterbewegung ist schon immer mit solchen Verhaltensweisen konfrontiert worden, da die Organisation sich nicht ganz von dem Einfluß der anderen Klassen der Gesellschaft abschirmen kann. Andererseits nahmen Bakunins Komplotte die konkrete historische Form der Geheimorganisation an, welche auch zur eigenen Vergangenheit der damaligen Arbeiterbewegung gehörte. Wir werden die konkrete Geschichte Bakunins untersuchen müssen, um auch das Allgemeingültige, für uns heute Wichtige begreifen zu können.

 

Der Bakuninismus gegen den Bruch des Proletariats mit dem kleinbürgerlichen Sektierertum.

Die Gründung der Internationale, die das Ende der Konterrevolution nach 1849 bedeutete, rief die heftigste (und Marxens Aussage zufolge gar übertriebene) Reaktion der Angst und des Hasses unter der herrschenden Klasse hervor: unter den Überresten der feudalen Aristokratie und vor allem unter der Bourgeoisie als dem direkten und historischen Gegner des Proletariats. Mit Hilfe von Spionen und agents provocateurs sollte die Internationale infiltriert werden. Koordinierte, oft hysterische Verleumdungskampagnen wurden in der Presse gegen sie inszeniert. Bei ihren Aktivitäten wurde sie wo immer möglich bedrängt und von der Polizei unterdrückt. Mitglieder wurden vor Gericht gezerrt und ins Gefängnis gesteckt. Erst nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871 machte sich in den Reihen der Internationale Verwirrung breit.

Was die Bourgeoisie am meisten beunruhigte, war abgesehen von der internationalen Vereinigung ihres Klassenfeindes, die Tatsache, daß der Marxismus sich ausbreitete und daß die Arbeiterbewegung die sektiererischen Formen der geheimen Organisierung aufgab und eine Massenbewegung wurde. Die Bourgeoisie fühlte sich viel sicherer, solange die revolutionäre Arbeiterbewegung die Form von geschlossenen, sektiererischen, geheimen Gruppierungen trug, in deren Mittelpunkt eine einzige Führerfigur stand, und die irgendein utopisches Schema verfocht oder einen Verschwörungsplan verfolgte, im großen und ganzen aber vollständig von der Arbeiterklasse insgesamt isoliert war. Diese Sekten konnten viel einfacher beobachtet, infiltriert, mißbraucht und manipuliert werden als eine Massenorganisation, deren Hauptstärke und Sicherheit in ihrer Verankerung in der Arbeiterklasse als ganzes lag. Für die Bourgeoisie stellte vor allem die Perspektive einer revolutionären sozialistischen Aktivität gegenüber der Arbeiterklasse insgesamt eine Gefahr für ihre Klassenherrschaft dar, denn die utopischen und verschwörerischen Sekten der Vergangenheit konnten nie diese Gefahr für sie bedeuten. Die Verbindung zwischen Sozialismus und Klassenkampf, zwischen Kommunistischen Manifest und großen Streikbewegungen, zwischen politischen und ökonomischen Aspekten des Klassenkampfes des Proletariats - darüber verlor die Bourgeoisie von 1864 an manch schlaflose Nacht. Und dies liefert die Erklärung für die unglaubliche Brutalität, mit der die Bourgeoisie die Arbeiter der Pariser Kommune abschlachtete und das Ausmaß der internationalen Solidarität aller Teile der ausbeutenden Klassen mit diesem Massaker.

So stand als eines der Hauptthemen der bürgerlichen Propaganda gegen die Internationale die Beschuldigung im Vordergrund, daß hinter der Internationale tatsächlich eine mächtige geheime Organisation stecke, die verschwörerisch auf den Sturz der bestehenden Ordnung hinarbeite. Hinter dieser Propaganda, die auch ein zusätzlicher Vorwand für Unterdrückungsmaßnahmen waren, verbarg sich vor allem der Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß die Bourgeoisie noch am meisten die geheimen Verschwörer fürchtete und nicht so sehr die Massenbewegung. Die Ausbeuter unternahmen alles, um die verschiedenen, noch aktiven Sekten und Verschwörergruppen dazu zu ermuntern, weiter auf Kosten des Marxismus und der Massenbewegung tätig zu bleiben. In Deutschland ermunterte Bismarck die Sekte um Lassalle bei deren Widerstand gegen die Streiks der Arbeiter und gegen die marxistischen Traditionen des Bund der Kommunisten. In Frankreich versuchte die Presse, aber auch die agents provocateurs, das ständig vorhandene Mißtrauen der Verschwörergruppe um Blanqui gegen die Massenaktivitäten der Internationale anzustacheln. In den romanischen und slawisch-sprachigen Ländern wurde eine hysterische Pressekampagne gegen die angebliche „deutsche Vorherrschaft" in der Internationale durch die „autoritären, staatshörigen Marxisten" angezettelt. Aber vor allem die Anhänger Bakunins fühlten sich durch diese Propaganda ermuntert. Vor 1864 hatte Bakunin zumindest zum Teil gegen seinen Willen die Überlegenheit des Marxismus über seine eigenen kleinbürgerlichen putschistischen Auffassungen des revolutionären Sozialismus zugegeben. Seit dem Entstehen der Internationale und damit auch seit dem politischen Angriff der Bourgeoisie dagegen fühlte sich Bakunin in seinem Mißtrauen gegenüber dem Marxismus und der proletarischen Bewegung bestätigt und bekräftigt. In Italien, wohin er den Schwerpunkt seiner Aktivitäten verlegte, priesen die verschiedenen Geheimgesellschaften, die Carbonari, Mazzini, Camorra usw., die angefangen hatten die Internationale und ihren Einfluß auf der Halbinsel zu bekämpfen, Bakunin als den „wahren" Revolutionär. Es gab öffentliche Erklärungen, daß Bakunin die Führung der europäischen Revolution übernehmen sollte. Bakunins Panslawismus wurde als ein natürlicher Verbündeter Italiens in dessen Kampf gegen die österreichischen Besatzungskräfte begrüßt. Demgegenüber wurde betont, daß Marx die Vereinigung Deutschlands als wichtiger für die Entwicklung der Revolution in Europa betrachtete als die Vereinigung Italiens. Sowohl die italienische wie auch die aufgeklärteren Teile der schweizerischen Behörden fingen wohlwollend an, die Anwesenheit Bakunins zu dulden, der zuvor das Opfer der brutalsten europaweiten staatlichen Unterdrückung gewesen war.

 

Die Organisationsdebatten zur Frage der Konspiration

Michael Bakunin, Sohn verarmter russischer Adlige, brach mit seinem Milieu und seiner Klasse vor allem aufgrund seines großen Drangs nach persönlicher Freiheit, welche damals weder beim Militär, in der Staatsbürokratie noch auf einem ländlichen Adelsgut erreichbar war. Bereits dieses Motiv zeigt auf, wie fern seine politische Laufbahn von dem disziplinierten, kollektiven Klassencharakter der Arbeiterklasse entfernt lag. Damals gab es in Rußland auch so gut wie kein Proletariat.

Als Bakunin Anfang der 40er Jahre als politischer Flüchtling in Westeuropa eintraf, mit einer Geschichte der politischen Konspiration bereits hinter sich, waren die Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung über organisatorische Fragen bereits voll im Gange. Vor allem in Frankreich.

Damals war die revolutionäre Arbeiterbewegung hauptsächlich in der Form von Geheimgesellschaften organisiert. Diese Form entstand nicht nur weil die Arbeiterorganisationen verboten waren, sondern weil das Proletariat, noch zahlenmäßig unterentwickelt war und kaum vom kleinbürgerlichen Handwerk getrennt, noch nicht seinen eigenen Weg gefunden hatte. Wie Marx über die Lage in Frankreich schrieb:

"Es ist bekannt, wie bis 1830 die liberalen Bourgeois an der Spitze der Verschwörungen gegen die Restauration standen. Nach der Julirevolution trat die republikanische Bourgeoisie an ihre Stelle; das Proletariat, schon unter der Restauration zum Konspirieren erzogen, trat in dem Maße in den Vordergrund, worin die republikanischen Bourgeoisie durch die vergeblichen Straßenkämpfe von den

Diese Konspirationen umfaßten natürlich nie die große Masse des Pariser Proletariats."

Die proletarischen Elemente beschränkten sich aber nicht auf diese entscheidende Absonderung von der Bourgeoisie. Sie begannen praktisch, die Vorherrschaft der Konspiration und der Konspirateure in Frage zu stellen.

"In demselben Maß, wie das Pariser Proletariat selbst als Partei in den Vordergrund trat, verloren diese Konspirateurs an leitendem Einfluß, wurden sie zersprengt, fanden sie eine gefährliche Konkurrenz in proletarischen geheimen Gesellschaften, die nicht die unmittelbare Insurrektion, sondern die Organisation und Entwicklung des Proletariats zum Zweck hatten. Schon die Insurrektion von 1839 hatte einen entschieden proletarischen und kommunistischen Charakter. Nach ihr aber traten die Spaltungen ein, über die die alten Konspirateure so viel klagen; Spaltungen, die aus dem Bedürfnis der Arbeiter hervorgingen, sich über ihre Klasseninteressen zu verständigen, und die sich teils in den alten Verschwörungen selbst, teils in neuen propagandistischen Verbindungen äußerten. Die kommunistische Agitation, die Cabet bald nach 1839 mit Macht begann, die Streitfragen, die sich innerhalb der kommunistischen Partei erhoben, wuchsen den Konspirateuren bald über den Kopf. Chénu wie De la Hodde geben zu, daß die Kommunisten zur Zeit der Februarrevolution bei weitem die stärkste Fraktion des revolutionären Proletariats gewesen seien. Die Konspirateure, um ihren Einfluß auf die Arbeiter und damit ihr Gegengewicht gegen die habits noirs (Befrackten) nicht zu verlieren, mußten dieser Bewegung folgen und sozialistische oder kommunistische Ideen adoptieren." (Marx, Rezensionen, ebenda, MEW Bd., S.275)

Der vorläufige Abschluß dieses Prozesses bildete der Bund der Kommunisten, welcher nicht nur das Kommunistische Manifest annahm, sondern auch die ersten proletarischen Statuten einer von aller Konspiration befreiten Klassenpartei.

"Der Bund der Kommunisten war daher keine konspiratorische Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, die die Organisation der proletarischen Partei im Geheimen bewerkstelligte, weil das deutsche Proletariat igni et aqua von Schrift, Rede und Assoziation öffentlich interdiziert ist. Wenn eine solche Gesellschaft konspiriert, so geschieht es nur in dem Sinne, wie Dampf und Elektrizität gegen den Status quo konspirieren."

Diese Frage war es auch, welche zur Abspaltung der Fraktion Willich-Schapper führte.

"Von dem Bund der Kommunisten sonderte sich daher eine Fraktion ab oder wurde eine Fraktion abgesondert, wie man will, die, wenn auch nicht wirkliche Konspiration, doch den Schein der Konspiration und daher direkt Allianz mit den demokratischen Tageshelden verlangte - die Fraktion Willich-Schapper

Was diese Leute am Bunde unzufrieden machte, war dasselbe, was auch Bakunin damals von der Arbeiterbewegung fernhielt.

"Es versteht sich, daß eine solche geheime Gesellschaft, welche die Bildung nicht der Regierungs-, sondern der Oppositionspartei der Zukunft bezweckt, wenig Reiz bieten konnte für Individuen, die einerseits ihre persönliche Unbedeutendheit unter dem Theatermantel von Konspirationen aufspreizen, andererseits ihren bornierten Ehrgeiz am Tage der nächsten Revolution befriedigen, vor allem aber augenblicklich wichtig scheinen, an der Beute der Demagogie teilnehmen und von den demokratischen Marktschreiern bewillkommt sein wollen

 

Nach der Niederlage der europäischen Revolution von 1848-49 zeigte der Bund ein letztes Mal, wie weit er sich vom Sektenwesen entfernt hatte. Er versuchte, aus einer Umgruppierung mit den Chartisten in England und den Blanquisten in Frankreich eine neue internationale Organisation zu gründen: die Société Universelle des Communistes Révolutionaires. Solch eine Organisation sollte Statuten haben, die von allen Mitgliedern international respektiert würden, die Spaltung zwischen einer geheimen Führung und der Basis, die man als eine manipulierbare Masse auffaßte, sollte abgeschafft werden. Dieses Projekt wie der Bund selbst scheiterten aber an dem internationalem Rückzug des Proletariats nach der Niederlage der Revolution von 1848. Deshalb konnte der Kampf gegen das Sektenwesen erst mehr als ein Jahrzehnt später, mit den Aufkommen einer neuen proletarischen Kampfwelle und mit der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation vorangetrieben werden.

 

." (ebenda).
." (Ebenda).
(Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess in Köln, MEW Bd.8, S.461).
Konspirationen zurückgeschreckt wurden. Die Société des saisons, mit der Barbès und Blanqui die Emeute von 1839 machten, war schon ausschließlich proletarisch, und ebenso waren es die nach der Niederlage gebildeten nouvelles saisons (...) (Rezensionen aus der ‘Neue Rheinische Zeitung Politisch-ökonomische Revue’, MEW Bd.7 S.273).

Erste Prinzipien einer proletarischen Organisation

Zu dem Zeitpunkt, als Bakunin aus Sibirien nach Westeuropa Anfang der 60er Jahre zurückkehrte, waren die ersten Hauptlehren des Kampfes des Proletariats um die Organisation schon gezogen worden und standen jedem zur Verfügung, der sie sich aneignen wollte. Diese Lehren waren im Laufe von Jahren harter Erfahrungen erarbeitet worden, während derer die Arbeiter ständig als Kanonenfutter von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum in deren eigenem Kampf gegen den Feudalismus benutzt worden waren. Während dieses Kampfes hatten sich die proletarischen revolutionären Elemente von der Bourgeoisie nicht nur politisch, sondern auch organisatorisch getrennt und Organisationsprinzipien gemäß ihrem Klassenwesen entwickelt. Die neuen Statuten definierten die Organisation als einen vereinten, kollektiven und bewußten Organismus. Die Trennung zwischen der Basis, die aus Arbeitern zusammengesetzt war, die sich über das wirkliche politische Leben der Organisation nicht im Klaren waren, und einer Führung, die aus professionellen Verschwörern zusammengesetzt war, galt als überwunden. Die neuen Prinzipien einer strengen Zentralisierung, die Organisierung der illegalen Arbeit eingeschlossen, schloß die Möglichkeit einer geheimen Organisation innerhalb der Organisation oder an ihrer Spitze aus. Während das Kleinbürgertum und vor allem die radikalisierten deklassierten Elemente die Notwendigkeit einer geheimen Funktionsweise eines Teils der Organisation im Verhältnis zum ganzen als ein Mittel des Schutzes vor dem Klassenfeind gerechtfertigt hatten, bewies die neue Erfahrung des Proletariats, daß genau diese verschwörerische Elite zur Infiltration des Klassenfeindes führte, insbesondere der Infiltration der politischen Polizei in die Reihen der Arbeiterklasse. Vor allem der Bund der Kommunisten zeigte auf, daß organisatorische Transparenz und Festigkeit der beste Schutz gegen Zerstörung durch den Staat sind.

Über die Verschwörer von Paris vor der Revolution von 1848 entwarf Marx ein Bild, welches ebenso gut auf Bakunin passen konnte. Hier kommt auch die Kritik an dem kleinbürgerlichen Sektenwesen klar zum Ausdruck, welches nicht nur der Polizei, sondern dem Einfluß der deklassierten Boheme Tür und Tor öffnet.

"Ihre schwankende, im einzelnen mehr vom Zufall als von ihrer Tätigkeit abhängige Existenz, ihr regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die Kneipen der marchands de vin sind - die Rendezvoushäuser der Verschwornen - ihre unvermeidlichen Bekanntschaften mit allerlei zweideutigen Leuten rangieren sie in jenem Lebenskreis, den man in Paris le boheme nennt. Diese demokratischen Bohemiens proletarischen Ursprungs - es gibt auch eine demokratische Boheme bürgerlichen Ursprungs, die demokratischen Bummler und piliers d'estaminet (Kneipenstammgäste) - sind also entweder Arbeiter, die ihre Arbeit aufgegeben haben und dadurch dissolut geworden sind, oder Subjekte, die aus dem Lumpenproletariat hervorgehn und alle dissoluten Gewohnheiten dieser Klasse in ihre neue Existenz übertragen. Man begreift, wie unter diesen Umständen fast in jeden Konspirationsprozeß ein paar repris de justice (Vorbestrafte) sich verwickelt finden.." (ebenda, S.273). Es versteht sich von selbst daß solche Leute "aufs tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen" verachten. (s. 272).

Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten Charakter der Boheme. Unteroffiziere der Verschwörung, ziehen sie von marchand de vin zu marchand de vin, fühlen den Arbeitern den Puls, suchen ihre Leute heraus, kajolieren sie in die Verschwörung hinein und lassen entweder die Gesellschaftskasse oder den neuen Freund die Kosten der dabei unvermeidlichen Konsumption von Litres trage (...)

(...) jeden Augenblick kann er auf die Barrikade gerufen werden und dort fallen, auf jedem Schritt und Tritt legt ihm die Polizei Schlingen, die ihn ins Gefängnis oder gar auf die Galeeren bringen können. Solche Gefahren machen eben den Reiz des Handwerks aus; je größer die Unsicherheit, desto mehr beeilt sich der Verschwörer, den Genuß des Moments festzuhalten. Zugleich macht ihn die Gewohnheit der Gefahr im höchsten Grade gleichgültig gegen Leben und Freiheit

"Der Hauptcharakterzug im Leben der Konspirateurs ist ihr Kampf mit der Polizei, zu der sie gerade dasselbe Verhältnis haben wie die Diebe und die Prostituierte. Die Polizei toleriert die Verschwörungen, und zwar nicht bloß als ein notwendiges Übel. Sie toleriert sie als leicht zu überwachende Zentre (...) Die Verschwörer behalten unaufhörlich Fühlung mit der Polizei, sie kommen jeden Augenblick in Kollision mit ihr; sie jagen auf die Mouchards (Spitzeln) wie die Mouchards auf sie jagen. Die Spionage ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Kein Wunder daher, daß der kleine Sprung von handwerksmäßigen Verschwörer zum bezahlten Polizeispion, erleichtert durch das Elend und das Gefängnis, durch Drohungen und Versprechungen, sich so häufig macht." (

Dies waren die Grundlagen der Statuten der IAA - und als die Bourgeoisie sich dessen bewußt wurde, wurde klar, daß dies ihr Angst einjagen sollte und daß sie sich offen zu Bakunin bekannte.

 

Ebenda. S.274)

Die Politik der Verschwörung

 

Bakunin in Italien

Um zu begreifen, wie Bakunin von der herrschenden Klasse gegen die Internationale manipuliert werden konnte, müssen wir kurz auf seinen persönlichen Werdegang wie auf die Lage in Italien nach 1864 eingehen. Anarchistische Historiker loben das ‘große revolutionäre Wirken’ Bakunins in Italien, wo er eine Reihe von geheimen Sekten gründete und bei verschiedenen Verschwörungen mitmachte, um Einfluß zu gewinnen. Diese anarchistischen Historiker meinen im Allgemeinen, daß Italien Bakunin auf das Podest des ‘Papstes des revolutionären Europas’ stellte. Aber da sie es sorgfältig vermeiden, irgendwelche Einzelheiten der Wirklichkeit dieses Milieus aufzudecken, bleibt uns diese Aufgabe nicht erspart.

Bakunin hatte innerhalb des sozialistischen Lager einen Ruf für sich erworben durch seine Teilnahme an der Revolution von 1848-49, als er militärischer Anführer in Dresden war. Eingekerkert, nach Rußland ausgeliefert und endlich nach Sibirien verbannt, erreichte Bakunin Europa erst wieder 1861, nachdem er aus dem Lager in Sibirien entflohen war. In London angekommen, begab er sich zu Herzen, dem bekannten russischen liberalen Revolutionsführer. Dort begann er sofort, unabhängig von Herzen, die politischen Emigration um seine eigene Person zu scharen. Es war ein Kreis von Slawen, welchen Bakunin mit einem anarchistisch verbrämten Panslawismus an sich band. Sowohl von der englischen als von der kommunistischen Arbeiterbewegung, vor allem von dem deutschen Arbeiterbildungsverein in London blieb er hingegen fern. Aber aus Ermangelung eines günstigen Konspirationsterrain brach er 1864 (die Gründung der Internationale in London hing schon in der Luft) nach Italien auf, auf der Suche nach Verbündeten für seine reaktionäre "panslawische Revolution" und seine Geheimbündeleien.

"In Italien fand er eine Menge politischer Geheimbünde; er fand hier eine deklassierte Intelligenz, die allemal bereit war, sich in allerlei Verschwörungen einzulassen, eine bäuerliche Masse, die stets am Abgrunde des Hungertodes schwebte, und endlich ein wenig bewegliches Lumpenproletariat, zumal in den Lazzaroni von Neapel, wohin er bald von Florenz übergesiedelt war, um dort mehrere Jahre zu leben. Diese Klassen erschienen ihm als die eigentlichen Triebkraft der Revolution." (Franz Mehring, Karl Marx: Geschichte seines Lebens, S. 411, 412).

Bakunin flüchtete von den Arbeitern Westeuropas zu den Deklassierten Italiens.

 

Die Geheimgesellschaften als Mittel der Revolte

In der Zeit der Reaktion nach der Niederlage Napoleons, als die Heilige Allianz unter der Führung Metternichs das Prinzip der bewaffneten Intervention der Großmächte gegen jeglichen Umsturzversuch in Europa verfolgte, sahen sich die von der Macht ausgeschlossenen Klassen der Gesellschaft gezwungen, sich in Geheimgesellschaften zu organisieren. Dies galt nicht nur für die Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum und die Bauernschaft, sondern auch für Teile der liberalen Bourgeoisie und selbst für unzufriedene Aristokraten. Fast alle diese Konspirationen ab 1820, ob die Dekabristen in Rußland oder die Carbonari in Italien, organisierten sich nach dem Muster der im 17. Jahrhundert zuerst in England entstandenen Freimaurer, deren Ziele eine "internationale Bruderschaft" und der Widerstand gegen die katholische Kirche europäische Aufklärer wie Diderot und Voltaire, Lessing, Goethe und Puschkin anzog. Aber wie vieles im ‘Jahrhundert der Aufklärung’ besaß die Freimaurerei, wie z.B. auch die ‘aufgeklärten Despoten’ Katharina, Friedrich der Große oder Maria Theresia, einen zutiefst reaktionären Kern in Form ihrer mystischen Ideologie, ihres elitären Aufbaus nach verschiedenen Graden der "Einweihung" sowie ihre Lichtscheuheit, ihren Hang zur Konspiration und Manipulation. In Italien, damals das Mekka der nicht proletarischen, noch hemmungslos manövrierenden und konspirierenden Geheimbünde, wucherten schon seit den 20er und 30er Jahren die Guelfen, Federati, die Adelfen, die Carbonari. Der berühmteste von ihnen, die Carbonari, war eine vom katholischen Mystizismus geprägte, terroristische Geheimorganisation, welche Struktur und "Symbolik" der Freimaurerei übernahm.

Als Bakunin 1864 nach Italien kam, standen die Carbonari aber bereits im Schatten der Konspiration Mazzinis. Der Mazzinismus stellte einen Fortschritt gegenüber den Carbonari dar, weil er für eine einheitliche, zentralisierte italienische Republik kämpfte. Mazzini wühlte nicht nur im Untergrund, sondern agitierte auch gegenüber der Bevölkerung. Nach 1848 wurden sogar Arbeitersektionen gegründet. Mazzini stellte auch organisatorisch einen Fortschritt dar, indem er das System der Carbonari aufhob, demzufolge die Basismitglieder blind, unwissend die Befehle der geheimen Führung ausführen müssen, wobei jede Weigerung mit dem Tod bestraft wurde. Aber sobald die Internationale als eine proletarische Kraft entstand, die unabhängig von seiner Kontrolle war, begann er gegen sie zu kämpfen, da sie eine Bedrohung für seine eigene nationalistische Bewegung darstellte.

Als Bakunin in Neapel eintraf, nahm er sofort den Kampf gegen Mazzini auf - aber von Standpunkt der Carbonari, dessen Methoden er verteidigte.

Bakunin stürzte sich in dieses undurchsichtige Milieu, um eine eigene Gruppe zu schaffen und um die Führung der konspiratorischen Bewegung an sich zu reißen. Er gründete die Allianz der sozialen Demokratie, und als leitenden Kern den Geheimbund Fraternité Internationale, einen "Orden disziplinierter Revolutionäre".

 

Ein von der Reaktion manipuliertes Milieu

Noch viel mehr als in Rußland fand der deklassierte revolutionäre Aristokrat Bakunin in Italien, speziell in Neapel, ein geeignetes Terrain. Hier reifte sein Organisationskonzept zur vollen Blüte. Es war der undurchsichtige Sumpf, aus dem ein Fülle antiproletarischer Organisationen hervorging. Diese Gruppierungen von ruinierten, oft verkommenen Aristokraten, deklassierten Jugendlichen oder manchmal gar reinen Kriminellen erschien in seinen Augen revolutionärer als das Proletariat. Dazu gehörte die Camorra, welche Bakunins romantischer Vision des revolutionären Banditentums entsprach. Die Vorherrschaft des aus einer Häftlingsorganisation sich entwickelnden Geheimbunds der Camorra über Neapel wurde nach der Amnestie von 1860 quasi offiziell. Zur selben Zeit infiltrierte in Sizilien der bewaffnete Arm der enteigneten Landaristokratie Mazzinis lokale Ge-heimorganisationen, und nannte sich fortan "Mafia" nach den Buchstaben ihrer Kampfparole "Mazzini autorizza furti, incendi, avvelenamenti" (Mazzini erlaubt uns zu stehlen, zu brandschatzen und zu vergiften). Bakunin vermochte weder diese Leute zu entblößen noch sich von ihnen zu distanzieren.

Auch die direkte staatliche Manipulation fehlte nicht in diesen Milieu. Wir können sicher davon ausgehen, daß diese Manipulation auch eine Rolle spielte bei der Art und Weise, wie das Milieu in Italien Bakunin als eine wahre revolutionäre Alternative gegenüber der ‘deutschen Diktatur von Marx’ pries. Diese Propaganda deckte sich in der Tat mit der Propaganda, die von den Polizeiorganen Lous-Napoléons in Frankreich verbreitet wurde.

Wie Engels uns mitteilt, wurden die Carbonari wie viele ähnliche Gruppen vom russischen und von anderen Geheimdiensten manipuliert und infiltriert (siehe Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, MEW Bd.22). Diese staatliche Infiltration verstärkte sich vor allem nach der Niederlage der europaweiten Revolution von 1848. Der französische Diktator, der Abenteurer Louis Napoleon - der nach der Niederlage der Revolution zur Speerspitze der nachfolgenden Konterrevolution wurde - verbündete sich mit der Regierung Palmerston in London, vor allem aber mit Rußland, um das europäische Proletariat niederzuhalten. Ab 1864 war die Geheimpolizei Louis Napoleon vor allem im Einsatz, um die Internationale Arbeiterassoziation zu zerstören. Zu ihren Agenten gehörte "Herr Vogt", ein Mitarbeiter Lassalles, der Karl Marx in der Öffentlichkeit als den Anführer einer Erpresserbande diffamierte.

Aber der Schwerpunkt Louis Napoleons Geheimdiplomatie lag in Italien, wo Frankreich die nationale Bewegung zu seinen eigenen Zwecke benutzte. 1859 wiesen auch Marx und Engels darauf hin, daß das französische Staatsoberhaupt selbst ein ehemaliges Mitglied der Carbonari war. (Die Geldpolitik in Europa; Die Position Louis-Napoleons; in MEW Bd.13).

Bakunin, der bis zum Halse in diesem Sumpf steckte, glaubte natürlich, daß er diese Kloake für seine eigenen revolutionären Zwecke manipulieren könnte. Bis heute wissen wir nicht im Einzelnen, mit welchen ‘Elementen’ er ‘konspirierte’. Aber es gibt einige Hinweise. So verfaßte er 1865 seine "Freimaurermanuskripte". "Eine Schrift, welche Bakunins Ideen der italienischen Freimaurerei nahebringen wollte", wie der anarchistische Historiker Max Nettlau mitteilt.

"Das Freimaurermanuskript nimmt auf den berüchtigten Syllabus, die päpstliche Verdammung des menschlichen Denkens vom Dezember 1864 Bezug, und Bakunin mochte an die dadurch gesteigerte Empörung gegen das Papsttum anknüpfen, um auch die Freimaurerei oder ihren entwicklungsfähigen Teil weiter vorwärts zu treiben; er beginnt damit: um wieder ein lebender und nützlicher Körper zu werden, muß die Freimaurerei ernstlich den Dienst der Menschheit wieder aufnehmen." (Nettlau, Geschichte des Anarchismus. Bd.2. S.48,49.)

Nettlau versucht sogar mit Zitatvergleichen stolz nachzuweisen, daß Bakunin die damaligen Gedanken der Freimaurerei beeinflußt hat. Es fragt sich nur, wer wen beeinflußt hat? Fest steht, daß Bakunin um diese Zeit die reaktionäre, mystische, geheimbündlerische Ideologie der Freimaurer aufnahm. Ein Weltbild, welches Engels bereits Ende der 40 Jahre hinsichtlich Karl Heinzen treffend geschildert hatte:

"Er sieht die kommunistischen Schriftsteller für Propheten, Priester oder Pfaffen an, die eine geheime Weisheit für sich besitzen, sie aber den Ungebildeten vorenthalten, um sie am Gängelbande zu leiten. (..).als hätten die literarischen Repräsentanten des Kommunismus ein Interesse daran, die Arbeiter im unklaren zu halten, als benutzten sie sie bloß, wie die Illuminaten auch im vorigen Jahrhundert das Volk benutzen wollten."

Hier liegt auch der Schlüssel zum bakuninschen Mysterium, weshalb auch in der künftigen anarchistischen Gesellschaft ohne Staat und Autorität trotzdem laut Bakunin die Geheimgesellschaft noch benötigt wird.

Marx und Engels, ohne damals an Bakunin gedacht zu haben, haben es gegenüber dem früheren englischen Pseudosozialisten und Philosophen Carlyle so ausgedrückt:

"Der historisch erzeugte Klassenunterschied wird so zu einem natürlichen Unterschied

 

, den man selbst als einen Teil des ewigen Naturgesetzes anerkennen und verehren muß, indem man sich vor den Edlen und Weisen der Natur beugt: Kultus des Genius. Die ganze Anschauung des historischen Entwicklungsprozesses verflacht sich zur platten Trivialität der Illuminaten- und Freimaurerweisheit des vorigen Jahrhunderts. (...) Damit kommt natürlich die alte Frage, wer denn eigentlich herrschen soll, die mit hochwichtiger Seichtigkeit des breitesten diskutiert und endlich dahin beantwortet wird, daß die Edlen, Weisen und Wissenden herrschen sollen." (Rezensionen aus der Neuen Rheinischen Zeitung, MEW Bd.7, S.261.)
(Engels, Die Kommunisten und Karl Heinzen, MEW Bd.4., S.321.

Bakunin ‘entdeckt’ die Internationale

Von Anfang an hat die europäische Bourgeoisie den italienischen Sumpf der Geheimgesellschaften gegen die Internationale einzusetzen versucht. Schon bei der Gründung 1864 in London wollten die Anhänger Mazzinis ihre sektiererischen Statuten durchsetzen und damit die Kontrolle über die Arbeiterassoziation an sich reißen. Der Vertreter Mazzinis bei dieser Aktion, Major Wolff, wurde später als Polizeispitzel entlarvt. Nachdem dieser Versuch scheiterte, rief die Bourgeoisie die Friedens- und Freiheitsliga ins Leben, und lockte damit Bakunin ins Spinnennetz der Untergrabungsfront gegen die Internationale.

 

Bakunin hatte "die Revolution" in Italien erwartet. Während er im Sumpf des ruinierten Adels, der deklassierten Jugend und des städtischen Lumpenproletariats manövrierte, war die Internationale Arbeiterassoziation ohne sein Zutun zur führenden revolutionären Macht der Welt aufgestiegen. Bakunin erkannte, daß er bei seinem Versuch, Europas revolutionärer Papst zu werden, auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Zu dieser Zeit wurde 1867 die bürgerliche Friedens- und Freiheitsliga, ganz offensichtlich gegen die Internationale gegründet. Bakunin schloß sich mit seiner "Bruderschaft" dieser Liga mit dem Ziel an, "die Liga mit der Fraternité in sich als revolutionär inspirierende Kraft der Internationale anzuschließen" (Nettlau, ebenda, S.100).

Mit diesem Schritt wurde Bakunin folgerichtig, aber ohne es zu merken zur Speerspitze der Versuche der herrschenden Klassen, die Internationale zu vernichten.

 

Die Friedens- und Freiheitsliga

Die Liga, ursprünglich ein Idee des italienischen nationalistischen Guerillaführers Garibaldi und des französischen Schriftstellers Victor Hugo, wurde insbesondere von der Schweizer Bourgeoisie gegründet und von Teilen der italienischen Geheimgesellschaften unterstützt. Ihre pazifistische Abrüstungspropaganda und ihre Forderung nach den "Vereinigten Staaten Europas" zielten in Wirklichkeit darauf ab, die 1. Internationale zu spalten und zu schwächen. Zu einer Zeit, als Europa gespalten war zwischen einem sich kapitalistisch entwickelnden Westteil und einem feudalen, unter der Knute Rußlands stehenden Ostteil, war die Forderung nach Abrüstung in den Ländern Westeuropas ein beliebtes Thema der russischen Geheimdiplomatie. Die Internationale wie die gesamte Arbeiterbewegung hatten sich von Anfang an die Forderung nach Wiederherstellung eines demokratischen Polen als ein Bollwerk gegen Rußland, damals der Hort der europäischen Reaktion, zu Eigen gemacht. Die Liga prangerte nun diese Politik als "militaristisch" an, während Bakunins Panslawismus als eine wahrlich revolutionäre, gegen alle Militaristen gleichermaßen gerichtete Politik hingestellt wurde. Somit stärkte die Bourgeoisie den Bakuninisten gegen die Internationale den Rücken.

"Die Allianz der sozialistischen Demokratie ist durchaus von Bourgeois-Herkunft. Sie ist nicht von der Internationalen ausgegangen; sie ist ein Sprößling der Friedens- und Freiheitsliga, einer totgeborenen Gesellschaft von Bourgeois-Republikanern. Die Internationale war schon fest begründet, als Michael Bakunin sich in den Kopf setzte, eine Rolle als Emanzipator des Proletariats zu spielen. Sie konnte ihm nur das allen Mitgliedern gemeinsame Feld der Tätigkeit bieten. Und in ihr etwas zu gelten, hätte er sich zuerst durch beständige und aufopfernde Arbeit die Sporen verdienen müssen; er glaubte bessere Aussichten und einen leichteren Weg auf Seiten der Bourgeois der Liga zu finden."

Der von Bakunin unterbreitete Vorschlag eines Bündnisses der Liga mit der IAA wurde vom Brüsseler Kongreß der Internationale verworfen. Bereits hier zeichnete sich auch ab, daß die erdrückende Mehrheit der IAA es auch ablehnte, die Unterstützung Polens gegen die russische Reaktion aufzugeben. Damit blieb Bakunin nichts anders übrig, als in die Internationale zu gehen, um sie von innen her aufzuwühlen. Diese Orientierung wurde von der Führung der Liga unterstützt, innerhalb der er schon die Grundlagen dazu gelegt hatte.

"Die von Bakunin geträumte Allianz zwischen Bourgeois und Arbeitern sollte sich nicht auf eine öffentliche Allianz beschränken. Die geheimen Statuten der Allianz (...) enthalten Anzeichen, daß Bakunin im Schoße der Liga selbst den Grund zu einer geheimen Gesellschaft gelegt, der die Herrschaft über jene zufallen sollte. Nicht nur sind die Namen der leitenden Gruppen identisch mit denen der Liga, (...) sondern es wird auch in den geheimen Statuten erklärt, daß die Gründungsmitglieder der Allianz zum größten Teil ehemalige Mitglieder des Kongresses zu Bern seien." (Ein Komplott ..., ebenda, S.337.)

Wer die Politik der Liga kennt, muß davon ausgehen, daß man von Anfang an darauf aus war, Bakunin gegen die Internationale zu benutzen. Auch die Tatsache, daß mehrere Aktivisten in der Umgebung Bakunins wie der Liga später als Polizeiagenten entlarvt wurde, spricht dafür. Denn nichts konnte die Internationale mehr gefährden als ihre Zersetzung von innen durch Elemente, die selber keine Agenten des Staates waren, und ein gewisses Ansehen in der Arbeiterbewegung genossen, die aber ihre persönlichen Ziele verfolgten auf Kosten der Bewegung.

Auch wenn Bakunin der Konterrevolution auf diese Weise nicht dienen wollte, trug er und seinesgleichen die volle Verantwortung dafür, indem sie sich in die Nähe der reaktionärsten und undurchsichtigsten Teile der Herrschenden begaben.

Zwar war sich die Arbeiterinternationale schon über die Gefahren einer solchen Unterwanderung bewußt. So hat z.B. die Londoner Delegiertenkonferenz folgende Resolution angenommen:

"In den Ländern, wo die regelmäßige Organisation der Internationalen infolge von Regierungseinmischung augenblicklich unausführbar ist, kann die Assoziation, resp. ihre lokalen Sektionen, sich unter irgendwelchen

"In Frankreich und Italien, wo eine derartige politische Lage besteht, daß das Versammlungsrecht eine strafbare Handlung ist, werden die Menschen sehr stark dazu neigen, sich in geheime Gesellschaften hineinziehen zu lassen, deren Resultat immer negativ ist. Im übrigen steht dieser Organisationstyp im Widerspruch zu der Entwicklung der proletarischen Bewegung, weil diese Gesellschaften, statt die Arbeiter zu erziehen, sie autoritären und mystischen Gesetzen unterwerfen, die ihre Selbständigkeit behindern und ihr Bewußtsein in eine falsche Richtung lenken."

Dennoch: trotz dieser Wachsamkeit gelang es Bakunins Allianz, in die Internationale einzudringen. Im zweiten Artikel werden wir den Kampf innerhalb ihrer Reihen schildern und den unterschiedlichen Konzepte der Organisation und der militanten Arbeit, die zwischen der proletarischen Partei und der kleinbürgerlichen Sekte bestehen, auf den Grund gehen.

Kr

(1)

andern Benennungen rekonstituieren. Alle eigentlich sogenannten geheimen Gesellschaften sind und bleiben jedoch förmlich ausgeschlossen." (MEW, Bd.17, S.422)
Marx, der diese Resolution einbrachte, sagte zur Begründung.
(Ein Komplott gegen die IAA - Bericht über das Treiben Bakunins, MEW Bd.18, S.335).Der Ausgangspunkt für die Bildung einer revolutionären Organisation ist die Übereinstimmung mit einem politischen Programm. Nichts liegt dem Marxismus ferner und der Arbeiterbewegung allgemein als eine Umgruppierung ohne programmatische Prinzipien. Im Gegensatz zur bordigistischen Auffassung wird das proletarische Programm jedoch nicht ein für allemal aufgestellt. Im Gegenteil: es wird weiter entwickelt, bereichert und seine Fehler werden korrigiert durch die lebendige Erfahrung der Klasse. Als die IAA gegründet wurde, dies geschah in der Anfangsphase der Arbeiterbewegung, beschränkten sich die wesentlichen Elemente ihres Programms - die die Zugehörigkeit einer Organisation zum proletarischen Lager festlegten - auf einige allgemeine Prinzipien, die in der Einleitung zu den Statuten der Internationale aufgeführt sind. Bakunin und seine Anhänger stellten diese Prinzipien nicht infrage. Ihr Angriff gegen die IAA richtete sich im Wesentlichen gegen die Statuten der IAA selber, d.h. gegen die von der IAA festgelegte Funktionsweise. Das bedeutet aber nicht, daß Programm und Statuten voneinander getrennt werden können. Die Statuten bringen die wesentlichen Prinzipien der Arbeiterklasse zum Ausdruck und konkretisieren sie; sie sind daher integraler Bestandteil dieses Programms der Arbeiterklasse.

Der zweite Artikel wird dann näher auf den Kampf eingehen, der innerhalb der Internationale selber stattfand, wobei wir den fundamentalen Gegensatz hinsichtlich der Auffassung zur Funktionsweise und der militanten Arbeit aufdecken, der zwischen dem marxistisch proletarischen und dem anarchistisch Standpunkt der Kleinbürger und Deklassierten besteht.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Erste Internationale [6]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [7]

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Hiroshima und Nagasaki: Die Lügen der Bourgeoisie

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Letztes Jahr, am fünfzigsten Jahrestag des Atombombenabwurfes über Hiroshima und Nagasaki, sprengte die herrschende Klasse das bisheri­ge Mass an Zynismus und Lügen. Dieser Höhepunkt an Barbarei wurde nicht von einem Diktator oder einem blutrünstigen Verrückten, sondern von der "tugendhaften Demokratie" Amerikas durchgeführt. Um dieses monströse Verbrechen zu rechtfertigen, hatte die herrschende Klasse weltweit die ehemalige schamlose Lüge wieder aufgetischt, nach welcher die Atombomben nur deshalb eingesetzt worden seien, um das Leiden, welches durch einen weiteren Krieg mit Japan entstanden wäre, abzukürzen und zu verhindern. Die amerikanische Bourgeoisie ging mit ihrem Zynismus sogar soweit, eine Briefmarke mit der Aufschrift: "Atombomben beschleunigten das Ende des Krieges. August 1945" herausgeben zu wollen. Auch wenn in Japan dieser Jahrestag eine willkommene Gelegenheit war, die wachsende Opposition gegen die ehemalige amerikanische Schirmherrschaft zu unterstreichen, leistete der amerikanische Premierminister ebenfalls seinen Beitrag, indem er den Abwurf der Atombomben als Notwendigkeit für Frieden und Demokratie bezeichnete und sich gleichzeitig erstmals für die von Japan während des Zweiten Weltkrieges begangenen Kriegsverbrechen ent­schuldigte. Sieger und Verlierer fanden sich zu dieser widerlichen Kampagne zusammen, um eines der grössten Verbrechen der Geschich­te zu rechtfertigen.

 

Die Berechtigung Hiroshimas und Nagasakis: Eine grosse Verlogenheit

Im ganzen forderten die zwei im August 1945 über Japan abgeworfenen Atombom­ben 552 000 Opfer. Viele starben in den 50er und 60er Jahren an Lungen- und Schilddrüsenkrebs; und bis heute fordert die Wirkung der Radioaktivität ihre Opfer: In Hiroshima und Nagasaki gibt es zehnmal mehr Leukämiefälle als im übrigen Japan. Um ein solches Verbrechen zu legitimieren und um auf den berechtigten Schock eine Antwort zu geben, der durch die katastro­phalen Auswirkungen der Bomben verur­sacht wurde, setzten Truman, der US-­Präsident, der diesen nuklearen Holocaust angeordnet hatte, und sein Busenfreund Churchill eine durch und durch zynische Lüge in die Welt: Der Einsatz der Atombom­ben hätte eine Million Menschenleben ge­rettet, die durch die Invasion der amerikani­schen Truppen gefordert worden wären. Trotz der grausamen Auswirkungen seien die Bomben, welche Hiroshima und Nagasa­ki zerstört hätten, Bomben für den Frieden gewesen! Diese besonders widerliche Be­hauptung wurde jedoch in zahllosen, von der Bourgeoisie selbst herausgegebenen Geschichtsstudien, widerlegt.

 

Wenn wir Japans militärische Situation zur Zeit der Kapitulation Deutschlands näher unter die Lupe nehmen, so sehen wir, dass dieses Land so gut wie reif war für eine Niederlage. Seine Luftwaffe, diese so wich­tige Waffe im Zweiten Weltkrieg, war geschrumpft auf eine Handvoll Kampfflug­zeuge; geflogen von jugendlichen Piloten, deren Unerfahrenheit durch Fanatismus er­setzt war. Ebenso war die Kriegs- und Handelsflotte praktisch ausgeschaltet. Die Flugzeugabwehr wies so viele Lücken auf, daß die amerikanischen B29-Bomber im Frühling 1945 Tausende von nahezu verlust­freien Angriffen starten konnten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Chur­chill selber hielt dies in Band 12 seiner Kriegserinnerungen fest.

 

Eine 1989 in der "New York Times" veröffentlichte Studie, die vom US-Geheim­dienst 1945 gemacht worden war, zeigte, daß "der japanische Kaiser, einsehend, da,%3 sein Land in der Niederlage steckte, am 20. Juni 1945 entschied, alle Kampfhandlungen zu beenden und vom 11. Juli an Friedensver­handlungen in Gang zu setzen mit dem Ziel, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden " (Le Monde Diplomatique, August 1990).

 

Truman war über diese Situation bestens orientiert. Dennoch, benachrichtigt vom Er­folg des ersten Atombombentests in der Wüste von New Mexico im Juli 1945 ( 1 ), entschied er während der Potsdamer Konfe­renz, welche zwischen ihm, Churchill und Stalin stattfand, (2) die Atombombe gegen japanische Städte einzusetzen. Dieser Ent­scheid hatte nichts zu tun mit dem Wunsch, den Krieg mit Japan zu beenden, wie in einem Gespräch zwischen Leo Szilard, einem der Väter der Bombe, und J. Byrnes, dem US-Staatssekretär für Kriegswesen, zugegeben wurde. Als Szilard Bedenken äußerte bezüglich den Gefahren, die der Atombombeneinsatz mit sich bringe, ant­wortete Byrnes, daß "Truman nicht verlang­te, die Bombe einzusetzen, um den Krieg zu gewinnen, sondern seine Idee war, durch ihren Besitz und Einsatz RuJ3land kontrol­lierbar zu machen ". (Le Monde Diplomatique, August 1990).

 

Noch weitere Argumente gefällig? Lassen wir einen der wichtigsten amerikanischen Militärführer für sich selbst sprechen. Für den Generalstabschef Admiral Leahy waren die Japaner "so gut wie geschlagen und zur Kapitulation bereit. Der Einsatz einer solch barbarischen Waffe leistet keinen Beitrag zum Sieg in unserem Krieg gegen Japan. " (Le Monde Diplomatique, August 1990). Derselben Meinung war auch Eisenhower. Die Behauptung, der Einsatz der Atombom­be hätte Japan in die Knie gezwungen und dem Abschlachten ein Ende gesetzt, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Diese Lüge wurde verbreitet, um den Bedürfnissen der bürgerlichen Kriegspropaganda gerecht zu werden; eine der Leistungen der riesigen Gehirnwaschkampagne, welche nötig war, um das größte Massaker der Menschheitsgeschichte, den von 1939 bis 1945 dauernden Weltkrieg, zu rechtfertigen, sowie den Kalten Krieg ideologisch vorzu­bereiten.

 

Was auch immer die Zögerungen einzelner Mitglieder der herrschenden Klasse ange­sichts dieser Massenvernichtungswaffe zu bedeuten hatten, betonen wir, dass Trumans Entscheid alles andere war als der eines wahnsinnigen oder isolierten Individuums. Im Gegenteil, er' ist Ausdruck einer unerbitt­lichen Logik; der Logik des Imperialismus. Tod und Zerstörung der Menschheit ist die einzige Überlebensmöglichkeit der Bour­geoisie und ihres Ausbeutungssystems, wel­ches unumkehrbar dekadent ist.

 

Das wirkliche Ziel der Bomben von Hiroshima und Nagasaki

Im Gegensatz zu all den Lügen, welche seit 1945 über den angeblichen Sieg der Demo­kratie und des Friedens in die Welt gesetzt wurden, war der Zweite Weltkrieg dann zu Ende, als die imperialistische Neuaufteilung der Welt erfolgt war. Enthielt der Vertrag von Versailles den Keim eines neuen Krie­ges in sich, so enthielt auch Jalta den Gegensatz zwischen den zwei Hauptsiegern des Zweiten Weltkrieges, den USA und seinem russischen Gegner Durch den Zwei­ten Weltkrieg von einer ökonomisch schwa­chen Macht zu einer Weltmacht aufgestie­gen, musste die Sowjetunion Amerika nun im weltweiten imperialistischen Konkur­renzkampf herausfordern. Im Frühling 1945 benötigte die UdSSR ihre ganze militärische Kraft, um einen Block in Osteuropa auf die Beine zu stellen. Jalta diente nur dazu, das existierende Kräfteverhältnis zwischen den mächtigsten imperialistischen Haien, wel­che aus der grössten Schlächterei der Geschichte hervorgingen, zu sanktionieren. Die Situation, welche durch ein Kräftegleichgewicht geschaffen worden war, wurde nun durch ein anderes wieder über den Haufen geworfen. Im Sommer 1945 war das wahre Problem, vor dem die USA stand, nicht, wie es uns in den Schulbüchern eingetrichtert wird, Japan sobald als möglich zur Kapitula­tion zu zwingen, sondern, wie man dem imperialistischen Feldzug des "grossen rus­sischen Verbündeten" begegnen konnte.

 

Winston Churchill, der große wirkliche Führer der Allüerten im Zweiten Weltkrieg, hatte schnell begriffen, daß eine neue Front am Entstehen war, warnte die Amerikaner davor und forderte sie auf, dagegen anzutre­ten. Er schrieb in seinen Erinnerungen: "Je näher das Ende des von einer Koalition geführten Krieges, desto vorrangiger wer­den die politischen Aspekte. Vor allem sollten sie in Washington weiter sehen (... ) Die Vernichtung der deutschen Militär macht hat eine radikale Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Rußland und den westlichen Demokratien mit sich ge­bracht. Sie haben vergessen, daß der ge­meinsame Feind Deutschland das einzige war, was sie einte. " Er schloß daraus, daß "Sowjetrußland eine tödliche Gefahr für die freie Welt geworden war und es nötig war, ohne zu zögern eine neue Front zu bilden, um seinen Vormarsch zu stoppen, und daß diese Front so weit wie möglich im Fernen Osten gebildet werden musste" (Erinnerun­gen, Bd. 12, Mai 1945). Es könnte nicht klarer sein. Churchill analysierte sehr klar, daß ein neuer Krieg im Anzug war, noch bevor der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Im Frühling 1945 tat Churchill alles, um dem Vormarsch der russischen Armeen nach Europa (Polen, Tschechoslowakei, Jugosla­wien) zu begegnen. Verbissen versuchte er Truman von seiner neuen Einschätzung zu überzeugen. Letzterer übernahm nach eini­gem Zögern (3) Churchills These, daß "die sowjetische Bedrohung den Feind Nazi­deutschland ersetzt hat" (Erinnerungen, Bd. 12, Mai 1945). Die vollständige und ein­stimmige Unterstützung, die die Regierung Churchill Trumans Entscheid, japanische Städte mit Atombomben zu vernichten, gab, ist somit ohne weiteres zu verstehen. Am 22. Juli 1945 schrieb Churchill: "Mit der Bombe haben wir einen guten Trumpf in der Hand um das Gleichgewicht mit den Russen wiederherzustellen. Der Besitz dieser Bombe und die Möglichkeit ihres Einsatzes wird das diplomatische Gleichgewicht, das seit der Niederlage Deutschlands aus den Fugen geraten ist, völlig ändern. "

 

Daß dies Tote und ein unsägliches Leid über Hunderttausende von Menschen bringen würde, ließ diesen "Verteidiger der freien Welt" und "Retter der Demokratie" völlig kalt. Als Churchill die Nachricht von der Bombardierung Hiroshimas erfuhr, jauchzte er vor Freude, und Lord Allenbrooke, einer von seinen Beratern, schrieb: "Churchill war von Enthusiasmus erfüllt und sah sich so gut wie fähig, alle Industrie- und Bevölkerungs­zentren Rußlands auszulöschen."("Le Mon­de Diplomatique", Aug. 1990). Soviel zähl­ten bei diesem Verteidiger der Zivilisation und der Menschenrechte Menschenleben, und dies nach fünf Jahren Schlächterei, die 50 Millionen Tote gekostet hatte!

 

Der über Japan hereingebrochene atomare Holocaust im August 1945, dieser furchtba­re Ausdruck der absoluten Barbarei des Krieges im dekadenten Kapitalismus, war von den "reinen" amerikanischen Demokra­ten nicht bestimmt, um das Leiden zu begrenzen, das durch eine Weiterführung des Krieges mit Japan verursacht worden wäre. Es war eine Botschaft des Terrors an die UdSSR, um diese zu veranlassen, auf ihre imperialistischen Ambitionen zu ver­zichten und die Bedingungen der "Pax americana" hinzunehmen. Konkret um die UdSSR, welche nach Yalta, gemäss den Abmachnungen, Japan sofort den Krieg erklärt hatte, zu warnen und zu zeigen, dass es ausser Frage stand, sich, wie im Falle Deutschlands, an der Besetzung Japans zu beteiligen. Um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen, warf die USA eine zweite Bombe über Nagasaki ab. Nagasaki war eine Stadt von geringer militärischer Bedeu­tung, dafür aber das wichtigste Arbeiter zentrum Japans. Dies war mit ein Grund, weshalb Truman den Vorschlag einiger seiner Berater zurückwies, die Bombe über

 

einem dünn besiedelten Gebiet abzuwerfen, was Japan genauso zur Kapitulation zwingen würde. Nein, in der mörderischen Logik des Imperialismus bedurfte es der Zerstörung zweier Städte, um Stalin einzuschütern und die vormals verbündete Sowjetunion zu zwingen, ihre imperialistischen Appetite zu zügeln.

 

Die Lehren dieser grauenhaften Ereignisse

Welche Lehren kann die Arbeiterklasse aus dieser Tragödie und deren Ausschlachtung durch die Bourgeoisie ziehen?

 

Zuallererst sind solche Massaker der entfesselten kapitalistischen Barbarei nicht unvermeidbar für die Menschheit. Die wissenschaftliche Vorbereitung solcher Blutbäder war nur möglich, weil das Proletariat weltweit niedergeschlagen war durch die schrecklichste Konterrevolution seiner gan­zen Geschichte. Gebrochen durch den stali­nistischen und faschistischen Terror sowie vollständig verwirrt durch die monströse Lüge, daß Stalinismus und Kommunismus dasselbe seien, vermochte die Arbeiterklas­se ihrer, von den Stalinisten aktiv und unersetzbar unterstützten Mobilisierung für die tödliche Falle der Verteidigung der Demokratie keinen Widerstand entgegenzu­setzen. Sie konnte keine andere Rolle spielen als die des Kanonenfutters, das der Bourgeoisie wehrlos, auf Gedeih und Ver­derb, ausgesetzt war. Heute, was auch immer die Schwierigkeiten des Proletariats, sein Bewußtsein zu vertiefen, zu bedeuten haben, ist die Situation grundsätzlich an­ders. In den großen Arbeiterzentren herrscht keine Einigkeit mit den Ausbeutern, son­dern entwickelt sich eher das Klima des Kampfes gegen sie. Im Gegensatz zu der von der Bourgeoisie endlos wiederholten Lüge, daß der zweite imperialistische Weltkrieg ein Krieg zwischen zwei verschiedenen "Systemen", dem faschistischen und demo­kratischen, gewesen sei, waren seine 50 Millionen Tote Opfer des kapitalistischen Systems als Ganzes. Barbarei und Verbre­chen gegen die Menschheit praktizierte nicht nur der Faschismus. Unsere wunderbaren "Alliierten", die sich als "Verteidiger der Zivilisation" priesen, plünderten und mas­sakrierten unter der Fahne der "Demokra­tie", und an ihren Händen klebt genauso viel Blut wie an denen der Achsenmächte. Der entfesselte nukleare Holocaust war beson­ders abscheulich, aber nur eines der vielen Verbrechen, die unsere "reinen Ritter der Demokratie" während des ganzen Krieges begingen.(4)

 

Der Schrecken Hiroshimas eröffnete auch eine neue Periode des verstärkten Abstiegs des Kapitalismus in seiner Dekadenz. Der permanente Krieg wurde zum Alltagsleben des Kapitalismus. Der Versailler Vertrag hatte den nächsten Weltkrieg angekündigt, und die auf Hiroshima und Nagasaki abge­worfenen Atombomben kennzeichneten nun den Beginn des "Kalten Krieges" zwischen den USA und der UdSSR, welcher für mehr als vierzig Jahre das Blutbad in alle Ecken der Welt ausdehnte. Dies deshalb, weil es, im Gegensatz zu 1918 und den Jahren danach, 1945 keine Entwaffnung gab, son­dern im Gegenteil ein riesiges Wettrüsten unter allen Siegern des Zweiten Weltkrieges begann (die UdSSR trieb sich 1949 auch Atombomben auf). Unter diesen Bedingun­gen war die ganze Wirtschaft unter dem Diktat des Staatskapitalismus in seinen verschiedenen Formen dem Krieg unterge­ordnet. Im Gegensatz zur Periode nach dem Ersten Weltkrieg war der Staatskapitalis­mus in alle Poren der Gesellschaft einge­drungen und hatte seine totalitäre Herr­schaft auf alles ausgedehnt. Nur der Staat kann die, besonders für den Ausbau des nuklearen Waffenarsenals notwendigen, gi­gantischen Ressourcen mobilisieren. Das Manhattan-Projekt war nur der Anfang einer langen und grausigen Serie, welche zum größten und wahnwitzigsten Aufrüsten der Geschichte führte.

 

 

Weit davon entfernt, eine Zeit des Friedens anzukündigen, eröffnete das Jahr 1945 eine neue Periode der Barbarei, noch verschlim­mert durch die beständige Gefahr der atomaren Vernichtung des gesamten Plane­ten. Wenn Hiroshima und Nagasaki immer noch nicht aus dem Gedächtnis der Mensch­heit ausgelöscht sind, dann nur deshalb, weil dies der direkteste und augenfälligste Ausdruck davon ist, wie der dekadente Kapitalismus das Überleben der Mensch­heit in Frage stellt.

 

Dieses schreckliche Damoklesschwert, wel­ches da über der Menschheit hängt, über­trägt eine enorme Verantwortung an das Proletariat, die einzige Kraft, die fähig ist, der militärischen Barbarei des Kapitals einen Riegel zu schieben. Obwohl die Bedrohung durch die Atombombe mit dem Zusammenbruch des amerikanischen und russischen Blocks vorübergehend ge­schwunden ist, ist diese Verantwortung nur noch gewachsen, und das Proletariat darf in seiner Wachsamkeit keinen Augenblick nachlassen. In der Tat war der Krieg noch nie so allgegenwärtig wie heute, von Afrika über die Gebiete der Ex-Sowjetunion bis zum Blutbad in Ex-Jugoslawien, welches den Krieg zum erstenmal seit 1945 nach Europa brachte.(5)

 

Und wir brauchen nur auf den Entschluß der Bourgeoisie, die Bomben vom August 1945 zu rechtfertigen, zu schauen, um die Erklä­rung Clintons zu verstehen: "Wenn es nötig wäre, die Atombombe einzusetzen, wir wür­den es wieder tun " ("Liberation", 11. April 1995).

 

Damit drückt er nur die Meinung seiner ganzen Klasse aus. Hinter den scheinheili­gen Worten über die Gefahren atomaren Wettrüstens tut in Wirklichkeit jeder Staat alles, um sich entweder ein Atomwaffen­arsenal zu ergeiern oder das schon bestehen­de auszubauen. Mehr noch: Die Forschung hat sich das Ziel gesetzt, nukleare Waffen zu verkleinern, dadurch ihren Einsatz zu er­leichtern und zu vervielfachen. Oder, wie "Libération" schreibt: "Die Studien westli­cher Generalstäbe beruhen auf der Antwort `des Vernünftigen an den Wahnsinnigen' und lassen die Idee eines taktischen, begrenzten Einsatzes von Atomwaffen wieder aufleben. Nach Hiroshima wurde ihr Einsatz tabu. Aber nach dem Kalten Krieg begann dieses Tabu seine Gültigkeit zu verlieren" ("Libération": 5. August 1995).

 

Der Horror der nuklearen Kriegsführung ist nicht etwas, das der Vergangenheit ange­hört. Im Gegenteil: Es ist, jedoch nur wenn das Prolatariat es zulässt, die Zukunft, wel­che der zerfallende Kapitalismus für die Menschheit bereithält. Zerfall bedeutet nicht Eindämmung der Allgegenwärtigkeit des Krieges. Das Chaos und das Gesetz des "Jeder gegen Jeden" machen diese Gefahr im Gegenteil nur noch unkontrollierbarer. Die imperialistischen Großmächte heizen das Chaos nur noch an, um ihre schmutzigen Interessen zu verteidigen. Wir können sicher sein, daß, wenn die Arbeiterklasse es nicht schafft, dieser verbrecherischen Tätigkeit Einhalt zu gebieten, die Herrschenden nicht zögern werden, all ihre ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einzusetzen, von gewöhn­lichen, konventionellen Bomben, wie sie im Golfkrieg flächenmäßig eingesetzt wurden, bis zu chemischen und nuklearen Waffen. Der kapitalistische Zerfall hat nur eine Perspektive anzubieten: Die stückweise Zerstörung dieses Planeten und seiner Be­wohner. Das Proletariat darf keinen Fuß­breit nachgeben, weder dem Sirenengesang des Pazifismus noch der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie, in deren Namen Hiroshima und Nagasaki ausgelöscht wur­den. Im Gegenteil: Es muß auf seinem eigenen Klassenterrain bleiben; auf dem Terrain des Kampfes gegen dieses System des Todes und der Zerstörung, des Kapita­lismus. Aus den Horrorspektakeln, aus den vergangenen und gegenwärtigen Greueln, welche die Medien heute bis ins Detail ausschlachten und mit Bildern von Kriegen schmücken, darf die Arbeiterklasse kein Gefühl der Machtlosigkeit schöpfen. Denn genau dies will die Bourgeoisie mit solchem Kriegsrummel in den Medien: Das Proletari­at terrorisieren, ihm die Idee vermitteln, es sei dagegen machtlos; als könne nur der kapitalistische Staat mit seinen enormen Zerstörungsmitteln und seiner Mächtigkeit den Frieden herbeiführen, mit denselben Mitteln, wie auch Kriege ausgelöst werden! Die Arbeiterklasse muss diese durch den Kapitalismus ausgelöste Barbarei zum Anstoss nehmen, um in seinen Klassenkämp­fen das Bewusstsein zu entwickeln und seinen Willen zur Überwindung des Kapita­lismus zu stärken.

 

Julien, 24.8.95

 

( 1 ) Um die Atombombe zu entwickeln, mobilisierte der amerikanische Staat sämtliche seiner wissen­schaftlichen Ressourcen und stellte diese dem Militär zur Verfügung. Zwei Milliarden Dollar wurden ins Manhattan-Projekt gesteckt, bewilligt durch den gro­ßen "Menschenfreund" Roosevelt. Alle Universitäten leisteten ihre Beiträge dazu. Direkt oder indirekt waren alle Physiker in dieses Geschäft verwickelt, von Einstein bis Oppenheimer, einschließlich sechs Nobelpreisträger. Die gigantische Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Ressourcen für den Krieg war ein Ausdruck der kapitalistischen Dekadenz. Der Staats­kapitalismus, entweder unverhüllt oder unter einer demokratischen Maske, unterwirft und militarisiert die ganze Wissenschaft. Unter der Herrschaft des Kapitals lebt und entwickelt sich die Wissenschaft nur durch und für den Krieg. Diese Entwicklung hörte seit 1945 nicht auf, sich zu verschärfen, im Gegenteil.

 

(2) Das Hauptziel dieses Treffens, das Churchill initiierte, war, Stalins UdSSR klarzumachen, daß sie ihre imperialistischen Appetite zu zügeln habe und daß es Grenzen gäbe, die sie nicht überschreiten dürfe.

 

(3) Den ganzen Frühling 1945 hindurch regte sich Churchill auf, daß die Amerikaner sich angesichts der

 

Einnahme Osteuropas durch die russische Ar<nee so "gutmütig" zeigten. Dieses Zögern von seiten der US-­Regierung, sich auf eine Konfrontation mit den imperialistischen Ambitionen der Sowjetunion einzu­lassen, hat ihre Gründe in der damals noch verhältnis­mäßigen Unerfahrenheit als Weltsupermacht, deren Rolle die US-Bourgeoisie jetzt spielen konnte - eine Erfahrung, die die englische Bourgeoisie bereits hatte. Aber es war auch der Ausdruck der nicht besonders freundlichen Gefühle seitens ihres amerikanischen Verbündeten. Die Tatsache, daß England geschwächt aus dem Krieg hervorging und daß seine Machtstellung in Europa durch den russischen Bären bedroht wurde, konnte die britische Bourgeoisie Onkel Sams Diktat gegenüber gefügiger machen, der sich seinem "engsten Freund" ohne zu zögern aufzwang. Dies ist ein weiteres Beispiel der "einigen und harmonischen" Beziehungen der imperialistischen Hyänen untereinander.

 

Internationale Revue Nr.17

 

Imperialistische Konflikte: Das unaufhaltsame Voranschreiten des Chaos und Militarismus

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Wie die orchestrierten Manöver gegen die Arbeiterklasse im Dez. 1995 in Frankreich und gegen die Arbeiterklasse in ganz Westeuropa zeigten, schafft es die Bourgeoisie als herrschende Klasse, sich international zusammenzuschließen, um gegen die Arbeiterklasse anzugehen. Auf der Ebene der imperialistischen Beziehungen sieht es jedoch ganz anders aus, denn hier herrscht das Gesetz des Dschungels. Die ‘Sieger des Friedens’, die im Laufe des Jahres 1995 von den Medien gefeiert wurden, sind nichts als finstere Lügen. In Wirklichkeit handelt es sich nur um Episoden im Todeskampf zwischen den imperialistischen Großmächten, die sich entweder offen oder verdeckt bekämpfen, wenn diese unter der Maske der ‘IFOR’ wie im ehemaligen Jugoslawien auftreten. Diese Endphase der Dekadenz des kapitalistischen Systems, der Zerfall, wird vor allem auf imperialistischer Ebene geprägt durch die Tendenz des Jeder-für-sich; ein Krieg, wo jeder gegen jeden kämpft. Diese Tendenz ist seit dem Ende des Golfkriegs so vorherrschend geworden, daß sie diese andere, dem Imperialismus in der dekadenten Phase innewohnende Tendenz, die Tendenz zur Bildung neuer imperialistischer Blöcke überlagert.

Deshalb sehen wir:

- eine Zuspitzung der typischen Erscheinungen der historischen Krise der kapitalistischen Produktionsform - der Militarismus, der systematische Einsatz offener Gewalt um gegen die imperialistischen Rivalen anzukämpfen und der tägliche Horror des Krieges, der immer größeren Teilen der Bevölkerung aufgezwungen wird, die hilflose Opfer dieses tödlichen Gemetzels des Imperialismus sind. Während die USA als militärische Großmacht bereit stehen, um ihre Vorherrschaft zu verteidigen und deshalb rücksichtslos Gewalt einsetzen, handeln die anderen ‘großen Demokratien’ - Großbritannien, Frankreich und- was von historischer Bedeutung ist - Deutschland - nicht weniger entschlossenen - und - auch wenn ihren beschränkten Mitteln gehorchend - mit der gleichen Entschlossenheit[i] [9];

- eine wachsende Infragestellung der Führungsrolle der ersten weltweiten Supermacht durch die meisten ihrer ehemaligen Verbündeten und Anhänger,

- eine Infragestellung oder eine Schwächung der solidesten und ältesten imperialistischen Bündnisse - wie der historische Bruch beweist, der zwischen dem britisch-amerikanischen Bündnis eingetreten ist sowie die klare Abkühlung der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland;

- die Unfähigkeit der Europäischen Union, einen alternativen Pol gegenüber der US-amerikanischen Supermacht zu bilden, wie die verschiedenen Spaltungen zwischen europäischen Staaten hinsichtlich des Krieges vor ihrer Tür auf dem Balkan verdeutlichen.

Ausgehend von diesem Rahmen können wir die Entwicklung der imperialistischen Beziehungen verstehen, die im Vergleich zur Zeit der beiden imperialistischen Blöcke  viel komplexer und instabiler gewordenen sind, und bei denen wir folgende Charakteristiken hervorheben können:

- der Ursprung und der Erfolg der US-amerikanischen Gegenoffensive mit dem Epizentrum ehemaliges Jugoslawien,

- die Grenzen dieser Gegenoffensive selber, die gesetzt werden durch den anhaltenden Willen Großbritanniens, sein Bündnis mit dem amerikanischen Paten infragezustellen,

- die französisch-britische Annäherung wie das gleichzeitige Abrücken Frankreichs von seinem deutschen Verbündeten.

Der Erfolg der Konteroffensive der USA

 In der Resolution zur internationalen Situation, die wir auf unserem 11. Kongreß verabschiedeten (siehe Internationale Revue Nr. 16), hoben wir hervor: ‘Dies offenbart das Ausmaß der Niederlage, die die USA durch den Gang der Dinge im ehemaligen Jugoslawien haben hinnehmen müssen, wo die direkte Besetzung des Terrains durch die britische und französische Armee in Gestalt der UNRPOFOR stark dazu beigetragen hat, daß die Versuche der USA, in der Region mit Hilfe des bosnischen Verbündeten Fuß zu fassen, vereitelt wurden. Es fällt auf, daß die erste Weltmacht auf immer mehr Schwierigkeiten stößt, ihre Rolle als weltweiter Gendarm wahrzunehmen. Diese Rolle wird immer weniger von den anderen Bourgeoisien unterstützt; die Lage ist nicht mehr wie früher, als die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung sie zwang, sich den Befehlen Washingtons zu unterwerfen. Es gibt gegenwärtig eine ernsthafte Schwächung, gar eine Krise der amerikanischen Führung, die überall auf der Welt zu sehen ist’. Wir erklärten diese weitreichende Abschwächung der Führungsrolle der USA damit, daß ‘die vorherrschende Tendenz gegenwärtig nicht die einer neuen Blockbildung ist, sondern ‘jeder kämpft für sich’.

Im Frühjahr 1995 war die Lage in der Tat beherrscht durch  die Schwächung der ersten Weltmacht, aber sie hat sich seitdem deutlich geändert, nachdem die Clinton-Regierung eine heftige Konteroffensive durchgeführt hat. Als die USA die Rolle des einfachen Herausforderers im ehemaligen Jugoslawien übernehmen mußten, nachdem von dem französisch-britischen Tandem die ‘FRR’ (schnelle Eingreiftruppe) aufgestellt worden war, sowie nachdem ihre ältester und treuester Gehilfe Großbritannien sie verraten hatte, wurde die US-Position in Europa ernsthaft geschwächt. Dadurch wurde ein Gegenschlag seitens der USA erforderlich, der der Schwächung ihrer Führungsrolle entgegentreten würde. Bei dieser mit Elan durchgeführten Gegenoffensive stützten sich die USA hauptsächlich auf zwei Trumpfkarten. Einmal ihre militärische Trumpfkarte, die es ihnen möglich macht, schnell ihre Truppen umfangreich zu mobilisieren, so daß kein Rivale sich Hoffnung darauf machen kann, ihnen auf dieser Ebene entgegenzutreten. So stellten die USA die Truppen der IFOR auf, die die UNPROFOR-Truppen verdrängten, wobei sie aber ihre großen logistischen Fähigkeiten mit ins Spiel brachten: Transportmittel der US-Armee, große Schiffsverbände mit umfangreicher militärischer Feuerkraft und Beobachtungssatelliten. Diese Demonstration der Stärke zwang die Europäer dazu, das Dayton-Abkommen zu unterzeichnen. Dann ausgehend von dieser militärischen Stärke setzte Clinton voll auf die Ausnutzung der imperialistischen Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten, die ihre Karten im ehemaligen Jugoslawien im Spiel haben, indem insbesondere geschickt der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgenutzt wurde, der den traditionellen Interessensgegensatz zwischen Großbritannien und Deutschland noch verschärfte[ii] [9].

Die direkte Anwesenheit starker amerikanischer Truppenverbände im ehemaligen Jugoslawien und im Mittelmeer insgesamt bedeutete einen herben Tiefschlag für die beiden Staaten, die am stärksten die US-Führungsrolle herausgefordert hatten: Frankreich und Großbritannien. Zudem beide Staaten einen besonderen Status im Mittelmeer für sich beanspruchen, und sie seit dem Beginn des Jugoslawienkriegs alles getan hatten, um eine US-Intervention dort zu verhindern, da sie ihre Position im Mittelmeer abschwächen würde.

Seit dem Dayton-Abkommen und der Ankunft der IFOR-Truppen sind die USA im ehemaligen Jugoslawien eindeutig als die dominierende Macht aufgetreten. Auf Milosevic haben sie mit einem gewissen Erfolg Druck ausgeübt, damit dieser die engen Verbindungen zu seinen Beschützern Frankreich und England lockert. Dazu haben die USA Zuckerbrot und Peitsche eingesetzt. Ihren bosnischen ‘Schützling’ haben sie fest im Griff, wenn dieser die geringsten Anzeichen von Unabhängigkeit zeigt, was deutlich wurde, als die USA in den Medien gewisse Verbindungen zwischen Bosnien und dem Iran groß zur Schau stellten. Sie haben zusätzliche Trümpfe für die Zukunft auf die Seite gelegt, indem sie eine Annäherung an Zagreb vollzogen haben, da Kroatien die einzige Kraft ist, die sich wirksam Serbien entgegenstellen kann. Und bislang haben sie es verstanden, die großen Spannungen zu ihren Gunsten zu verwenden, die in dem von ihnen geschaffenen Gebilde, der kroatisch-muslimischen Föderation in Mostar herrschen. Offensichtlich haben sie es zugelassen, wenn nicht gar gefördert, als die kroatischen Nationalisten den deutschen EU-Verwalter Mostars angriffen, worauf dieser abreiste und durch einen amerikanischen Vermittler ersetzt wurde, der sowohl von den kroatischen wie auch von den muslimischen Fraktionen verlangt wurde. Indem sie gute Beziehungen zu Kroatien aufbauten, stellen sie sich vor allem gegen Deutschland, das der große Verbündete Kroatiens bleibt. Geschickt nutzen sie damit die im deutsch-französischen Bündnis aufgekommenen Spaltungen hinsichtlich Ex-Jugoslawien aus und verstärken sie. Indem die USA eine taktische und zeitlich begrenzte Allianz mit Bonn im ehemaligen Jugoslawien eingingen, hoffen sie das Treiben Deutschlands, das ihr gefährlichster imperialistischer Rivale bleibt, besser kontrollieren zu können, denn ihre massive militärische Präsenz vor Ort schränkt den Spielraum des deutschen Imperialismus ein.

Somit beherrscht die amerikanische Bourgeoisie drei Monate nach dem Aufbau der IFOR-Truppen die Lage ziemlich gut; sie hat die Steine aus dem Weg räumen können, die Frankreich und Großbritannien den USA in den Weg gelegt hatten. Von einem Epizentrum der Herausforderung der US-Vorherrschaft ist das ehemalige Jugoslawien zu einem Hebel für die Verteidigung der Führungsrolle der USA in Europa und im Mittelmeer geworden, d.h. in dem zentralen Teil des imperialistischen Schlachtfeldes. So wird die US-Präsenz in Ungarn eine Bedrohung darstellen für den traditionellen Einfluß des deutschen Imperialismus in Osteuropa. Es ist sicher kein Zufall, daß die Spannungen zwischen Bonn und Prag anläßlich der Sudetenfrage von den USA ausgenutzt werden, um eindeutig Position für Tschechien zu beziehen. Auch in einem Land wie Rumänien, ein traditioneller Verbündeter Frankreichs, werden die Auswirkungen des Einzugs der US-Truppen zu spüren sein.

Die Stärkeposition der USA, die sie im ehemaligen Jugoslawien haben aufbauen können, wurde schnell ersichtlich während der Spannungen in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei. Washingtons Stimme war sehr schnell zu hören; sehr schnell haben die beiden Streithähne sich den Anordnungen Washingtons gebeugt, auch wenn der Streit weiterschwelt. Aber abgesehen von der Warnung an diese beiden Länder haben die USA die Ereignisse vor allem ausgenutzt, um die Machtlosigkeit der Europäischen Union gegenüber den Spannungen herauszustreichen, die direkt in ihrem Raum festzustellen sind, wodurch sie zur Schau stellen konnten, wer der wirkliche Herr im Mittelmeer ist. Dadurch wurde der Außenminister Englands sehr irritiert.

Aber während Europa der Hauptstreitpunkt für die Verteidigung der Vorherrschaft der USA darstellt, treten die USA weltweit für die Verteidigung ihrer Vorherrschaft ein. Der Mittlere Osten ist in dieser Hinsicht ein Gebiet, wo die USA bevorzugt manövrieren können. Trotz des von Frankreich initiierten Barcelona-Gipfels und seiner Versuche, wieder verstärkt Zugang zu finden zur Bühne im Mittleren Osten, trotz des Erfolgs für Frankreich, den die Wahl Zerouals in Algerien darstellte und trotz der Fußangeln, die Deutschland und Großbritannien in seinen Jagdgründen ausgelegt haben, haben die USA ihren Druck erhöht und wichtige Punkte im letzten Jahr erzielt. Indem sie die israelisch-palästinensischen Verhandlungen vorantrieben, deren Krönung der triumphale Wahlsieg Arafats in den palästinensischen Gebieten war, und indem sie die Dynamik ausnutzen, die durch den Mord an Rabin entstanden ist, um die Verhandlungen zwischen Syrien und Israel zu beschleunigen, verstärkt die erste Weltmacht ihre Kontrolle über diese Region - wobei das alles unter der Maske ‘pax americana’  geschieht und Druckmittel eingesetzt werden wie gegen den Iran, der sich immer noch gegen die US-Vorherrschaft im Mittleren Osten wehrt[iii] [9].

Nach einer vorübergehenden Teilberuhigung der Lage in Algerien nach der Wahl des finsteren Zeroual, ist dieser Flügel der algerischen Bourgeoisie, der mit dem französischen Imperialismus verbunden ist, wieder von neuem mit Attentaten konfrontiert, hinter denen sicherlich - verdeckt durch die ‘Islamisten’- die Hand der USA steckt.

Die USA und die Tendenz des jeder für sich

Die heftige Gegenoffensive der amerikanischen Bourgeoisie hat das imperialistische Kräfteverhältnis geändert, aber gleichzeitig wurde dieses nicht in seinem Innern geändert. Die USA haben beweisen können, daß sie die einzige weltweite Supermacht bleiben, und daß sie  nicht zögern, ihren gewaltigen Militärapparat überall dort einzusetzen, wo ihre Führungsrolle bedroht ist, womit jeder imperialistische Rivale Gefahr läuft, von der amerikanischen Reaktion getroffen zu werden. Auf dieser Ebene ist der Erfolg der USA vollständig und ihre Botschaft war überall zu hören. Aber trotz dieser Punktesiege für die USA haben diese  es jedoch nicht geschafft, das Phänomen auszulöschen, das diesen Einsatz letztendlich wirklich erforderlich macht: die  in den imperialistischen Beziehungen vorherrschende Tendenz, daß jeder für sich kämpft. Diese Tendenz wurde zeitweilig gebremst, aber keinesfalls zerschlagen; im Gegenteil sie beherrscht weiterhin die imperialistische Bühne, wird sie doch ständig vorangetrieben durch den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft. Sie bleibt die vorherrschende Tendenz und zwingt jeden imperialistischen Rivalen der USA, diese offen oder listig und versteckt herauszufordern, obgleich es keinesfalls ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen den USA und den Herausforderern gibt. Der Zerfall und das damit einhergehende Aufblühen des Militarismus, wo jeder gegen jeden kämpft, treiben dieses typische Merkmal des dekadenten imperialistischen Kapitalismus, die Irrationalität des Krieges auf die Spitze. Auf dieses Hindernis prallen die USA immer wieder, und weil sie der ‘Gendarm der Welt bleiben’ wollen, stoßen sie dabei auf immer mehr Schwierigkeiten.

Nachdem der Spielraum von Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland im ehemaligen Jugoslawien stark eingeschränkt worden ist, werden diese versuchen, an anderer Stelle die US-amerikanische Führung anzukratzen und zu schwächen. Der französische Imperialismus ist besonders aktiv. Fast vollständig aus dem Mittleren Osten verjagt, versucht er nun mit allen Mitteln, in dieser strategisch höchst wichtigen Region erneut Fuß zu fassen. Sei es durch Intensivierung der Kontakte mit dem Irak, wo Frankreich Vermittlungsbemühungen zwischen dem Irak und der UNO in die Hand genommen hat und Krokodilstränen vergießt über die schrecklichen Folgen für die Bevölkerung des von den USA dem Irak aufgezwungenen Embargos, oder durch den verstärkten Einfluß im Jemen und in Quatar. Oder durch eine Vermittlerrolle zwischen Israel und Syrien sowie das Angebot der Stationierung von Truppen im Libanon, oder durch seine Machenschaften im Maghreb, wo er gegenüber Marokko und Tunesien sehr aktiv bleibt, gleichzeitig verteidigt er seine traditionelle Einflußsphäre in Schwarzafrika. 

Nachdem es nun Hilfe von seinem britischen Komplizen bekommt - dem es aus Dank zugestanden hat, daß Kamerun in das Commonwealth integriert wird - was vor Jahren noch undenkbar gewesen wäre - agiert Frankreich in Schwarzafrika von der Elfenbeinküste über Niger (wo es neulich den Staatsstreich unterstützt hat) bis Ruanda. Zynisch nutzt es die Flüchtlinge Ruandas aus, die dort von den USA vertrieben worden waren, und die nun in Flüchtlingslager in Zaire hausen, um das pro-amerikanische Regime in Ruanda zu destabilisieren.

Aber die beiden bedeutendsten Zeichen  der Entschlossenheit der französischen Bourgeoisie, um jeden Preis dem alles plattwalzenden Druck der USA zu widerstehen, war die neulich stattgefundene Reise Chiracs in die USA und der Beschluß einer radikalen Umwandlung der französischen Armee. Bei dem Treffen mit Clinton zollte Chirac der neuen imperialistischen Konstellation, die durch die amerikanische Demonstration der Stärke zustande gekommen war, Anerkennung. Trotzdem war es für ihn kein Gang nach Canossa. Denn der französische Präsident hat dort offen seinen Willen bekundet, daß der französische Imperialismus weiter eigenmächtig zu handeln beabsichtigt, als er die europäische Verteidigung lobte. Von der Erkenntnis ausgehend, daß es sehr schwer ist, sich offen der US-Vorherrschaft entgegenzustellen, hat die Chirac-Regierung eine neue, wirksamere Strategie eingeleitet.  Frankreich spielt jetzt die Rolle des Trojanischen Pferdes. Dies ist die Erklärung für den fast vollständigen Wiederbeitritt Frankreichs zur NATO. Von nun an  will Frankreich von innen her ‘die US-Ordnung’ untergraben. Der Beschluß der Schaffung einer Berufsarmee von 60.000 Mann mit weltweiten Einsatzmöglichkeiten ist weiterer Bestandteil dieser neuen Strategie und spiegelt die feste Entschlossenheit der französischen Bourgeoisie wieder, ihre Interessen auch gegenüber dem US-Gendarm zu verteidigen. Wir müssen hier einen wichtigen Punkt hervorheben: bei der Umsetzung dieser Taktik des Trojanischen Pferdes wie bei der Neuorganisierung seines Militärs zeigt Frankreich, daß es von Großbritannien gelernt hat. Großbritannien verfügt über lange Erfahrung bei dieser Strategie der ‘Verdrehung’. So verfolgte der britische Beitritt zum Gemeinsamen Markt das Hauptziel, diese Struktur von Innen her zu untergraben. Ebenso hat die britische Berufsarmee ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt, als sie mit geringeren Truppenzahlen während des Golfkriegs wie auch im ehemaligen Jugoslawien mehr Soldaten in Gang setzen konnte als Frankreich. Hinter dem lautstarken Aktivismus Chiracs verbirgt sich deshalb auf imperialistischer Ebene oft hinter den Kulissen britischer Einfluß. Die relativen Erfolge der französischen Bourgeoisie auf imperialistischer Bühne sind ohne Zweifel stark auf britische Ratschläge zurückzuführen, denn die britische Bourgeoisie ist weltweit die erfahrenste und hat diese in die enge Zusammenarbeit, die es seit kurzem mit Frankreich gibt, mit einfließen lassen.

Der Bruch der ältesten imperialistischen Allianz in diesem Jahrhundert, die zwischen England und den USA, zeigt das ganze Ausmaß der Tendenz des Jeder-für-sich sowie die Grenzen der amerikanischen Demonstration der Stärke. Trotz des gewaltigen Drucks, den die US-Bourgeoisie wegen des Verrates des ‘heimtückischen Englands’ ausübt, um England wieder willfähriger zu machen gegenüber dem alten Verbündeten und Blockführer, betreibt Großbritannien weiter die Politik des Abrückens von Washington, wie das wachsende Zusammenrücken mit Frankreich verdeutlicht, obgleich das Bündnis mit Frankreich auch gegen Deutschland gerichtet ist. Diese Politik wird nicht vollständig von der ganzen britischen Bourgeoisie geteilt, aber die Fraktion um Thatcher - die für die Aufrechterhaltung des Bündnisses mit den USA eintritt - bleibt im Augenblick nur eine Minderheit, und Major kann sich in dieser Hinsicht auf die volle Rückendeckung der Labour-Partei stützen. Dieser Bruch zwischen London und Washington wirft ein Licht auf die veränderte Lage, wie sie zur Zeit des Golfkrieges vorherrschte, als Großbritannien ein treuer Verbündeter Uncle Sams war. Dieses Ausreißen des ältesten und treuesten Verbündeten ist ein schmerzhafter Dorn im Fuß der ersten Weltmacht, die solch eine schwerwiegende Infragestellung ihrer Vorherrschaft nicht dulden kann. Deshalb benutzt Clinton die alte Irlandfrage, um den Verräter zur Rückkehr in die eigenen Reihen zu bewegen. Ende 1995 zögerte Clinton bei seiner triumphalen Reise  nach Irland nicht, die älteste Demokratie der Welt als eine ‘Bananenrepublik’ zu behandeln, als er offen und unverblümt Stellung für die irischen Nationalisten bezog und London einen amerikanischen Vermittler (Senator G. Mitchell) aufzwang. Nachdem der von ihm vorgeschlagene Plan von der britischen Regierung verworfen wurde, ist Washington zum nächsten Schritt übergegangen und hat die Waffe des Terrorismus eingesetzt, als die IRA wieder Attentate verübte. Die IRA ist mittlerweile zur rechten Hand der USA für die Durchsetzung deren Belange auf britischem Boden  geworden. Dies zeigt wie entschlossen die amerikanische Bourgeoisie ist, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um ihrem alten Gehilfen eins auszuwischen. Aber der Einsatz der Waffe des Terrorismus legt gleichzeitig das ganze Ausmaß des Grabens bloß, der mittlerweile zwischen den ehemaligen Verbündeten besteht und das unglaubliche Chaos, das heute in den imperialistischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des ehemaligen westlichen Blocks hinter der Fassade der ‘unzerbrechlichen Freundschaft’ zwischen den großen Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks vorherrscht. Im Augenblick sieht es so aus, daß der Druck des ehemaligen Blockführers nur den Widerstand des britischen Imperialismus verstärkt hat, auch wenn die USA noch nicht alle Mittel eingesetzt haben und alles unternehmen werden, um das Blatt wieder zu wenden.

Die Entwicklung des Jeder-für-sich, gegen die der US-Gendarm überall stößt, ist in der jüngsten Zeit in Asien in eine neue spektakuläre Stufe eingetreten; man kann gar sagen, daß die USA vor einer neuen Front stehen. So ist Japan ein immer weniger unterwürfiger Alliierter, denn nachdem es jetzt von der Zwangsjacke der Militärblöcke befreit ist, strebt es danach, einen imperialistischen Rang einzunehmen, der seiner Wirtschaftsmacht mehr entspricht; deshalb Japans Forderung nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO.

Die Demos gegen die US-amerikanische Präsenz auf Okinawa, die Ernennung eines neuen japanischen Premierministers, der für seine anti-amerikanischen Bestrebungen und seine nationalistische Haltung bekannt ist, zeigen, daß Japan die US-Vorherrschaft immer weniger hinnehmen und seine eigenen imperialistischen Ambitionen durchsetzen will. Die Folge wird die Destabilisierung einer Region sein, wo viele Souveränitätskonflikte latent sind, wie z. B. der zwischen Südkorea und Japan um die Insel Tokdo. Aber die neue Aggressivität Chinas gegenüber Taiwan zeigt am deutlichsten die Entwicklung der Spannungen in diesem Teil der Welt. Abgesehen von innenpolitischen Motiven der chinesischen Bourgeoisie, die vor dem Problem der delikaten Nachfolgeregelung nach dem Tod von Deng Tsiao Ping steht,  zeigt diese Haltung des chinesischen Imperialismus vor allem auf, daß er jetzt bereit ist, seinen ehemaligen Blockführer, die USA herauszufordern, um seine eigenen imperialistischen Ansprüche zu stellen. So hat China deutlich die vielen Warnungen Washingtons in den Wind geschlagen und damit die Verbindungen mit den USA gelockert, wodurch diese gezwungen wurden, erneut ihre Muskel spielen zu lassen, indem sie eine Armada in die Meerenge von Formosa schickten. Auf dem Hintergrund der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und der offenen Infragestellung der Vorherrschaft der USA in Asien, muß man die Annäherung zwischen Paris und Beijing nach der Reise des französischen Verteidigungsministers und der Einladung an Li Peng sehen, sowie die Abhaltung des ersten europäisch-asiatischen Gipfels in Thailand Anfang März. Während es natürlich ökonomische Gründe für solch einen Gipfel gibt, versucht die Europäische Union vor allem in die Jagdgründe Uncle Sams vorzudringen und einen dritten Pol im Dreieck Europa-Asien-Amerika aufzubauen, unabhängig von den tiefgreifenden Spaltungen, die es innerhalb der EU selber gibt.

Ungeachtet der entschlossenen Betonung ihrer Vorherrschaft stoßen die USA immer wieder auf die Tendenz des Jeder-für-sich. Dadurch wird die Führungsrolle der USA bedroht, wodurch die USA gezwungen sind, immer mehr zur offenen Gewalt zu greifen, womit der Gendarm selber zu einer Haupttriebfeder der Verbreitung des Chaos wird, das er ursprünglich bekämpfen wollte. Dieses Chaos, das durch den weltweiten Zerfall des Kapitalismus hervorgerufen wird, wird auf der ganzen Welt noch mehr zerstörerisch und mörderisch wirken.

Die deutsch-französische Allianz auf dem Prüfstand

Nicht nur die Vormachtstellung der USA wird herausgefordert, auch die Tendenz zur Bildung neuer imperialistischer Blöcke wird durch den Kampf des Jeder-für-sich behindert. Dies wird anhand starken Turbulenzen der deutsch-französischen Allianz deutlich.

Der Marxismus hat immer hervorgehoben, daß ein zwischenstaatliches imperialistisches Bündnis nichts mit einer Liebesheirat zu tun hat oder mit einer wirklichen Freundschaft zwischen Völkern. Das einzige Leitmotiv eines solchen Bündnisses, den jedes Mitglied unter allen Umständen für sich durchsetzen will, ist soviel wie möglich Nutzen aus solch einem Bündnis zu ziehen. All das trifft voll auf den ‘europäischen Motor’ zu, den das deutsch-französische Paar sein wollte und liefert die Erklärung dafür, daß vor allem Frankreich von Deutschland abrückt. In der Tat wurde das Bündnis zwischen beiden Staaten nie auf beiden Seiten des Rheins mit den gleichen Augen gesehen.

Deutschland hat als führende wirtschaftliche Großmacht ein Interesse an einem militärischen Bündnis mit der europäischen Nuklearmacht Frankreich, da es selbst noch militärisch gehandikapt ist. Ein Bündnis mit England als Militärmacht ist trotz dessen Bruch mit den USA ausgeschlossen, da es Erzfeind Deutschlands ist. In der Vergangenheit hat England immer gegen die deutsche Vorherrschaft in Europa angekämpft, und die Wiedervereinigung und das damit gewachsene Gewicht des deutschen Imperialismus in Europa haben seine Entschlossenheit nur gestärkt, sich jeder deutschen Führung auf dem Kontinent entgegenzustellen.

Während Frankreich gezögert hat, Widerstand gegen den deutschen Imperialismus zu zeigen, denn beispielsweise neigten in den 30er Jahre einige Fraktionen der französischen Bourgeoisie dazu, ein Bündnis mit Berlin einzugehen, hat sich Großbritannien jeder imperialistischen Konstellation entgegengestellt, in der Deutschland führend war. Angesichts dieses historischen Interessensgegensatzes hat die deutsche Bourgeoisie keine andere Wahl in Westeuropa, und sie fühlt sich um so wohler im Bündnis mit Frankreich, da sie gegenüber diesem in einer Stärkeposition steht. Deshalb übt Deutschland auf Frankreich Druck aus, damit es an seiner Seite bleibt.

Für die französische Bourgeoisie sehen die Dinge anders aus, denn für sie war ein Bündnis mit Deutschland vor allem ein Versuch der Kontrolle Deutschlands, in der Hoffnung damit an der Führungsrolle in Europa teilzuhaben.  Deutschlands Vorstöße auf dem Balkan sowie sein allgemeines Erstarken haben die Mehrheit der französischen Bourgeoisie eines Besseren belehrt, denn sie sieht nun das Gespenst eines ‘Großdeutschland’ aufziehen, das durch die Erinnerung an drei verlorene Kriege gegenüber einem zu mächtigen deutschen Gegner genährt wird.

In einer gewissen Weise fühlt sich die französische Bourgeoisie ausgetrickst, und deshalb hat sie die Bindungen zu Deutschland gelockert, denn die Schwächen Frankreichs als historisch absteigende Macht wurden dadurch verstärkt. Solange Großbritannien den USA treu blieb, war der Spielraum des französischen Imperialismus sehr begrenzt, denn er mußte die deutsche Expansion eindämmen und versuchen ihn innerhalb des Bündnisses zu binden.

Das Vordrängen Deutschlands im ehemaligen Jugoslawien über die kroatischen Häfen hin zum Mittelmeer hat die von Mitterand verfolgte Politik gegenüber Deutschland scheitern lassen, und sobald Großbritannien die privilegierten Beziehung zu Washington aufgebrochen hat, hat die französische Bourgeoisie diese Gelegenheit ausgenutzt, um klar von Deutschland abzurücken. Die Annäherung an London, die von Balladur eingeleitet und von Chirac noch ausgebaut wurde, hat im französischen Imperialismus die Hoffnung aufkommen lassen, wirksamer die deutsche Expansion eindämmen und gleichzeitig stärker dem US-Gendarmen Widerstand leisten zu können. Aber während diese neue Version der ‘Entente Cordiale’ (herzliches Bündnis) der Bund der Kleinen gegen die beiden Großen (USA und Deutschland) ist, darf man sie nicht unterschätzen. Auf militärischer Ebene handelt es sich auf konventioneller und mehr noch auf nuklearer Ebene um eine bedeutende Macht. Auf politischer Ebene ebenso; die große Erfahrung der englischen Bourgeoisie - Erbschaft ihrer früheren jahrelangen Weltherrschaft wird die Möglichkeiten der beiden zweitrangigen Gangster vergrößern, ihre Haut sowohl gegenüber Washington wie gegenüber Bonn so teuer wie möglich zu verkaufen. Auch wenn man jetzt noch kein Urteil fällen kann über die Dauer dieses neuen imperialistischen Bündnis am Ärmelkanal, das jetzt schon dem starken Druck der USA und Deutschlands ausgesetzt ist, gibt es eine Reihe von Faktoren, die zugunsten einer gewissen Dauer und Solidität der französisch-britischen Annäherung wirken. Beide Staaten sind historisch absteigende ehemalige große Kolonialmächte, die beide von der Supermacht USA und der europäischen Großmacht Deutschland bedroht werden, was  bei ihnen gemeinsame Interessen schafft. Deshalb arbeiten Frankreich und Großbritannien in Afrika aber auch im Mittleren Osten stärker zusammen, während sie bis vor kurzem noch Rivalen waren, ganz abgesehen von ihrer exemplarischen Abstimmung im ehemaligen Jugoslawien. Aber der Faktor, der der französisch-britischen Achse am meisten Stabilität verleiht, ist der, daß beide etwa gleich starke Staaten sind, sowohl wirtschaftlich wie auch militärisch, weshalb keiner von ihnen zu fürchten braucht, von dem anderen geschluckt zu werden, was von großer Bedeutung ist im Verhältnis der imperialistischen Haie untereinander.

Diese wachsende enge Abstimmung zwischen Frankreich und Großbritannien kann nur zu einer bedeutsamen Schwächung des Bündnisses zwischen Frankreich und Deutschland führen. Während diese Abschwächung teilweise auch den USA zugunsten kommt, indem die Perspektive eines von Deutschland beherrschten Blocks in weite Ferne rückt, richtet sie sich gegen die Interessen Deutschlands. Während die radikale Umorientierung der Armee und der französischen Rüstungsindustrie, die von Chirac beschlossen wurde, die Fähigkeit der französischen Bourgeoisie widerspiegelt, die Lehren aus dem Golfkrieg und aus den Tiefschlägen des Jugoslawienkrieges zu ziehen, um sich auf die neue Situation der Verteidigung der weltweiten imperialistischen Bedürfnisse einzustellen, richtet sich diese Umorientierung auch direkt gegen Deutschland.

- Trotz der Erklärungen von Chirac, derzufolge alles in enger Absprache mit Bonn geschehe, wurde die deutsche Bourgeoisie vor vollendete Tatsachen gestellt; Frankreich hat seine Beschlüsse Deutschland nur mitgeteilt und zu verstehen gegeben, daß sie unwiderruflich seien;

- Es handelt sich sehr wohl um eine tiefgreifende Umorientierung der französischen imperialistischen Politik. Das hat auch der deutsche Verteidigungsminister verstanden, als er erklärte ‘im Gegensatz zu Deutschland setzt  Frankreich seine Prioritäten außerhalb des Zentrums von Europa’[iv] [9].

- Durch die Aufstellung einer Berufsarmee und die Ausrichtung auf den Aufbau von weltweit einsetzbaren Kräften bringt Frankreich zum Ausdruck, daß es gegenüber Deutschland eigenständig handeln will und bessere Bedingungen für eine gemeinsame Intervention mit Frankreich sucht. Während die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee ist, wird die französische Armee nunmehr nach dem englischen Modell ausgerichtet und stützt sich auf Berufssoldaten.

- Schließlich wird das Eurokorps, das bislang das klassische Symbol der deutsch-französischen Allianz war, durch diese Umorganisierung direkt bedroht. Der Verteidigungssprecher der innerhalb der französischen Bourgeoisie vorherrschenden Gruppe des RPR hat dann auch schon die Auflösung des Eurokorps gefordert.

All das zeigt die Entschlossenheit der französischen Bourgeoisie, sich von Deutschland zu lösen, aber man darf die zwischen England und den USA eingetretene Scheidung nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die deutliche Schwächung des Bündnisses zwischen Frankreich und Deutschland. Zunächst wird Deutschland gegenüber dem rebellischen Verbündeten Frankreich nicht tatenlos bleiben. Es verfügt über wichtige Mittel, um auf Frankreich Druck auszuüben, sei es nur durch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten, denn Deutschland kann seine Wirtschaftsstärke in die Waagschale werfen. Aber hauptsächlich die Lage Frankreichs selber wird es für Frankreich außerordentlich schwer machen, einen vollständigen Bruch mit Deutschland zu vollziehen. Der französische Imperialismus wird von Deutschland und den USA in die Klemme genommen und dem Druck der beiden ausgesetzt. Als mittlere Großmacht ist er trotz der Hilfe, die er durch das Bündnis mit London erfährt, dazu gezwungen, sich vorübergehend auf eine der beiden Großmächte zu stützen, um besser dem Druck der anderen Großmacht zu widerstehen - er muß also auf mehreren Ebenen handeln. Auf dem Hintergrund des wachsenden Chaos, das durch den Zerfall hervorgerufen wird, wird dieses Vorgehen auf zwei oder drei Ebenen, um ein Bündnis mit einem Feind oder Rivalen einzugehen, um dem anderen besser zu widerstehen, immer häufiger zu sehen sein. Deshalb haben Frankreich und Deutschland bestimmte imperialistische Verbindungen weiter aufrechterhalten. So unterstützen sich manchmal die beiden Haie im Mittleren Osten, um gemeinsam in die Jagdgründe der USA vorzudringen; auch in Asien findet phasenweise das gleiche statt. Auch wurde ein gemeinsames Projekt von militärischen Aufklärungssatelliten Helios unterzeichnet, das zum Ziel hat, die Vorherrschaft der USA in diesem für den modernen Krieg so wichtigen Bereich zu brechen (Clinton hat das klar erkannt, als er den Direktor der CIA nach Bonn schickte, um den Abschluß dieses Abkommens zu verhindern). Das gleiche trifft für den gemeinsamen Bau von Raketen zu. Während das Interesse Deutschlands an der Fortsetzung der Zusammenarbeit im Bereich der fortgeschrittenen Technologie offensichtlich ist, kommt dies auch französischen Interessen entgegen. Denn Frankreich weiß, daß es nicht mehr allein für die immer teureren Projekte aufkommen kann, und während sich die Zusammenarbeit mit England aktiv weiterentwickelt, bleibt diese dennoch im Augenblick wegen der engen Abhängigkeit Großbritanniens von den USA noch beschränkt, insbesondere im nuklearen Bereich. Darüber hinaus nimmt in diesem Bereich Frankreich gegenüber Deutschland eine Stärkeposition ein. Bei dem Satellitenprojekt hat es Deutschland erpreßt: wenn Bonn sich weigern würde dabei mitzumachen, würde die Hubschrauberproduktion eingestellt, die Aktivitäten in der Gruppe Eurocopter beendet.

Je mehr das kapitalistische System zerfällt, desto größer wird das Chaos bei den imperialistischen Beziehungen; die solidesten und ältesten Allianzen werden untergraben, der Krieg des Jeder gegen Jeden angeheizt. Der Rückgriff auf nackte Gewalt seitens der größten Weltmacht erweist sich nicht nur als hilflos, um dieses Chaos einzudämmen, sondern wird zu einem dieses Chaos beschleunigend Faktor. Die einzigen Gewinner dieser höllischen Spirale sind der Militarismus und der Krieg, die wie ein Moloch immer mehr Opfer fordern, um ihren Appetit zu stillen. Sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, als angeblich eine ‘Ära des Friedens’ anbrechen sollte, bleibt die einzige Alternative mehr als je zuvor die, welche von der Kommunistischen Internationale auf ihrem Gründungskongreß 1919 aufgezeigt wurde: Sozialismus oder Barbarei.        RN 10.03.96

 

 



[i] [9] Der Rückgang der Rüstungsausgaben, der eine ‘Friedensdividende’ hätte hervorrufen sollen, stellt keine wirkliche Abrüstung dar wie in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, sondern ist im Gegenteil nichts anderes als eine gigantische Neuorientierung der Militärapparate auf dem Hintergrund der neuen imperialistischen Konstellation, die durch die unglaubliche Entwicklung des Jeder-für-sich entstanden ist. 

[ii] [9] Die USA haben nicht gezögert, sich mittels Kroatien taktisch auf Deutschland zu stützen.  

[iii] [9] Ungeachtet dessen, wer die Auftraggeber waren, nützt die Reihe mörderischer Attentate in Israel den Rivalen der USA. Die USA  haben auch sofort auf Iran als den Schuldigen gezeigt und die europäischen Staaten dazu aufgerufen, mit ‘diesem terroristischen Staat’ alle Verbindungen abzubrechen. Die USA, die die Waffe des Terrors sonst genauso  skrupellos einsetzen und die selbst Drahtzieher der Terroranschläge von Algerien, London und Paris waren, hindert sie natürlich nicht daran, solche Aufrufe zu machen. Der Terrorismus, früher die klassische Waffe der Schwachen, wird heute mehr und mehr von den Großmächten selber eingesetzt. Ein typisches Beispiel des Aufblühens des Militarismus und Chaos. 

[iv] [9] Hinsichtlich des angestrebten zukünftigen Europas hat sich Frankreich klar von der von  Deutschland vertretenen föderalistischen Auffassung abgrenzt, und nähert sich der Auffassung von Großbritannien.

 

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [10]

Klassenkampf: Das Wiedererstarken der Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse

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Jeden Tag wird die Barbarei deutlicher, in der der Kapitalismus versinkt

‘Mehr als je zuvor stellt der Kampf des Proletariats die einzige Hoffnung für die Zukunft der Menschheit dar. Diese Kämpfe, die Ende der 60er Jahre mit großer Wucht ausgebrochen waren und die schrecklichste Konterrevolution, unter der die Arbeiterklasse zu leiden gehabt hatte, beendeten, sind in einen umfangreichen Rückfluß nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, den damit verbundenen ideologischen Kampagnen und Ereignissen (Golfkrieg, Balkankrieg usw.) eingetreten. Der massive Rückfluß war auf zwei Ebenen deutlich zu spüren: auf der Ebene der Kampfbereitschaft und des Klassenbewußtseins, ohne daß dies jedoch gleichzeitig - wie die IKS schon damals hervorhob - den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen umgeschmissen hat. Die in den letzten Jahren vom Proletariat geführten Kämpfe haben dies bestätigt. Sie haben insbesondere seit 1992 die Fähigkeit des Proletariats unter Beweis gestellt, den Weg des Klassenkampfes wieder einzuschlagen, womit bestätigt wurde, daß der historische Kurs nicht umgekehrt wurde. Diese Kämpfe haben jedoch auch die großen Schwierigkeiten der Klasse aufgrund der Tiefe und des Ausmaßes des Rückflusses aufgezeigt. Die Arbeiterkämpfe entwickeln sich mit Fort- und Rückschritten in einer auf- und ab Bewegung’. (Resolution zur Internationalen Situation,11. Kongreß der IKS, Frühjahr 1995, Internationale Revue Nr. 16, S. 8).

Die Streiks und Demonstrationen der Arbeiter, die Ende 1995 Frankreich erschütterten, haben dies erneut verdeutlicht: die Fähigkeit des Proletariats, den Weg des Klassenkampfes weiter einzuschlagen, aber auch die gewaltigen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse auf diesem Weg sind deutlich geworden. In der letzten Ausgabe der International Review Nr. 84 (engl./franz./ span. Quartalsausgabe) haben wir schon eine erste Einschätzung der Bewegung geliefert:

‘ Tatsächlich ist die Arbeiterklasse in Frankreich zur Zielscheibe eines großen Manövers geworden, wo das Bewußtsein und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse angeschlagen werden sollen. Dieses Manöver richtet sich auch gegen die Arbeiterklasse der anderen Ländern, damit sie die falschen Lehren aus den Ereignissen in Frankreich ziehen...

Diesen Angriffen des Kapitals gegenüber dürfen die Arbeiter nicht passiv bleiben. Sie müssen sich im Kampf wehren. Aber um zu verhindern, daß die Arbeiterklasse den Kampf mit ihren eigenen Waffen  aufnimmt, hat die Bourgeoisie die Initiative ergriffen und die Arbeiter dazu gedrängt, vorzeitig und verfrüht in den Kampf zu treten, wobei die Gewerkschaften eine vollständige Kontrolle über die Kämpfe ausüben. Die Bourgeoisie hat den Arbeitern nicht die Zeit gelassen, sich gemäß ihres eigenen Rhythmus und mit ihren eigenen Mitteln zu organisieren...

Die in Streikbewegung in Frankreich zeigt zwar eine tiefgreifende Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse auf, sie ist aber vor allem das Ergebnis eines großen Manövers der Bourgeoisie, das darauf abzielt, den Arbeitern eine massive Niederlage beizufügen und vor allem eine tiefgreifende Desorientierung zu bewirken’ (Internationale Revue Nr. 84, ‘Hinter den Gewerkschaften zu kämpfen führt in die Niederlage’).

Die Wichtigkeit der Ereignisse in Frankreich Ende 1995

Die Tatsache, daß die Streikbewegung Ende 1995 in Frankreich im wesentlichen das Ergebnis eines Manövers der Bourgeoisie ist, darf deren Bedeutung jedoch nicht schmälern und auch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, daß die Arbeiterklasse nur eine Schafherde wäre, die von der herrschenden Klasse umhergetrieben werden könnte. Insbesondere widerlegen diese Ereignisse all die Theorien vom ‘Verschwinden’ der Arbeiterklasse sowie anderer Varianten dieser Art, die vom ‘Ende der Arbeiterkämpfe’ sprechen (dies ist die ‘linke’ Version der Theorien) oder von der ‘Neuzusammensetzung’ der Arbeiterklasse, wodurch die Kampffähigkeit untergraben wäre (Internationale Revue Nr. 14 & 15).

Das wirkliche Potential der Arbeiterklasse in der jetzigen Zeit wird deutlich durch das Ausmaß der Streiks und Demonstrationen im Nov.-Dez. 1995: Hunderttausende Streikende, mehrere Millionen Demonstranten. Aber man darf es nicht bei dieser Feststellung belassen. Denn letztendlich gab es auch in den 30er Jahren Bewegungen mit einem zahlenmäßig großen Ausmaß wie die Streiks im Mai-Juni 1936 in Frankreich oder der Arbeiteraufstand in Spanien gegen den faschistischen Staatsstreich am 18. Juli 1936. Was die Bewegung heute grundsätzlich von den früheren unterscheidet, ist daß die Bewegung in den 30er Jahren ein Teil einer langen Reihe von Niederlagen der Arbeiterklasse nach der revolutionären Welle  waren, die während des 1. Weltkriegs entstanden war. Diese Niederlagen hatten die Arbeiterklasse in die tiefste Konterrevolution ihrer Geschichte gestürzt. Auf diesem Hintergrund der physischen und vor allem politischen Niederlagen des Proletariats konnten die Ausdrucke an Kampfbereitschaft leicht von der herrschenden Klasse auf das Terrain des Antifaschismus abgeleitet werden, d.h. auf das Terrain der Vorbereitung des zweiten imperialistischen weltweiten Abschlachtens. Wir gehen hier nicht näher auf unsere Analyse des historischen Kurses ein, da wir in unserer Internationalen Revue Nr. 5 ausführlich unsere Auffassung dazu dargestellt haben, aber wir wollen hier klar unterstreichen, daß wir heute nicht in der gleichen Situation stecken wie in den 30er Jahren. Die gegenwärtigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse sind keineswegs ein Augenblick der Vorbereitungen des imperialistischen Krieges, sondern können nur verstanden werden als ein Teil der Perspektive der entscheidenden Klassenzusammenstöße gegen den Kapitalismus, der keine Ausweg aus der Krise weiß.

Aber die herausragende Bedeutung der Bewegung in Frankreich ist nicht so sehr auf die Streiks und die Demos selber zurückzuführen, sondern auf das Ausmaß des Manövers der Bourgeoisie, das tatsächlich dahinter steckte.

Oft kann man das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen messen, wenn man untersucht, wie die Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse handelt. Die herrschende Klasse verfügt über eine Reihe von Mitteln zur Einschätzung dieses Kräfteverhältnisses: Meinungsumfragen, Polizeiuntersuchungen (in Frankreich z.B. hat der Verfassungsschutz, d.h. die politische Partei, zur Aufgabe, in den entsprechenden Bevölkerungsgruppen die Temperatur zu messen, insbesondere in den Reihen der Arbeiterklasse). Aber das wichtigste Instrument ist der Gewerkschaftsapparat, der noch viel wirksamer ist als die Soziologen der Meinungsforschungsinstitute oder die Polizisten. Seine Funktion besteht darin, für die Überwachung und Kontrolle der Ausgebeuteten im Dienste des Kapitals zu sorgen. Dabei verfügen sie über mehr als 80 Jahre Erfahrung, sind besonders wachsam gegenüber allen Regungen in der Klasse, spüren den Willen und Fähigkeit der Arbeiter zum kämpfen gegen die Bourgeoisie. Dieser Gewerkschaftsapparat hat zur Aufgabe, die Führer der Bourgeoisie und die Regierung über die Gefahrengrad des Klassenkampfes auf dem laufenden zu halten. Zu diesem Zweck dienen die regelmäßigen Treffen zwischen Gewerkschaftsführern und Firmenchefs und Regierung: sich abzustimmen, um gemeinsam die beste Strategie der Bourgeoisie für deren Angriffe gegen die Arbeiterklasse mit der höchsten Wirkung auszuarbeiten. Der Umfang und die Spitzfindigkeit der gegen die Arbeiterklasse organisierten Manöver alleine schon reichen aus, um aufzuzeigen, in welchem Maße der Klassenkampf, die Perspektive von gewaltigen Reaktionen der Arbeiter, heute die zentrale Sorge der Bourgeoisie darstellen.

Die Manöver der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse

In unserem Artikel zu den Streiks in der Internationalen Revue Nr. 84 (engl./franz./span. Quartalsausgabe) haben wir im Einzelnen die verschiedenen Aspekte der Manöver beschrieben  und wie alle Teile der herrschenden Klasse daran mitgewirkt haben, von dem rechten bis zum extrem-linken Flügel. Wir wollen hier nur die Haupteigenschaften in Erinnerung rufen:

- seit dem Sommer 1995 eine ganze Lawine von Angriffen aller Art (von brutalen Steuererhöhungen bis zu einer Teilabschaffung der Pensionierungsregelungen im öffentlichen Dienst, Blockierung der Löhne im öffentlichen Dienst, alles das gekrönt durch einen ‘Reformplan’ der Sozialversicherung, der ‘Juppé-Plan’ sollte die Sozialversicherungsbeiträge erhöhen und die Erstattungen im Krankheitsfall reduzieren,

- eine wahre Provokation gegen die Eisenbahner durch einen zwischen dem Staat und den Eisenbahnen SNCF ausgeheckten Plan, wodurch das Pensionsalter um 7 Jahre gestreckt und Tausende von Arbeitsplätze gestrichen werden sollten;

- die Eisenbahner sollten als ‘Beispiel’ eingesetzt werden, dem die anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes folgen sollten: im Gegensatz zu ihrer üblichen Praxis der Isolierung der Kämpfe, treten die Gewerkschaften emsig für deren Ausdehnung ein und schaffen es, zahlreiche Arbeiter zum Eintritt in den Streik zu bewegen, insbesondere im Verkehrswesen, bei der Post, im Bereich Strom und Gas, in den Schulen und bei den Finanzämtern,

- permanente Berichterstattung über die Streiks in den Medien; sie werden als positiv dargestellt; es werden sog. Intellektuelle gezeigt, die Erklärungen zugunsten dieses ‘Erwachens der Gesellschaft gegen das Einheitsdenken’ abgeben,

- der extrem-linke Flügel des Kapitals leistet einen wichtigen Beitrag zum Manöver, sie unterstützen die Haltung der Gewerkschaften, denen sie nur vorwerfen, nicht früher so gehandelt zu haben;

- eine unnachgiebige Haltung in einer ersten Phase seitens der Regierung, die mit Hochmut die Aufrufe der Gewerkschaften zu Verhandlungen ablehnt; die Arroganz und der Dünkel des Premierministers Juppé, ein unsympathischer  und unpopulärer Mensch, liefert Nahrung für die ‘kämpferischen’ und radikalen Reden der Gewerkschaften,

- dann nach drei Wochen Streik Nachgeben der Gewerkschaften bei den Eisenbahnen und Fallenlassen der Pensionierungspläne bei den Beamten; die Gewerkschaften reden von Sieg und dem ‘Rückzug’ der Regierung; trotz des Widerstands einiger ‘Hartnäckiger’ nehmen die Eisenbahner wieder die Arbeit auf, und läuten das Ende der Streiks in den anderen Bereichen ein.

Insgesamt hat die Bourgeoisie einen Sieg errungen, da sie die wesentlichen Angriffe durchgesetzt hat, die gegen alle Arbeiter gerichtet sind, wie Steuererhöhung und Reform der Sozialversicherung wie auch Lohnstop der staatlichen Beschäftigten. Aber der größte Sieg der Bourgeoisie ist ein politischer: die Arbeiter, die drei Wochen lang gestreikt haben, sind nicht bereit, erneut in solch eine Streikbewegung zu treten, wenn es neue Angriffe hageln wird. Darüber hinaus haben diese Streiks und Demonstrationen vor allem dazu gedient, daß die Gewerkschaften ihr Image wesentlich verbessern. Während den Gewerkschaften in Frankreich früher der Ruf anhaftete, für die Zerstreuung der Streiks verantwortlich zu sein, nutzlose Aktionstage durchzuführen und Spaltung zu betreiben, sind sie (hauptsächlich die beiden großen Gewerkschaften CGT, die von Stalinisten angeführt wird, und FO, die von Anhängern der Sozialistischen Partei kontrolliert wird)   während der ganzen Bewegung aufgetreten als diejenigen, ohne die die ganze Bewegung nie zustande gekommen wäre, ohne die es keine massive Demonstration gegeben hätte und ohne die die Regierung ‘nie nachgegeben’ hätte. Wie wir in unserer vorherigen Ausgabe der International Revue Nr. 84 schrieben. ‘Diese Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften war für die Bourgeoisie ein grundlegendes Ziel, eine unabdingbare Vorbedingung für die Durchführung der zukünftigen Angriffe, die noch brutaler als die heutigen sein werden. Nur wenn die Gewerkschaften über eine größere Glaubwürdigkeit als heute verfügen, kann die Bourgeoisie hoffen, daß die Abwehrkämpfe der Arbeiter, die gegen diese Angriffe entstehen werden, von den Gewerkschaften sabotiert werden’.

Die große Bedeutung, die die herrschende Klasse der Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften zuordnet, trat nach dem Ende der Bewegung deutlich zutage. Insbesondere in der Presse war große die Rede vom ‘Come back’ der Gewerkschaften. In einem der vertraulichen Mitteilungsblätter der Bourgeoisie, in denen einigermaßen ‘offen’ gesprochen wird, kann man dazu lesen: ‘Eines der klarsten Zeichen dieser Rückkehr der Gewerkschaften ist das Verschwinden der Koordinationen. Man hatte sie als ein Ausdruck der Tatsache verstanden, daß die Gewerkschaften die Arbeiter nicht mehr ausreichend vertreten. Daß diese Koordinationen diesmal nicht wieder in Erscheinung getreten sind, zeigt wie stark die Gewerkschaften sich bemüht haben, ‘in Kontakt mit den Arbeitern bleiben’ und eine Gewerkschaftsarbeit zu betreiben, die eine echten Einfluß in den Reihen der Arbeiter ermöglicht (Enteprise et Personnel, ‘Le conflit social de fin 1995 et ses conséquences probables’). Und dieses Mitteilungsblatt zitiert mit Freuden eine Erklärung des Chefs einer Privatfirma, der mit Erleichterung meinte: ‘Jetzt haben wir endlich wieder starke Gewerkschaften’.

 

Was das revolutionäre Milieu nicht versteht

Wenn man feststellt, daß die Bewegung Ende 1995 in Frankreich vor allem ein sorgfältig vorbereitetes Manöver war, das von allen Teilen der herrschenden Klasse geplant und umgesetzt wurde, heißt das nicht, daß man die Fähigkeiten der Arbeiterklasse, dem Kapital in großen Klassenkämpfen entgegenzutreten, verwirft; im Gegenteil. Gerade indem man erkennt, welche gewaltigen Mittel die herrschende Klasse zum Einsatz bringt, um vorbeugend gegenüber zukünftigen Kämpfen des Proletariats zu handeln, kann man ableiten, wie stark die herrschende Klasse wegen dieser Perspektive  besorgt ist.  Aber dazu ist es notwendig, die von der Bourgeoisie inszenierten Manöver zu erkennen. Während die Arbeitermassen es nicht geschafft haben, dieses Manöver zu durchschauen, denn es war sehr geschickt aufgezogen worden,  sind aber auch diejenigen getäuscht worden, deren Hauptverantwortung es ist, all die Angriffe gegen die Ausgebeuteten, die die Ausbeuter im Schilde führen, zu entblößen: die kommunistischen Organisationen. So schrieben die Genossen von Battaglia Comunista (BC) in ihrer Dezember-Ausgabe ihrer Zeitung: ‘Die Gewerkschaften sind von der entschlossenen Reaktion der Arbeiter gegen die Regierungspläne auf dem falschen Fuß erwischt worden’.

Hier handelt es sich um keine überstürzte Einschätzung von BC, die auf unzureichende Informationen zurückzuführen wäre, denn in der Jan. Nummer ihrer Zeitung schreibt BC erneut:

‘ Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich spontan gegen den Juppé-Plan mobilisiert. Und wir erinnern daran, daß die ersten Demonstrationen der Arbeiter auf dem Boden der unmittelbaren Verteidigung der Klasseninteressen stattfanden, wobei die Gewerkschaften überrascht wurden. Damit wurde erneut bewiesen, wenn das Proletariat sich in Bewegung setzt, um sich gegen die Angriffe der Bourgeoisie zu verteidigen,  tut es dies  immer außerhalb und gegen den Widerstand der Gewerkschaften. Erst in einer zweiten Stufe sind die französischen Gewerkschaften, vor allem Force Ouvrière und die CGT auf den fahrenden Zug aufgesprungen und haben so versucht, ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der Arbeiter wiederzuerlangen. Aber die scheinbar radikale Haltung von Force Ouvrière und anderer Gewerkschaften verdeckte die ‘kleinbürgerlichen Interessen’ der Gewerkschaftsbürokratie, die man nur begreifen kann, wenn man das französische Sozialversicherungssystem kennt (wo die Gewerkschaften, insbesondere Force Ouvrière zu den Mittelverwaltern gehören, was gerade vom Juppé-Plan infragestellt wird).

Dies ist ungefähr die gleiche These, die man bei der Schwesterorganisation von BC im IBPR findet, nämlich bei der CWO. In ihrer Zeitschrift ‘Revolutionary Perspectives’ Nr. 1, 3. Serie, schreiben die Genossen: ‘Die Gewerkschaften, insbesondere FO, die CGT und die CFDT[i] [11] stellten sich diesen Änderungen entgegen. Das hätte einen Schlag gegen die Privilegien der Gewerkschaftsführer bedeutet. Aber alle haben zu irgendeinem Zeitpunkt entweder wohlwollend auf den Dialog mit der Regierung reagiert oder die Notwendigkeit neuer Steuern akzeptiert. Erst als die Wut der Arbeiter gegen die Ankündigung einer neuen Steuer deutlich wurde, haben die Gewerkschaften angefangen, sich mehr bedroht zu fühlen durch die Arbeiter als durch den Verlust der Kontrolle bei Finanzfragen.’

Bei der Analyse der beiden Gruppen des IBPR betont man vor allem, daß die Gewerkschaften die ‘kleinbürgerlichen Interessen’ und Privilegien zu verteidigen suchten, indem sie zur Mobilisierung gegen den Juppé-Plan und zum Schutz der Sozialversicherung aufriefen. Auch wenn die Gewerkschaftsführer sehr empfindlich sind bei ihren Privilegien, führt diese Einschätzung ihrer Haltung dazu, die Wirklichkeit verzerrt darzustellen. Das ist so, wenn man die altbekannten Streitigkeiten zwischen den Gewerkschaftszentralen nur als ein Ausdruck ihrer gegenseitigen Konkurrenz auffaßt und die eigentliche Erklärung verkennt: diese Streitigkeiten sind ein klassisches Spaltungsmittel der Arbeiterklasse. Die ‘kleinbürgerlichen Interessen’ der Gewerkschaften können nur auf dem Hintergrund der eigentlichen Rolle der Gewerkschaften in der Gesellschaft verstanden werden: sie sind die Feuerwehr zum Schutz der kapitalistischen Gesellschaft; die Polizei des bürgerlichen Staates, die in den Reihen der Arbeiter handelt. Und wenn sie auf ihre ‘kleinbürgerlichen Interessen’ verzichten müssen, um diese Rolle zu erfüllen, dann zögern sie nicht das zu tun, denn sie wissen genau, was ihre Verantwortung bei der Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die Arbeiterklasse ist. Als sie Ende 1995 die Bewegung einfädelten, wußten die Gewerkschaften genau, daß diese Manöver es Juppé ermöglichen würden, seinen Plan durchzusetzen, der ihnen gewisse finanzielle Vorrechte wegnehmen würde; aber sie waren bereit gewesen, auf diese Vorrechte zu verzichten im Namen der übergeordneten Interessen der kapitalistischen Gesellschaft. Für die Gewerkschaften ist es günstiger den Glauben zu verbreiten, sie würden nur auf die Erfüllung ihrer eigenen Interessen aus sein (sie können sich immer hinter dem Argument verstecken, daß ihre eigene Kraft die der Arbeiterklasse stärkt), anstatt sich als das zu entblößen, was sie wirklich sind: ein zentrales Räderwerk der bürgerlichen Ordnung.

Während unsere Genossen des IBPR keine Zweifel lassen an dem kapitalistischen Wesen der Gewerkschaften, unterschätzen sie gewaltig das Ausmaß der Solidarität, das es zwischen herrschender Klasse und Gewerkschaften gibt, und insbesondere ihre Fähigkeit, mit der Regierung und den Unternehmern Manöver zu inszenieren, die die Arbeiter in Fallen locken sollen.

Sowohl die CWO als auch BC (zwar mit Nuancen)[ii] [12]  vertritt die Meinung, daß die Gewerkschaften überrascht waren, gar die Kontrolle verloren hatten infolge der Eigeninitiative der Arbeiter. Aber nichts ist falscher als das. Wenn es ein Beispiel dafür gibt, daß die Gewerkschaften während der letzten 10 Jahre eine gesellschaftliche Bewegung vollständig vorhergesehen und kontrolliert haben, dann die vom Ende des Jahres 1995. Sie haben diese Bewegung gar systematisch angezettelt, mit der Komplizenschaft der Regierung, wie oben dargestellt. Und der beste Beweis, daß die Bourgeoisie und die Gewerkschaften die Kontrolle nicht verloren hatten und keineswegs überrascht waren, ist die Aufmerksamkeit der Medien, die die Bourgeoisie in den anderen Ländern sofort entfaltet hat. Seit langem schon und insbesondere seit den großen Streiks in Belgien im Herbst 1983, als die Arbeiterklasse die Demoralisierung und Desorientierung nach der Niederlage der Arbeiter in Polen 1981 überwunden hatte, hat es sich die Bourgeoisie zur Pflicht gemacht, auf internationaler Ebene ein vollständiges Black-out der Arbeiterkämpfe zu organisieren. Wenn die Kämpfe einem geplanten Manöver der Bourgeoisie entsprechen,  wie in Deutschland im Frühjahr 1992, tritt an die Stelle des Black-out eine wahre Flut von Informationen. Damals schon verfolgten die Streiks im öffentlichen Dienst, insbesondere im Transportwesen, das Ziel, ‘die Gewerkschaften, welche alle diese Aktionen systematisch organisiert hatten, die Arbeiter aber in der größten Passivität hielten, als die wirklichen Verteidiger gegen das Kapital’ darzustellen (International Review, Nr. 70, Gegenüber dem Chaos und den Massakern kann nur die Arbeiterklasse eine Antwort liefern). Mit der Bewegung in Frankreich Ende 1995 legt die Bourgeoisie eine Art ‘Neuauflage’ dessen auf, was die Bourgeoisie dreieinhalb Jahre zuvor schon in Deutschland inszeniert hatte. Die intensive Bombardierung in den Medien (selbst in Japan wurde täglich über die Streiks berichtet, jeden Tag flimmerten die Streiks und Demos über den Bildschirm) zeigt nicht nur, daß die Bourgeoisie und ihre Gewerkschaften die Bewegung von Anfang bis Ende vollständig kontrollierten; nicht nur war diese Bewegung von diesen vorhergesehen und geplant gewesen, sondern auch auf internationaler Ebene hatte die Bourgeoisie dieses Manöver inszeniert, um das Bewußtsein der Arbeiter in den am meisten fortgeschrittenen Ländern zu trüben.

Den besten Beweis liefert die Art und Weise, wie die belgische Bourgeoisie nach den Bewegungen in Frankreich manövriert hat:

- während die Medien anläßlich der Ereignisse in Frankreich von einem ‘neuen Mai 68’ sprechen, initiierten die Gewerkschaften Ende Nov. 1995 genau wie in Frankreich Bewegungen gegen die Angriffe im öffentlichen Dienst und insbesondere gegen die Reform der Sozialversicherung;

- die Bourgeoisie organisierte eine echte Provokation, als sie Angriffe von einem bis dahin nie gekannten Ausmaß bei den Eisenbahnen (SNCB) und bei Sabena ankündigte; wie in Frankreich traten die Gewerkschaften sofort an die Spitze der Mobilisierung in diesen beiden Bereichen, die gleich als exemplarisch dargestellt werden; die belgischen Eisenbahner werden dazu aufgerufen, in die Fußstapfen ihrer französischen Kollegen zu treten;

- die Bourgeoisie täuscht einen Rückzug vor, was natürlich als ein Sieg der gewerkschaftlichen Mobilisierung dargestellt wird, und was den Erfolg einer großen Demonstration des ganzen öffentlichen Dienstes am 13. Dez. ermöglicht. Diese Demo wurde komplett von den Gewerkschaften kontrolliert. Auf der Demo war auch eine Delegation französischer Eisenbahner der CGT anwesend. Die Tageszeitung De Morgen schrieb am 14. Dez.: ‘Wie in Frankreich, oder fast so’.

- zwei Tage später neue Provokation seitens der Regierung und der Arbeitgeber bei den Eisenbahnen (SNCB) und bei Sabena, wo die Geschäftsleitung die Aufrechterhaltung der getroffenen Maßnahmen ankündigt: die Gewerkschaften rufen zu ‘harten’ Kämpfen auf (es gab Zusammenstöße mit der Polizei am Flughafen, der von Streikenden blockiert wurde) und sie versuchen das Manöver auf andere Teile des öffentlichen Dienstes auszudehnen sowie auf den Privatbereich, wo Gewerkschaftsdelegationen ihre ‘Solidarität mit den Beschäftigten von Sabena erklärten’  und behaupten, daß ‘ihr Kampf ein gesellschaftliches Labor für alle Arbeiter darstellt’;

- Anfang Januar schließlich täuschen die Arbeitgeber erneut vor, nachzugeben, als sie unter dem Druck der Bewegung den  Beginn des ‘gesellschaftlichen Dialogs’ bei der SNCB wie bei Sabena ankündigen -, wie in Frankreich endete die Bewegung mit einem Sieg und einer Aufwertung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften.

Ehrlich, Genossen des IBPR, glaubt ihr tatsächlich, daß diese bemerkenswerten Parallelen zwischen den Ereignissen in Frankreich und in Belgien nur auf den Faktor Zufall zurückzuführen sind, daß die Bourgeoisie und ihre Gewerkschaften auf internationaler Ebene nichts ausgeheckt hatten?

Tatsächlich zeigen die Analyse der CWO und von BC eine dramatische Unterschätzung des kapitalistischen Klassenfeindes, seiner Fähigkeit, die Initiative zu ergreifen, wenn er sich dessen im klaren ist, daß die immer härteren Angriffen gegen die Arbeiterklasse notwendigerweise umfassende Reaktionen hervorrufen werden, in denen die Gewerkschaften ihr Gewicht in die Waagschale werfen müssen, um die bürgerliche Ordnung zu verteidigen. Die von diesen Organisationen eingenommene Position hinterläßt den Eindruck einer unglaublichen Naivität, einer gefährlichen Anfälligkeit gegenüber den von der Bourgeoisie aufgestellten Fallen.

Wir haben vorher schon mehrfach auf diese Naivität insbesondere bei BC hingewiesen. Als der Ostblock zusammenbrach, war diese Organisation in die Falle der bürgerlichen Kampagnen hinsichtlich der vielversprechenden Perspektiven gelaufen, die dieser Zusammenbruch für die Weltwirtschaft mit sich bringen würde[iii] [13]. Ebenso war BC voll der Lüge von einem angeblich ‘Aufstand’ in Rumänien aufgesessen (tatsächlich gab es einen Staatsstreich, der die Ablösung Ceaucescus durch Funktionäre des alten Staatsapparates um Ion Ilescu ermöglichte). Damals schämte sich BC nicht davor zu schreiben: ‘Rumänien ist das ist erste Land unter den Industriestaaten, wo die Wirtschaftskrise einen echten und wirklichen Volksaufstand hervorgebracht hat, und dessen Ergebnis der Umsturz der an der Macht befindlichen Regierung war... In Rumänien waren alle  objektiven und fast alle subjektiven Bedingungen für die Umwandlung des Aufstands in eine echte und wirkliche gesellschaftliche Revolution vorhanden’. Genossen von Battaglia Comunista, wenn man solchen Unfug schreibt, muß man daraus die Lehren ziehen. Insbesondere sollte man gegenüber den Reden der Bourgeoisie mißtrauischer sein. Wenn man sich in die Fallen locken läßt, die die Bourgeoisie aufstellt, wie kann man dann von sich behaupten, die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein?

Die Notwendigkeit eines Rahmens der historischen Analyse

In Wirklichkeit sind die von BC begangenen Fehler (genauso wie die der CWO, die 1981 die Arbeiter in Polen zur ‘Revolution jetzt’ aufrief) nicht einfach zurückzuführen auf psychologische oder intellektuelle Eigenschaften, auf die Naivität ihrer Mitglieder. In diesen Organisationen gibt es erfahrene Mitglieder mit ausreichender Intelligenz. Die wirkliche Ursache der wiederholten Fehler dieser Organisationen ist, daß sie sich systematisch geweigert haben, den einzigen Rahmen zu akzeptieren, innerhalb dessen man die Entwicklung des Arbeiterkampfes verstehen kann, nämlich den Rahmen des historischen Kurses hin zu Klassenzusammenstößen, die seit Ende der 60er Jahre nach dem Abschluß der Wiederaufbauperiode eingetreten sind. Wir haben wiederholt diesen schwerwiegenden Fehler von BC aufgezeigt, den die CWO mittlerweile auch begeht[iv] [14]. BC stellt die Existenz eines historischen Kurses selber infrage: ‘

‘Wenn wir von einem historischen Kurs sprechen, meinen wir damit eine historische Periode, eine globale und vorherrschende Tendenz des Lebens in der Gesellschaft, die nur durch Hauptereignisse in Frage gestellt werden kann... Aus Battaglias Sicht wiederum, handelt es sich um eine Perspektive, die jederzeit in Frage gestellt werden kann. D.h. in beiden Richtungen, weil man nicht ausschließen kann, daß innerhalb eines Kurses zum Krieg ein ‘revolutionärer Bruch’ eintritt....

‘Hier gleicht die Auffassung von Battaglia ebenfalls einem Sammelsurium: jeder kann beim Begriff des historischen Kurses alles hineinstecken was er will. Es wird von der Möglichkeit der Revolution in einem Kurs hin zum Krieg gesprochen, wie vom Weltkrieg im Kurs hin zu verstärkten Klassenauseinandersetzungen. So kommt jeder auf seine Rechnung: 1981 rief die Communist Workers Organisation die Arbeiter in Polen zur Revolution auf, während man gleichzeitig behauptete, das Weltproletariat habe noch nicht die Konterrevolution überwunden.  Schließlich verschwindet der Begriff des Kurses vollkommen. Und das ist genau der Punkt: wo Battaglia landet: jede Auffassung einer historischen Perspektive über Bord zu schmeißen’. (in Weltrevolution Nr.34). 

Der Immediatismus hilft uns zu begreifen, warum 1987-88 die Gruppen des IBPR gegenüber den Arbeiterkämpfen zwischen einem totalen Skeptizismus und einem großen Enthusiasmus hin- und herschwanken: die Kämpfe in den Schulen, die 1987 in Italien stattfanden, wurden zunächst von BC auf die gleiche Ebene gestellt wie die der Piloten und der Beschäftigten im Justizwesen, um dann schließlich als ‘neue und interessante Phase des Klassenkampfes in Italien) dargestellt zu werden. Gleichzeitig schwankte die CWO gegenüber den Kämpfen in Großbritannien.[v] [15]

Der gleiche Immediatismus ließ BC im Jan. 1996 behaupten,  ‘der Streik der französischen Arbeiter stellt abgesehen von der opportunistischen Haltung (sic) der Gewerkschaften eine sehr wichtige Episode für die Wiederaufnahme des Klassenkampfes dar’. Was aus der Sicht von BC bei diesem Kampf vor allem fehlte, damit eine Niederlage vermieden würde, war eine proletarische Partei. Wenn die Partei, die in der Tat gegründet werden muß, damit das Proletariat die Revolution durchführen kann, sich auf die gleiche immediatistische Vorgehensweise stützen müßte, die BC noch nicht abgelegt hat, müßte man allerdings Angst um den Ausgang der Revolution haben.

Aber nur indem der Immediatismus resolut verworfen wird, ständig die gegenwärtigen Klassenkämpfe in ihren historischen Kontext eingegliedert werden, kann man sie begreifen und eine wirkliche Rolle der Avantgarde der Klasse übernehmen.

Dieser Rahmen ist natürlich der des historischen Kurses; aus Platzgründen können wir hier nicht weiter darauf eingehen. Dieser Rahmen ist ausschlaggebend für die Entwicklung der Ereignisse seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime Ende der 80er Jahre; zu Anfang des Artikels wurde er kurz angeschnitten. Seit Ende des Sommers 1989, d.h. zwei Monate bevor die Mauer in Berlin fiel, hat die IKS diesen neuen Rahmen weiter ausgearbeitet, der die Entwicklung des Klassenkampfes zu begreifen hilft:

‘Deshalb kann man mit einem vorübergehenden Rückgang des Bewußtseins der Arbeiterklasse rechnen... Obgleich der Kapitalismus verstärkt Angriffe gegen das Kapital richten und es damit zum Kampf zwingen wird, darf man in naher Zukunft nicht mit einer größeren Fähigkeit der Arbeiterklasse rechnen, ihr Bewußtsein voranzutreiben. Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen in der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden’ (Internationale Revue Nr. 12, Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der SU und den osteuropäischen Ländern, Sept. 1989, S. 14, Pkt 22)

Später hat die IKS die neuen Elemente von großer Bedeutung, die danach eingetreten sind, in diesen Rahmen aufgenommen

Solch eine Kampagne (über den ‘Tod des Kommunismus’ und den ‘Triumph des Kapitalismus’)  hat eine nicht zu vernachlässigende Wirkung auf die Arbeiter gehabt und deren Kampfbereitschaft und Bewußtsein beeinträchtigt. Während diese Kampfbereitschaft im Frühjahr 1990 wieder leicht anstieg, insbesondere nach den Angriffen infolge des Beginns einer offenen Rezession, wurde sie durch die Krise und den Golfkrieg wieder zurückgeworfen. Diese tragischen Ereignisse haben die Lüge von der ‘neuen Weltordnung’ widerlegt, welche die Bourgeoisie nach der Auflösung des Ostblocks  angekündigt hatte, der als der Hauptverantwortliche für die militärischen Spannungen dargestellt wurde(...) Aber gleichzeitig hat die große Mehrheit der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern nach neuen bürgerlichen Lügenkampagnen gegenüber diesem Krieg mit einem Gefühl der tiefgreifenden Hilflosigkeit reagiert, was wiederum zur Abschwächung der Kämpfe führte. Der Putsch in Moskau im Sommer 1991 und die dadurch ausgelöste Destabilisierung sowie der Krieg in Jugoslawien haben dieses Gefühl der Hilflosigkeit zusätzlich verstärkt. Das Auseinanderbrechen der UdSSR sowie die kriegerische Barbarei in Jugoslawien spiegeln den Grad des Zerfalls wieder, den die kapitalistische Gesellschaft heute erreicht hat. Aber mittels der durch die Medien großen Lügenkampagnen hat es die Bourgeoisie geschafft, die wirklichen Ursachen dieser Ereignisse zu verbergen, um all das erneut als ‘den Tod des Kommunismus’ darzustellen, oder es zu einer Frage ‘des Selbstbestimmungsrechts der Völker’ zu machen, d.h. alles Themen, gegenüber denen die Arbeiter keine andere Alternative haben als passive Beobachter zu bleiben und durch die ‘Weisheit’ der Regierungen beeindruckt zu sein’ (‘Nur die Arbeiterklasse kann die Menschheit aus der Barbarei führen, International Review Nr. 68).  

Aufgrund der Tatsache, daß der Jugoslawienkrieg  wegen seines Horrors, seiner Dauer und der Tatsache, daß er in geographischer Nähe der großen Proletarierkonzentrationen Westeuropas stattfand,  liefert er wesentliche Elemente für eine Erklärung der Schwierigkeiten des Proletariats in der gegenwärtigen Phase. Dieser Krieg bündelt (obgleich auf einem niedrigeren Niveau) sowohl die durch den Zusammenbruch des Ostens angerichteten Schäden in sich, nämlich eine tiefgreifende Verwirrung und Illusionen unter den Arbeitern, als auch die Reaktionen auf den Golfkrieg, als ein weitreichendes Gefühl der Hilflosigkeit aufkam, ohne daß gleichzeitig wie beim Golfkrieg die Verbrechen und die Barbarei der ‘großen Demokratie’ bloßgestellt wurden. Der Jugoslawienkrieg verdeutlicht, wie der Zerfall des Kapitalismus, von dem er einer der spektakulärsten Ausdrücke ist, ein großes Hindernis für die Entwicklung der Klassenkämpfe und des Bewußtseins der Arbeiterklasse darstellt.

Weil die Gewerkschaften  die klassische Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse sind, muß ein anderer Aspekt hervorgehoben werden, den wir schon im Sept. 1989 in unseren Thesen unterstrichen: Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen in der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden’. Dies ging aus der Tatsache hervor, daß die Arbeiter nicht etwa noch Illusionen über ein ‘sozialistisches Paradies’ im Osten gehabt hätten, sondern weil die Existenz einer Gesellschaftsform, die als ‘nicht-kapitalistisch’ dargestellt wurde, die Schlußfolgerung zuzulassen schien, daß es etwas anderes als den Kapitalismus geben könnte. Das Ende dieser Regime wurde als das ‘Ende der Geschichte’ dargestellt (dieser Begriff wurde von den ‘Denkern’ der Bourgeoisie gewählt). Da das Haupttätigkeitsfeld der Gewerkschaften und der gewerkschaftlichen Aktivität die Anpassung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus ist, konnten die Ereignisse von 1989, die zudem noch verstärkt wurden durch all die Angriffe gegen die Arbeiter seitdem, nur dazu führen, daß die Gewerkschaften seitdem wieder stärker in Szene getreten sind. Diese ‘Rückkehr’ und Stärkung  der Gewerkschaften wurde von der Bourgeoisie während der Kämpfe Ende 1995 gefeiert.

Die Aufpolierung der Gewerkschaften fand aber nicht sofort statt. Während der 80er Jahre hatten die Gewerkschaften soviel an Glaubwürdigkeit verloren, nachdem sie ständig die Arbeiterkämpfe sabotiert hatten, daß es schwierig war, so schnell wieder als ‘unnachgiebiger Verteidiger’ der Arbeiterklasse aufzutreten. Mehrere Etappen wurden bei diesem Aufpolieren durchlaufen, während derer sie sich immer mehr als das unabdingbare Instrument der Arbeiterkämpfe aufgespielt haben. Die Lage in Deutschland liefert ein gutes Beispiel dafür, denn nach den großen Manövern der Gewerkschaften im Frühjahr 1992 im öffentlichen Dienst, gab es noch im Herbst 1993 im Ruhrgebiet Raum für spontane Kämpfe außerhalb der gewerkschaftlichen Order, bevor Anfang 1995 im Metallbereich die Streiks den Gewerkschaften verhalfen, ihr Ansehen aufzupolieren. Aber am aufschlußreichsten ist die Entwicklung in Italien. Im Herbst 1992 gerieten die Gewerkschaftszentralen in die Schußlinie der Wut der Arbeiter, die sich explosiv gegen den Amato-Plan entladen hatte. Ein Jahr später war das Land aber von ‘Koordinationen der Fabrikräte’, d.h. Strukturen der Basisgewerkschafter durchzogen, die hinter den großen ‘Mobilisierungen’ und den Demonstrationen der Arbeiterklasse streckten.  Schließlich war die Riesendemonstration vom Frühjahr 1994 von Rom, die zahlenmäßig die größte seit dem 2. Weltkrieg war, ein Meisterwerk gewerkschaftlicher Kontrolle.

Dieses Wiedererstarken der Gewerkschaften wurde erleichtert und ermöglicht durch das Fortbestehen der gewerkschaftlichen Ideologie, deren Hauptstützpfeiler die ‘Basisgewerkschaften’ oder die ‘kämpferischen’ Gewerkschaften sind. Diese Kräfte waren es, die z.B. in Italien die offiziellen Gewerkschaften ‘infragegestellt’ haben (zu den Demonstrationen schleppten sie Tomaten und Wurfgeschosse mit an, die auf die Gewerkschaftsführer geschmissen werden sollten), bevor sie es 1994 ermöglichten, daß die Gewerkschaften wieder dank der ‘Mobilisierungen von 1993 verstärkt auftrumpfen konnten. In den zukünftigen Kämpfen müssen wir davon ausgehen, nachdem die offiziellen Gewerkschaften aufgrund ihrer unabdingbaren Sabotagearbeit erneut ihre Glaubwürdigkeit verloren haben werden, wird die Arbeiterklasse noch gegen die gewerkschaftliche Ideologie ankämpfen müssen, die am vehementesten von den Basisgewerkschaftern verteidigt werden wird, die so ausgezeichnet zugunsten ihrer großen Brüder während der letzten Jahre gearbeitet haben.

Die Arbeiterklasse hat also noch ein langes Stück Weg vor sich. Aber die auftauchenden Schwierigkeiten dürfen uns nicht demoralisieren, insbesondere die am meisten fortgeschrittenen Elemente nicht. Die Bourgeoisie ihrerseits weiß genau, welches Potential noch in der Arbeiterklasse steckt. Aus diesem Grunde organisiert sie Manöver wie die Ende 1995. Auf einem Treffen in Davos in diesem Winter, auf dem traditionell die ca. 2.000 wichtigsten ‘Entscheidungsträger’ aus dem Bereich Wirtschaft und Politik zusammenkommen (an diesem Treffen nahm auch Blondel, der Führer der französischen Gewerkschaft Force Ouvrière teil) betrachteten sie deshalb die Entwicklung der sozialen Lage mit Sorge. So waren neben anderen Reden folgende Aussagen zu hören: ‘Wir müssen unter den Beschäftigten Vertrauen schaffen und eine Zusammenarbeit herbeiführen zwischen den Unternehmen, damit die Kommunen, die Städte und die Regionen von der internationalen Verflechtung der Weltwirtschaft profitieren. Denn sonst wird es erneut zu gesellschaftlichen Bewegungen und Protesten kommen, wie sie es seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat[vi] [16]).

Wie die Revolutionäre immer aufgezeigt haben und die Bourgeoisie selber bestätigt, ist die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft der beste Verbündete des Proletariats. Die Krise wird die Arbeiterklasse zwingen, die Augen zu öffnen und die Sackgasse des Kapitalismus aufzeigen und den Willen entstehen lassen, den Kapitalismus zu zerstören, auch wenn alle Teile der herrschenden Klasse eine Vielzahl von Hindernissen für die Arbeiterklasse auf diesem Weg errichten.          F. 12.03.96

 



[i] [17] Dies ist falsch, denn die CFDT, eine sozialdemokratische Gewerkschaft mit christlichem Ursprung, stimmte dem Plan Juppés zu.  

[ii] [18] Die CWO schreibt weniger optimistisch als BC: ‘Die Bourgeoisie hat soviel Vertrauen darin, daß sie die Wut der Arbeiter kontrollieren kann, daß die Pariser Börse eine Hausse hat’. Man kann hinzufügen, daß während der ganzen Bewegung der französische Franc seinen Wert halten konnte. Das sind zwei Beweise, daß die Bourgeoisie mit dem Verlauf dieser Bewegung sehr zufrieden war. Aus gutem Grund.

[iii] [19]Siehe unseren Artikel in der International Review Nr. 61 ‘Der Wind aus dem Osten und die Reaktion der Revolutionäre’

[iv] [20]Siehe unsere Artikel ‘Antwort an Battaglia Comunista zum historischen Kurs’ und ‘Die Verwirrungen der kommunistischen Gruppen hinsichtlich der gegenwärtigen Lage: Die Unterschätzung des Klassenkampfes’, in International Review Nr. 50 & 54, 

[v] [21] ‘Herauskristallisierungen im proletarischen politischen Milieu und Schwankungen des IBRP’, in International Review Nr. 55,  

[vi] [22] Rosabeth Moss Kanter, ehemaliger Direktor von Harvard Business Review, in Le Monde Diplomatique, März 1996.

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf [23]

Theorien der historischen Krise des Kapitalismus

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Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) hat in der International Communist Review Nr.13 auf unsere Polemik ''Die Auffassung des IBRP zur Dekadenz im Kapitalismus'' geantwortet, die in unserer International Review Nr.79 erschienen war. In der International Review Nr.82 veröffentlichten wir den ersten Teil dieses Artikels, der die negativen Auswirkungen der Auffassung des IBPR über den imperialistischen Krieg als ein Mittel der Kapitalentwertung und der Erneuerung von Akkumulationszyklen aufzeigte. In diesem zweiten Teil werden wir daran gehen, die ökonomische Theorie zu analysieren, die diese Auffassung stützt: die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate.

 

Die Erklärung der historischen Krise des Kapitalismus in der marxistischen Bewegung

Schon die Klassiker der bürgerlichen Ökonomen (Smith, Ricardo etc.) haben sich auf die Grundlage zweier Dogmen gestellt:

1. Der Arbeiter ist ein freier Bürger, der seine Arbeitskraft im Austausch für einen Lohn verkauft. Der Lohn ist sein Anteil am gesellschaftlichen Einkommen, aus dem auch der Profit des Arbeitgebers bezahlt wird.

2. Der Kapitalismus ist ein ewig bestehendes System. Seine Krisen sind temporärer und konjunktureller Natur, bedingt durch die Disproportion zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, durch ein Ungleichgewicht in der Verteilung oder durch schlechtes Management. Nichtsdestotrotz gibt es langfristig kein Problem bei der Realisierung der Waren, die Produktion findet immer einen Markt, indem das Gleichgewicht zwischen Angebot (Produktion) und Nachfrage (Konsum) gefördert wird.

Marx hat bis an sein Lebensende diese Dogmen der bürgerlichen Ökonomen bekämpft. Er zeigte auf, daß der Kapitalismus kein unendliches System ist: ''Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um’ (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie). Die Periode der historischen Krise, der unumkehrbaren Dekadenz des Kapitalismus wurde mit dem Ersten Weltkrieg eröffnet. Das Überleben des Kapitalismus nach dem gescheiterten Versuch der Weltrevolution durch das Proletariat zwischen 1917 - 23 hat der Menschheit Ströme von Blut (hunderte Millionen Tote in den imperialistischen Kriegen zwischen 1914 - 68), Schweiß (eine brutale Steigerung der Ausbeutung der Arbeiterklasse) und Tränen (der Schrecken der Arbeitslosigkeit, alle möglichen Formen der Barbarei, die Entmenschlichung der sozialen Beziehungen) gekostet.

Jedoch wird diese fundamentale Analyse, die gemeinsame Tradition der kommunistischen Linken, im gegenwärtigen revolutionären Milieu nicht mehr in derselben Weise dargelegt: Es existieren zwei Theorien zur Erklärung der Dekadenz des Kapitalismus, die Theorie der tendenziellen Falls der Profitrate und jene, die ''Markttheorie'' genannt wird und im wesentlichen auf dem Werk von Rosa Luxemburg basiert.

Das IBRP hält sich an die erste Theorie, während wir die zweite vorziehen.

[1] Um eine Polemik über beide Theorien fruchtbar zu gestalten, ist es notwendig, sie auf die Grundlage eines Verständnisses der Entwicklung dieser Debatte in der marxistischen Bewegung zu stellen.

Marx lebte in einer Periode des kapitalistischen Aufstiegs. Obwohl sich die Frage der historischen Krise des Systems nicht so dramatisch stellte wie heute, war er in der Lage, in seinen periodischen zyklischen Krisen einen Ausdruck  seiner Widersprüche und eine Ankündigung von Erschütterungen zu erblicken, die in den Ruin führen würden: ''Marx hob zwei fundamentale Widersprüche im Prozeß der kapitalistischen Akkumulation hervor: zwei Widersprüche, die den zyklischen Krisen des Wachstums zugrunde lagen, durch die der Kapitalismus im 19.Jahrhundert schritt, und die, in einem gegebenen Moment, die kommunistische Revolution auf die Tagesordnung ruft. Diese beiden Widersprüche sind der tendenzielle Fall der Profitrate aufgrund der Unvermeidlichkeit einer immer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und das Problem der Überproduktion, die angeborene Krankheit des Kapitals, mehr zu produzieren, als der Markt aufnehmen kann''  (''Marxismus und Krisentheorie'', International Review Nr.13).

 

Daraus können wir ersehen, daß ''Marx, auch wenn er einen Rahmen entwickelte, in dem diese beiden Phänomene eng miteinander verknüpft sind, niemals seine Untersuchung des Kapitalismus vervollständigte, so daß in verschiedenen Schriften mal das eine, mal das andere als die mehr oder weniger vorherrschende Ursache der Krise unterstrichen wurde.... Der unfertige Charakter dieses entscheidenden Bereichs im Marxschen Denken wurde, wie wir gesagt haben, nicht allein durch die persönliche Unfähigkeit von Marx bestimmt, das Kapital zu beenden, sondern auch durch die Beschränkungen der historischen Periode, in der er lebte'' (ebenda, S.27).

 

Ende des letzten Jahrhunderts begannen sich die Bedingungen des Kapitalismus zu ändern: Der Imperialismus als eine Politik des Raubes und der Konfrontation zwischen den Mächten entfaltete sich in Riesenschritten. Andererseits wies der Kapitalismus wachsende Krankheitsanzeichen auf (Inflation, gesteigerte Ausbeutung), die in großem Gegensatz zu jenem Wachstum und Wohlstand standen, welche in den 90er Jahren des 19.Jahrhunderts ununterbrochen geherrscht hatten. In diesem Zusammenhang erschien innerhalb der II.Internationalen eine opportunistische Strömung, die die marxistische These vom Zusammenbruch des Kapitalismus in Frage stellte und einen allmählichen Übergang zum Sozialismus mittels stufenweiser Reformen in Aussicht stellte, welche ''diese Widersprüche vermindern'' würden. Die Theoretiker dieser Strömung konzentrierten ihre Geschütze genau auf den zweiten der von Marx hervorgehobenen Widersprüche: die Tendenz zur Überproduktion. So sagte Bernstein: ''Marx widerspricht sich, wenn er meint, daß die Wurzeln der Krise die Grenzen der Massenkaufkraft sind''[2] (Bernstein: Theoretischer Sozialismus und sozialdemokratische Praxis).

 

1902 griff Tugan-Baranowski, ein russischer Revisionist, die Marxsche Theorie der Krise des Kapitalismus an, indem er leugnete, daß es ein Marktproblem geben könne und aufzeigte, daß die Krise den ''Disproportionalitäten'' zwischen verschiedenen Sektoren zuzuschreiben sei.

Tugan-Baranowski ging sogar noch weiter als seine revisionistischen deutschen Kompagnons (Bernstein, Schmidt, Vollmar, etc.). Er griff auf die Dogmen der bürgerlichen Ökonomen zurück, konkret, er kehrte zu den (offen von Marx kritisierten) Ideen von Say[3] zurück, die auf der These basierten, daß ''der Kapitalismus kein Problem mit der Realisierung hat, das über zeitweilige Störungen hinausgeht''. Es folgte in der II. Internationale von seiten Kautskys, der sich damals noch in den Reihen der Revolution befand, eine sehr entschiedene Antwort: ''Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichstums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen.... dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses.... Dies in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den 'orthodoxen' Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie'' (zitiert von Rosa Luxemburg in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals und Antikritik; die Unterstreichungen stammen von Rosa Luxemburg).

Als Rosa Luxemburg ihr Buch Die Akkumulation des Kapitals veröffentlichte, verschärfte sich diese Auseinandersetzung jedoch. In diesem Buch versuchte Rosa Luxemburg das schwindelerregende Wachstum des Imperialismus und die sich steigernde tiefe Krise des Kapitalismus zu erklären. Sie zeigte in dem Buch auf, daß der Kapitalismus sich historisch durch die Ausweitung seiner auf Lohnarbeit fußenden Produktionsverhältnisse auf nichtkapitalistische Gebiete und Bereiche entwickelte, daß er seine historischen Grenzen dann erreicht hat, wenn er den gesamten Planeten umfaßt, und daß er schon damals daran scheiterte, neue Territorien zu finden, die für die Expansion notwendig waren, die das Wachstum der Arbeitsproduktivität und der organischen Zusammensetzung des Kapitals verlangte: ''So breitet sich der Kapitalismus dank der Wechselwirkung mit nichtkapitalistischen Gesellschaftskreisen und Ländern immer mehr aus, indem er auf ihre Kosten akkumuliert, aber sie zugleich Schritt für Schritt zernagt und verdrängt, um an ihre Stelle selbst zu treten. Je mehr kapitalistische Länder aber an dieser Jagd nach Akkumulationsgebieten teilnehmen und je spärlicher die nichtkapitalistischen Gebiete werden, die der Weltexpansion noch offenstehen, um so erbitterter wird der Konkurrenzkampf des Kapitals um jene Akkumulationsgebiete, um so mehr verwandeln sich seine Streifzüge auf der Weltbühne in eine Kette ökonomischer und politischer Katastrophen: Weltkrisen, Kriege, Revolutionen'' (Rosa Luxemburg: Antikritik).

Rosa Luxemburgs Kritiker stritten ab, daß der Kapitalismus ein Realisierungsproblem hat, das heißt, sie vergaßen den Widerspruch des Systems, den Marx nachdrücklich gegen die bürgerlichen Ökonomen verteidigte und der die Basis der ''von Marx gegründeten Krisentheorie'' bildete, wie Kautsky einige Jahre zuvor gegen den Revisionisten Tugan-Baranowski in Erinnerung gerufen hatte.

Die Kritiker Rosa Luxemburgs stellten sich selbst als die ''orthodoxen und bedingungslosen'' Verteidiger von Marx und insbesondere seiner Schemata der erweiterten Reproduktion dar, die im Band 2 des Kapital dargelegt sind. Das heißt, sie erklärten den Rest des Marxschen Denkens für null und nichtig, indem sie eine einzelne Passage aus seinem Werk überbetonten.[4] Ihre Argumente waren sehr verschiedenartig: Eckstein sagte, daß es kein Problem der Realisierung gebe, weil Marx in dem Schema der erweiterten Reproduktion ''perfekt'' erklärt habe, daß es keinen Teil in der Produktion gebe, der nicht bezahlt werden könne. Hilferding belebte die Theorie der ''Disproportionalität zwischen den Sektoren'' wider, als er sagte, daß die Krise der Anarchie der Produktion geschuldet sei und daß die Tendenz zur Konzentration des Kapitalismus diese Anarchie und somit auch die Krise vermindere. Bauer sagte schließlich, daß Rosa Luxemburg auf ein tatsächliches Problem aufmerksam gemacht habe, das aber im Kapitalismus gelöst werden könne: durch die Akkumulation, die dem Bevölkerungswachstum folge.

Während dieser Periode stellte der Herausgeber einer lokalen sozialistischen Zeitung die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate jener von Rosa Luxemburg entgegen, womit ''der etwas nebelhafte Trost eines kleinen 'Sachverständigen' aus der 'Dresdner Volkszeitung' übrig (bleibt), der nach gründlicher Vernichtung meines Buches erklärt, der Kapitalismus werde schließlich 'an dem Fall der Profitrate' zugrunde gehen. Wie sich der gute Mann eigentlich das Ding vorstellt, ob so, daß an einem gewissen Punkte die Kapitalistenklasse, vor Verzweiflung ob der Niedrigkeit der Profitrate, sich insgesamt aufhängt, oder ob sie etwa erklärt, bei solchen lumpigen Geschäften verlohne sich die Plackerei nicht mehr, worauf sie die Schlüssel selbst dem Proletariat abliefert ? Wie dem sei, der Trost wird leider durch einen einzigen Satz von Marx in Dunst aufgelöst, nämlich durch den Hinweis, daß 'für große Kapitale der Fall der Profitrate durch Masse aufgewogen' werde. Es hat also mit dem Untergang des Kapitalismus am Fall der Profitrate noch gute Wege, so etwa bis zum Erlöschen der Sonne'' (Rosa Luxemburg: Anti-Kritik, Gesammelte Werke, Bd.5, S.446, Fußnote).

Lenin und die Bolschewiki nahmen an dieser Auseinandersetzung nicht teil[5] Sicherlich hat Lenin die populistische Markttheorie bekämpft, eine Theorie der Unter-Konsumption, die mit den Irrtümern Sismondis fortfährt. Jedoch hat Lenin nie das Problem des Marktes verleugnet: In seiner Analyse des Imperialismus hat er zwar das Hauptaugenmerk auf Hilferdings Theorie der Konzentration im Finanzkapital gelegt,[6] aber auch nicht übersehen, daß dies unter dem Druck eines gesättigten Weltmarktes stattfand. So betonte er in Der Imperialismus - die höchste Stufe des Kapitalismus in seiner Entgegnung auf Kautsky, daß ''für den Imperialismus... gerade das Bestreben charakteristisch (ist), nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchgst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (...), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken...''.

In der Degenerationsphase der 3.Internationale griff Bucharin in seinem Buch Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals die These von Rosa Luxemburg an, indem er eine Theorie entwickelte, die dem Triumph des Stalinismus Tür und Tor öffnete: die Theorie der ''Stabilisierung'' des Kapitalismus (was die revisionistische These voraussetzte, daß die Krise überwunden werden kann) und der ''Notwendigkeit'' einer längeren Koexistenz der UdSSR mit dem kapitalistischen System. Bucharins grundsätzliche Kritik an Rosa Luxemburg war, daß sie sich darauf beschränkt habe, dem marktbezogenen Widerspruch einen privilegierten Platz einzuräumen und all die anderen, unter ihnen die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate, zu übersehen.[7]

Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre ''griff Paul Mattick von den amerikanischen Rätekommunisten Henry Grossmanns Kritik an Luxemburg und die Behauptung auf, daß die permanente Krise des Kapitalismus ausbreche, wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals einen solchen Umfang erreicht habe, daß es immer weniger Mehrwert gibt, um den Akkumulationsprozeß anzuheizen. Diese Grundidee wird, auch wenn in zahlreichen Punkten überarbeitet, heute von revolutionären Gruppen wie die CWO, Battaglia Comunista und einige der in Skandinavien entstandenen Gruppen vertreten.'' (''Marxism and Crisis Theory'' in International Review Nr.13, S.28)

Die Krisentheorie basiert nicht ausschließlich auf der Tendenz der fallenden Profitrate

Es muß Klarheit darüber bestehen, daß der Widerspruch, an dem der Kapitalismus in Bezug auf die Realisierung des Mehrwerts krankt, eine fundamentale Rolle in der marxistischen Krisentheorie spielt und daß die revisionistischen Tendenzen diese These mit besonderer Heftigkeit attackierten. Das IBRP behauptet das Gegenteil. So erzählt es uns in seiner Antwort, daß ''für Marx die Quelle aller wirklichen Krisen innerhalb des kapitalistischen Systems liegt, innerhalb der Beziehung zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Er bezeichnete dies gelegentlich als eine Krise, die von der begrenzten Fähigkeit der Arbeiter geschaffen wurde, das Produkt ihrer eigenen Arbeitskraft zu konsumieren.... Er fuhr fort hinzuzufügen, daß dies nicht aufgrund der Überproduktion an sich so sei.... Und Marx fährt fort zu erklären, daß die Krise aus der fallenden Profitrate entsteht.... Die Krise entwertet Kapital und erlaubt den Beginn eines neuen Akkumulationszyklus' '' (The IBRP's response, S. 32).

Es hieße, Marxens Denken zu deformieren, wenn man sagt, daß die historische Krise des Kapitals allein mit der Theorie der Tendenz der fallendenden Profitrate zu erklären ist. Aus drei Gründen:

1.  Marx legte das Gewicht auf zwei Widersprüche:

*  Er stellte fest, daß die kapitalistische Produktion zwei Seiten hat, die eigentliche Produktion und ihre Realisierung. Einfach gesagt, bedeutet der der Ausbeutung innewohnende Profit weder für den einzelnen Kapitalisten noch für den Kapitalismus in seiner Ganzheit irgendetwas, wenn die Waren, die sie produzieren,. nicht verkauft werden: ''Die gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable Kapital ersetzt, wie der den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden. Geschieht das nicht oder nur zum Teil oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten'' (Das Kapital, Bd.3, S.254, MEW; unsere Hervorhebung).

*  Er demonstrierte die lebenswichtige Bedeutung des Marktes in der Entwicklung des Kapitalismus: ''Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen.... Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußeren Feldes der Produktion'' (ebenda, S.255; unsere Hervorhebung). Weiter fragt er: ''Wie könnte es sonst an Nachfrage für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können ? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt'' (ebenda, S. 267, unsere Hervorhebung).

*  Er verurteilte ohne Zögern Says These, wonach es kein Realisierungsproblem im Kapitalismus gab: „Die von Ricardo adoptierte (eigentlich James Mill gehörige) Ansicht des faden Say (worauf wir bei der Besprechung des Jammermenschen zurückkommen), daß keine Überproduktion möglich oder wenigstens no general glut of the market, beruht auf dem Satz daß Produkte gegen Produkte ausgetauscht werden oder wie Mill es hatte, auf dem `metaphysischen Gleichgewicht der Verkäufer und Käufer, was weiter entwickelt wurde zu der nur durch die Produktion selbst bestimmte Nachfrage oder auch der Identität von demand und offer.“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 493)

*  Er bestand darauf, daß die permanente Überproduktion die historischen Grenzen des Kapitalismus ausdrückten: „Ist daher zugegeben, daß der Markt sich erweitern muß, soll keine Überproduktion stattfinden, so ist auch zugegeben, daß Überproduktion stattfinden kann, denn es ist dann möglich, da Markt und Produktion zwei gegeneinander gleichgültige [Momente sind], daß die Er­weiterung des einen der Erweiterung der andren nicht entspricht, daß die Schranken des Markts sich nicht rasch genug für die Produktion ausdehnen oder daß neue Märkte - neue Ausdehnungen des Markts - von der Produk­tion rasch überholt werden können, so daß der erweiterte Markt nun ebenso­sehr als eine Schranke erscheint wie früher der engere.“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 525).

2.  Marx stellte all die Gründe fest, die der Tendenz der fallenden Profitrate entgegenwirken: Im Kapitel XIV in Bd.3 vom Kapital analysierte er sechs Faktoren, die dieser Tendenz entgegenwirken: intensivere Ausbeutung der Arbeit, die Reduzierung der Löhne unter ihren Wert, die Verminderung der Kosten des konstanten Kapitals, der relative Bevölkerungsüberschuß, Außenhandel, das Wachstum des Aktienkapitals.

*  Er sah die Tendenz der fallenden Profitrate als ein Ausdruck der konstanten Produktivitätssteigerung der Arbeit an, als eine Tendenz, die der Kapitalismus bis zu einem in früheren Produktionsweisen nie gekannten Grad entwickelte: ''Diese (Tendenz) erzeugt mit der fortschreitenden relativen Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, daß die Rate des Mehrwerts bei gleichbleibendem und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt.... Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.'' (Das Kapital, Bd.3, S.223, MEW; Hervorhebungen im Original).[8]

*  Marx machte klar, daß dies kein absolutes Gesetz ist, sondern eine Tendenz, die eine ganze Reihe entgegenwirkender Kräfte enthielt (wie oben gezeigt), die von ihr hervorgerufen wurden: ''Und so hat sich denn im allgemeinen gezeigt, daß dieselben Ursachen, die das Fallen der allgemeinen Profitrate hervorbringen, Gegenwirkungen hervorrufen, die diesen Fall hemmen, verlangsamen und teilweise paralysieren. Sie heben das Gesetz nicht auf, schwächen aber seine Wirkung ab. Ohne das wäre das Fallen der allgemeinen Profitrate unbegreiflich, sondern umgekehrt die relative Langsamkeit dieses Falls. So wirkt das Gesetz nur als Tendenz, dessen Wirkung nur unter bestimmten Umständen und im Verlauf langer Perioden schlagend hervortritt'' (ebenda, S.249)).

*  Gegenüber der Tendenz der fallenden Profitrate setzte er die ursprüngliche Bedeutung des ''Außenhandels'' und vor allem die ständige Suche nach neuen Märkten: ''Derselbe auswärtige Handel... entwickelt im Inland die kapitalistische Produktionsweise, und damit die Abnahme des variablen Kapitals gegenüber dem konstanten, und produziert auf der andern Seite Überproduktion mit Bezug auf das Ausland, hat daher auch wieder im weitern Verlauf die entgegengesetzte Wirkung.'' (ebenda, S.249).

3.  Schließlich sah Marx, im Gegensatz zu dem, was die Genossen denken, in der Entwertung des Kapitals nicht das einzige Mittel, das der Kapitalismus für die Überwindung der Krise hat; er bestand ebenfalls auf das andere Mittel: die Eroberung neuer Märkte: ''Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen ? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte.'' (Das Kommunistische Manifest). ''Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der ausweglosen Situation, zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Rußland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einem cul-de-sac (Sackgasse). Nehmen Sie England. Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China’ (Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 22. Sept. 1892, MEW 38, S. 470).

Das Problem der Akkumulation

Die Genossen geben uns jedoch noch ein anderes ''gewichtiges'' Argument: ''Wie wir zuvor hervorgehoben haben, erklärt diese Theorie (sie beziehen sich auf jene von Rosa Luxemburg) das Kapital für unsinnig, denn Marx führte seine Analyse unter der Annahme eines geschlossenen kapitalistischen Systems aus, das bereits frei von 'dritten Käufern' ist (und dennoch fand er einen Krisenmechanismus)'' (The IBRP's response, S.33).

Es ist ganz richtig, daß Marx hervorgehoben hat, daß ''die Hereinziehung des auswärtigen Handels bei Analyse des jährlich reproduzierten Produktenwerts... also nur verwirren (kann), ohne irgendein neues Moment, sei es des Problems, sei es seiner Lösung zu liefern'' (Das Kapital, Bd.2, S.466). Es ist richtig, daß Marx, im letzten Kapitel von Bd.2, bei dem Versuch, die Mechanismen der erweiterten Reproduktion des Kapitalismus zu verstehen, sagt, daß es notwendig ist, ''äußere Elemente'' wegzulassen, daß es notwendig ist, davon auszugehen, daß es nur Kapitalisten und Arbeiter gibt, und auf dieser Basis erarbeitete er das Schema der erweiterten Reproduktion des Kapitals. Diese berühmten Schemata haben als revisionistische ''Bibel'' gedient, um ''zu demonstrieren'', daß ''die Marxschen Darlegungen im zweiten Band des 'Kapitals'... eine ausreichende und erschöpfende Erklärung der Akkumulation (seien), dort sei eben durch die Schemata klipp und klar nachgewiesen, daß das Kapital ausgezeichnet wachsen, die Produktion sich ausdehnen könne, wenn in der Welt keine andere als die kapitalistische existierte; sie sei für sich selbst Absatzmarkt, und nur meine totale Unfähigkeit, das Abc der Marxschen Schemata zu begreifen, konnte mich dazu verleiten, hier ein Problem zu erblicken !'' (Rosa Luxemburg: Antikritik, Gesammelte Werke, Bd.5, S.433).

Es ist absurd vorzugeben, daß die Erklärung der Krise des Kapitalismus innerhalb der berühmten Schemata der Reproduktion enthalten ist. Im Mittelpunkt von Rosa Luxemburgs Kritik steht exakt die sich darauf stützende Behauptung: ''Die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe'' (Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, Gesammelte Werke, Bd.5, S.299). Von diesem Ausgangspunkt aus demonstriert sie ihre Inkonsequenz: ''Für wen produzieren die Kapitalisten, wenn und soweit sie nicht selbst konsumieren, sondern 'entsagen', d.h. akkumulieren ? Noch weniger kann die Erhaltung einer immer größeren Armee von Arbeitern der Zweck der ununterbrochenen Kapitalakkumulation sein. Die Konsumtion der Arbeiter ist kapitalistisch eine Folge der Akkumulation, niemals ihr Zweck und ihre Voraussetzung, wenn anders die Grundlagen der kapitalistischen Produktion nicht auf den Kopf gestellt werden sollen. Und jedenfalls können die Arbeiter stets nur den Teil des Produkts konsumieren, der dem variablen Kapital entspricht, kein  Jota darüber hinaus. Wer realisiert also den beständig wachsenden Mehrwert ? Das Schema antwortet: die Kapitalisten selbst und nur sie. Und was fangen sie mit ihrem wachsenden Mehrwert an ? Das Schema antwortet: Sie gebrauchen ihn, um ihre Produktion immer mehr zu erweitern. Diese Kapitalisten sind also Fanatiker der Produktionserweiterung um der Produktionserweiterung willen. Sie lassen immer neue Maschinen bauen, um damit immer wieder neue Maschinen zu bauen. Was wir aber auf diese Weise bekommen, ist nicht eine Kapitalakkumulation, sondern eine wachsende Produktion von Produktionsmitteln ohne jeden Zweck, und es gehört die Tugan-Baranowskische Kühnheit und Freude an Paradoxen dazu, um anzunehmen, dieses unermüdliche Karussell im leeren Luftraum könne ein treues theoretisches Spiegelbild der kapitalistischen Wirklichkeit und eine wirkliche Konsequenz der Marxschen Lehre sein.'' (ebenda, S.284/285)).

Daher schließt sie daraus, daß ''Marx seine allgemeine Auffassung von dem charakteristischen Gang der kapitalistischen Akkumulation in seinem ganzen Werke, namentlich im dritten Bande, sehr ausführlich und deutlich niedergelegt (hat). Und man braucht sich nur in diese Auffassung hineindenken, um das Unzulängliche des Schemas am Schluß des zweiten Bandes ohne Mühe einzusehen. Prüft man das Schema der erweiterten Reproduktion gerade vom Standpunkte der Marxschen Theorie, so muß man finden, daß es sich mit ihr in mehreren Hinsichten im Widerspruch befindet.'' (ebenda, S.285)).

Während seiner historischen Entwicklung war der Kapitalismus von einem ihn umgebenden vorkapitalistischen Milieu abhängig, zu dem er ein Verhältnis unterhielt. Dieses umfaßte drei untrennbare Elemente: den Handel (die Aneignung von Rohstoffen und der Austausch von Manufakturwaren), die Zerstörung sozialer Formen (die Vernichtung der natürlichen Subsistenzwirtschaft, die Trennung der Bauern und Handwerker von ihren Arbeitsmitteln) und die Integration in die kapitalistische Produktion (die Entwicklung von Lohnarbeit und all der kapitalistischen Institutionen).

Dieses Verhältnis von Handel-Zerstörung-Integration erstreckte sich über den gesamten Prozeß der Bildung des kapitalistischen Systems (im 16.-18.Jahrhundert), seines Gipfels (im 19.Jahrhundert) und seiner Dekadenz (im 20.Jahrhundert) und bildete eine vitale Notwendigkeit für die Gesamtheit der Produktionsbeziehungen: ''Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist.'' (ebenda, S.314)).

Für Battaglia Comunista ist dieser historische Prozeß, der sich auf der Ebene des Weltmarktes entfaltet, nichts anderes als die Widerspiegelung eines viel tieferen Prozesses: ''Auch wenn wir mit dem Markt und mit den Widersprüchen, die dort auftreten (Produktion-Verteilung, Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage), beginnen mögen, müssen wir letztendlich doch zu den Mechanismen zurückkehren, die die Akkumulation beherrschen, um zu einer korrekteren Sichtweise des Problems zu gelangen. Als eine Einheit von Produktion und Verteilung erfordert das Kapital, daß wir berücksichtigen, was auf dem Markt infolge der Heranreifung von Widersprüchen passiert, die am Anfang, und nicht am Ende der Produktionsverhältnisse stehen. Es ist der ökonomische Zyklus und die Notwendigkeit für die Verwertbarkeit des Kapitals, die den Markt bedingt. Nur wenn wir von den widersprüchlichen Gesetzen ausgehen, die den Akkumulationsprozeß beherrschen, ist es möglich, die 'Marktgesetze' zu erklären.''  (2.Konferenz von Gruppen der kommunistischen Linken, Band 1 der Vorbereitungstexte, S.10)

Die Realisierung des Mehrwerts, dieser famose ''Salto mortale der Ware'', wie Marx es nannte, bildet die ''Oberfläche'' des Phänomens, den ''Resonanzkörper'' der Widersprüche der Akkumulation. Diese Sichtweise mit ihrem Anschein von ''Tiefgründigkeit'' enthält nichts anderes als profunden Idealismus: Die ''Marktgesetze'' sind das ''äußere'' Resultat der ''inneren'' Gesetze des Akkumulationsprozesses. Das ist nicht die Sicht von Marx, für dem die beiden Momente der kapitalistischen Produktion (Produktion und Realisierung) nicht die Widerspiegelung des einen durch den anderen sind, sondern zwei unzertrennliche Teile der globalen Einheit, die die historische Evolution des Kapitalismus darstellen: ''.... Zitat ....'' (Marx: Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie, Kapitel 2).

Jeder Versuch, die Produktion von der Realisierung zu trennen, erschwert das Verständnis der historischen Bewegung des Kapitalismus, die zu seinem Gipfel (die Bildung des Weltmarktes) und zu seiner historischen Krise (die chronische Sättigung des Weltmarktes) führt: ‘In dem Maße endlich, wie die Kapitalisten durch die oben geschilderte Bewegung gezwungen werden, schon vorhandene riesenhafte Produktionsmittel auf größerer Stufenleiter auszubeuten... nehmen mit einem Wort die Krisen zu. Sie werden häufiger und heftiger schon deswegen, weil in demselben Maß, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausgedehnten Märkten wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusammenzieht, immer weniger Märkte zur Exploitation übrigbleiben, da jede vorhergehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Handel nur oberflächlich ausgebeuteten Markt dem Welthandel unterworfen hat’ (Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 423,).

Als Lenin die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland studierte, benutzte er dieselbe Methode: 'Wichtig ist, daß der Kapitalismus nicht bestehen und sich nicht entwickeln kann ohne ständige Erweiterung seiner Herrschaftssphäre, ohne Kolonisation neuer Länder und Einbeziehung nichtkapitalistischer alter Länder in den Strudel der Weltwirtschaft. Und diese Eigenschaft des Kapitalismus machte und macht sich in Rußland nach der Reform mit größer Kraft geltend’ (Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Gesammelte Werke, Bd.3, S. 615, 8. Kapitel, V.).

Die historischen Grenzen des Kapitalismus

Die Genossen vom IBRP denken jedoch, daß Rosa Luxemburg darauf beharrt habe, nach ''äußeren'' Ursachen der Krise des Kapitalismus zu schauen: ''Anfänglich unterstützte Luxemburg die Idee, daß die Ursache der Krise in den Wertverhältnissen zu suchen ist, die der kapitalistischen Produktionsweise selbst innewohnen.... Aber in der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie schien sie 1913 dazu verleitet worden sein, nach einer anderen ökonomischen Theorie Ausschau zu halten, um der revisionistischen Behauptung entgegenzutreten, daß das Gesetz der Tendenz der fallenden Profitrate nicht mehr gültig sei. In Die Akkumulation des Kapitals zog sie die Schlußfolgerung, daß es 'einen Makel in Marxens Analyse' gab, und sie beschloß, daß die Ursache der kapitalistischen Krise außerhalb der kapitalistischen Beziehungen liegt.'' (The IBRP's response, S.33)

Die Revisionisten schleuderten Rosa Luxemburg die Beschuldigung ins Gesicht, daß sie ein Problem aufstellt, das nicht existiert, denn nach ihnen hatten Marxens Schemata der erweiterten Reproduktion ''demonstriert'', daß aller Mehrwert innerhalb des Kapitalismus realisiert wird. Die Genossen vom IBRP berufen sich nicht auf diese Schemata, aber ihre Methode läuft auf dasselbe hinaus: Für sie hat Marx mit seinen Schemata der Akkumulationszyklen die Lösung gegeben. Das Kapital fährt mit Produktion und Entwicklung fort, bis die Profitrate fällt und die Produktion gehemmt wird, was dann die Tendenz zu einer ''objektiven'' Eigenlösung durch massive Kapitalentwertung hervorbringt. Nach dieser Wertminderung hat sich die Profitrate erholt, und der Prozeß beginnt aufs neue und so weiter. Es ist richtig, daß die Genossen einräumen, daß diese Evolution historisch viel komplizierter ist, entsprechend dem Wachstum in der organischen Zusammensetzung des Kapitals und der Tendenz zu Konzentration und Zentralisierung des Kapitals: daß dieser Konzentrationsprozeß im 20.Jahrhundert bedeutet, daß die notwendige Kapitalentwertung sich nicht auf strikt ökonomische Mittel (Schließung von Fabriken und Entlassung von Arbeitern) beschränken kann, sondern die enorme Zerstörung durch einen Weltkrieg erfordert (s. den ersten Teil dieses Artikels).

Diese Erklärung ist in der Mehrheit der Fälle eine Beschreibung der konjunkturellen Bewegungen des Kapitalismus, aber sie erlaubt nicht das Verständnis der globalen historischen Bewegung des Kapitalismus. Sie versorgt uns mit einem unzuverlässigen Thermometer (wir haben, Marx gemäß, die entgegenstrebenden Ursachen des Gesetzes erklärt) für die Wendungen und Fortschritte des Kapitalismus, aber es versetzt uns nicht einmal ansatzweise in die Lage, den Grund, die tiefe Ursache der Krankheit zu verstehen. Unter der zusätzlichen Bürde der Dekadenz (s. unsere Artikel in der International Review Nr.79 und 82) wurde die Akkumulation weitgehend blockiert, und ihre Mechanismen (also einschließlich der Tendenz der fallenden Profitrate) wurden durch massive Staatsinterventionen verändert und pervertiert.

Die Genossen erinnern uns daran, daß nach Marx die Ursachen der Krise dem Kapitalismus innewohnen.

Was wollen die Genossen mehr als die dem Kapitalismus ''innewohnende'', zwingende Notwendigkeit einer ständigen Ausweitung der Produktion über die Grenzen des Marktes hinaus ? Das Ziel des Kapitalismus ist nicht die Befriedigung von Konsumbedürfnissen (ungleich dem Feudalismus, dessen Ziel dem Konsum der Edelleute und Priester galt). Er ist auch kein System der einfachen Warenproduktion (solche Methoden konnten im Altertum und bis zu einem gewissen Punkt im 14. und 15.Jahrhundert beobachtet werden). Sein Produktionsziel ist ein stetig steigender Mehrwert, der aus den auf der Lohnarbeit fußenden Wertverhältnissen stammt. Dies erfordert, daß er sich permanent auf der Suche nach neuen Märkten befindet. Warum ? Um ein Regime des einfachen Warenaustausches zu etablieren ? Um des Raubes und der Sklavenhaltung willen ? Nein, obwohl diese Methoden die Entwicklung des Kapitalismus begleitet haben, bilden sie nicht das innere Wesen, das in der Notwendigkeit einer steigenden Ausweitung seiner auf der Lohnarbeit basierenden Produktionsverhältnisse ruht: ''Traurigerweise kann das Kapital kein Geschäft mit seinen nichtkapitalistischen Kunden betreiben, ohne sie zu ruinieren. Ob es ihnen Konsum- oder Produktionsgüter verkauft, es zerstört das prekäre Gleichgewicht einer jeden vorkapitalistischen (und daher weniger produktiven) Ökonomie. Die Einführung von billiger Kleidung, der Bau von Eisenbahnen, die Errichtung einer Fabrik reicht aus, um die gesamte vorkapitalistische Wirtschaftsorganisation zu zerstören. Das Kapital mag seine vorkapitalistischen Kunden so, wie Oger Kinder 'mag': Es frißt sie auf. Die Arbeiter einer vorkapitalistischen Wirtschaft, die das 'Pech' haben, es mit den Kapitalisten zu tun zu bekommen, erkennen früher oder später, daß sie bestenfalls proletarisiert oder schlimmstenfalls - und dies ist seit dem Abgleiten des Kapitalismus in die Dekadenz immer häufiger der Fall - zu Elend und Bankrott verdammt sind.'' (Kritik an Bucharin, Teil 2, International Review Nr.30)

In der aufsteigenden Periode, im 19.Jahrhundert, schien dieses Realisierungsproblem zweitrangig zu sein, da der Kapitalismus ständig neue vorkapitalistische Gebiete fand, die er in sein Netzwerk integrierte und denen er folglich seine Waren verkaufte. Im 20.Jahrhundert jedoch, als die nichtkapitalistischen Territorien im Verhältnis zu den Expansionsbedürfnissen in wachsendem Maße an Bedeutung verloren, erhielt das Realisierungsproblem eine entscheidende Bedeutung. Daher sagen wir, daß Rosa Luxemburgs Theorie ‘eine Er­klärung für die historisch konkreten Be­dingungen liefert, die den Beginn der permanen­ten Systemkrise bestimmen: Je mehr der Kapitalismus die verbliebenen nicht-kapi­talistischen Wirtschaftsbereiche in sich selbst eingegliedert hat, je mehr er die Welt nach seinem Bild geformt hat, desto weniger konstant kann er seine Märkte ausweiten und neue Auswege für die Re­alisierung jenes Teils des Mehrwerts fin­den, der weder von den Kapitalisten noch vom Proletariat realisiert werden kann. Die Unfähigkeit des Systems, weiter in alter Manier zu expandieren, bewirkte die neue Epoche des Imperialismus und der in­terimperialistischen Kriege, die das Ende der fortschrittlichen historischen Mission des Kapitalismus bedeuteten und die Menschheit mit dem Rückfall in die Bar­barei bedrohten' ((''Der Kommunismus ist nicht eine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit'', Teil 7).

Wir streiten nicht die Tendenz der fallenden Profitrate ab, wir betrachten sie als ein Teil der historischen Evolution des Kapitalismus. Diese ist beeinflußt von einer ganzen Reihe von Widersprüchen: den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung, zwischen der unaufhörlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität und dem fallenden Anteil der lebenden Arbeit, die bereits erwähnte Tendenz der fallenden Profitrate.... Jedoch konnten diese Widersprüche nur solange eine Stimulans für die Entwicklung des Kapitalismus sein, wie er die Möglichkeit hatte, sein Produktionssystem auf Weltebene auszudehnen. Als der Kapitalismus seine historischen Grenzen erreichte, verkehrten sich diese stimulierenden Widersprüche in schwere Ketten, in Faktoren, die die Schwierigkeiten und Konvulsionen des Systems verschärften.

 Produktionssteigerung in der Dekadenz des Kapitalismus

Die Genossen vom IBRP erheben einen wirklich verblüffenden Einwand: ''Wenn die Märkte bereits 1913 gesättigt wurden, wenn alle vorkapitalistischen Auswege erschöpft sind, können neue nicht neu geschaffen werden (abgesehen von einem Trip zum Mars). Wenn aber der Kapitalismus über die Wachstumsebene des vorherigen Zyklus' hinausgeht, wie geht das mit der Theorie von Luxemburg zusammen ?'' (The IBRP's response, S.33)

Während unser polemische Artikel in der International Review Nr.79 die Natur und Zusammensetzung der ''ökonomischen Wachstums'' nach dem 2.Weltkrieg klar gemacht hat, kritisieren uns die Genossen in ihrer Antwort, indem sie sagen, daß es ein ''wirkliches ökonomisches Wachstum des Kapitalismus in der Dekadenz'' gegeben hat, und angesichts unser Verteidigung der Positionen von Rosa Luxemburg fahren sie fort: ''Wir haben bereits gesehen, wie die IKS das Dilemma löst - durch die empirische Leugnung, daß es ein wirkliches Wachstum gegeben hat.'' (ebenda, S.33)

Wir können hier nicht die Analyse der Natur des ''Wachstums'' seit 1945 wiederholen. Wir laden die Genossen dazu ein, den Artikel ''Understanding the decadence of capitalism (part VI)'' in der International Review Nr.56 (auf deutsch in Internationale Revue Nr. 15) zu lesen, der klarstellt, daß bezüglich der ''Wachstumsraten in der 1945 folgenden Periode (die höchste in der Geschichte des Kapitalismus)... wir aufzeigen werden, daß dieser zeitweilige Aufschwung das Produkt eines gedopten Wachstums ist, das nichts anderes ist als der verzweifelte Kampf eines Systems in seinem Todeskampf. Die Mittel, die benutzt wurden, um dies zu erreichen (massive Verschuldung, Staatsintervention, wachsende Rüstungsproduktion, unproduktive Ausgaben, etc.) sind ausgewrungen, womit der Weg zu einer beispiellosen Krise eröffnet ist.'' Womit wir uns befassen wollen, ist etwas grundsätzlich Marxistisches: das quantitative Wachstum der Produktion bedeutet nicht notwendigerweise eine Entwicklung des Kapitalismus.

Das chronische endlose Problem, das der Kapitalismus in der Dekadenz hat, ist die Abwesenheit von neuen Märkten, die erforderlich geworden sind durch die Produktionssteigerungen, die auf das konstante Wachstum in der Arbeitsproduktivität und in der organischen Zusammensetzung zurückzuführen sind. Dieses konstante Wachstum erschwert das Problem der bereits steigenden Überproduktion von akkumulierter Arbeit (konstantes Kapital) im Verhältnis zur lebenden Arbeit (variables Kapital, die Lebensmittel der Arbeiter) noch mehr.

Die gesamte Überlebensgeschichte des Kapitalismus im 20.Jahrhundert nach der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 ist das verzweifelte Bemühen, das Wertgesetz durch Schulden, Hyperinflation von unproduktiven Kosten und die monströse Entwicklung der Rüstung zu manipulieren, um die Folgen der chronischen Abwesenheit neuer Märkte zu lindern. Und die Geschichte zeigt, daß diese Bemühungen nichts anderes bewirkt haben, als die Probleme zu verschlimmern und die Tendenzen des dekadenten Kapitalismus zur Selbstzerstörung zu schüren: Die Verschlimmerung der chronischen Krise des Kapitalismus verstärkt die permanenten Tendenzen zum imperialistischen Krieg, zur allgemeinen Zerstörung (s. den ersten Teil dieses Artikels in der International Review Nr.82).

In Wahrheit illustriert dieses ''fabelhafte'' Produktionswachstum, das die Genossen so sehr blendet, den unüberwindlichen Widerspruch, den der Kapitalismus mit seiner Tendenz der unbegrenzten Entwicklung der Produktion über die Absorptionsfähigkeit des Marktes hinaus erzwingt. Diese Zahlen untergraben die Theorien von Rosa Luxemburg ganz und gar nicht, sondern bestätigen sie völlig. Wenn wir das unkontrollierte und galoppierende Wachstum der Schulden betrachten, das ohne jeden Vergleich in der menschlichen Geschichte steht, wenn wir die Existenz der strukturellen und permanenten Inflation betrachten, wenn wir sehen, daß seit der Abschaffung des Goldstandards der Kapitalismus unbekümmert jede garantierte Deckung des Geldes eliminierte (gegenwärtig erfaßt Fort Knox lediglich 3 % der Dollar, die in den Vereinigten Staaten zirkulieren), wenn man die massive Intervention durch den Staat erkennt, um das ökonomische Gefüge abzustützen (und dies seit mehr als 50 Jahren), so muß jeder annähernd ernsthafte Marxist dieses ''fabelhafte Wachstum'' als ein Bluff in Abrede stellen und die Schlußfolgerung ziehen, daß es sich hier um eine Frage von gedopten und betrügerischen Wachstum handelt.

Statt sich diese Realität zu vergegenwärtigen, ziehen die Genossen es vor, über die ''neuen Realitäten'' des Kapitalismus zu spekulieren. So unterbreiten sie in ihrer Antwort folgendes: ''Die Umstrukturierung (und, wir müssen es leider sagen, das Wachstum) der Arbeiterklasse, die Tendenz der kapitalistischen Staaten, durch das Volumen des Welthandels und den Kapitalbetrag, der von den Weltfinanzinstitutionen kontrolliert wird (der heute mindestens viermal so groß ist wie das Budget aller Staaten zusammengenommen), ökonomisch zu verkümmern, hat eine weitere Ausweitung der Weltwirtschaft aus Bucharins und Luxemburgs Tagen in eine globalisierte Ökonomie produziert.'' (The IBRP's response, S.35)

Da gibt es 820 Millionen Arbeitslose in der Welt (Zahlen von der IAO, Dezember 1994), aber die Genossen sprechen von einem Wachstum der Arbeiterklasse ! Da gibt es ein irreversibles Wachstum der Zeitarbeit, aber die Genossen sehen wie moderne Don Qixotes die Windmühlen des ''Wachstums'' und der ''Wiederherstellung'' der Arbeiterklasse ! Da gerät der Kapitalismus immer näher an eine Finanzkrise von unkalkulierbarem Ausmaß, aber die Genossen spekulieren fröhlich über die ''globale Ökonomie'' und über das ''Kapital, das von den Finanzinstitutionen kontrolliert wird''. Noch einmal, in ihren Träumen sehen sie ihre heimliche Liebe in der ''Weltwirtschaft'', deren prosaische Wirklichkeit in den verzweifelten Bemühungen dieser - ''immer kindlicheren'' - Staaten besteht, den Grad der Spekulationen zu kontrollieren, die exakt von der Sättigung des Marktes provoziert werden; diese Giganten, die vom ''durch die Finanzinstitutionen kontrollierten Kapital'' konstituiert wurden, sind Luftballons, die durch eine Spekulation gewaltig aufgebläht sind, welche eine Katastrophe für die Weltwirtschaft auslösen könnte.

Die Genossen kündigen an: ''All das oben Erwähnte muß einer rigorosen marxistischen Analyse unterzogen werden, deren Entwicklung Zeit bedarf.'' (The IBRP's Response, S.35) Ist es für die militante Arbeit der kommunistischen Linken nicht sinnvoller, wenn die Genossen ihre Zeit der Erklärung des Phänomens widmen, das die Paralyse und tödliche Krankheit der Akkumulation in der ganzen kapitalistischen Dekadenz hindurch demonstriert ? Marx sagte, der Fehler liege nicht in der Antwort, sondern in der Frage selbst. Solche Fragen wie die der ''globalen Ökonomie'' und der ''Wiederherstellung der Arbeiterklasse'' zu stellen, heißt, in den Treibsand des Revisionismus zu versinken, wohingegen es ''andere Fragen'' gibt wie die der Natur der Massenarbeitslosigkeit oder die der Schuldenlast, die die grundsätzlichen Probleme beim Verständnis der kapitalistischen Dekadenz zu konfrontieren helfen.

Militante Schlußfolgerungen

Im ersten Teil dieses Artikels betonten wir, was uns verband mit den Genossen des IBRP: die unnachgiebige Verteidigung der marxistischen Position zur Dekadenz des Kapitalismus, das Fundament der Notwendigkeit der kommunistischen Revolution. Es ist grundlegend, diese Position bis zu Ende zu vertreten, in ihrem Zusammenhang zu verstehen und ihre Folgen anzunehmen. Wie wir in ''Marxism and Crisis Theory'' (International Review Nr.13) erklärt haben, ist es möglich, die Position zur Dekadenz des Kapitalismus zu vertreten, ohne unsere auf Rosa Luxemburgs Analyse basierende Theorie völlig zu teilen[9]. Jedoch birgt solch eine Haltung die Gefahr in sich, diese Position nicht kohärent einzuhalten, ''sie mit Leim zusammenzuhalten''. Der militante Zweck unserer Polemik geht genau darum: Die Inkonsequenzen und Verwirrungen der Genossen führen sie dazu, die Klassenposition zur Dekadenz des Kapitalismus zu schwächen.

Mit der ihr eigenen sektiererischen Ablehnung der These Rosa Luxemburgs (und Marx') über die Frage der Märkte öffnet die Analyse der Genossen den revisionistischen Ideen Tugan-Baranowskis u.a. die Tür: ''Akkumulationszyklen wohnen dem Kapitalismus inne, und sie erklären, warum in verschiedenen Momenten die kapitalistische Produktion und das kapitalistische Wachstum größer oder kleiner als in den vorhergehenden Perioden ist.'' (The IBRP's Response, S.31) Damit übernehmen sie eine alte Behauptung, die von Battaglia Comunista während der Internationalen Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken aufgestellt wurde: ''Der Markt ist keine außerhalb des kapitalistischen Produktionssystems existierende physische Einheit, die auf die Produktionsbremse tritt, sobald sie abgefüllt ist; im Gegenteil, er ist eine ökonomische Realität innerhalb des Systems und nicht außerhalb davon, er weitet sich aus und zieht sich zusammen entsprechend dem widersprüchlichen Kurs des Akkumulationsprozesses.'' (2.Konferenz der Gruppen der kommunistischen Linken, Vorbereitungstexte, S.13)

Begreifen die Genossen nicht, daß sie mit dieser ''Methode'' in die Welt von Say eintreten, wo außerhalb von kunjunkturellen Disproportionalitäten ''alles, was produziert wird, konsumiert wird, und alles, was konsumiert wird, auch produziert wird'' ? Verstehen die Genossen nicht, daß sie mit dieser Analyse auf den phänomenalen ''Beweis'' zurückgreifen, daß der Markt ''sich gemäß dem Akkumulationsrhytmus ausweitet oder zusammenzieht'', was absolut nichts über die historische Evolution der kapitalistischen Akkumulation aussagt ? Sehen die Genossen nicht, daß sie denselben Irrtümern anheimfallen, die Marx kritisierte: ''.... Zitat ....'' (Marx: Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie)

Die Tatsache, daß die Genossen die Tür zu den revisionistischen Theorien nur angelehnt haben, erklärt ihren Hang, sich selbst in sterilen und absurden Spekulationen über die ''Rekonstruktion der Arbeiterklasse'' oder die ''globale Ökonomie'' zu verlieren. Sie sollten sich auch ihrer Neigung bewußt sein, die sie dazu veranlaßt, von den Sirenenklängen der Bourgeoisie angezogen zu werden: Zunächst gab es die ''technologische Revolution''. Dann die fabelhaften Märkte des Ostens, später gab es das ''Geschäft'' mit dem Krieg in Jugoslawien. Sicherlich, die Genossen korrigierten unter dem Gewicht der Kritik der IKS und der überwältigenden Offenkundigkeit der Tatsachen diese Absurditäten. Dies demonstriert ihre Verantwortung und ihre feste Verbundenheit mit der kommunistischen Linken. Aber werden die Genossen mit uns darin übereinstimmen, daß diese Irrtümer aufzeigen, daß ihre Position über die Dekadenz des Kapitalismus nicht konsequent genug ist, daß diese ein Flickwerk ist und daß sie (die Genossen) sich auf eine festere Grundlage stellen müssen?

Die Genossen pflichten den revisionistischen Widersachern von Rosa Luxemburg bei, indem sie sich weigern, das Problem der Realisierung ernst zu nehmen, aber sie distanzieren sich radikal von ihnen, indem sie deren Vision einer Tendenz zur Linderung der Gegensätze des Kapitalismus ablehnen. Im Gegenteil, und mit vollem Recht, sehen die Genossen, daß jede Krisenphase im Akkumulationszyklus eine noch größere und tiefere Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus bedeutet. Das Problem liegt genau in jenen Perioden begraben, in denen, nach ihnen, die kapitalistische Akkumulation sich völlig erholt. Angesichts dieser Perioden, dabei nur die Tendenz der fallenden Profitrate anerkennend und den Blick auf die chronische Sättigung des Marktes verweigernd, vergessen oder bagatellisieren die Genossen die revolutionäre Position über die Dekadenz des Kapitalismus.

Adalen 16.6.95

[1] Wir haben unsere Position in zahlreichen Artikeln in unserer Internationalen Revue entwickelt: Wir wollen hier auf ''Marxism and Crisis Theory'' (Nr.13), ''Economic Theories and the Struggle for Socialism'' (Nr.16), ''Crisis Theory from Marx to the CI'' (Nr.22), ''Critique of Bukharin'' (Nr.29 & 30), Teil 7 der Reihe ''Communism is not a nice idea but a material necessity'' (Nr.76) hinweisen. Die Genossen haben in ihrer Antwort gesagt, daß die IKS die Kritik ihrer Positionen nicht, wie im Artikel ''Marxism and Crisis Theory'' angekündigt, fortgesetzt habe. Die bloße Aufzählung dieser Artikelliste macht klar, daß dies falsch ist.

[2]Rodbertus war Mitte des letzten Jahrhunderts ein bürgerlicher Sozialist, der das ''Gesetz'' des sich verringernden Lohnanteils formulierte. Ihm zufolge hing die Krise des Kapitalismus mit diesem Gesetz zusammen, und dementsprechend schlug er die Intervention des Staates vor, um die Löhne als Mittel gegen die Krise anzuheben. Die Revisionisten in der 2.Internationale beschuldigten Marx, sich auf die These von Rodbertus eingelassen zu haben, nannten ihnen einen ''Unterkonsumptionisten'' und wiederholten später dieselbe Beschuldigung gegenüber Rosa Luxemburg.

Heute sind viele Gewerkschaftler und auch bestimmte linksbürgerliche Strömungen uneingestandene Nachfolger von Rodbertus, indem sie behaupten, daß der Kapitalismus vorrangig an der Verbesserung des Arbeiterlebens interessiert sei, als ein Mittel, die Krise zu überwinden.

[3]Say war zu Beginn des 19.Jahrhunderts ein bürgerlicher Ökonom, der in seiner Verteidigung  des Kapitalismus darauf beharrte, daß es kein Marktproblem gebe, da ihm zufolge ''die Produktion ihren eigenen Markt schafft''. Solch eine Theorie ist das Äquivalent zu der Idee, daß der Kapitalismus ein unendliches System ohne jegliche Möglichkeit einer Krise ist, die über zeitweilige Erschütterungen hinausgeht, welche von ''schlechtem Management'' oder durch ''Disproportionen zwischen verschiedenen Produktionsbereichen'' provoziert werden. Wir sehen also, daß die gegenwärtigen Botschaften der Bourgeoisie über die ''Wiedergesundung'' nichts Neues sind

[4] Diese Technik des Opportunismus wurde vor langem vom Stalinismus, von der Sozialdemokratie und anderen Kräften der Linken des Kapitals (besonders von den Linksextremen) angenommen, die sich unverfroren dieser oder jener Zeilen von Lenin, Marx, etc. bedienen, um sie auf Positionen zu übertragen, die nichts mit ihnen zu tun haben.

[5] Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß in dieser von Rosa Luxemburgs Buch ausgelösten Polemik Pannekoek, der in jener Epoche weder ein Opportunist noch ein Revisionist war, sondern sich im Gegenteil auf dem linken Flügel der 2.Internationale befand, gegen Rosa Luxemburgs These war.

[6] Wir haben oftmals erklärt, daß Lenin, im Angesicht des Problems des Ersten Weltkriegs und besonders in seinem Buch Der Imperialismus - die höchste Stufe des Kapitalismus, richtigerweise die revolutionäre Position über die historische Krise des Kapitalismus (die er die Krise der Auflösung und des Parasitentums des Kapitals nannte) und über die Notwendigkeit einer Revolution durch das Weltproletariat verteidigte. Jedoch unterstützte er Hilferdings irrige Theorien über das Finanzkapital und die ''Kapitalkonzentration'', was besonders in den Händen seiner Epigonen die Kraft und Kohärenz seiner Position zum Imperialismus schwächte. Siehe dazu unsere Kritik in der International Review Nr.19, ''Über den Imperialismus''.

[7] zur Kritik an Bucharin siehe: International Review Nr. 29 & 30, ''To go beyond capitalism: Abolish the wage system'';

[8]Im Kapital, Band 3, weist Marx darauf hin, daß ''wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr’ (Das Kapital, 3. Band, III. Abschnitt, 15. Kapitel, Überfluß an Kapital bei Überfluß an Bevölkerung,  S. 268)

[9] Die Plattform der IKS sagt, daß Genossen die Krisenerklärung vertreten können, welche auf der Tendenz der fallenden Profitrate beruht.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Krisentheorie [24]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationales Büro für die Revolutionäre Partei [25]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [10]

Internationale Revue 18

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Deutsche Revolution Teil II: Der Beginn der Revolution

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Im letzten Artikel haben wir aufgezeigt, dass der Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Krieg immer stärker wurde. Anfang 1917 - nach zweieinhalb Jahren Krieg, hatte die Arbeiterklasse international ein Kräftever­hältnis entwickeln können, wodurch die herr­schende Klasse immer mehr unter Druck geriet. Im Februar 1917 erhoben sich die Arbeiter in Russland gegen den Krieg und stürzten den Zar. Um aber den Krieg zu been­den, hatten sie im Oktober 1917 die bürgerli­che Regierung absetzen und die Macht ergrei­fen müssen. Russland hatte gezeigt: die Herbeiführung des Friedens war nicht möglich ohne den Sfürz der herrschenden Klasse. Die siegreiche Machtübernahme sollte eine ge­waltige Ausstrahlung auf die Arbeiter in den anderen Ländern haben. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte es die Arbeiterklasse in einem Land geschafft, die Macht an sich zu reissen. Dies sollte ein Fanal für die Arbeiter in den anderen Ländern, vor allem in Öster­reich, Ungarn, ganz Mitteleuropa, hauptsäch­lich aber in Deutschland sein.

Auch in Deutschland hatten die Arbeiter nach anfänglichem Hurrapatriotismus zuneh­mend gegen den Krieg angekämpft. Ange­spornt durch die revolutionäre Entwicklung in Russland war nach mehreren vorausgegange­nen Kämpfen im April 1917 ein Massenstreik entbrannt. Im Januar 1918 stürzten sich ca. I Mio. Arbeiter in eine neue Streikbewegung, gründeten einen Arbeiterrat in Berlin. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Russland zer­bröckelte im Sommer 1918 die Kampfbereit­schaft an den Fronten immer mehr. In den Fabriken brodelte es, auf den Strassen sammel­ten sich immer mehr Arbeiter, um den Wider­stand gegen den Krieg zu intensivieren. Die herrschende Klasse in Deutschland spürte die Ausstrahlung der russischen Revolution und wollte - um ihre eigene Haut zu retten - unbedingt ein Bollwerk gegen die Ausdehnung der Revolution errichten.

Aus der Entwicklung in Russland "schlau" geworden, zwang das Militär den Kaiser Ende September 1918 zum Abdanken und setzte eine neue Regierung ein. Aber die Kampfbe­reitschaft der Arbeiterklasse blieb weiter im Auftrieb. Es gärte weiterhin unaufhörlich.

Am 28. Oktober begann in Österreich, in den tschechischen und slowakischen Gebieten sowie in Budapest eine Welle von Streiks, die jeweils zum Sfürz der Monarchie führten. Überall entstanden wie in Russland Arbeiter­- und Soldatenräte.

Die herrschende Klasse aber auch die Re­volutionäre bereiteten sich jetzt auch in Deutschland auf eine entscheidende Phase der Auseinandersetzungen vor....

Die Revolutionäre bereiten den Aufstand vor

Auch wenn nahezu die gesamte Führungs­spitze der Spartakisten (Liebknecht, Luxem­burg, Jogiches) im Gefängnis sass, auch wenn durch einen Polizeischlag die illegale Drucke­rei der Partei für eine kurze Zeit lahmgelegt wurde, bereiteten die Revolutionäre um die Gruppe der Spartakisten weiter den Aufstand vor.

Anfang im Oktober hielten die Spartaki­sten mit den Linksradikalen aus Bremen und anderen Städten eine Konferenz ab.

Auf dieser Konferenz wurde der Beginn der offenen revolutionären Auseinanderset­zungen signalisiert und folgender Aufruf beschlossen, der in Deutschland wie an der Front in zahlreichen Exemplaren verbreitet wurde. Seine Hauptideen waren:

Die Soldaten haben begonnen, ihr Joch abzuwerfen, die Armee zerbricht, aber diese erste Regung der Revolution findet schon die Konterrevolution auf ihrem Posten. Indem sie scheinbare "demokratische" Rechte einräumt, versucht die Konterrevolution, da die Ge­waltmittel versagen, die Bewegung einzu­dämmen. Parlamentarisierung und ein neues Wahlrecht sollen das Proletariat dazu bewe­gen, weiter seine Lage zu erdulden.

"In der Diskussion über die internationale Lage wurde der Tatsache Ausdruck gegeben, dass die Bewegung in Deutschland eine we­sentliche moralische Unterstützung durch die russische Revolution gefunden hat. Es wurde beschlossen, den Genossen in Russland den Ausdruck des Dankes, der Solidarität und brüderlicher Sympathie zu übermitteln mit dem Versprechen, diese Solidarität nicht durch Worte, sondern durch Aktionen, ent­sprechend dem russischen Vorbild, zu bestäti­gen

"Die spontanen Meuterungen unter den Soldaten gilt es mit allen Mitteln zu unterstüt­zen, zum bewaffneten Aufstand überzuleiten, den bewaffneten Aufstand zum Kampf um die ganze Macht für die Arbeiter und Soldaten auszuweiten und durch Massenstreiks der Arbeiter für uns siegreich zu machen. Das ist die Arbeit der allernächsten Tage und Wo­chen."

Vom Anfang dieser revolutionären Aus­einandersetzungen an können wir feststellen, dass die Spartakisten sofort die politischen Manöver der herrschenden Klasse durch­schauten, den trügerischen Charakter der bürgerlichen Demokratie blosslegten und die erforderlichen Schritte zum Vorantreiben der Bewegung ohne Verzögerung erkannt hatten: den Aufstand vorbereiten und die Arbeiter­klasse in Russland nicht nur mit Worten, son­dern auch mit Taten unterstützen. Sie hatten verstanden: die Solidarität der Arbeiterklasse in dieser neuen Situation konnte sich nicht auf Worte beschränken, sondern die Arbeiter müssen selber in den Kampf treten. Diese Lehre zieht sich seitdem wie ein roter Faden durch die Erfahrung der Arbeiterkämpfe!

Aber die Bourgeoisie stand Gewehr bei Fuss. Sie hatte den Kaiser abgesetzt und ihn durch einen neuen Prinzen, Max von Baden, am 3. Oktober ersetzt. Und die SPD war schon im Oktober 1918 an der Regierung beteiligt.

Die SPD, die im vorigen Jahrhundert von der Arbeiterklasse selbst gegründet worden war, deren Führung 1914 verraten hatte, die die Internationalisten um die Spartakisten und die Linksradikalen sowie auch die Zentristen herausgeschmissen hatte, und seitdem kein proletarisches Leben mehr in sich barg, die jetzt schon seit Kriegsbeginn die imperialisti­sche Politik unterstützte, sollte nun auch im revolutionären Ansfürm des Proletariats gegen das kapitalistische Gebilde gegen die revolu­tionäre Erhebung der Arbeiterklasse antreten.

Zum ersten Mal konnte das Kapital eine frühere, mittlerweile in das Lager des Kapitals übergewechselte "linke" Partei an die Regie­rung holen - um in dieser revolutionären Situation den kapitalistischen Staat gegen die Arbeiterklasse zu schützen. Während sich viele Arbeiter dadurch Sand in die Augen streuen lassen sollten, erkannten die Revolu­tionäre sofort die neue Rolle der Sozialdemo­kratie. Rosa Luxemburg schrieb: "Der Regie­rungssozialismus stellt sich mit seinem jetzi­gen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg" (Oktober 1918).

Seit Januar 1918, als der erste Arbeiterrat in den Massenstreiks in Berlin entstanden war, trafen sich regelmässig geheim revolutio­näre Obleute und führende Spartakisten. Die revolutionären Obleute standen der USPD sehr nahe. Auf dem Hintergrund der weiter ansteigenden Kampfbereitschaft, der zusam­menbröckelnden Front, dem Drang der Arbei­ter nach Taten fingen sie Ende Oktober nach der oben erwähnten Konferenz der Revolutio­näre an, in einem Aktionsausschuss konkrete Pläne für einen Aufstand zu erörtern.

Am 23. Oktober war Liebknecht aus dem Gefängnis entlassen worden. Mehr als 20.000 Arbeiter begrüssten ihn bei seiner Ankunft in Berlin.

Nachdem die Regierung auf Drängen der SPD die Angehörigen der russischen Bot­schaft aus Berlin ausgewiesen hatte und von den Revolutionären Versammlungen anlässlich der russischen Revolution organisiert werden sollten, diskutierte der Aktionsausschuss über die Lage. Liebknecht drängte auf einen Gene­ralstreik, auf Massendemonstrationen, die sich anschliessend bewaffnen sollten. In einer Sitzung der revolutionären Obleute am 2. November schlug Liebknecht den 5 Novem­ber vor, die Parolen sollten sein: „sofortiger Frieden und Aufhebung des Belagerungszu­standes, Deutschland sozialistische Republik, Bildung einer Regierung der Arbeiter- und Soldatenräte“ (Drabkin S. 104).

Die revolutionären Obleute, die meinten, die Lage sei noch nicht reif, plädierten für weiteres Abwarten. Unterdessen warteten die Mitglieder der USPD in den Städten auf weitere Instruktionen, denn man wollte nicht vor Berlin losschlagen. Die Nachricht über einen bevorstehenden Aufstand wurde jedoch bis in andere Städte des Reichs verbreitet. Dies sollte die Ereignisse in Kiel fordern.

Als am 3. November in Kiel die Flotte zu weiteren Gefechten auslaufen sollte, erhoben sich die Matrosen und meuterten. Sofort wurden Soldatenräte gegründet, denen im gleichen Atemzug die Gründung von Arbei­terräten folgte. Die Führung des Militärs erwog, Kiel zu bombardieren. Aber nachdem sie erkannt hatte, dass die Meuterei sich nicht mehr gewaltsam unterdrücken liess, schickten sie ihr trojanisches Pferd - den SPD-Führer Noske. Er schaffte es nach seiner Ankunft in Kiel, sich in den Arbeiterrat einzuschmuggeln.

Aber gleichzeitig hatten die Kieler Arbei­ter- und Soldatenräte ein Signal gesetzt. Sie bildeten massive Delegationen von Arbeitern und Soldaten, die sich in andere Städte bega­ben. Riesige Delegationen wurden nach Ham­burg, Bremen, Flensburg, ins Ruhrgebiet, gar bis nach Köln geschickt, die dort vor Ver­sammlungen der Arbeiter sprachen und zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aufriefen. So zogen Tausende von Arbeiter und Matrosen von den norddeutschen Städten auch nach Berlin und in andere Städte in die Provinz. Dort wurden viele von ihnen zu­nächst von regierungstreuen Soldaten verhaf­tet (über 1300 alleine am 6. Nov in Berlin), in Kasernen gesteckt - von wo sie allerdings ihre Agitation fortsetzten.

Innerhalb von einer Woche waren in den Grossstädten Deutschlands überall Arbeiter­- und Soldatenräte gegründet worden.

Die Arbeiter hatten die Ausdehnung ihrer Bewegung selber in die Hände genommen. Nicht Gewerkschaften oder parlamentarischen Vertretern hatten sie ihr Schicksal überlassen, sondern sie hatten ihren Kampf selbst in die Hand genommen. Nicht mehr nach Branchen, isoliert voneinander, kämpften die Arbeiter, mit jeweils branchenspezifischen Forderun­gen, sondern die Arbeiter einer ganzen Stadt schlossen sich zusammen und steilten ge­meinsame Forderungen auf. Sie handelten selbst und suchten den Anschluss an die Arbei­ter der anderen Städte![1]

Weniger als 2 Jahre später als ihre Klas­senbrüder in Russland stellten die Arbeiter in Deutschland ihre Fähigkeit unter Beweis, ihren Kampf selbst in die Hand zu nehmen.

Bis zum 8. November wurden in nahezu allen Städten - mit Ausnahme Berlins - Arbei­ter- und Soldatenräte (AIS-Räte) errichtet.

Am 8. November meldeten SPD Vertrauensleute:

"Die revolutionäre Bewegung sei nicht mehr aufzuhalten, wenn die SPD sich der Bewegung entgegenstellen wollte, würde sie einfach überrannt ".

Nachdem die ersten Nachrichten aus Kiel am 4. November in Berlin eintrafen, schlug Liebknecht im VoIlzugsausschuss den Aufstand für den 8. November vor. Es war klar, während die Bewegung sich mittlerweile spontan im ganzen Land ausgedehnt hat erforderte der Aufstand in Berlin, dem Sie der Regierung, ein zielgerichtetes, planmässiges, die ganze Kraft bündelndes Vorgehen der Arbeiterklasse. Der Vollzugsrat zögerte weiter. Erst nachdem zwei Mitglieder des Vollzugsrates, die im Besitz der Aufstandpläne waren, am 8. November verhaftet worden wurden, entschloss man sich, am nächsten Tag loszuschlagen. Die Spartakisten erliessen am 8. November 1918 folgenden Aufruf:

"Jetzt, da die Stunde des Handelns gekommen ist, darf es kein Zurück mehr geben. Die gleichen "Sozialisten", die 4 Jahre lang der Regierung Zuhälterdienste geleistet haben, setzen alles daran, um Euren Kampf zu schwächen, um die Bewegung abzuwiegeln.

Arbeiter und Soldaten! Was Euren Genossen und Kameraden in Kiel, Hamburg, Bremen, Lübeck, Rostock, Flensburg, Hannover, Magdeburg, Braunschweig, München und Stuttgart gelungen ist: Das muss auch Euch gelingen. Denn von dem was Ihr erringt, von der Zähigkeit und dem Erfolge Eures Kampfes, hängt auch der Sieg Eurer dortigen Brüder ab, hängt der Erfolg des Proletariats der ganzen Welt ab. Soldaten! Handelt wie Eure Kameraden von der Flotte, vereinigt Euch mit Euren Brüdern im Arbeitskittel. Lasst Euch nicht gegen Eure Brüder gebrauchen, folgt nicht den Befehlen der Offiziere, schiesst nicht auf die Freiheitskämpfer. Arbeiter und Soldaten! Die nächsten Ziele Eures Kampfes müssen sein:

1. Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen.

2. Aufhebung aller Einzelstaaten und Beseitigung aller Dynastien

3. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, Wahl von Delegierten hierzu in allen Fabri­ken und Truppenteilen.

4. Sofortige Aufnahme der Beziehungen mit den übrigen deutschen Arbeiter- und Solda­tenräten.

5. Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte.

6. Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, insbesondere mit der russischen Arbeiterrepublik.

Hoch die sozialistische Republik!

Er lebe die Internationale!

Die Gruppe Internationale (Spartakus gruppe) (8. November).

Die Ereignisse des 9. November

In den Morgenstunden des 9. November begann in Berlin der revolutionäre Aufstand.

"Arbeiter, Soldaten, Genossen!

Die Entscheidungsstunde ist da! Es gilt der historischen Aufgabe gerecht zu werden….

Wir fordern nicht Abdankung einer Person, sondern Republik!

Die sozialistische Republik mit all ihren Konsequenzen. Auf zum Kampf für Frieden, Freiheit und Brot.

Heraus aus den Betrieben! Heraus aus den Kasernen! Reicht Euch die Hände! Es lebe die sozialistische Republik."

(Flugblatt der Spartakisten)

Hunderttausende Arbeiter folgten den Auf­rufen der Spartakusgrupppe und des Vollzugsausschusses, legten die Arbeit nieder und strömten in riesigen Demonstrationszügen in das Zentrum der Stadt. An der Spitze mar­schierten bewaffnete Arbeitergruppen. Die grosse Mehrheit der Truppen schloss sich den demonstrierenden Arbeitern an, verbrüderten sich mit ihnen. Am Mittag war Berlin in den Händen der revolutionären Arbeiter und Soldaten. Wichtige Punkte wurden von den Arbeitern besetzt. Eine Kolonne demonstrie­render Arbeiter und Soldaten zog vor das Schloss. Dort sprach Liebknecht:

"Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen…. Wenn auch das Alte niedergeris­sen ist, dürfen wir doch nicht glauben, dass unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen…. Wir reichen (den Arbeitern der anderen Länder) die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf….“

"Ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland".

(Liebknecht am 9. November).

Liebknecht warnte die Arbeiter davor, bei dem Erreichten stehenzubleiben, er rief sie zur Übernahme der Macht auf und zum inter­nationalen Zusammenschluss der Arbeiterklas­se.

Am 9. November hatte das alte Regime das Schlachtfeld ohne Anwendung von Ge­walt geräumt. Allerdings geschah das nicht, weil es vor Blutvergiessen zurückscheute - es hatte schliesslich Millionen Menschenleben· auf dem Gewissen, sondern weil ihm die Revolution die Soldaten genommen hatte, die auf das Volk schiessen konnten. Ähnlich wie Russland im Februar 1917, als sich die Soldaten auf die Seite der kämpfenden Arbei­ter schlugen, sollte auch in Berlin die Reakti­on der Soldaten im Kräfteverhältnis ein wich­tiger Faktor sein. Aber erst indem sich die Arbeiter selbst organisierten, aus den Fabri­ken rauszogen und "die Strasse besetzten", sich massiv zusammenschlossen, konnte der "Knoten" der Soldaten gelöst werden. Sie liessen sich von den Arbeitern überzeugen, anstecken, um sich dann mit ihnen zu verbrü­dern. Das zeigt die führende Rolle der Arbei­terklasse auf!

Am Nachmittag des 9. Novembers kamen Tausende Delegierte im Zirkus Busch zusam­men. R. Müller, ein führendes Mitglied der revolutionären Obleute rief dazu auf, dass "am 10. November in allen Betrieben und Trup­penteilen Berlins die Wahl der Arbeiter- und Soldatenräte durchgeführt werden sollte. Die gewählten Räte sollten sich um 17.00 h im Zirkus Busch versammeln, um die provisori­sche Regierung zu wählen. Je 1000 Arbeiter und Arbeiterinnen hatten ein Mitglied des Arbeiterrates zu wählen, ebenso alle Solda­ten je Bataillon ein Mitglied des Soldatenra­tes. Kleinere Betriebe (unter 500 Beschäftig­te) wählten je einen Delegierten. Die Ver­sammlung bestand auf Berufung der Machtorgane durch eine Räteversammlung " (Antrag R. Müller)

Die Arbeiterklasse hatte die ersten Schritte unternommen, um eine Doppelmacht aufzu­bauen. Würden sie soweit kommen können wie ihre russischen Klassenbrüder? Die Spartakisten bestanden darauf, dass der Druck und die Initiative aus den örtlichen Räten verstärkt werden müsse. Die lebendige De­mokratie der Arbeiterklasse, aktive Selbstbe­teiligung der Arbeiter, Vollversammlung in den Fabriken, Ernennung von Delegierten, die vor diesen Vollversammlungen verantwortlich und von ihnen abwählbar waren! Das sollte die Praxis der Arbeiterklasse sein.

Revolutionäre Arbeiter und Soldaten be­setzten am Abend des 9. November die Druc­kerei des "Berliner-Lokal-Anzeigers" und druckten die erste Nummer der "Rote Fahne". Diese erste Nummer warnte: „Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre verraten haben. Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten! Es lebe die Revolution. Es lebe die Internationale.“

Die Arbeiter griffen nach der Macht – die Kräfte der Bourgeoisie standen Gewehr bei Fuss

Der 1. Berliner Arbeiter- und Soldatenrat (genannt Vollzugsausschuss) verstand sich schnell als Organ der Macht. In seiner ersten Bekanntmachung vom 11. November hatte er sich als oberste Kontrollinstanz aller Kom­munal-, Landes-, Reichs- und Militärbehör­den konstituiert.

Aber die herrschende Klasse überlässt na­türlich der Arbeiterklasse nicht freiwillig und ohne erbittertsten Widerstand das Feld.

Denn während Liebknecht vor dem Schloss die sozialistische Republik verkündet hatte, hatte gleichzeitig Prinz Max von Baden abge­dankt; er übertrug die Regierungsgeschäfte an Ebert, den er zum Reichskanzler ernannte. Die SPD proklamierte "die freie deutsche Republik".

Während die SPD offiziell die Regie­rungsgeschäfte übernahm und sofort zu "Ruhe und Ordnung" aufrief, "freie Wahlen" an­kündigte, hatte sie gespürt, dass sie am besten der Bewegung entgegentreten könnte, indem sie sie von innen her untergraben sollte.

Sie proklamierte einen eigenen Arbeiter- ­und Soldatenrat, der nur aus SPD Funktionären bestand und von niemanden eine Legitimation besass.

Nachdem dieser sich als NS-Rat ausgab, behauptete die SPD dann, dass die Bewegung, die schon längst in Gang gekommen war, von der SPD und der USPD gemeinschaftlich geleitet wurde.

Diese Taktik, die Bewegung einzukreisen und von Innen her zu zerstören, ist seitdem immer wieder von den Linken mit ihren selbsternannten Räten, selbsternannten Streikkomitees, Koordinationen usw. ange­wandt worden. Die Sozialdemokratie und ihre späteren Nachfolger, die linkskapitalistischen Gruppierungen der sogenannten extremen Linken sind mittlerweile darauf spezialisiert, sich sofort an die Spitze einer Bewegung zu stellen, so zu tun, als seien sie deren Vertreter. Während sie so im Vollzugsrat selber den Wind aus den Segeln nehmen wollten, griffen sie die Arbeiterklasse jedoch auch von der Regierung aus an, an deren Spitze sie sich schnell stellten. Die SPD verkündete, sie werde eine gemeinsame Regierung mit der USPD bilden. Die USPD willigte in die Re­gierungsbildung mit der SPD ein, wogegen die Spartakisten sie ablehnten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Spartakisten noch Mit­glieder der USPD. In den Augen der meisten Arbeiter war der Unterschied zwischen USPD und Spartakisten hier verwischt. Die Sparta­kisten hatten jedoch eine klare Haltung zur Regierungsbildung. Sie hatten die Falle gero­chen! Man setzt sich nicht mit dem Klassen­feind in ein Boot. Das beste Mittel, um Illu­sionen der Arbeiter über eine linkskapitalisti­sche Partei zu bekämpfen, ist nicht, wie seitdem immer wieder die Trotzkisten und andere linke Gruppierungen behaupten, sie erst an die Regierung zu bringen, um ihr dort den Schleier der Lügen abzuziehen. Um das Bewusstsein voranzubringen, ist die schärfste Abgrenzung erforderlich und nichts anderes.

Am Abend des 9. November liessen sich die SPD und die USPD-Führung als Volksbeauf­tragte, als vom Vollzugsrat getragene Regie­rung proklamieren.

Die SPD hatte ihre ganze Cleverness ge­zeigt. Sowohl von der Regierungsbank aus wie auch im Namen des Vollzugsrates konnte sie gegen die Arbeiter vorgehen. Ebert war Reichskanzler wie auch Volksbeauftragter (d.h. vom Vollzugsrat gewählt), konnte so den Anschein erwecken, auf Seite der Revolution zu stehen. Dass er das Vertrauen des Kapitals besass, stand fest; aber mit soviel Cleverness das Vertrauen des Vollzugsrates erschlichen zu haben, zeigt, wie betrügerisch die linken Kräfte des Kapitals vorgehen können. Schauen wir an, wie geschickt, die SPD auf der Versammlung des Berliner NS-Rates am 10. November vorging. Ca 3000 Men­schen waren anwesend, es gab keine Kontrol­le der Mandate, die Soldatenvertreter waren in der Mehrheit. Ebert sprach als erster. Der "alte Bruderstreit" sei beendet, SPD und USPD hätten eine gemeinsame Regierung gebildet, jetzt ginge es darum, „gemeinsam den Aufbau der Wirtschaft auf den Grundsät­zen des Sozialismus vorzunehmen. Es lebe die Einigkeit der deutschen Arbeiterklasse und der deutschen Soldaten“. Im Namen der USPD sprach Haase von der "Einheit“. „Wir wollen die Errungenschaften der grossen sozialistischen Revolution befestigen…. Die Regierung wird eine sozialistische sein.

"Die bis vorgestern noch gegen die Revo­lution gearbeitet haben. sind nun nicht mehr dagegen" (E. Barth, 10. November 1918).

"Es soll alles getan werden, damit sich die Konterrevolution nicht erhebe.“

Während die SPD schon alle Register zog, um die Arbeiter zu täuschen, trug die USPD das Ihre zur Deckung dieses Manövers bei. Die Spartakisten hatten die Gefahren erkannt:

Liebknecht sprach auf dieser Versammlung:

"Ich muss Wasser in den Wein Eurer Be­geisterung schütten. Die Gegenrevolution ist bereits auf dem Marsche, sie ist bereits in Aktion…. Ich sage Euch: Feinde ringsum!

(er nennt die konterrevolutionären Absich­ten der Sozialdemokratie.) Ich weiss, wie unangenehm Ihnen diese Störung ist, aber wenn Sie mich erschiessen, ich werde das aussprechen, was ich für notwendig halte"

Die Spartakisten warnten vor den Feinden und bestanden auf der Notwendigkeit des Sfürzes des Systems. Nicht Auswechslung von Personen sei angesagt, sondern Überwin­dung des Systems selber.

Während die SPD und in deren Schlepp­tau die USPD so taten, als ob es mit der Auswechslung der Führer, mit dem Einset­zen einer neuen Regierung getan sei, nur um die alten Machtstrukfüren, um das System intakt zu lassen, riefen die Revolu­tionäre zur Fortführung des Kampfes auf.

Auch hier lieferte die SPD eine Lehrstunde für die Vorgehensweise der Verteidiger des Kapitals. Diese Vorgehensweise haben sie immer wieder praktiziert, sie lenken die Wut auf Führerpersönlichkeiten, um das System unangetastet zu lassen.[2]

Die SPD trommelte auf die Arbeiter in ih­rer Zeitung "Vorwärts" ein. Am 10. November schrieb er unter dem Titel: "Einigkeit: Kein Bruderkampf“

"Der gestrige Tag (9. November) hat in der Arbeiterschaft das Gefühl für die Not­wendigkeit innerer Einheit hoch emporlodern lassen. Aus fast allen Städten, aus ganzen Ländern, aus ganzen Bundesstaaten hören wir, dass alte Partei und Unabhängige sich am Tage der Revolution wieder zusammengefun­den und zu der alten geschlossenen Partei geeint haben.... Das Versöhnungswerk darf nicht an einigen Verbitterten scheitern, deren Charakter nicht stark genug ist, um alten Groll überwinden und vergessen zu können. Soll nun der Welt nach solchem herrlichen Triumph (über das alte Regime) das Schau­spiel der Selbstzerfleischung der Arbeiter­schaft in sinnlosem Bruderkampf geboten werden?" (Vorwärts, 10.11.1918).

Die zwei Waffen des Kapitals: Politische Sabotage

Die SPD brachte ein ganzes Arsenal von Waffen gegen die Arbeiterklasse ins Feld. Neben dem Ruf nach "Einheit" spritzte sie vor allem das Gift der bürgerlichen Demokra­tie. Die Einführung des "allgemeinen, glei­chen, direkten und geheimen Wahlrechts aller erwachsenen Männer und Frauen wurde als die wichtigste politische Errungenschaft der Revolution und zugleich als das Mittel dar­gestellt, die kapitalistische Gesellschaftsord­nung nach dem Willen des Volkes in planmässiger Arbeit zur sozialistischen umzuwan­deln". Mit der Ausrufung der Republik, da­durch, dass SPD-Minister an der Macht seien, sei das Ziel, der Republik erreicht, und mit der Abdankung des Kaisers und der Ernen­nung Eberts zum Reichskanzler sei "der freie Volksstaat" da. Dabei war in Deutschland nur ein Anachronismus (an der Staatsspitze hatte noch ein Kaiser gestanden, obwohl die politi­sche Herrschaft längst in den Händen der bürgerlichen Klasse lag) beiseite geschafft worden. An der Staatsspitze stand jetzt kein Monarch mehr, sondern ein "Bürgerlicher".

Der Ruf nach "demokratischen Wahlen" war direkt gegen die Arbeiterräte gerichtet. Die SPD bombardierte die Arbeiter mit einer verlogenen Propaganda: "Wer Brot will, muss den Frieden wollen. Wer den Frieden will, muss die Konstituante wollen, die freigewählte Vertretung des ganzen deutschen Volkes. Wer die Konstituante verhindert oder hinauszö­gert, bringt sie um Frieden, Freiheit und Brot, raubt ihnen die unmittelbaren Früchte des Revolutionssieges, ist ein Konterrevolutionär.

Die Sozialisierung wird und muss kom­men... durch den Willen des arbeitenden Volkes, das grundsätzlich die Wirtschaft beseitigen will, die vom Streben des einzelnen nach Profit bewegt wird. Aber sie wird tau­sendmalleichter durchzusetzen sein, wenn die Konstituante sie beschliesst, als wenn die Diktatur irgendeines Revolutionsausschusses sie verordnet ...

Der Schrei nach der Konstituante ist der Schrei nach dem aufbauenden, schaffenden Sozialismus, nach jenem Sozialismus, der den Volkswohlstand mehrt, Volksglück und Volks­freiheit erhöht und für den allein sich zu kämpfen lohnt.

Die deutsche Einheit erfordert die Natio­nalversammlung. Nur unter ihrem Schutz kann sich die neue deutsche Kulfür entfalten, die stets unser Ziel und der Kern unseres nationalen Wollens gewesen ist.

Die Errungenschaften der Revolution sind im Willen des ganzen Volkes so fest verankert, dass nur Angsthasen vor der Konterrevolution Alpdrücken bekommen könnten." (Flugblatt der SPD)

Wenn wir hier so ausführlich die SPD zi­tieren, dann damit man ein wirkliches Bild von der Spitzfindigkeit und Verschlagenheit der Linken bekommt.

Wir haben hier ein seitdem klassisches Merkmal des Klassenkampfes in den hochindustrialisierten Ländern. Wenn die Arbeiterklasse ihre Kraft und ihren Zusammenschluss anstrebt, sind es immer wieder die Kräfte der Linken gewesen, die mit cleverster Demago­gie auftreten, vorgeben, im Namen der Arbei­ter zu handeln, die die Kämpfe von innen her zu sabotieren versuchen und die Bewegung daran hindern, einen entscheidenden Schritt voranzugehen. Es stand hier der revolutionä­ren Arbeiterklasse in Deutschland ein un­gleich stärkerer Gegner gegenüber als den Arbeitern in Russland. Mit einer radikalen Sprache bezichtigte die SPD im Namen der Revolution die Spartakisten als Konterrevolutionäre. Um die Arbeiterklasse zu täuschen sind die Linken gezwungen, eine radikale Sprache zu sprechen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Gleichzeitig war damals schon deutlich, wie stark die SPD in den Staat integriert war, dass sie nicht als ausserhalb des Staates stehende Partei gegen die Arbeiter vorging, sondern gar von dessen Spitze aus.

Die ersten Tage revolutionärer Auseinandersetzungen zeigten damals schon ein allgemeines Merkmal des Klassenkampfes in den hochindustrialisierten Ländern auf. Eine mit allen Wassern gewaschene Bourgeoisie prallte mit einer starken Arbeiterklasse zusammen. Es war eine Illusion zu glauben, der Arbeiterklasse könnte der Sieg leicht in die Hände fallen.

Wie wir später sehen werden, traten als zweiter Stützpfeiler des Kapitals die Gewerkschaften auf, die sofort nach Ausbruch der Bewegung eine Arbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern eingingen. Nachdem sie in Krieg die Produktion für den Krieg organisiert hatten, sollten sie nun mit der SPD die Niederschlagung der Bewegung eintreten. Einige Konzessionen wie unter anderem der 8-Stunden- Tag wurden gemacht, um durch das Zugestehen von ökonomischen Verbesserungen die Arbeiter von einer weiteren Radikalisierung abzuhalten.

Aber selbst die politische Sabotage, die Untergrabung des Bewusstseins der Arbeiter durch die SPD reichte nicht aus, denn gleichzeitig schlug die SPD in Absprache mit den Militärs eine militärische Vorgehensweise ein.

….Repression

Der Oberbefehlshaber des Militärs, Gene­ral Groener, der im Krieg tagtäglich mit SPD und Gewerkschaften zusammenarbeitete, denn er war für Rüstungsvorhaben verantwortlich, erklärte:

"Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen den Bolschewismus. An eine Wiederein­führung der Monarchie war nicht zu denken…. Ich habe dem Feldmarschall den Rat gege­ben, nicht mit der Waffe die Revolution zu bekämpfen, weil zu befürchten sei, dass bei der Verfassung der Truppen eine solche Bekämp­fung scheitern würde. Ich habe ihm vorge­schlagen, die Oberste Heeresleitung möge sich mit der SPD verbünden, da es zurzeit keine Partei gebe, die Einfluss genug habe im Volke. besonders bei den Massen, um eine Regierungsgewalt mit der Obersten Heereslei­tung wieder herzustellen. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden, mit den äussersten Radikalen zusammenzugehen, war ausgeschlossen. Zunächst handelte es sich darum, in Berlin den Arbeiter- und Soldaten­räten die Gewalt zu entreissen. Zu diesem Zwecke wurde ein Unternehmen geplant. 10 Divisionen sollten in Berlin einmarschieren. Ebert war damit einverstanden…. Wir haben ein Programm ausgearbeitet, das nach dem Einmarsch eine Säuberung Berlins und die Entwaffnung der Spartakisten vorsah. Das war auch mit Ebert besprochen, dem ich dafür besonders dankbar bin wegen seiner absoluten Vaterlandsliebe…. Dieses Bündnis war geschlossen gegen die Gefahr der Bol­schewiken und gegen das Rätesystem" (Groener, Oktober, November 1925, Zeugen­aussage). Zu diesem Zweck telefonierte Groener täglich abends mit Ebert und seinen Konsor­ten auf geheimen Leitungen zwischen 23.00 und 1.00 Uhr nachts und traf Absprachen.

Im Gegensatz zu Russland, wo die Macht im Oktober in die Hände der Arbeiter nahezu unblutig fiel, schickte sich die Bourgeoisie in Deutschland sofort an, neben der politischen Sabotage einen Bürgerkrieg auszulösen. Vom ersten Tag an traf sie alle Vorbereitungen für eine militärische Niederschlagung.

Die Intervention der Revolutionäre

Für die Einschätzung der Intervention der Revolutionäre müssen wir jeweils ihre Fähig­keit überprüfen, die Bewegung der Klasse, das Kräfteverhältnis, das "Erreichte", die weiteren Perspektiven richtig einzuschätzen.

Was sagten die Spartakisten?

„Die Revolution hat begonnen. Nicht Ju­bel über das Vollbrachte, nicht Triumph über den niedergeworfenen Feind ist am Platz, sondern strengste Selbstkritik und eiserne Zusammenhaltung der Energie, um das be­gonnene Werk weiterzuführen. Denn das Vollbrachte ist gering, und der Feind ist NICHT niedergeworfen. Was ist erreicht? Die Monarchie ist hinweggefegt, die oberste Regierungsgewalt ist in die Hände von Arbei­ter- und Soldatenvertretern übergegangen. Aber die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus.... Die Abschaffung der Kapitalherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesell­schaftsordnung dies und nichts Geringeres war das geschichtliche Thema der gegenwärti­gen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar De­krete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewusste Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volks­massen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.

Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbei­ter- und Soldatenräte, Sicherung des Revolu­tionswerkes vor seinen lauernden Feinden: dies die Richtlinie für alle Massnahmen der revolutionären Regierung ••• Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte, damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entste­hung durch bewussten Prozess der Selbstver­ständigung über Ziele, Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird;

••• ständige Tagung dieser Vertretungen der Masse und Übertragung der eigentlichen politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere Basis des Arbeiter- und Soldatenrats;

••• schleunigste Einberufung des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revo­lution als ihre Schutzwehr und ihre Stosskraft zu stellen;

••• unverzügliche Organisierung nicht der „Bauern", sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch ausserhalb der Revolution stehen;

••• Bildung einer proletarischen Roten Garde zum ständigen Schutz der Revolution und Heranbildung der Arbeitermiliz, um das gesamte Proletariat zur jeder Zeit bereiten Wacht zu gestalten;

••• Verdrängung der übernommenen Orga­ne des absolutistischen militärischen Polizei­staates von der Verwaltung, Justiz und Armee,

••• sofortige Einberufung des Arbeiter-­Weltkongresses nach Deutschland, um den sozialistischen und internationalen Charakter der Revolution scharf und klar hervorzukeh­ren, denn in der Internationale, in der Weltre­volution des Proletariats allein ist die Zukunft der deutschen Revolution verankert" (Rote Fahne, 18. November 1918).

Zerstörung der Machtposition der Gegen­revolution, Aufbau und Festigung der prole­tarischen Macht - das waren die beiden Auf­gaben, die die Spartakisten mit bemerkens­werter Klarheit in den Vordergrund stellten.

"Das Fazit der ersten Woche der Revolu­tion heisst: Im Staate der Hohenzollern hat sich im wesentlich nichts verändert, die Arbei­ter- und Soldatenregierung fungiert als Stell­vertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor der Arbeiter­masse getragen….

Der reaktionäre Staat der zivilisierten Welt wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Russland, der Ukraine, im Baltikum als Gen­darmen der Reaktion revolutionäre Proletari­er mordeten, und Arbeiter, die dies ruhig geschehen liessen, sind nicht in 24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus gewor­den."

(Rote Fahne, 18. November 1918)

Die Einschätzung der Spartakisten, dass es sich nicht um eine bürgerliche Revolution, sondern um die bürgerliche Konterrevolution handelte, die da auf dem Vormarsch war, ihre Fähigkeit, die Lage mit Überblick, Weitblick einzuschätzen, ist ein schlagender Beweis für die Notwendigkeit revolutionärer Organisa­tionen.

Die Arbeiterräte – Speerspitze der Revolution….

Wie weiter oben beschrieben, waren in den ersten Novembertagen überall in den Gross­städten Arbeiter- und Soldatenräte entstanden.

Auch wenn die Räte "plötzlich" auftauchten, kam ihr Entstehen für die Revolutionäre alles andere als unerwartet. In Russland waren sie ebenfalls in den revolutionären Kämpfen aufgetaucht, genauso wie in Österreich­-Ungarn. Denn die Arbeiterräte sind, wie es die Kommunistische Internationale im März 1919 durch die Stimme Lenins ausdrückte: "die praktische Form, die das Proletariat in den Stand setzt, seine Herrschaft zu verwirkli­chen. Diese Form ist das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats. Diktatur des Proletariats! Das war bisher Latein für die Massen. Mit der Ausbreitung des Sowjetsy­stems in der ganzen Welt ist dieses Latein in alle modernen Sprachen übersetzt worden: die praktische Form der Diktatur ist durch die Arbeitermassen gefunden…."

Das Entstehen von Arbeiterräten spiegelt den Willen der Arbeiterklasse wider, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen.

Als solches können die Arbeiterräte erst entstehen, wenn in der Klasse insgesamt eine Massenaktivität und tiefgreifende Bewusstseinsentwicklung in Gang gekommen ist. Die Arbeiterräte sind insofern nur die Speerspitze einer allumfassenden Bewegung der Klasse, und sie stehen und fallen mit der Gesamtak­tivität der Klasse. Wenn die Aktivität der Arbeiterklasse in den Betrieben nachlässt, wenn die Kampfbereitschaft insgesamt ab­flaut, wenn das Bewusstsein der Klasse zu­rückweicht, haben auch die Arbeiterräte keine Überlebenschance.

Sie sind das Mittel, die Kämpfe der Klasse zu zentralisieren und stellen den Hebel dar, mit dem die Arbeiterklasse ihren Kampf zur Zerschlagung des bürgerlichen Staats führt.

In vielen Städten ergriffen die Arbeiterräte entschlossen Massnahmen, um die Staatsge­walt unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Arbeiter versuchten vom ersten Tag der Exi­stenz der Arbeiterräte an, den bürgerlichen Staatsapparat lahmzulegen und ihre eigenen Entscheidungen an Stelle der bürgerlichen Regierung zu treffen und durchzuführen. Es war der Beginn einer Doppelherrschaft, genau wie in Russland nach der Februarrevolution 1917. Diese Entwicklung gab es überall, aber in Berlin, wo die Regierung des Kapitals sass, kam sie am deutlichsten zum Vorschein.

….und die Sabotage der Bourgeoisie

Weil die Arbeiterräte der Dreh- und An­gelpunkt der Zentralisierung der Arbeiter­kämpfe sind, weil in ihnen die Initiative der Massen zusammenfliesst, ist es für die Arbei­terklasse lebenswichtig, die Kontrolle über die Arbeiterräte zu behalten.

In Deutschland sollte die Kapitalisten klasse ein trojanisches Pferd - die SPD - gegen die Arbeiterräte einsetzen. Die SPD war bis 1914 eine Arbeiterpartei gewesen, aber jetzt be­kämpfte sie die Räte von Innen und versuchte sie von ihren wirklichen Zielen abzulenken ­all das geschah "im Namen der Arbeiterklasse".

Schon bei der Zusammensetzung der Räte wandte sie alle Tricks an, um ihre Delegierte in die Räte zu bekommen. Der Vollzugsrat war anfänglich aus jeweils 6 Vertretern der SPD und USPD sowie 12 Soldatenvertretern zusammengesetzt. Jedoch hatte es die SPD in Berlin geschafft, unter dem Vorwand der notwendigen Stimmenparität und der Einig­keit der Arbeiterklasse eine gleichgrosse An­zahl von Vertretern in den Vollzugsrat zu schleusen. So entstand die gleichmässige Verteilung der Mandate zwischen USPD und SPD - ohne durch irgendeine Versammlung in der Form legitimiert zu sein. Mit der Taktik des Parteienproporzes erhielt die SPD in vielen Räten mehr Stimmen als es der tat­sächlichen Gewichtung entsprach. In der Provinz sah es nicht viel anders aus. In etwa 40 Grossstädten standen fast 30 Arbeiter- und Soldatenräte unter dem behemchenden Einfluss der SPD- und USPD-Führer. Nur in den Städten, wo die Spartakisten einen grösseren Einfluss hatten, konnten die Arbeiterräte eine radikale Richtung einschlagen.

Was die Aufgaben der Arbeiterräte angeht, versuchte die SPD ihnen die Spitze zu bre­chen. Während die Räte von ihrem Wesen her danach streben, als Gegenpol zum bürgerli­chen Staatsapparat zu wirken, diesen zu zer­schlagen, versuchte die SPD, die Räte dem bürgerlichen Staatsapparat unterzuordnen. Einmal dadurch, dass die Räte sich nur als Übergangsorgan bis zur Einberufung der bürgerlichen Nationalversammlung auffassen sollten, dann indem sich die Räte für alle Volksschichten öffnen sollten. Die SPD in­szenierte in vielen Städten sog. "Wohlfahrtsausschüsse", in der alle Teile der Bevölkerung, vom kleinen Geschäftsmann, Bauern bis zum Arbeiter "gleichberechtigt" integriert wurden. Dadurch sollte das Entste­hen von Arbeiterräten, die dem bürgerlichen Staat entgegenwirken, vereitelt werden.

Während die Spartakisten von Anfang an auf die Bildung von Roten Garden drängten, um so die Massnahmen der Arbeiterräte not­falls mit Waffengewalt durchzusetzen, torpe­dierte die SPD dies in den Soldatenräten mit dem Vorwand, dass "damit ein Misstrauen gegenüber den Soldaten zum Ausdruck kä­me".

Im Berliner Vollzugsrat wie auch in allen anderen Räten kam es ständig zu heftigen Auseinandersetzungen über die zu treffenden Massnahmen. Zwar kann man nicht davon ausgehen, dass die gewählten Vertreter alle über ausreichend Klarheit und Entschlossen­heit zu allen Fragen verfügten, aber die SPD unternahm alles, sowohl aus dem Innern der Räte selbst wie auch von "offizieller Regie­rungsseite" aus, um die Autorität der Räte und die getroffenen Entscheidungen zu unterlau­fen. Einige Beispiele:

- Ordnete der Vollzugsrat etwas an, erliess der Rat der Volksbeauftragten (von der SPD geführt) entsprechende Gegenmassnahmen.

- Der Vollzugsrat besass nie ein eigene Presse, er musste bei der bürgerlichen Presse um Platz für die Veröffentlichung seiner Beschlüsse betteln. Daran hatten die SPD­-Vertreter kräftig mitgewirkt.

- Als im November und Dezember Streiks in Berliner Betrieben ausbrachen, sprach sich der Vollzugsrat unter dem Einfluss der SPD gegen diese Streiks aus, obwohl sie gerade die Stärke der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen konnten und die Fehlentscheidungen des Vollzugsrats selbst hätten korrigieren können.

- Schliesslich drohte die SPD von Regie­rungsseite aus, die Alliierten würden in Deutschland militärisch einmarschieren, um eine Bolschewisierung Deutschlands zu ver­hindern. Und wenn die Arbeiter- und Solda­tenräte zu weit gingen, würden keine Le­bensmittel von den USA an die hungernde Bevölkerung geliefert.

Von direkter Einschüchterung von Aussen, Sabotage vom Innern her, Entartung des Wesens der Räte selber bis zu physischen Angriffen gegen die Räte - die SPD liess keine Mittel aus.

Von Anfang an aber versuchte die SPD die Räte von der Basis in den Betrieben selbst abzukoppeln.

Die Räte setzen sich zusammen aus Dele­gierten. Diese Delegierten sind von den Voll­versammlungen in den Betrieben zu wählen. Sie müssen sich gegenüber ihnen verantwor­ten - denn wenn die Arbeiter in den jeweiligen Vollversammlungen nicht mehr selber ent­scheiden können, die Räte sich von der Ak­tivität "der Basis" lösen, dann wird ihnen selber die Luft ausgehen - und sie werden selber zum Opfer der Konteroffensive der Bourgeoisie. Deshalb drängte die SPD z.B. sofort auf die Zusammensetzung gemäss Par­teienproporz - anstatt auf der Verantwortbar­keit und Rechenschaftspflicht der Delegierten gegenüber ihren jeweiligen Vollversammlun­gen in den Betrieben. Die Rechenschaft ge­genüber den sie wählenden Versammlungen ist kein förmliches Prinzip der Arbeiterdemo­kratie, sondern der Hebel, mit der die Arbei­terklasse von der kleinsten Zelle aus ihren Kampf selber mitsteuern und lenken kann. Die Erfahrung in Russland hatte schon gezeigt, wie elementar die Aktivität in den Fabriken, die Aktivität der Fabrikkomitees war. Wenn sich die Arbeiterräte nicht gegenüber den Vollversammlungen verantworten müssen, sich von ihnen loslösen, müssen die Arbeiter in den Betrieben neue Delegierte wählen, ihren Druck erhöhen, ihren Kampf "von unten" intensivieren.

Schon in Russland hatte Lenin erkannt:

"Um kontrollieren zu können, muss man die Macht haben. wenn ich aber diese Grundbedingung durch die Kontrolle verdec­ke, dann sage ich die Unwahrheit und arbeite den Kapitalisten und Imperialisten in die Hände ... Ohne Macht ist die Kontrolle eine kleinbürgerliche Phrase, die den Gang und die Entwicklung der Revolution hemmt" (Lenin, Aprilkonferenz, Referat zur politi­schen Lage, 7. Mai, Werke Bd. 24, S. 220).

Während in Russland in den ersten Wochen nach Februar die Räte, die sich auf die bewaffneten Arbeiter und Soldaten stützte über reale Macht verfügten, besass sie der Berliner Vollzugsrat nicht. Rosa Luxemburg stellte zu Recht fest:

"Der Vollzugsrat der vereinigten Räte Russlands ist - mag man gegen ihn schreiben was man will - freilich ein ander Ding als der Berliner Vollzugsrat. Jener ist Haupt und Hirn einer gewaltigen revolutionär proletarischen Organisation, dieser das 5. Rad am Wagen einer kryptokapitalistischen Regierungsclique, jener ist die unerschöpfliche Quelle proletarischer Allmacht, dieser kraft und orientierungslos, jener ist der lebendige Geist der Revolution und dieser ihr Sakrophag" (Rosa Luxemburg" 12. Dezember 1918).

Der Reichsrätekongress:

Am 23. November rief der Berliner Vollzugsrat zur Abhaltung eines Reichsrätekongresses in Berlin für den 16. Dezember auf. Weil die Bewegung in den Fabriken jedoch noch nicht wirklich voll zu pulsieren angefangen hatte, sollte dieser Versuch der Zusammenballung der Kräfte der Arbeiterklasse in Wirklichkeit zu einem Hebel gegen sie werden. Die SPD setzte durch, dass in den einzelnen Gebieten des Reiches auf je 200.000 Einwohner ein „Arbeiterdelegierter", auf jede 100.000 Soldaten jedoch ein Soldatenvertreter gewählt werden sollte, wodurch die Soldatenvertreter ein übergrosses Gewicht einnehmen konnten. Anstatt die Aktivität der Klasse in den Fabriken entsprechend widerzuspiegeln - lief die Taktik der SPD darauf hinaus den Reichsrätekongress von der Initiative der Klasse abzuschotten.

Den Saboteuren des Klassenkampfes zu folge sollten als "Arbeiterdelegierte" nur "Hand- und Kopfarbeiter" zugelassen werden. Nachdem alle Gewerkschafts- und SPD Parteifunktionäre plötzlich mit ihre "Berufsangabe" auftraten, blieben die Vertreter des Spartakusbundes Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ausgeschlossen. Wir können sehen, während die bürgerlichen Kräfte mit dem Einsatz aller möglichen Tricks immer Zugang zu finden suchen, werden die Revolutionäre, die als solche offen auftreten, an Reden gehindert.

Als der Rätekongress am 16. Dezember zusammentrat, verwarf er zuvor eine Beteiligung russischer Delegierter.

"Bei der Vollversammlung handelt es sich aber nicht um die Beratung internationaler, sonderlich lediglich um deutsche Angelegenheiten, bei deren Beratung natürlich Ausländer nicht mitreden können ... Es handelt sich bei der Delegation um nichts anderes als um bolschewistische Diktaturvertreter" (so rechtfertige der Vorwärts das SPD-Blatt an 11. Dezember 1918 die Entscheidung). Indem dieser Beschluss durchgesetzt wurde, verwarf die SPD sofort den grundlegendsten Charak­ter der Arbeiterräte: dass sie ein Ausdruck der weltweiten proletarischen Revolution sind, die in Russland begonnen hatte. Um die Sabotage des Kongresses fortzu­setzen, brachte die SPD den Kongress dazu, die Nationalversammlung für den 19. Januar 1919 einzuberufen.

Die Spartakisten, die die Gefahren erkannt hatten, riefen zu einer Grossdemo vor dem Kongress auf. Mehr als 250.000 demonstrier­ten unter der Losung: "Für die Arbeiter- und Soldatenräte, gegen die Nationalversamm­lung"!

Während der Kongress dabei war, den In­teressen der Arbeiterklasse entgegenzuarbei­ten, sprach Liebknecht vor der Kongresshalle. "Wir verlangen von dem Kongress, dass er die volle politische Macht zwecks Durchführung des Sozialismus in die Hand nimmt und die Macht nicht einer Nationalversammlung überträgt, die nicht ein Organ der Revolution sein würde. Wir fordern von dem Rätekongress, dass er die Hand nach unseren russi­schen Brüdern ausstreckt und die Delegierten der Russen herüberruft. Wir wollen die Weltrevolution und die Vereinigung der Prole­tarier aller Länder unter Arbeiter- und Solda­tenräten". (17. Dezember 1918).

D.h. die Revolutionäre erkannten die Not­wendigkeit der Mobilisierung der Massen selber Druck ausüben auf die Delegierten, Initiative der Versammlungen in den Betrie­ben, die Selbständigkeit der Räte gegen die bürgerliche Nationalversammlung verteidi­gen, die Verbrüderung mit der internationalen Arbeiterklasse herbeiführen. Aber auch nach der Massendemo verwarf der Kongress wei­terhin die Beteiligung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts - unter dem Vorwand, sie seien keine Arbeiter - während unterdessen die Bourgeoisie ihre Leute in den Kongress eingeschleust hatte. Auf dem Kongress stellten sich die SPD-Vertreter schützend vor die· Armee, um sie vor weiterem Zerfall durch die Soldatenräte zu bewahren.

Der Kongress beschloss alsbald, keine Ar­beiter- und Soldatendelegationen mehr zu empfangen, um sich dem Druck der Arbeiter nicht mehr zu beugen.

Zum Abschluss verbreitete der Kongress noch eine Rauchwolke, indem er über erste Sozialisierungsmassnahmen palaverte, obwohl die Arbeiter noch nicht einmal die Macht ergriffen hatten. "Sozialpolitische Massnah­men in einzelnen Betrieben durchzuführen ist eine Illusion, solange die Bourgeoisie die politische Macht in den Händen hat. Mit diesem Gerede soll vom Endkampf abgelenkt werden" (IKD, Der Kommunist). Die zentrale Frage, Entwaffnung der Konterrevolution, Sturz der bürgerlichen Regierung, wurde dadurch beiseite gedrängt.

Was hätten die Revolutionäre gegen solch eine Entwicklung tun sollen? Otto Rühle, mittlerweile zum ausgesprochenen Rätekom­munist geworden, hatte am 16. Dezember in Dresden gegenüber dem örtlichen Arbeiter- ­und Soldatenrat das Handtuch geschmissen, als dort starke sozialdemokratische Kräfte die Überhand hatten. Die Spartakisten dagegen überliessen nicht dem Feind das Feld. Nach der Verurteilung der Ergebnisse die­ses Reichsrätekongresses, pochten sie auf die Initiative der Arbeiter. "Der Rätekongress hat seine Vollmachten überschritten, hat das Mandat verraten, das ihm von den Arbeiter­- und Soldatenräten eingehändigt war, hat den Boden aufgehoben, auf dem seine Existenz und seine Autorität fusste. Die Arbeiter- und Soldatenräte werden nunmehr mit verzehn­fachter Energie ihre Macht ausbauen und ihr Daseinsrecht…. zu verteidigen haben. Sie werden das gegenrevolutionäre Werk ihrer ungetreuen Vertrauensmänner für null und nichtig erklären…." (Rosa Luxemburg, 20. Dezember 1918).

Das Lebenselixier der Revolution – Die Massenaktivität

Die Orientierung der Spartakisten bestand dann auch darin, die Masseninitiative vor Ort zu intensivieren. Diese Ausrichtung haben die Spartakisten auf dem Gründungskongress der KPD, der nur 10 Tage nach dem Ende des Reichsrätekongresses stattfand, hervorgeho­ben. Wir werden in einem nächsten Artikel näher darauf eingehen.

Die Spartakisten hatten verstanden: Der Puls der Revolution schlägt in den Räten; die proletarische Revolution ist erste Revolution, die von der grossen Mehrheit der Bevölke­rung, von der ausgebeuteten Klasse gemacht wird. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Re­volutionen, die von Minderheiten durchgeführt werden konnten, kann die proletarische nur siegreich sein, wenn sie ständig gespeist, ständig vorangetrieben wird durch die Quelle der Aktivität der ganzen Arbeiterklasse. Die Räte und ihre Delegierte sind kein vom Rest der Klasse isolierter Teil, der sich von diesem abschotten und isolieren muss, oder die den Rest der Klasse in Passivität hält. Nein - die Revolution kann nur vorankommen durch die bewusste, wachsame, aktive und kritische Selbstbeteiligung der Klasse.

Für die Arbeiterklasse hiess dies, dass eine neue Stufe im Kampf eintreten musste, wo der Druck aus den Betrieben verstärkt werden musste. Die verstärkte Agitation der Kommu­nisten in den lokalen A/S-Räten stand für sie als oberste Priorität an. Sie folgten damit der gleichen Politik, wie sie Lenin schon im April 1917, als in Russland eine ähnliche Situation vorhanden war:

"Aufklärung darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und dass daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen lässt, nur in geduldiger, systematischer, be­harrlicher, besonders den praktischen Be­dürfnissen der Massen angepasster Aufklä­rung über die Fehler ihrer Taktik bestehen kann. Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klar­stellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern befreien" (Lenin, Aprilthesen, 4. These, April 1917. Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution) ..

Wir können aber die Dynamik in den Rä­ten nicht wirklich verstehen, wenn wir nicht die Rolle der Soldaten näher beleuchten.

Die revolutionäre Bewegung der Arbei­terklasse war vorangetrieben worden durch den Kampf gegen den Krieg. Dabei hatte der Widerstand der Arbeiter "zu Hause" die Sol­daten "an der Front" infiziert (der Anteil der Arbeiter unter den Soldaten war in Deutsch­land viel grösser als in Russland). Die Meute­reien der Soldaten wie die Erhebungen der Arbeiter hatten schliesslich die Bourgeoisie gezwungen, den Krieg zu beenden. Solange der Krieg dauerte, waren die kriegsmüden Soldaten die besten Verbündeten der Arbeiter. Dank dieses wachsenden Widerstandes ent­stand auch ein günstiges Kräfteverhältnis an der Front "zu Hause". Wie Liebknecht schrieb, destabilisierte das die Armee. Sobald der Krieg jedoch von der Bourgeoisie beendet worden war, kam es zu einer Spaltung inner­halb der Soldaten selbst. "Die Masse der Soldaten ist revolutionär gegen den Milita­rismus, gegen den Krieg und die offenkundi­gen Repräsentanten des Imperialismus; im Verhältnis zum Sozialismus ist sie noch zwiespältig, schwankend, unausgegoren. (Liebknecht, 19. November 1918).

Solange der Krieg fortdauerte und die Truppen noch mobilisiert blieben, hatten sich an vielen Orten Soldatenräte gebildet "Die Soldatenräte sind der Ausdruck einer aus allen Klassen der Gesellschaft zusammenge­setzten Masse, in der zwar das Proletariat bei weitem überwiegt, aber keineswegs das ziel­bewusste, klassenkampfbereite Proletariat; sie sind oft geradewegs von oben herab, durch das Eingreifen der Offiziere, auch hochfeuda­ler Kreise gebildet, die so in schlauer Anpas­sung ihren Einfluss auf die Soldaten zu be­wahren suchten und sich zu ihren Vertretern haben wählen lassen." (Liebknecht, November 1918).

Die Armee als solches ist natürlich ein klassisches Instrument, kontrolliert und diri­giert von dem Staat ergebenen Offizieren. In einer revolutionären Situation jedoch, wo es unter Tausenden von Arbeitern in Uniform brodelt, wo die alten hierarchischen Strukturen nicht mehr respektiert werden und Arbei­ter in Uniform gemeinsam Beschlüsse fassen, kann dies eine Armee zum Auseinanderbrechen, zur Spaltung bringen, insbesondere wenn die Soldaten bewaffnet sind. Dazu muss die Arbeiterklasse aber einen ausreichend starken Bezugspol darstellen - auf den sich die Arbeiter in Uniform zubewegen und mit ihnen verbrüdern können. Während des Krie­ges gab es diese Dynamik.

Deshalb beendete die Bourgeoisie den Krieg, um eine weitere Radikalisierung der Arbeiter in Uniform zu verhindern.

Aufgrund dieses Schrittes hatte es die herrschende Klasse geschafft, die Arbeiter "zu beruhigen" und sie von der Revolution "abzuschotten", während die Bewegung der Arbeiterklasse noch nicht stark genug war, um die Soldaten stärker auf die Seite der Arbeiter zu ziehen. Dadurch konnten die Manipulationen der Bourgeoisie in den Reihen der Solda­ten umso besser wirken.

Das Gewicht der Soldaten war bedeutsam während der aufsteigenden Phase der Bewe­gung - und es trug entscheidend zur Beendi­gung des Krieges bei. Aber ihre Rolle änderte sich, als die Bourgeoisie ihre Gegenoffensive begann.

Die Aufgabe kann nur international gelöst werden

Während die Kapitalisten sich im Krieg vier Jahre lang bekämpft, Millionen von Toten als Kanonenfutter geopfert hatten, war das Kapital sofort nach dem Ausbruch der Revo­lution in Russland und vor allem, als das Proletariat in Deutschland zum Sturmlauf ansetzte, bereit, sich zusammenzuschließen. Die Spartakisten hatten von Anfang an ver­standen, welche Gefahr aus der Isolierung der Arbeiterklasse in Russland und Deutschland entstehen würde.

Am 25. November richteten sie folgenden Aufruf:

„An die Proletarier aller Länder"

….die Stunde der Abrechnung mit der kapita­listischen Herrschaft hat geschlagen. Dies große Werk aber kann das deutsche Proleta­riat allein nicht vollbringen. es kann nur kämpfen und siegen. indem es die Solidarität der Proletarier der ganzen Welt anruft. Ge­nossen der kriegsführenden Länder, wir ken­nen Eure Lage. Wohl wissen wir, dass Eure Regierungen nun, da sie den Sieg errungen haben, manche Volksschichten durch den äußeren Glanz des Sieges blenden…. Eure siegreichen Kapitalisten stehen bereit. unsere Revolution, die sie wie die eigene fürchten. blutig zu unterdrücken. Ihr selbst seid durch den "Sieg" nicht freier, Ihr seid nur noch versklavter geworden. Gelingt es Euren herr­schenden Klassen, die proletarische Revoluti­on in Deutschland wie in Russland abzuwür­gen, dann werden sie sich mit doppelter Wucht gegen Euch wenden…. Deutschland ist schwanger mit der sozialen Revolution. aber den Sozialismus kann nur das Weltproletariat verwirklichen." (Spartakusbund, 25. Novem­ber 1918, in Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 4, S. 418).

Während die SPD alles daran setzte, die Arbeiter in Deutschland von Russland abzu­koppeln, setzten sich die Revolutionäre mit aller Kraft für den Zusammenschluss der Arbeiterklasse ein.

Dabei waren sich die Spartakisten bewusst:

„Jetzt herrscht bei den Völkern der Entente begreiflicherweise ein mächtiger Siegestau­mel. und die Freude über die Zertrümmerung des deutschen Militarismus, über die Befreiung Belgiens und Frankreich ist so laut, dass wir ein revolutionäres Echo von Seiten der Arbeiterschaft unser bisherigen Feinde in diesem Augenblick nicht erwarten" (Liebknecht, 23. Dezember 1918).

Sie wussten, dass die Revolution eine ge­fährliche Spaltung in den Reihen der Arbeiter hinterlassen hatte. Und die Verteidiger des Kapitals, die SPD, gingen jetzt daran, die Arbeiterklasse in Deutschland gegen die Arbeiter anderer Länder auszuspielen. Dro­hung mit ausländischen Interventionen, all dies hat die herrschende Klasse seitdem mehrfach praktiziert.

Die Bourgeoisie hatte die Lehren aus Russland gezogen

Nachdem die Bourgeoisie und die Militärs unter Führung der SPD am 11. November aus Angst, die Arbeiterklasse könnte sich weiter radikalisieren und den "russischen Weg ein­schlagen", den Waffenstillstand geschlossen hatten, der Krieg damit zu Ende gebracht war, war eine neue Situation eingetreten.

Wie R. Müller, ein führendes Mitglied der Obleute meinte;

„Die ganze Kriegspolitik mit ihren Wir­kungen auf die Lage der Arbeiter, der Burg­frieden mit der Bourgeoisie, alles was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, war ver­gessen" (R. Müller, S. 35).

Die Bourgeoisie hatte die Lehren aus Russland gezogen. Hätte die Bourgeoisie in Russland beispielsweise im März, April 1917 den Krieg beendet, wäre die Revolution im Oktober auch nicht möglich, auf jeden Fall viel schwerer gewesen. Der Krieg lässt sich zwar abstellen, um einer Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auch hier stand die Arbeiterklasse in Deutschland vor einer anderen Situation als ihre Klassenbrüder in Russland.

„Man kann nicht erwarten, wenn man auf dem Boden historischer Entwicklung steht, dass man in dem Deutschland, das das furcht­bare Bild des 4. August und der vier Jahre darauf geboten hat. plötzlich am 9. November 1918 eine großartige. klassen- und zielbewuss­te Revolution erlebt; und was wir am 9. No­vember erlebt haben. War u drei vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Im­perialismus als Sieg eines neuen Prinzips. Es war einfach der Moment gekommen. wo der Imperialismus wie ein Koloss auf tönernen Füssen, innerlich morsch, zusammenbrechen musste. und was darauf folgte, war eine mehr oder weniger chaotische, planlose. sehr we­nig bewusste Bewegung, in der das einigende Band und das bleibende, das rettende Prinzip nur in der Losung zusammengefasst war: die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte…. Es waren eben die ersten Kinderschritte der Revolution, die noch Gewaltiges zu leisten hat und einen weiten Weg zu gehen hat, um her­anzuwachsen zur völligen Verwirklichung ihrer ersten Losung." (Rosa Luxemburg, Gründungsparteitag KPD)

Deswegen konnte man nicht den Anfang der Bewegung mit dem Ende verwechseln, denn

„Kein Proletariat der Welt, auch nicht, deutsche. kann die Spuren einer jahrtausendelangen Knechtung von heute auf morgen beseitigen. Sowenig die politische hat die geistige Verfassung des Proletariats am ERSTEN Tag der Revolution ihren höchsten Stand. Erst die Kämpfe der Revolution werden in jedem Sinne das Proletariat zur vollen Reife erheben. (Rosa Luxemburg, 3. Dezember 1918).

Die Laster der Vergangenheit

Den Spartakisten hatten recht zu sagen dass die Ursachen dieser großen Schwierigkeiten in den Lastern der Vergangenheit lagen. Denn das Vertrauen, das viele noch in die Politik der SPD hatten, war ein gefährliches Überbleibsel. Viele hielten zu einem guten Teil die Kriegspolitik der SPD für eine vorübergehende Verirrung. Sie hielten den ganzen Krieg für eine schändliche Mache der eben gestürzten Regierungsclique. Sie erinnerten sich an die einigermaßen erträgliche Lage vor dem Kriege und hofften, über das gegenwärtige Elend bald wieder und endgültig hinweg zu sein. Gegen neue Kriege schienen ihnen die Versprechungen Wilsons, der angekündigte Völkerbund, die Demokratie Sicherheit zu bieten, die demokratische Republik schien ihnen nicht als Bourgeoisie-Republik, sondern tatsächlich als der Boden, auf dem der Sozialismus sprießen könnte. Kurz um: der Druck der demokratischen Illusionen die mangelnde Erfahrung im Zusammenprallen mit den Saboteuren der SPD und der Gewerk­schaften waren ausschlaggebend: „In allen früheren Revolutionen traten Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse ge­gen Klasse, Programm gegen Programm, Schild gegen Schild…. Es waren (früher) stets Anhänger des gestürzten oder bedrohten Systems, die im Namen und zur Rettung dieses Systems gegenrevolutionäre Maßnahmen ergriffen…. In der heutigen Revolution treten die Schutztruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klasse, sondern unter der Fahne einer sozialdemokratischen Partei in die Schranken…. Die bürgerliche Klassen­herrschaft kämpft heute ihren letzten weltgeschichtlichen Kampf unter fremder Flagge, unter der Flagge der Revolution selbst. Es ist eine sozialistische Partei. es ist das ureigenste Geschöpf der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes. das sich in das wuchtigste Instrument der bürgerlichen Gegenrevolution verwandelt hat. Kern, Tendenz, Politik, Psy­chologie, Methoden - alles ist gut kapitali­stisch. Nur Schilder, Apparat und Phraseolo­gie sind vom Sozialismus übriggeblieben." (Rosa Luxemburg, 21. Dezember 1918).

Eine deutlichere Entblößung des Charak­ters der Konterrevolution in Gestalt der SPD konnte nicht formuliert werden.

Deshalb zeigten die Spartakisten die nächste, jetzt erforderliche Etappe auf:

„Der Umschlag der vorwiegend soldati­schen Revolution des 9. November in eine ausgesprochene Arbeiterrevolution, der ober­flächlichen, rein politischen Umwälzung in den langatmigen Prozess der wirtschaftlichen Generalauseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital erfordert von der revolutionären Arbeiterklasse einen ganz anderen Grad der politischen Reife, Schulung, Zähigkeit, als wie sie der ersten anfänglichen Phase genügten" (Rosa Luxemburg. 3. Januar 1919),

Zwar war die Bewegung Anfang Novem­ber nicht nur eine "Soldatenrevolution" gewe­sen, denn ohne die Arbeiter in den Fabriken hätten die Soldaten sich nie soweit radikali­sieren können. Die Spartakisten sahen die Perspektive eines wirklichen Schrittes voran, als in der zweiten Novemberhälfte und im Dezember im Ruhrgebiet und in Oberschlesi­en eine Welle von Streiks ausbrach. Das bedeutete eine Aktivierung der Arbeiterklasse in den Fabriken selbst, ein Zurückdrängen des Gewichtes der Soldaten. Denn nach dem Ende des Krieges kam es zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zu einer noch größeren Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Im Ruhrgebiet legten viele Bergar­beiter die Arbeit nieder. Um ihre Forderungen durchzusetzen, zogen sie oft zu den anderen Bergwerken, damit mehr Bergleute sich ihnen anschlossen und sie ein größeres Gewicht hatten. Bald klangen die Streiks etwas ab, bald entfalteten sie sich mit neuer Kraft.

„In der heutigen Revolution sind die eben ausgebrochenen Streiks…. der erste Anfang einer Generalauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, sie läuten den Beginn des gewaltigen direkten Klassenkampfes ein, dessen Ausgang kein anderer sein kann als die Beseitigung des Lohnverhältnisses und Einführung der sozialistischen Wirtschaft. Sie lösen die lebendige soziale Kraft der gegen­wärtigen Revolution aus: die revolutionäre Klassenenergie der proletarischen Massen. Sie eröffnen die Periode der unmittelbaren Aktivität der breitesten Massen."

Deshalb betonte Rosa. Luxemburg zu­recht:

„Nach der ersten Phase der Revolution, der des vorwiegend politischen Kampfes, kommt eine Phase des verstärkten, gesteiger­ten, in der Hauptsache ökonomischen Kamp­fes....

In der kommenden Phase der Revolution werden sich die Streiks nicht nur immer mehr ausdehnen, sondern sie werden im Mittel­punkt, im entscheidenden Punkt der Revoluti­on stehen, zurückdrängend die rein politi­schen Fragen." (R. L., Gründungsparteitag der KPD).

Nachdem der Krieg durch die Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiter beendet, die Bourgeoisie eine politische Offensive einge­leitet, die ersten Versuche der Arbeiterklasse nach der Macht zu greifen abgewehrt worden waren, musste die Bewegung in eine neue Stufe eintreten. Entweder würde die Arbei­terklasse neue Schubkraft durch die Initiative der Arbeiter in den Fabriken entwickeln können, den "Umschlag in eine ausgespro­chene Arbeiterrevolution" schaffen, oder aber die Bourgeoisie würde ihre Offensive fortset­zen können.

Wir werden im nächsten Artikel auf die Frage des Aufstands, die grundlegenden Konzeptionen der Arbeiterrevolution und welche Rolle die Revolutionäre darin zu spielen haben und tatsächlich spielten, eingehen. DV


[1] In Köln war die revolutionäre Bewegung besonders stark. Innerhalb von 24 Stunden hatten am 9. November allein 45.000 Soldaten den Mili­taristen den Gehorsam verweigert und waren "auseinandergelaufen". Schon am 7. November waren revolutionäre Matrosen aus Kiel auf dem Weg nach Köln. Der spätere Bundeskanzler Ade­nauer, damals Bürgennt;ister von Köln, und die Führung der SPD trafen sofort Maßnahmen, um die "Lage zu beruhigen".

[2] Seitdem geht das Kapital immer mit der gleichen Taktik vor: 1980, als Polen von einem Massenstreik der Arbeiter erfasst wurde, wechselte das Kapital auch die Regierung aus. Die Liste der Beispiele ist endlos lange. Personen austauschen, um die Kapitalherrschaft nicht anzutasten

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [2]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [26]

Polemik mit Battaglia Comunista: Hinter der „Globalisierung" der Wirtschaft verbirgt sich die Krise des Kapitalismus

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Politiker, Ökonomen sowie die Medien versuchen mit den absurdesten Theorien den Bankrott des kapitalistischen Systems zu verschleiern und die unaufhörlichen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu rechtfertigen.

Vor 25 Jahren erklärte Nixon, ein amerikanischer Präsident der konservativsten Sorte, der ganzen Welt: "Wir sind alle Keynesianer". Damals, angesichts der Vertiefung der Krise, präsentierte die Bourgeoisie die "staatliche Intervention" und die Entwicklung eines "Sozial- und Wohlfahrtsstaates" als magische Lösung für alle Probleme. Und im Namen dieser Politik wurden der Arbeiterklasse große Opfer abgerungen, denn nur so werde je das "Ende des Tunnels" erreicht werden.

Während der 80er Jahre, konfrontiert mit dem wirtschaftlichen Niedergang, wechselte die Bourgeoisie ihre Taktik. Nun war der Staat schuld an allem Übel und die neue Losung, das Heilmittel für alle Probleme, lautete: "weniger Staat". Dies waren die bitteren Jahre der "Reaganomics", welche seit den 30er Jahren die größte weltweite Welle von Entlassungen bedeuteten; Entlassungen, die wohlgemerkt vom Staat organisiert worden waren.

Heute hat sich die Krise des Kapitalismus derart verschärft, dass ausnahmslos alle Industriestaaten die Liquidierung der minimalsten sozialen Garantien auf die Tagesordnung setzen (Arbeitslosengelder, Renten, Krankenkassen- und Schulgelder; sogar Entlassungs­entschädigungen, Garantie des vollen Arbeitstages oder die Sozialversicherung), Garantien welche die Arbeiter unter der ideolo­gischen Maske des "Wohlfahrtsstaates" zugesprochen bekommen hatten. Diese erbarmungslosen Angriffe, dieser qualitative Sprung in der Tendenz zur schon von Karl Marx beschriebenen absoluten Verarmung der Arbeiterklasse, wird heute mit einer neuen Ideologie rechtfertigt, der "Globalisierung der Weltwirtschaft".

Die Diener des Kapitals haben den Mond entdeckt! Mit 150 Jahren Verspätung verkau­fen sie, als sei es die "größte Neuigkeit des Jahrhunderts" dasselbe, was schon Engels in den 1847 geschriebenen Grundsätzen des Kommunismus feststellte: "Es ist dahin ge­kommen, dass eine neue Maschine, die heute in England erfunden wird, binnen einem Jahre Millionen von Arbeitern in China außer Brot setzt. Auf diese weise hat die große Industrie alle Völker der Erde miteinander in Verbindung gesetzt, alle kleinen Lokalmärkte zum Weltmarkt zusammengeworfen, überall die Zivilisation und den Fortschritt vorberei­tet und es dahin gebracht, dass alles, was in den zivilisierten Ländern geschieht, auf alle anderen Länder zurückwirken muss. "

Der Kapitalismus musste sich auf die ganze Welt ausdehnen, musste sein ausbeuterisches Lohnsystem in jedem Winkel des Planeten einrichten. Die Integration aller bedeutenden Gebiete der Erde in den Weltmarkt gegen Ende des letzten Jahrhunderts und die Schwierigkeit, neue zu finden, welche den immer größer werdenden Hunger der kapita­listischen Expansion stillen konnten, kenn­zeichneten die Dekadenz der bürgerlichen Ordnung, wie es die Revolutionäre schon seit 80 Jahren aufzeigen.

In diesem Rahmen der permanenten Sätti­gung des Weltmarktes ist das 20. Jahrhundert Zeuge einer noch nie dagewesenen Verschär­fung der Konkurrenz unter den verschiedenen nationalen Kapitalien. Angesichts des immer zunehmenden Bedürfnisses der Realisierung des Mehrwertes werden die Märkte immer kleiner. Dies bedeutet für jedes nationale Kapital zweierlei: Zum einen den Zwang, seine eigenen Produkte mit einem größtmög­lichen Maß an Mitteln (Geldpolitik, Gesetzen, usw.) gegenüber den Konkurrenten zu be­schützen und zum anderen, eben gerade diese Konkurrenten dazu zu bewegen, ihre Tore für seine Produkte zu öffnen (Handelsabkommen, bilaterale Verträge, usw.).

Wenn bürgerliche Ökonomen von "Globalisierung" sprechen, täuschen sie damit vor, der Kapitalismus lasse sich bewusst und einheitlich auf der Basis der Gesetze des Weltmarktes verwalten. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: die Wirklichkeit des Weltmarktes bildet ihre eigenen Gesetze, dies jedoch in einem Rahmen, der durch den ver­zweifelten Versuch jedes nationalen Kapitals geprägt ist, diesen Gesetzen zu entrinnen und die Last auf die anderen abzuwälzen. Der heutige, "globalisierte" Weltmarkt stellt keineswegs eine Grundlage für Fortschritt, Einheit dar, sondern im Gegenteil; für Anar­chie und Zerfall. Die Tendenz im dekadenten Kapitalismus ist das Auseinanderbrechen des Weltmarktes, ausgelöst durch die zentrifuga­len Kräfte der nationalen Ökonomien, deren krankhaft aufgeblähte Staatsapparate mit allen Mitteln (auch militärischen) versuchen, das der Arbeiterklasse abgepresste Produkt gegen die Angriffe der Konkurrenz zu verteidigen. Während im letzten Jahrhundert die Konkur­renz zwischen Nationen zur Bildung und Vereinheitlichung des Weltmarktes führte, bedeutet heute im 20. Jahrhundert die organi­sierte Konkurrenz zwischen allen National­ Staaten genau das Gegenteil: Zerfall und Zersetzung des Weltmarktes.

Und genau aus diesem Grund kann "Globalisierung" einzig und allein mit Gewalt erwirkt werden. In den Jahren nach Yalta profitierten die USA und Russland von, ­Vorteilen der Blockdisziplin und installierte streng strukturierte Wirtschaftsorganisationen um den Welthandel (natürlich zu ihren Vortei­len!) zu kontrollieren: GATT, IWF, EG, COMECON im Ostblock, usw. Diese Organi­sationen, Ausdruck der militärischen und ökonomischen Stärke der jeweiligen Blockführer, waren aber nie wirklich fähig, die Tendenz hin zum Anarchismus zu überwinden und einen harmonischen und einheitlichen Weltmarkt zu schaffen. Die Auflösung der zwei großen imperialistischen Blöcke nach 1989[1] hat die Konkurrenz und das Chaos auf dem Weltmarkt noch beträchtlich be­schleunigt.

Wird die "Globalisierung" diese Tendenz aufhalten können? Laut den Predigern der "Globalisierung" hat der Teil des Weltmark­tes, welcher "schon vereinheitlicht" ist, eine "heilsame Ausstrahlung" auf die gesamte Ökonomie und wird in Zukunft die Krise überwinden und den "nationalen Egoismus" über Bord werfen lassen. Wenn wir aber all die Vorschläge überprüfen, welche die Ökonomen unter" Globalisierung" verstehen, so stellen wir fest, dass nicht einer ermöglicht, das Chaos und die sich verschärfende Krise zu "überwinden". Mit "Transaktionen über Internet" zu beginnen, bedeutet ein enormes Risiko von Zahlungsunfähigkeit, das bereits heute schon sehr hoch ist, in Kauf zu nehmen, was die ganze unerträgliche Schuldenlast nur zusätzlich erhöht. Wie wir bereits 1995 über die" Globalisierung" des Finanz- und Geld­marktes schrieben: "Eine Finanzkrise ist unvermeidlich. In gewisser Hinsicht ist sie bereits eingetreten. Selbst von einem kapita­listischen Standpunkt aus ist eine starke "Entleerung" des "Spekulationsballons " unentbehrlich. ( .. ) Heute hat der Spekulati­onsballon, und allem voran die Staatsver­schuldung, unerhört zugenommen. Unter diesen Umständen ist es unmöglich vorauszu­sagen, wo genau die Spannung diese Ballons endet. Doch auf jeden Fall wird es eine mas­sive Zerstörung von fiktivem Kapital bedeu­ten, was ganze Teile des Weltkapitals ruinie­ren wird. "[2]

Was heutzutage an "Globalisierung" tat­sächlich vorhanden ist, unterscheidet sich krass von dem, was uns an Propaganda dar­über vorgespielt wird. Es ist eine Antwort auf die zwei dringendsten Probleme mit welchen der heutige Staat in der kapitalistischen' Krise konfrontiert ist:

- die Senkung der Produktionskosten;

- die Zerstörung der protektionistischen

Hindernisse, damit die wettbewerbsfähigsten Kapitalismen die immer reduzierteren Märkte noch ausschöpfen können.

Was die Senkung der Produktionskosten betrifft, schrieben wir bereits: "Die Verschär­fung der Konkurrenz unter den Kapitalisten, welche durch die Überproduktionskrise und das Schwinden von zahlungsfähigen Märkten nur verschlimmert wird, zwingt sie in einem zügellosen Tempo zur permanenten Moderni­sierung des Produktionsprozesses, zur Erset­zen von Menschen durch Maschinen, um die Produktionskosten zu senken. Derselbe Wett­lauf zwingt sie zur Verlagerung eines Teils der Produktion in Länder, in welchen die Arbeits­kraft billiger ist (China und Südostasien als aktuelle Beispiele)."[3]

Dieser zweite Aspekt der Senkung der Produktionskosten (die Verlegung von Teilen der Produktion in Länder mit tieferen Löh­nen) hat sich in den 70er Jahren beschleunigt. Wir sehen heute, wie die "demokratischen" Kapitalisten wieder gute Geschäfte mit dem stalinistischen Regime in China machen, um zu Spottpreisen Disketten, Turnschuhe, Com­puterhardware usw. zu produzieren. Das Aufblühen der berühmten "asiatischen Dra­chen" basiert lediglich auf der Tatsache, dass die Produktion von Computern, Stahl, Elek­tronikgeräten usw. in diese "Billiglohn ­Paradiese " verlegt wurde. Der von den Schlägen der Krise geplagte Kapitalismus ist gezwungen; bis aufs Äußerste von den unterschiedlichen Lohnkosten zu profitieren: "Die absoluten Lohnkosten (inklusive Steuern) in der Industrie der verschiedenen, sich entwickelnden Länder, welche Waren herstellen und exportieren sowie auch Dienstleistungen erbringen, variieren zwischen 3% (Madagaskar, Vietnam) und 40% des Durch­schnitts der reichsten Länder Europas. In China betragen sie zwischen 5 und 16%, in Indien zirka 5%. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks entstand heute vor den Toren der Europäischen Union ein Reservoir an Arbeitskraft, dessen Lohnkosten 5% (Rumänien) oder 20% (Polen und Ungarn), verglichen mit denjenigen in Deutschland, nicht überschreitet. "[4]

Das ist der erste Aspekt dieser "Globalisierung". Seine Folgen sind eine weltweite Senkung des durchschnittlichen Einkommens in der ganzen Welt, sowie auch Massenentlassungen in den großen Industrie­zentren, ohne dass diese vernichteten Arbeits­plätze in den neugeschaffenen hochautomati­sierten Betrieben durch die Entstehung neuer Arbeitsplätze wieder kompensiert werden können. Weit davon entfernt, die chronische Krankheit des Kapitalismus (die Sättigung der Märkte) heilen zu können, hat die "Globalisierung" die Situation durch eine Reduktion der Nachfrage in den großen In­dustrieländern nur verschärft ohne die gleich­zeitige Möglichkeit, sie durch ein Anwachsen der Konsumption in den "aufblühenden" Ländern auszugleichen.[5]

Was die Überwindung der Zollhindernisse betrifft, hat der Druck der "großen" Staaten zur Folge, dass Länder wie Indien, Mexico oder Brasilien ihre Einfuhrzölle bis hin zu einer beträchtlichen Verschuldung senken. Dieselben Methoden wurden in den 70er Jahren angewandt und rührten zur katastrophalen Krise im Jahre 1982. Mit solchen Methoden dem Kapitalismus eine Erleichte­rung verschaffen zu können ist eine absolute Illusion: "... der neulich aufgetretene Finanzkrach bei einem anderen "Modellfall", Mexi­co, dessen Währung mehr als die Hälfte von heute auf morgen verlor, und eine dringende Finanzspritze von nahezu 50 Mrd. Dollar an Sofortkrediten erforderlich machte (bei wei­tem die größte "Rettungsoperation " in der Geschichte des Kapitalismus), fasst die Wirk­lichkeit des Wunders zusammen, das sich hinter vielen" Schwellenländern" der 3. Welt verbirgt."[6]

Als Resultat der" Globalisierung" können wir heute keine Verminderung des Protektio­nismus oder staatlicher Interventionen in den Handel feststellen, sondern ganz im Gegenteil eine Verstärkung der traditionellen Methoden durch neuere:

- Derselbe Clinton, welcher 1995 Japan zur Öffnung seiner Grenzen für amerikanische Produkte zwingen konnte, der dauernd seine "Verbündeten" zum "freien Welthandel" auffordert, lieferte mit der Erhöhung der Einfuhrzölle für Flugzeuge, Stahl und Land­wirtschaftsprodukte und Beschränkungen für den Kauf von ausländischen Produkten durch den Staat seit seiner Wahl wohl das deutlich­ste Beispiel für diese Politik.

- Die berühmte Uruguay-Runde, welche zur Ersetzung des alten GATT durch eine neue Welthandelsorganisation führte, enthielt nichts als eine absolut illusionäre Vereinba­rung: die Abschaffung der Zölle in 10 indu­striellen Sektoren und die Reduktion um 30% in 8 weiteren Sektoren, dies alles verteilt auf zehn Jahre!

- Ein deutliches Beispiel des Neoprotek­tionismus sind die Ökologie-, Gesundheits­-, oder Wohlfahrtsnormen; die hochindu­strialisierten Länder errichten für ihre Kon­kurrenten ungeheure Tarife:"in der neuen Welthandelsorganisation kämpfen Industriekreise, Gewerkschaften und Grüne dafür, dass die kollektiven Güter, die die Umwelt, der soziale Wohlstand etc. mit den dazugehörigen Normen nicht durch den Markt, sondern durch die nationale Staatsgewalt, welche auf diesem Gebiet keine anderen Kräfte dulden kann, festlegt werden.“[7]

Die Bildung von "Handelszonen" (EU, Abkommen in Südostasien, Nordamerikani­sche Freihandelszone, usw.) widersprechen dieser Tendenz keinesfalls, da sie lediglich ein Mittel für einzelne Gruppen kapitalistischer Länder sind, sich im Kampf gegen ihre stärk­sten Rivalen Schutzzonen einzurichten. Die USA reagierte auf die EU mit ihrer Freihan­delszone, während Japan, mit beidem kon­frontiert, sich als Initiator einer Einheit unter den asiatischen "Drachen" betätigte. Diese "regionalen Handelspartnerschaften " versu­chen sich vor der Konkurrenz zu schützen, während sie selbst eigentliche Schlangennester darstellen, in denen sich die Handelskonflikte zwischen den Partnern tagtäglich verschärfen. Es genügt vollends, sich das erbauliche Spektakel der" harmonischen" EU vor Augen zu führen, welche dauernd von den Streitereien der 15 Mitgliederstaaten geschüt­telt wird.

Machen wir uns nichts vor! Die abwei­chendsten Tendenzen, welche den Zerfall des Weltmarktes anzeigen, beweisen es dauernd:

"Heutzutage hat die Unsicherheit im Geldsek­tor international solche Masse angenommen, dass wir das Wiederaufblühen der anarchi­stischsten Formen des Handels beobachten können. In anderen Worten: den direkten Handel von Waren, ohne Geld als Zwi­schenglied zu benutzen." (8) [8]Eine andere Waffe, welche kapitalistische Staaten, und wohlverstanden: die reichsten, zur Hand haben, ist die Entwertung des Geldes, welche es' erlaubt, die eigenen Waren billiger zu verkaufen und die der Konkurrenten zu ver­teuern. Alle Versuche, die Ausbreitung und Verallgemeinerung dieser Praktiken zu verhindern, endeten in einem Fiasko, wie der Kollaps des europäischen Währungssystems deutlich zeigt.

Die „Globalisierung“, ein ideologischer Angriff gegen die Arbeiterklasse

Es wird immer deutlicher, dass die "Globalisierung" nichts anderes als ein ideo­logischer Schleier ist, mit dem versucht wird, den Zusammenbruch des Kapitalismus in einer generalisierten Krise und das anwach­sende Chaos, in dem der Weltmarkt versinkt, zu verschleiern.

Nichtsdestotrotz       gebärdet        sich    die "Globalisierung" sehr ehrgeizig. Es wird nicht weniger als die Überwindung oder gar die „Zerstörung" (nach den Worten der kühnsten "Globalisten") des Nationalstaates verspro­chen. Einer der bekanntesten Geschäftsgurus, der Japaner Kenichi Ohmae beispielsweise predigt folgendes: "…. in wenigen Worten, in wirklichen ökonomischen Begriffen ausge­drückt, haben die Nationalstaaten ihre Rolle als bedeutende Einheit in der Teilnahme am heutigen freien, grenzenlosen Weltmarkt verloren."[9] Des weiteren betitelt er Natio­nalstaaten als einen "brutalen Filter" und verspricht uns ein Paradies der "globalen" Wirtschaft: "In demselben Masse, wie die Zahl von Personen ansteigt, welche den bru­talen, die verschiedenen Gebiete der Weltwirtschaft nach altem Gewohnheitsrecht abtrennenden Filter durchbrechen, verschiebt sich die Macht über die ökonomischen Aktivi­täten unvermeidlich aus den Händen der zentralen Regierungen der Nationalstaaten in die Hände der grenzenlosen Geflechte von unzähligen, individuellen und auf dem Markt basierenden Entscheidungen."[10]

Das Proletariat ist die einzige Klasse, die überhaupt fähig ist, einen Kampf gegen den Nationalstaat zu führen. Wie wir jedoch sehen, kennt die Verlogenheit der bürgerli­chen Ideologie keine Grenzen: sie präsentie­ren sich hier als die großen Vorreiter des "Kampfes gegen die nationalen Interessen". Als ein Höhepunkt dieser überschwänglichen Lügen, nannten zwei Autoren desselben Schlages, Alexander King und Bertrand Schneider, ihr Buch sogar "Die erste weltwei­te Revolution".

Ihre gefährliche Rolle jedoch spielt diese antinationale "Angst" im Rahmen der ideo­logischen Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse. Ein Teil dieser Offensive besteht darin, das Proletariat in die Falle einer falschen Entscheidung zu locken:

- Auf der einen Seite unterstreichen die politischen Kräfte, welche offensiv die "Globalisierung" vertreten (in Europa sind dies die Anhänger von Maastricht), die Not­wendigkeit," den rückschrittlichen nationalen Egoismus zu überwinden", sich in die" weltweite Einheit" zu integrieren, um so die Krise zu überwinden.

- Auf der andern Seite versuchen die lin­ken Parteien (vor allem wenn sie in der Op­position sind) und die Gewerkschaften, die Verteidigung der Interessen der Arbeiter, welche angeblich durch "nationalverräterische" Regierungen attackiert wür­den, an das Interesse des Nationalstaates zu binden.

Die Anhänger der "Globalisierung“, die angeblichen Totengräber der nationalen Inter­essen, wettern gegen die "sozialen Mindestgarantien" gegen die Sozialhilfe, Entlas­sungsentschädigungen, Arbeitslosen- und Pensionsgelder, Stipendien, Wohnungsunter­stützung, Arbeitsbestimmungen welche die Länge des Arbeitstages festlegen, Arbeitstem­pobeschränkungen, Verbot der Kinderarbeit usw. All dies stellen sie dar als "schreckliche" Fesseln des Nationalstaates, der Gefangener sei von dieser heimlichen Lobby, die die Interessen der Arbeiter vertrete.

Wenn man den verlogenen Schleier von "Überwindung der Krise" oder "Internationalität des Individuums auf einem freien Markt" lüftet, sehen wir mit aller Klar­heit den wirklichen Inhalt der "Globalisierung". Es ist nichts anderes als das neue Alibi für die Angriffe, zu welchen jeder Nationalstaat in der heutigen Krise gezwungen ist: das Streichen der "sozialen Mindestgarantien", aller Sozialleistungen und Arbeitsgarantien, die durch die Krise untrag­bar geworden sind.

Und genau hier kommt der andere Trumpf des ideologischen Angriffs der Bourgeoisie ins Spiel, welcher durch die Gewerkschaften und die Linken verkörpert wird. In den letzten fünfzig Jahren waren diese "sozialen Min­destgarantien" das Aushängeschild des sog. Wohlfahrtsstaates, der sozialen Fassade des Staatskapitalismus. Der "Sozialstaat" wurde den Arbeitern als Fähigkeit des Kapitalismus, die Ausbeutung lindern zu können, darge­stellt, als der konkrete "Beweis", dass inner­halb des Nationalstaates Klassenversöhnung und die Verschmelzung von Klasseninteressen möglich seien.

Die Gewerkschaften und die Linken (vor allem wenn sie in der Opposition sind) prä­sentieren sich als die größten Verteidiger des "Sozialstaates". Sie behaupten, dass sich der wahre Konflikt zwischen den "nationalen Interessen", welche die Beibehaltung gewis­ser "sozialer Mindestgarantien" ermöglichen würden, und dem "verräterischen Globalis­mus" abspielt. Dies war einer der Hauptaspekte im Manöver der französischen Bourgeoisie während der Streiks im Herbst 95. Die Bewegung wurde als eine Demon­stration gegen Maastricht dargestellt, als ein allgemeiner Ausdruck der Bevölkerung gegen die mühsamen Forderungen der Maastrichter "Abkommen". Und es waren genau die Gewerkschaften, welche diese "Bewegung" so in eine Sackgasse führten.

Die Widersprüche von Battaglia Comunista bezüglich der Globalisierung

Die Aufgabe der Gruppen der Kommunistischen Linken (aus der die zukünftige prole­tarische Weltpartei hervorgehen wird) besteht darin, dieses ideologische Gift kompromisslos zu denunzieren. Angesichts dieser neuen Attacken darf die Arbeiterklasse nicht zwi­schen dem "nationalen Interesse" und der "Globalisierung" wählen. Ihre Forderungen liegen nicht in der Verteidigung des Wohl­fahrtsstaates, sondern in der unnachgiebigen Verteidigung ihrer Klasseninteressen. Die Perspektive ihres Kampfes liegt nicht im falschen Dilemma zwischen "Sozialpatriotismus" und "Globalisierung", sondern in der Zerstörung des Staatskapita­lismus in allen Nationen.

Battaglia Comunista (BC) hat die Frage der "Globalisierung" wiederholt aufgegrif­fen und ihr in Prometeo, ihrer theoretischen, halbjährlich erscheinenden Revue, mehrere Artikel gewidmet. Wir wollen unterstreichen, dass BC mit großer Entschlossenheit eine Reihe von Positionen der Kommunistischen Linken verteidigt:

- BC denunziert die "Globalisierung" kompromisslos als einen mächtigen Angriff gegen die Arbeiterklasse und bemerkt, dass ihre Grundlage "in der progressiven Verar­mung des Weltproletariats und in der Ent­wicklung der gewalttätigsten Form der Ü­berausbeutung"[11] liegt;

- BC verwirft die Anschauung, dass die "Globalisierung" eine Überwindung der Widersprüche des Kapitalismus darstelle: "Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die kürzlich eingetretenen Veränderungen der Weltwirt­schaft gänzlich im Rahmen des Prozesses von Konzentration und Zentralisation zu sehen sind. Sie sind gewiss Ausdruck einer neuen Stufe, jedoch keinesfalls der Überwindung der dem Kapitalakkumulationsprozess innewoh­nenden Widersprüche"[12];

- BC anerkennt die Tatsache, dass die Re­strukturierung und die "technologischen Innovationen", die der Kapitalismus in den 80er und 90er Jahren erfuhr, keinesfalls eine Ausweitung des Weltmarktes darstellten: „(..) entgegen den Hoffnungen hat die auf der Einführung neuer, die Arbeitskraft ersetzen­der Technologien basierende Restrukturie­rung keine neuen kompensatorischen produk­tiven Aktivitäten geschaffen, sondern im Gegenteil den "circulus vitiosus" unterbro­chen, der die mächtige Entwicklung der Weltwirtschaft in der ersten Phase des mono­polistischen Kapitalismus prägte. Erstmals zogen die zusätzlichen Investitionen an eine Erhöhung sowohl eine absolute als auch eine relative Reduktion der in der produktiven Sphäre angewendeten Arbeitskraft nach sich"[13];

- BC verwirft jegliche Illusion, die darauf abzielt, die "Globalisierung" als eine har­monische und ordentliche Form der globalen Produktion anzusehen und bekräftigt ohne die geringste Zweideutigkeit, dass "wir dem Pa­radox eines Systems beiwohnen, das mittels der Monopole ein Maximum an Rationalität realisieren will, jedoch lediglich die extremste Irrationalität hervorbringt: Alle gegen alle, jedes Kapital gegen alle anderen Kapitale, jedes Kapital gegen jedes "[14];

- BC erinnert daran, dass "der Zusammen­bruch (des Kapitalismus) nicht das mathema­tische Resultat der wirtschaftlichen Wider­sprüche darstellt, sondern das Werk der Ar­beiterklasse, die das Bewusstsein erlangt hat, dass diese nicht die beste aller Welten sei"[15]. Wir unterstützen diese Positionen, und ausgehend von dieser Übereinstimmung wollen wir einige Verwirrungen und Wider­sprüche, an denen BC unseres Erachtens leidet, bekämpfen. Diese Polemik ist gewiss nicht ein Spaß, sie hat ein klares militantes Ziel: Angesichts der Verschärfung der Krise ist es lebensnotwendig, Theorien wie diejeni­gen der "Globalisierung" zu denunzieren, deren Ziel die Vernebelung des Bewusstseins darüber ist, dass der Kapitalismus heute die "schlechteste aller möglichen Welten" ist und konsequenterweise auf der ganzen Welt zer­stört werden muss.

Uns überrascht zuallererst, dass BC denkt, dass "dank dem Fortschritt in der Mikroelek­tronik einerseits und auf dem Gebiet der Telekommunikation andererseits in der Or­ganisation des Produktionszyklus die Welt sich nun tatsächlich vereinigt hat."[16] Die Genossen sind hier von den von der Bour­geoisie ständig wiederholten Eseleien über das "vereinigende Wunder" der Telekommu­nikation und des Internet eingenommen und vergessen dabei folgendes: "Und wenn die Internationalisierung der kapitalistischen "Interessen nur die eine Seite der Internatio­nalisierung des Wirtschaftslebens zum Aus­druck bringt, so ist notwendig, auch ihre andere Seite zu betrachten. Das heißt jenen Prozess der Nationalisierung der kapitalisti­schen Interessen, der die Anarchie der kapi­talistischen Konkurrenz im Rahmen der Weltwirtschaft am schroffsten zum Ausdruck bringt, der zu den größten Erschütterungen und Katastrophen, zur größten Verschwen­dung der menschlichen Energie führt, und der das Problem der Errichtung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens mit dem größ­ten Nachdruck auf die Tagesordnung stellt"[17].

Eine andere schwäche der Analyse von BC liegt in der befremdlichen Entdeckung, gemäß der "der ehemalige Präsident der Ver­einigten Staaten, Nixon, als er die historische Entscheidung traf, die Vereinbarungen von Bretton Woods fallen zu lassen und die Nicht-Konvertibilität des Dollars zu erklären, weit davon entfernt war, sich vorzustellen, dass er den Weg für einen der gigantischsten Trans­formationsprozesse der kapitalistischen Pro­duktionsweise frei machte. Es öffnete sich also eine Periode tiefgreifender Veränderun­gen, die in weniger als 20 Jahren die Bezie­hungen der imperialistischen Herrschaft zu den außerordentlichsten Konsequenzen zwang."[18]

Man darf nicht als Grund analysieren (die berühmte Entscheidung über die Nicht­ Konvertibilität des Dollar von 1971), was lediglich eine Auswirkung der Zuspitzung der kapitalistischen Krise war und was keinesfalls auch nur die geringste Veränderung "in den Beziehungen der imperialistischen Herr­schaft" nach sich zog. Die ökonomische Betrachtungsweise von BC, die wir bereits wiederholt kritisiert haben, treibt sie dazu, einem Ereignis Wirkungen zuzuschreiben, das keinerlei Konsequenz in der Konfrontation der damals bestehenden imperialistischen Blöcke nach sich zog.

Dagegen ist die Hauptgefahr, dass BC der bürgerlichen Mystifikation die Tür öffnet, wonach sich der gegenwärtige Kapitalismus am "ändern und transformieren" sei. Schon in der Vergangenheit wies BC die Tendenz auf, sich von jeder "wichtigen Transformati­on", die die Bourgeoisie in die Diskussion geworfen hatte, aus der Fassung bringen zu lassen. Battaglia Comunista ließ sich bereits von "Neuheiten" der "technologischen Revolution" verführen, später vom Trugbild der durch die "Befreiung" der Ostblockländer geöffneten Märkte. Heute halten sie gewisse Mystifikationen über die "Globalisierung" für klingende Münze: "Der Schritt zur Zen­tralisierung des Einsatzes der wirtschaftlichen Variablen auf kontinentaler Ebene oder in Währungszonen bringt als Sachzwang eine unterschiedliche Verteilung des Kapitals auf die verschiedenen Produktionssektoren und damit auch den Finanzsektor mit sich. Nicht nur die kleinen und mittleren Unternehmen, sondern ebenso die Gruppen von bedeutender Dimension riskieren, marginalisiert oder von anderen mit allen Konsequenzen absorbiert zu werden. Für viele Länder birgt dies die Gefahr des Auseinanderbrechens der nationa­len Einheit in sich, wie uns dies die Ereignisse in Jugoslawien oder im ehemaligen sowjeti­schen Block aufzeigten. Die Kräfteverhältnis­se zwischen den verschiedenen Fraktionen der Weltbourgeoisie werden tiefgreifende Veränderungen erfahren und zunehmende Spannungen und Konflikte nach sich ziehen. Dies wird auch den Globalisierungsprozess erschüttern, vielleicht verlangsamen oder gar blockieren."[19]

Wir entdecken mit Bestürzung, dass sie die imperialistischen Spannungen, den Zusam­menbruch von Nationen, den Konflikt in Jugoslawien nicht durch die Dekadenz und den Zerfall des Kapitalismus, die Verschär­fung der historischen Krise des Systems, erklären, sondern dass sie Phänomene des "Globalisierungsprozesses" seien! BC gleitet hier von der Analyse der Kommunistischen Linken (Dekadenz und historische Krise des Kapitalismus) in das mystische Gefasel der Bourgeoisie über die" Globalisierung" ab.

Es ist essentiell, dass die Gruppen der Kommunistischen Linken die Augen vor diesen Mystifikationen nicht verschließen und entschlossen die revolutionäre Position ver­teidigen, die unterstreicht, dass in der Deka­denz und konkreter in der Periode der offenen Krise seit Ende der 60er Jahre, die verschie­denen Versuche des Kapitalismus zur Brem­sung des eigenen Zusammenbruches keine reale Veränderung gebracht haben, sondern lediglich und ausschließlich eine Verschär­fung und Beschleunigung der Krise[20]. In unserer Antwort auf das IBRP in der Revue Internationale Nr. 82 zeigen wir klar, dass es nicht darum geht, diese Versuche zu ignorie­ren, sondern darum, sie im Rahmen der Posi­tionen der Kommunistischen Linken zu ana­lysieren.

"Globalisierung" und Nationalstaat

Am schwerwiegendsten zeigen sich die Konsequenzen aus den Widersprüchen von BC bezüglich der Rolle der Nationalstaaten. BC denkt, dass die berühmte "Globalisierung" die Rolle der Nationalstaa­ten tiefgreifend verändern und schwächen würde. Sie behaupten sicherlich nicht nach dem Vorbild des Samurai Kenichi Ohmae, dass der Nationalstaat Blei an den Flügeln habe. Auch anerkennen sie mehrere Punkte, die wir teilen:

- Der Nationalstaat behält seinen Klassen­charakter;

- Der Nationalstaat ist ein aktiver Faktor in den Veränderungen des gegenwärtigen Kapi­talismus;

- Der Nationalstaat steckt nicht in der Krise.

Dagegen sagt BC: "…Einer der gewiss in­teressantesten Aspekte der Globalisierung der Wirtschaft ist mit der transnationalen Inte­gration der großen industriellen und finan­ziellen Konzentrationen gegeben, die rein durch ihre Dimension und ihre Macht die Nationalstaaten bei weitem überbieten."[21]

Was man von diesen "interessanten Aspekten" ableiten kann, ist, dass im Kapita­lismus dem Nationalstaat übergeordnete Einheiten existieren würden, die berühmten "transnationalen" Monopole. Dies wiederum bedeutet die Verteidigung einer revisionisti­schen These, die das marxistische Prinzip verneint, dass die höchste Einheit des Kapita­lismus der Staat sei. Der Kapitalismus kann niemals wirklich den Rahmen des Nationalstaates überwinden, noch weniger kann er internationalistisch sein. Sein "Internationalismus" beschränkt sich, wie wir das gesehen haben, auf die Beherrschung rivalisierender Nationen oder die Eroberung eines möglichst großen Anteils am Weltmarkt.

Im Editorial des Prometeo Nr. 9 bestätigt sich diese Revision des Marxismus: „Die produktiven und/oder finanziellen multinatio­nalen Unternehmen überwinden durch ihre Macht und ihre ökonomischen Interessen die verschiedenen staatlichen Formationen. Die Tatsache, dass die Zentralbanken der ver­schiedenen Staaten unfähig sind. auf die täglichen spekulativen Angriffe einer Hand­voll Finanzunternehmen zu reagieren oder ihnen Paroli zu bieten, spricht Bände über die Veränderung der zwischenstaatlichen Bezie­hungen."

Muss man daran erinnern, dass gerade die­se armen machtlosen Staaten genau diejenigen sind, die die Finanzkolosse besitzen (oder wenigstens strikt kontrollieren)? Ist es not­wendig, BC zu enthüllen, dass sich diese "Handvoll Monster" aus "respektablen" Bank- und Sparinstitutionen zusammensetzen, deren Verantwortliche direkt oder indirekt von ihren entsprechenden Nationalstaaten be­stimmt werden?

BC beißt nicht nur am Haken dieser an­geblichen Opposition zwischen Staaten und Multinationalen an, sondern geht noch viel weiter und entdeckt dass "aus diesen Gründen stets größere Kapitale ... Kolosse hervorge­bracht haben, die die ganze Weltwirtschaft kontrollieren. Es genügt, daran zu denken, dass die Big Three von den 30er bis in die 70er Jahre Automobilunternehmen waren (General Motors, Chrysler und Ford), und dass es heute drei ebenfalls amerikanische Finanzunternehmen sind: Fidelity Invest­ments, Vanguard Group, Capital Research & Management. Die in diesen Finanzgesell­schaften angehäufte Macht ist immens und geht weit über diejenige des Staates hinaus. Ja, die Staaten haben in den letzten zehn Jahren jegliche Kontrollmöglichkeit über die Weltwirtschaft verloren."[22]

Erinnern wir uns, dass in den 70er Jahren der Mythos der berühmten transnationalen Petrolunternehmen sehr in Mode war. Die Linken wollten uns damals ständig eintrich­tern, dass das Kapital nun "transnational" sei, und dass deshalb die "große Forderung" der Arbeiter die Verteidigung der nationalen Interessen sein solle.

Gewiss verwirft BC diese Mystifikation, kommt aber ihrer "theoretischen" Begrün­dung entgegen, da sie den Anschein erwec­ken, dass die Staaten die Kontrolle über die Weltwirtschaft zugunsten "dieser heimatlosen Mammute" verloren hätten.

Die Multinationalen sind Instrumente ihrer Nationalstaaten. IBM, General Motors, Exxon usw. sind durch verschiedene Stränge mit dem amerikanischen Staat verbunden: ein wichti­ger Anteil ihrer Produktion (40% für IBM) wird direkt von ihm aufgekauft, was sich direkt oder indirekt in der Nomination der Direktoren zeigt[23]. Eine Kopie von jedem neuen Informatikprodukt muss obligatorisch beim Pentagon abgeliefert werden.

Unglaublicher weise schluckt BC die Lüge der weltweiten Supermacht dieser drei Inve­stitionsfonds! Erstens verfugen die Investiti­onsfonds über keine reale Autonomie, sie sind lediglich Instrumente der Banken, der Spar­kassen oder Staatsinstitutionen wie den Ge­werkschaften, den Pensionskassen usw. Ihr direkter oder indirekter Chef ist ihr Nationalstaat. Zweitens sind sie einer strikten Regle­mentierung seitens des Staates unterworfen:

Er bestimmt den prozentualen Anteil, den sie in Aktien, Obligationen, im Ausland usw. anlegen dürfen.

"Globalisierung" und Staatskapitalismus

Dies führt uns zu einer grundlegenden Frage, nämlich nach derjenigen des Staats­kapitalismus. Ein prägender Zug des dekaden­ten Kapitalismus liegt in der Konzentration des nationalen Kapitals in den Händen des Staates. Er wird das Zentrum, um das herum jedes nationale Kapital seinen Kampf organisiert, einerseits gegen die Arbeiterklasse andererseits gegen die anderen nationalen Kapitale.

Die Staaten sind nicht Instrumente der Unternehmen, so groß sie auch sein mögen; genau das Gegenteil zeigt sich im dekadenten Kapitalismus: Die großen Monopole wie bspw. die Banken unterwerfen sich dem Dik­tat des Staates und gehorchen seinen Direkti­ven. Die Existenz von supranationalen Mächten, die sich über mehrere Staaten span­nen und ihnen auch die Politik diktieren, ist unmöglich. Genau im Gegenteil werden die Multinationalen von ihren entsprechenden Staaten dazu genutzt, die eigenen wirtschaftli­chen und imperialistischen Interessen zu verfolgen.

Wir wollen keinesfalls behaupten, dass die Großunternehmen wie Ford oder Exxon le­diglich einfache Marionetten ihrer Staaten seien. Natürlich verteidigen sie ihre eigenen Partikularinteressen und treten manchmal in Gegensatz zu ihrem Nationalstaat. Eine wirk­liche Fusion zwischen Privatkapital und Staat verwirklichte sich im Staatskapitalismus östlicher Prägung, so dass sie gesamthaft gesehen jenseits auftauchender Konflikte und Widersprüche in Kohärenz zur Verteidigung des nationalen Interesses und der totalitären Führung des Staates handelten.

BC wirft ein, dass es schwierig sei zu be­stimmen, zu welchem Staat Shell gehöre, dies sei aber auch bei anderen multinationalen Unternehmen mit einem vielfältigen Aktiona­riat der Fall. Darüber hinaus, dass es sich hier um außergewöhnliche Beispiele handelt, die keineswegs die Realität des Kapitalismus wiedergeben, muss man hier anfügen, dass die Eigentumstitel keineswegs den wirklichen Besitzer eines Unternehmens bestimmen. Im Staatskapitalismus dirigiert und bestimmt der Staat die Funktionsweise der Unternehmen, selbst wenn er keine einzige Aktie hält. Er bestimmt die Preise, die kollektiven Überein­kommen, die Exportquoten, die Produktions­quoten usw. Er bestimmt die Verkäufe des Unternehmens, da er in der Mehrzahl der produktiven Unternehmen der Hauptabneh­mer ist. Über die Fiskal-, Monetär- und Kre­ditpolitik bestimmt er klar die Entwicklung des "freien Marktes". BC berücksichtigt diese grundlegenden Aspekte der revolutionären Analyse der Dekadenz nicht. Sie ziehen es vor, einem Teilaspekt der Anstrengung zum Verständnis der ganzen Tragweite des Impe­rialismus von Lenin und den Revolutionären seiner Zeit die Treue zu halten: der Theorie von Lenin über das Finanzkapital, die er von Hilferding aufgenommen hatte. In seinem Werk über den Imperialismus sieht Lenin klar die Periode der Dekadenz eintreten, die die Notwendigkeit der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung stellt. Jedoch verbindet er diese Epoche mit der Entwicklung des Finanzkapitals als parasitärem Monster, das aus dem Prozess der Kapitalkonzentration hervorgeht.

" ... viele Gesichtspunkte in Lenins Defini­tion des Imperialismus (sind) heute nicht mehr gültig (..) und (waren) es selbst zu der Zeit nicht (..), als er sie erarbeitete. So eröff­nete jene Periode, in der das Kapital durch­aus als von einer Oligarchie des "Finanzkapitals" und von den " inter­nationalen monopolistischen Kapitalisten ver­bänden " beherrscht angesehen werden konnte, schon den Weg zu einer neuen Phase während des Ersten Weltkrieges - die Periode des Staatskapitalismus, der ständigen Kriegswirtschaft. In der Epoche chronischer interimperialistischer Rivalitäten auf dem Weltmarkt neigt das gesamte nationale Kapi­tal dazu, sich um den Staatsapparat zu scha­ren, der jede einzelne Kapitalfraktion diszi­pliniert und den Bedürfnissen des militärisch ökonomischen Überlebens unterordnet."[24]

Was bei Lenin lediglich ein Fehler im schwierigen Verstehen des Imperialismus war, das wird in den Händen von BC ein gefährli­cher Fehltritt. Erstens verschließt die Theorie der "Konzentration in supranationalen Monopolen" die Türe zum Verständnis der Marxistischen Position, dass sich das nationale Kapital in den Händen des Staates konzen­triert und sich die Tendenz zum Staatskapita­lismus durchsetzt. Dieser Tendenz kann sich keine Fraktion der Bourgeoisie entziehen, gleich welche internationalen Verbindungen sie besitzen. Zweitens öffnet diese Theorie Kautskys "Superimperialismus " die Tür. Es ist überraschend, dass BC diese Theorie ledig­lich von Seiten der Unmöglichkeit, die Anar­chie der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, kritisiert, ohne jedoch das we­sentliche anzugreifen: nämlich die illusorische Möglichkeit des Kapitals, sich über die Gren­zen hinweg zu vereinigen. Und diese Schwie­rigkeit leitet sich aus der Tatsache ab, dass Battaglia Comunista, auch wenn sie richti­gerweise die extreme These der "Fusion der Nationen" verwerfen, dennoch fälschlicher­weise die Existenz von supranationalen Einheiten behaupten. Drittens entwickelt BC Spekulationen, wonach fiir den Staat die "Globalisierung" zweierlei Dimensionen aufweise: einerseits den Dienst im Interesse der Multinationalen, andererseits diejenige im nationalen Interesse, die ihm auch unterge­ordnet ist: "Es schält sich immer offensichtli­cher ein Staat heraus, dessen Intervention sich in der Wirtschaft auf zwei Ebenen zeigt: Einerseits offeriert er dem supranationalen Zentrum die zentralisierte Führung der Geldmenge und die Bestimmung der makroökonomischen Variablen in der entspre­chenden Währungszone, andererseits kon­trolliert er die Vereinbarkeit der letzteren mit den nationalen Variablen."[25] BC stellt die Welt auf den Kopf! Die einfache Beobachtung der Entwicklung der Europäischen Union zeigt genau das Gegenteil: Der Nationalstaat vertritt die Interessen des nationalen Kapitals und ist keinesfalls eine Art "Delegation" der "europäischen" Interessen, so wie es die Zweideutigkeiten von BC vermuten lassen. Indem sie die Theorie der Spekulation mit den "transnationalen" Interessen verbinden, ziehen sie völlig unglaubliche Schlussfolge­rungen: Die imperialistischen Konflikte seien nicht in einen generalisierten imperialisti­schen Krieg ausgeartet, weil „(...) sich nach dem Verschwinden der Blockkonfrontation durch die Implosion des Ostblocks keine Grundlagen für eine strategische Konfronta­tion klar und präzise herausgebildet hat. Die strategischen Interessen der großen und wirklichen Wirtschaftszentren haben sich bis jetzt noch nicht in strategischen Konfrontationen übersetzt, da sie nun grenzüberschrei­tend handeln.“[26]

Dies ist eine sehr schwerwiegende Verwir­rung. Der imperialistische Krieg wäre nun keine Konfrontation zwischen bis zu den Zähnen bewaffneten nationalen Kapitalen (wie ihn Lenin definierte), sondern das Er­gebnis von Konfrontationen zwischen trans­nationalen Gruppen, die die Nationalstaaten benutzen würden. Diese wären nicht mehr das Zentrum und die Verantwortlichen des Krieges, sondern einfache Marionetten der trans­nationalen Monster. Glücklicherweise zieht BC nicht alle Folgerungen aus dieser Verir­rung. Glücklicherweise deshalb, weil sie dies zur Behauptung führen könnte, dass der Klas­senkampf gegen den imperialistischen Krieg nicht mehr gegen die Nationalstaaten gerichtet sei, sondern auf die Befreiung letzterer von den transnationalen Interessen. In anderen Worten käme man so zu ganz vulgären My­stifikationen der Linken. BC muss kohärent sein mit den Positionen der Kommunistischen Linken. Sie müssen ihre Spekulationen  über die Monopole und die Finanzmonster einer systematischen Kritik unterziehen. BC muss Verirrungen wie diejenige, dass „eine neue Ära, charakterisiert durch die Diktatur der Finanzmärkte. ankündige" (Prometeo Nr. 9), an der Wurzel ausrotten. Diese Schwächen lassen bürgerliche Mystifikationen wie diejenige der „Globalisierung" ebenso wie diejenige der angeblichen Opposition zwi­schen nationalem und transnationalen Inter­essen eindringen.

Dies kann Battaglia Comunista zur Ver­teidigung gewisser Thesen und Mystifikatio­nen der herrschenden Klasse führen und so zur Schwächung des Bewusstseins und des Klassenkampfes. Dies ist gewiss nicht die Rolle, die eine revolutionäre Organisation spielen sollte. Adalen 5.6.1996


[1] Siehe: ,,L'impossible "uniti de l'europe" in der Internationalen Revue Nr.73 (engl./franz./span.) 1993. Ein Artikel, in dem wir die Verschärfung der Konkurrenz und der Anarchie auf dem Weltmarkt unterstreichen.

[2] "Tourmente ftnanciere: la folie? ", Interna­tionale Revue Nr.81 (engl./franz./span.) 1995.

[3] "Le cynisme de la bourgeoisie decadente", Internationale Revue Nr. 78 (engl./franz./span.) 1994.

[4] Weltjahrbuch 1996, "Umsiedlung, Beschäfti­gung und Ungleichheit".

[5] "Das bedeutet, dass diese wirtschaftliche Entwicklung die Produktion der am meistenfortge­schrittenen Länder nur negativ beeinflussen kann; und so werden sich diese Staaten wiederum gegen die "wifairen Handelspraktiken der Schwellenlän­der" wehren." " Resolution zur internationalen Situation", Internationale Revue Nr. 16 (deutsch) 1995.

[6] Ebenda

[7] Welt jahrbuch 1996, "Die Veränderungen durch die Welthandelsorganisation':

[8] "Une economie rongee par la dicompositi­on", Internationale Revue Nr. 75 (engl./franz./span.) 1993.

[9] K. Ohmae, "Le diploiement des economies regionales".

[10] ebenda

[11] Prometeo Nr. 9, "Das Kapital gegen das Kapital".

[12] ebenda

[13] ebenda

[14] ebenda

[15] ebenda

[16] ebenda

[17] Bucharin, „Imperialismus und Weltwirtschaft“

[18] Prometeo Nr. 9, "Das Kapital gegen das . Kapital“

[19] Prometeo Nr. 10, "Zwei Seiten des Staates: Globalisierung und Staatswirtschaft"

[20] Die betrübliche Inkohärenz von Battaglia Comnnista tritt deutlich hervor, wenn sie schreiben, dass (…) „der Kapitalismus in Wirklichkeit immer das selbe bleibt, und nichts anderes tut, als sich im Interesse der Selbsterhaltung entlang der durch den tendenziellen Fall der Profitrate diktierten Linien zu reorganisieren." Prometeo Nr. 9.

[21] Prometeo Nr. 10, "Zwei Seiten des Staates: Globalisierung und Staatswirtschaft"

[22] ebenda

[23] Viele amerikanische Politiker rücken, nach­dem sie Posten im Senat oder in der Staatsverwal­tung besetzt haben, auch in die Führungsspitze der großen multinationalen Konzeren vor. Dasselbe kann auch in Europa beobachtet werden.

[24] "Über den Imperialismus", Internationale Revue Nr. 19 (engl./franz./span.) 1979.

[25] Prometeo Nr. 10, "Zwei Seiten des Staates: Globalisierung und Staatswirtschaft ".

[26] Prometeo Nr. 9, "Das Kapital gegen das Kapital".


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